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Der letzte Schnee

Vernon Roche vs. Sigismund Dijkstra
von

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„Er ist den ganzen Tag schon so still“, meinte Ves nicht zum ersten Mal.

Sie stand mit Athur zusammen in ihrem neuen Lager, unterhalb der Dimmehügel. Die Sonne war bereits untergegangen, die Hügelkette, die sich direkt über ihnen erhob, drückte aufs Gemüt des Lagers. Nachdem die Blondine zusammen mit Roche und Sieghard über den Pontar gesetzt war und sie das Boot halbwegs im Schilf versteckt hatten, waren sie mit Pferden zurück in ihr Lager geritten. Nicht, dass es etwas beim Verhalten des Hauptmanns bewirkt hätte.

„Es macht wohl keinen Sinn, ihn noch mal zu fragen, was los ist. Ich versteh nur nicht, warum du nichts weißt. Du warst doch die ganze Zeit bei ihm.“

„Natürlich. Trotzdem benimmt er sich ganz anders als sonst. Druckst herum, weicht mir ständig aus, wenn ich auf ihn zukomme. Gerade so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.“

„Hast du?“, fragte der Späher spitzbübisch.

Er wich ihrem Schlag aus und wurde wieder sachlich.

„Mir hat er auch nichts erzählt, als ich ihn gefragt habe, ob euer Einbruch dieses Mal erfolgreich war.“

„War er nicht.“

„Ich weiß. Ich wollte nur wissen, wie er darauf antwortet. Außer unverständlichem Gemurmel und der Aussage, er wolle sich heute Nachmittag Gedanken darüber machen, ob ihr nachts noch mal in der Bibliothek einbrecht, kam da nicht viel.“

„Ach? Das hat er gesagt?“

Athur nickte.

„Wie schön, dass er mich neuerdings nicht mehr in seine Pläne einweiht.“

„Nimm’s ihm nicht krumm, ja? Du siehst ja selber, dass ihn irgendwas verwirrt zu haben schien.“

„Und gerade das bereitet mir Sorgen.“

Die beiden sahen wieder auf das Objekt ihres Interesses, das sich zu den Pferden zurückgezogen hatte, die Hortensio und ein paar andere vor zwei Tagen irgendwo aufgetrieben hatten. Als der Alte Ves den Hintergrund erzählen wollte, hatte sie gleich von vornherein abgeblockt und gemeint, sie wolle gar nicht wissen, auf welch illegalem Weg sie an die Tiere gekommen waren. Nun stand Roche bei einem Schecken und steckte diesem einen Apfel zu, so als sei er regelrecht fasziniert von der Tatsache, dass es außer Menschen noch andere lebende Geschöpfe unter dieser Sonne gab.

„Ich hab ihn noch nie so sentimental erlebt“, meinte Athur.

Wieder sahen sie zu ihrem Hauptmann, der dem Reittier mittlerweile die Nüstern tätschelte.

„Mir wird das jetzt zu blöd!“, erwiderte Ves.

Ohne eine Antwort des Spähers abzuwarten, ging sie zu Roche hinüber. Dieser zuckte zusammen, als sie sich hinter ihm räusperte.

„Weißt du eigentlich, was für einen senilen Eindruck du machst? Seit wir aus Oxenfurt weg sind, bist du total teilnahmslos, bist während unserer Rückkehr gegen einen tiefhängenden Ast geritten, ohne es zu merken. Du bist sogar einmal falsch abgebogen und Sieghard und ich haben es nur bemerkt, weil dein Pferd wieherte. Was in Meliteles Namen ist eigentlich mit dir los?“

„Ich muss nachdenken“, war die plumpe Antwort, die sie bekam.

„Das sagst du den ganzen Tag schon. Heckst du einen neuen Plan aus?“

Zum ersten Mal an diesem Abend sah er sie direkt an. Ves konnte ihm an der Nasenspitze ablesen, dass er mit sich rang.

„Du bist doch sonst kein solcher Geheimniskrämer“, fuhr sie in versöhnlicherem Ton fort. „Willst du dich denn wenigstens einem der anderen anvertrauen, wenn du mit mir schon nicht reden willst? Heute Nacht scheinst du jedenfalls nicht mehr nach Oxenfurt reiten zu wollen.“

„Nein, Ves“, antwortete er nach einem Moment. „Darüber hinaus würde es nichts ändern, wenn ich dir erzählte, was mich beschäftigt. Ich kann es euch nicht sagen, was mich umtreibt. Jedenfalls noch nicht jetzt. Vielleicht später.“

Sie sah ihn enttäuscht an.

„Na schön, und wann ist später?“

„Vermutlich, wenn wir die ganze Sache hinter uns gebracht haben.“

„Ah ja. Immerhin tut es gut zu wissen, dass du inzwischen genauso skeptisch zu sein scheinst, wie ich, was die Wilde Jagd betrifft. Da hat sich mein Nörgeln die vergangenen paar Tage ja doch bezahlt gemacht.“

Roche nickte, allerdings zu schnell für ihren Geschmack. Die Blondine musterte ihn von oben bis unten, blieb länger an seinem Gesicht hängen. Den dunklen Augen, die bei bestimmten Lichtverhältnissen fast schwarz wirkten und die sie immer so fasziniert hatten. Die markanten Falten an den Augen und senkrecht über die Wangen, die ihn so interessant machten.

„Ich muss nachdenken“, wimmelte er sie ab und wandte sich zum Gehen.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust...“, hörte er in seinem Nacken.

Der Hauptmann ging davon. Als er sich weit genug entfernt wähnte, so dass ihn niemand mehr hören konnte, ächzte Roche. Er zermarterte sich schon den ganzen Tag den Kopf über das Angebot dieses mysteriösen Fremden. Gaunter O’Dimm. Wenn er nur an ihn dachte, lief es ihm kalt den Rücken hinab. 

Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so unerwartet eine andere Lösung für Mission Dijkstra präsentiert bekommen würde. Wenn es der Wahrheit entsprach, was der Fremde ihm erzählt hatte. Die Elfen der Wilden Jagd würden somit komplett außen vor sein, womit er seinem Freund Geralt auch in Zukunft aufrecht und ehrlich ins Gesicht blicken konnte. Trotzdem hatte sein Herz keinen Freudesprung gemacht, als O’Dimm ihm diesen Weg eröffnet hatte.

Die dezent lustvollen Blicke, mit denen der Spiegelmeister Ves immer wieder aus den Augenwinkeln heraus betrachtet hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Roche hatte den Drang verspürt, ihm die Augen dafür auszustechen. Nicht, dass er sich jemals um die Blondine bemüht hätte. 

Damals, als er noch unter König Foltest gedient hatte, hatte er sogar die aufreizende Hofmagierin Triss Merigold links liegen gelassen, obwohl sie ihm nicht nur einmal schöne Augen gemacht hatte. Das war, bevor Geralt an den Hof gekommen war. Von heute auf morgen hatte die Rothaarige das Interesse an Roche verloren. Ihm war es nur recht gewesen. Zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Offizieren und königlichen Beratern störten nur während der Arbeit. So hatte er damals die Blauen Streifen geführt und diese Regel hatte er seiner jetzigen Truppe von Partisanen auch immer wieder eingebläut. Viele von ihnen hatten sowieso der ehemaligen Spezialeinheit Temeriens angehört.

Ves ihrerseits, als einzige Frau der Truppe, hatte natürlich Begehrlichkeiten bei dem ein oder anderen geweckt. Zuletzt wohl bei Leif Aubry. Doch für ihn war für ihn immer mehr wie eine Tochter gewesen. Als sie noch nicht so lange bei der Truppe war, hatte Roche sie das hin und wieder spüren lassen. Sich mal scheinbar belanglos nach ihrem Befinden erkundigt, sie ab und zu weniger streng angeschaut, als die anderen Soldaten unter seinem Kommando. Anfangs war es ihr nicht aufgefallen. Erst ein oder zwei Jahre später hatte sie ihn darum gebeten, es zu unterlassen. Der Hauptmann hatte nur gebrummt, sich aber gefügt. Er seufzte.

„Eigentlich wollte ich ja über etwas ganz anderes nachdenken“, murmelte er.

Roche sah sich um. Er stand auf einer Lichtung, die Dimmehügel hatte er zu seiner Rechten. Er war offensichtlich in nördliche Richtung gelaufen und hatte das neue Versteck weit hinter sich gelassen. Ein Uhu pfiff in der Finsternis, doch vom Lager der Freischärler drang kein Geräusch an sein Ohr.

„Die beste Situation zum Nachdenken“, befand er und setzte sich.

Der Boden war wider Erwarten noch warm, das Gras trocken, was für diese Jahreszeit ungewöhnlich war. Andererseits hatte er sich auch noch nie in dieser Gegend aufgehalten. Was hatte Geralt gesagt? Das Scoia’tael Banden sein kleinstes Problem wären? Eigentlich war die Umgebung ziemlich hübsch, wenn man die Dimmehügel nicht mit einbezog, die zu jeder Tages- und Nachtzeit einen drohenden Eindruck hinterließen. Roche bemerkte einen hellen Fleck einen halben Meter zu seiner linken. Er griff nach der Blume und zupfte sie ab. Abwesend roch er an der Blüte, betrachtete sie in der Dunkelheit, und ließ sich dann sachte auf den Rücken fallen. Das Sternenzelt erhob sich majestätisch über ihm, doch er hatte keinen Sinn dafür. Weder für die Sterne am Himmel, noch für die duftende Margerite, die er immer noch in der Hand hielt.

Gaunter O’Dimm ging ihm nicht aus dem Kopf. Im Laufe des Tages war Roche sich klar geworden, dass er sich die Finger ordentlich an ihm verbrennen konnte. Die kleine Einlage in der Bibliothek, die der Fremde zum Beweis seines Könnens geliefert und die Ves so erschreckt hatte, dass sie panisch davongelaufen war, hatte den Hauptmann nachhaltig beeindruckt. Als sie ihm dann außerhalb der Mauer leibhaftig begegnet waren, hatte Roche sich zunächst nichts gedacht. Einer der üblichen Landstreicher, die der Krieg so zahlreich hervorbrachte und der, wie sie, seinen Geschäften auf der Universitätsinsel von Oxenfurt nachging.

Sein schelmisches Lächeln hatte ihn beunruhigt. Beim bloßen Gedanken daran richteten sich die Härchen auf seinen Armen auf. Roche fühlte es sogar durch die dicken Ärmel hindurch. Nicht einmal Letho von Guleta, als er ihm persönlich gegenüber gestanden hatte, hatte solch eine Reaktion bei ihm hervorgerufen. Und der Mörder von Foltest war schon eine Hausnummer für sich. Der Spiegelmeister war von einem ganz anderen Schlag, offenkundig schwach an Körperkraft. Verschlagen war wohl eines der Wörter, mit dem man ihn am besten beschreiben konnte. Zumindest, wenn man nach seinem Gesichtsausdruck ging.

Roche rollte sich auf dem Boden herum. Er hatte die Blume verloren, dachte nicht mal an sie. Stattdessen fragte er sich, warum er O’Dimms Angebot nicht gleich von vornherein abgelehnt hatte. Es war ziemlich offensichtlich gewesen, was dieser als Bezahlung haben wollte. Und für ihn hätte es selbstverständlich sein sollen, dies kategorisch zurückzuweisen. Jedoch. Der Fremdling hatte nicht explizit danach gefragt, also hatte Roche auch den Mund gehalten. War er schon so tief gesunken, dass er Ves, seine Ziehtochter, an einen solchen Vagabunden verraten würde? Er hatte den halben Tag darüber nachgedacht und sich geschämt. Trotzdem waren seine Gedanken auch immer wieder zu dem verlockenden Angebot zurückgekehrt. Der Hauptmann hatte einfach nicht glauben wollen, dass keine alternative Art der Bezahlung möglich sei.

„Schon seltsam, dass er kein Geld will?“

Obwohl er es seiner Meinung nach viel dringender nötig hätte, als eine Frau. Seine Kleidung, an einigen Stellen schon fast durchgewetzt, war nicht zum ersten Mal an den Nähten ausgebessert worden. Die staubigen Stiefel müssen schon viele Hundert Meilen zurückgelegt haben.

„Hm, die kann er auch einer Leiche gestohlen haben ...“

Der Spiegelmeister hatte außerdem zwei kleine Umhängetaschen und ein Lederbeutelchen um den Hals getragen. Vermutlich befand sich darin sogar etwas Geld, wer wusste das schon, außer der Besitzer? Roche war sich nicht sicher, ob er sich richtig erinnerte. In der einen Umhängetasche hatten jede Menge Schriftrollen gesteckt. Ob er die aus der Bibliothek entwendet hatte? Bei einigen der Bücher war er davon ausgegangen, dass sie draußen auf dem Markt einen hohen Wert erzielen würden.

„Fast wie ein gewöhnlicher Dieb ...“

Ein Uhu schrie irgendwo in der Nähe. War es derselbe Vogel wie vorhin? Roche wusste es nicht. Er hob seine linke Hand vors Gesicht und betrachtete sie. Der Schmerz hatte im Laufe des Vormittags wieder nachgelassen, doch das Mal war deutlich zu sehen. Als Ves und Sieghard sich einmal kurz abgewandt hatten, hatte er schnell ein Tuch darüber gebunden und vorgegeben, sich beim Klettern von der Mauer verletzt zu haben. Sie hatten nicht weiter gefragt. Später hatte es der Hauptmann genauer untersucht und den Eindruck gewonnen, dass es wie ein Herz geformt war.

‚Komischer Kauz‘, dachte er. ‚Warum den ausgerechnet ein Herz?‘

Roche hatte sich davor gehütet, es zu berühren. Womöglich würde Gaunter O’Dimm wie aus dem Nichts auftauchen, mitten im Lager. Nicht mal Händewaschen hatte er sich getraut.

„Vielleicht sollte ich einfach jetzt.“

Er legte die Linke ins Gras, das sich mittlerweile abgekühlt hatte. Angenehm für den Handrücken, der sich trotz des vergangenen Schmerzes noch heiß anfühlte. Zuerst musste er sich überlegen, was er dem Spiegelmeister als Alternative anbieten konnte. Erst dann durfte er ihn rufen. Roches Problem bestand darin, dass ihm nichts einfiel. Die kommende Nacht versprach, lang und schlaflos zu werden.

 

* * *

 

„Seit etwa zwei Wochen testen die Schwarzen im Osten, südlich von Dreiberg bis nach Rinde hinüber, immer wieder unsere Formationen. Bisher handelte es sich um kleine Trupps, die mit Ruderbooten über den Pontar kommen, wenn es die Witterung zulässt.“

„Das wird nicht bei Scharmützeln bleiben“, sagte Dijkstra zu sich selber.

Er saß im ersten Stock seines Hauses in Oxenfurt und lauschte dem Bericht von Boris Kroll. Dieser war ein höherer Offizier bei der Redanischen Armee, den Sigismund noch von früher kannte. Eine Freundschaft hatte die beiden Männer nie verbunden. In den letzten Jahren war der Kontakt sogar eingeschlafen, was der Spion selbst zu verantworten hatte. Tags zuvor hatte er sich ihrer Bekanntschaft erinnert und ihm eine Einladung geschickt, nachdem Yamurlak berichtet hatte, dass er derzeit in Oxenfurt ein Kommando innehatte.

Dijkstra machte sich in Gedanken eine Notiz, Yamur bei Gelegenheit zu loben. Der Mann war unermüdlich im Einsatz, hielt die Ohren gespitzt, trieb die anderen an, wo Dijkstra es selber nicht konnte, und versuchte, ihn mit so vielen Informationen wie möglich zu versorgen.

‚Er sollte auch einen Bonus bekommen ...‘

„Das glauben wir auch“, unterbrach Kroll seine Gedanken. „So sind die Nilfgaarder schon in der Vergangenheit vorgegangen. Kurz bevor der große Krieg mit ihnen ausbrach, haben sie diese Taktik über die komplette Front verteilt angewandt.“

„Wie konnten wir nur erwarten, dass sie aus der Vergangenheit lernen?“, schmunzelte der Spion sarkastisch.

„Na ja, vielleicht glauben sie, wir haben‘s schon wieder vergessen.“

„Gibt es Neuigkeiten aus Aedirn?“

„Leider nein. Wir können Spione losschicken, falls du es für sinnvoll erachtest.“

„Die kommen frühestens in zwei Wochen zurück. Ich fürchte, so viel Zeit haben wir nicht. Wenn sich noch weiter herumspricht, dass Radovid ermordet wurde, werden unsere Gegner nicht lange zögern, die Chance zu nutzen. Da geht es schneller, wenn Yamur und seine Mannen reisende Händler aus dem Osten befragen.“

Kroll nickte.

„Ich gehe davon aus, dass du die erlangten Informationen mit uns teilst?“

„Boris, wie lange kennst du mich schon?“

„Seit mindestens zwanzig Jahren. Ich darf jedoch anmerken, dass du dich in den vergangenen Jahren ziemlich verändert hast. Nicht nur äußerlich.“

„Hah! Soll das etwa eine Anspielung auf mein Gewerbe in Novigrad sein?“, konterte Dijkstra.

„Unter anderem.“

„Mein Herz schlägt immer noch für Redanien, das hab ich dir vorhin schon gesagt.“

„Ist ja schon gut. Anderes Thema. Hast du was von der Hexe gehört?“

„Philippa? Nee. Ich hab‘ sie seit Jahren nicht gesehen.“

Boris musste ja nicht wissen, dass sie es höchstpersönlich war, die den Redanischen König auf äußerst einfallslose Weise zur Strecke gebracht hatte. Mit einem Messer in den Rücken. Dijkstra hatte auch versucht, sie zu erreichen, doch nach dem Mord schien sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Gut möglich, dass sie in ihrem eigenen Loch saß und bereits gegen ihn intrigierte oder das nächste Attentat vorbereitete. Zuzutrauen war dieser Hexe alles.

„Boris, was machst du denn für ein Gesicht? Du scheinst darüber nicht sehr glücklich zu sein.“

„Nein“, antwortete der Befehlshaber. „Ihr wart damals ein gutes Gespann, du und die Eilhart. Wenn ich das so sagen darf.“

„Ich fühl mich gleich gerührt. Jetzt hör auf, Süßholz zu Raspeln und erzähl weiter. Wie steht es derzeit innerhalb der Armee? Noch immer dieselben Schnarchnasen, die das Sagen haben?“

„Eigentlich nein. Du kanntest Radovid ja selber. Sobald er sich von euren Fäden losgemacht hatte, hat er nach und nach begonnen, die Befehlsstruktur umzukrempeln. Weniger Hierarchieebenen, dafür hat er alles bei sich selber zusammenlaufen lassen. Du hast ja denke ich selber noch mitbekommen, dass der ein oder andere Kopf gerollt ist. Da war er noch nicht mal zwanzig Jahre alt.“

Dijkstra sah schlechtgelaunt drein. Er hatte Redanien damals überstürzt verlassen und Philippa quasi alleine mit Radovid zurückgelassen, darauf vertrauend, dass sie die Zügel kurz halten würde. Er hatte nicht ahnen können, dass der erst dreizehnjährige Thronfolger die Fesseln selbst lösen würde, sobald er volljährig und damit rechtmäßiger neuer Herrscher von Redanien wurde. Einer der großen Schandflecke auf Philippas Liste mit Erfolgen.

„Und du bist dann die Karriereleiter hinaufgefallen?“

„Kann man so sagen. Ich war ein unbeschriebenes Blatt und Radovid hatte plötzlich einige freie Posten, die er besetzen musste. Viele der Adelsfamilien waren ihm gegenüber misstrauisch. Die Abneigung beruhte zeitlebens auf Gegenseitigkeit, soweit ich weiß.“

„Nachvollziehbar. Phil hatte ihn damals gut von den machtgierigen Adligen abgeschirmt. Vielleicht war gerade das der Fehler?“

„Sigi! Das ist jetzt auch egal.“

„Du hast recht.“

„Ich glaube im Übrigen nicht, dass er sich groß anders entwickelt hätte. Vielleicht hätte sich sein Hass auf die Menschheit anders artikuliert, hätte die Hexe nicht versucht, ihn zu steuern.“

Dijkstra nickte. Er hatte selbst immer wieder darüber nachgedacht, was Radovids Hass gegen Magier und Zauberinnen ausgelöst haben mochte. Vermutlich war es das Ränkespiel eben jener, das die Hexenverfolgungen als Folge hatte.

„Falls das ein Vorwurf an mich sein soll, Phil hat sich von mir auch selten etwas sagen lassen.“

„Ja ja. Ich weiß ja, wie eng ihr verbandelt wart.“

Der Spion sah pikiert drein, beschloss aber, nicht darauf zu reagieren.

„Irgendwelche Neuigkeiten aus dem Norden oder aus Skellige?“

„Von den Inseln? Du machst wohl Witze! Von denen kommt selten viel Gutes, aber wie man so hört, soll es in Skellige jetzt einen neuen Herrscher geben.“

„Ach, tatsächlich?“

Boris nickte und sah ihn verwundert an.

„Ich fürchte, ich habe meine Aufmerksamkeit in den letzten paar Wochen und Monaten den falschen Themen gewidmet. Ich hab nur mitbekommen, dass König Bran ebenfalls das Zeitliche gesegnet hat. Dass die schon einen neuen Herrscher gewählt haben, war mir nicht bewusst“, entschuldigte Dijkstra.

„Offensichtlich.“

„Und was sagt man sich über den neuen Herrscher?“

„Soll ’ne Frau sein, nach allem, was ich hörte.“

Reuven bekam einen Hustenanfall.

„Die wählen eine Frau als Herrscherin?“

„Schau mich nicht so an. Ich kann’s dir nicht beantworten.“

„Weißt du sonst noch irgendwas Interessantes? Zum Beispiel, ob in Kovir jetzt ein Gnom auf dem Thron sitzt?“

„Darüber weiß ich nichts. Sigi! Die Infos, die ich habe, beruhen zum Teil auch nur auf Gerüchten. Ich mag unter Radovid zwar aufgestiegen sein, trotzdem bin ich immer noch ein vergleichsweise kleines Licht.“

„Schon gut.“

„Außerdem kannst du mir nicht erzählen, dass du Ivan nicht kontaktiert hast.“

„Sokolof? Doch, aber die Nase hat sich bisher nicht bei mir gemeldet. Zuletzt schien er sich in Dreiberg aufgehalten zu haben, weit weg vom König. Was weißt du über ihn?“

„Gerüchten zufolge“, erzählte Boris. „Hatte er sich zuletzt mit Radovid überworfen. Der alte Ivan hatte eigentlich damit gerechnet, nach den Querelen zum Oberbefehlshaber befördert zu werden, aber der König hat ihn immer wieder hingehalten. Eigentlich hatte er die Aufgabe ja komplett selbst übernommen. Irgendwann ist es Ivan zu bunt geworden.“

„Ach?! Und das hat Radovid sich gefallen lassen?“

„Na ja, er konnte ja nicht viel machen. Sokolof hat sich einfach von der Bühne verabschiedet, ohne viel Aufhebens. Da der König ihn eh nicht befördern wollte, hatte er auch jetzt keine große Handhabe gegen ihn. Ivan hat ja letztendlich genau das gemacht, was Radovid wollte. Angefangen, sich aus allem herauszuhalten ...“

„Und da hält er sich ganz zufällig ausgerechnet in Dreiberg auf?“, frotzelte der Spion.

„Wie gesagt. Du musst selber wissen, wie viel Wahrheitsgehalt du meinen Gerüchten beimessen willst.“

„Natürlich. Vielen Dank für dein Kommen. Ich schätze es wirklich sehr.“

Was nicht mal gelogen war. Dijkstra hoffte, dass es bei Boris auch so ankam. Er hatte verschiedene aktive und weniger aktive Kontakte angezapft und die meisten um ein Treffen gebeten. Kroll war der Erste gewesen, der sich gemeldet hatte. Wohl auch, weil er sich eh in Oxenfurt befand. Dreiberg war weiter entfernt. Ein Bote konnte es, wenn er schnell ritt und zwischendurch das Pferd wechselte, innerhalb von drei Tagen dort sein. Nachrichten aus Dreiberg würden ihn frühestens nach einer Woche erreichen.

„Ehrlich gesagt hoffe ich tatsächlich, dass du die Regierungsgeschäfte wieder übernimmst“, unterbrach Boris seine Gedanken. „Die Oberen versuchen, jetzt wo Radovid tot ist, die Armee so gut wie möglich zusammen zu halten. Ich habe erst am Tag drauf abends erfahren, dass der König tot ist. Was meinst du, was das für ein Chaos in der Kaserne war? Ich hab mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um die Soldaten wieder zur Ordnung zu rufen. Kannst du dir das vorstellen?“

„Jetzt, wo der Kopf weg ist, zappeln die Glieder unkontrolliert weiter.“

Kroll nickte.

„Ich weiß nicht, wie lange wir die Ordnung aufrecht erhalten können. Mich würde es auch nicht wundern, wenn Ivan und der ein oder andere Adlige schon Wind von der Sache bekommen haben. Jeder wird versuchen, für sich selber das Beste aus der Sache herauszuholen. Sigi, du musst was unternehmen, sonst geht Redanien unter!“

„Du wirkst geradezu verzweifelt, Boris“, befand Dijkstra.

„Ich bin es auch, wenn ich ehrlich sein soll. Niemand weiß, was zu tun ist, die befehlshabenden Offiziere scheinen ihren eigenen Ränkespielen nachzugehen. Du weißt selbst, dass das unter den gegenwärtigen Umständen eine hochriskante Situation ist und in einem Bürgerkrieg enden kann. Wenn Nilfgaard Wind davon bekommt, dann möge Melitele uns gnädig sein.“

„Ich werd‘ sehen, was ich tun kann. Wie du schon sagtest, für’s erste ist es wichtig, dass die Ordnung nicht auseinanderfällt. Radovid mag zwar verrückt gewesen sein, aber militärisch war er ein Genie. Ich sage es wirklich nur ungern, aber ich bewundere doch, was er aus euch gemacht hat.“

Sein Gast nickte.

„Wie lange wirst du denn brauchen?“

„Hah! Boris, sowas geht nicht so schnell. Ich muss mir erst einen Überblick über die derzeitige Situation verschaffen. Unser Vorteil ist, dass ich nie wirklich aufgehört habe, Spion zu sein, weshalb ich die wirtschaftliche Lage Redaniens und den Konflikt mit Nilfgaard ziemlich gut einschätzen kann. Jedoch ist es auch für mich eine Herausforderung, in den Reihen des Militärs und bei den Adelsfamilien genügend Unterstützer zu finden, die mich in der Position eines Kanzlers unterstützen würden.“

„Ja, ich mein ja nur.“

„Vielleicht wäre Sokolof aber wirklich die erste Adresse meiner Wahl. Ich schätze, er genießt nach wie vor Ansehen bei euch?“

„Bei den meisten, ja. Aber auch er wird sich erst einmal ein Bild über die Lage verschaffen müssen.“

„Dann werd‘ ich ihm wohl auf die Sprünge helfen müssen, sollte er sich demnächst mal bei mir melden.“

Boris griff nach dem Weinkelch und hob ihn seinem Gastgeber entgegen.

„Ich sehe, in manchen Dingen hast du dich nicht verändert.“

Dijkstra beugte sich nach vorne und griff nach der Flasche Est Est. Bevor er Kroll einschenkte, ließ er den Wein in der Flasche kreisen.

„Schlechte Angewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen, weißt du?“

„Ja, ich weiß. Wenn du es so sagst, klingt es fast wie ein Vorwurf.“

„Na ja, das nicht. Aber ich bin doch neugierig. Du meintest in deinem Brief, dass du eine Bitte an mich hättest. Abgesehen von diesem Treffen.“

Der Spion nickte und schenkte Boris nach. Dieser nahm einen Schluck und ließ die Flüssigkeit auf der Zunge kreisen.

„Also? Ich bin ganz Ohr!“

„Kannst du jemanden in deiner Truppe gebrauchen? Einen Späher?“

Der Redanier stellte das Glas und sah seinen Gastgeber aufmerksam an.

„Eigentlich nein, aber du wirst sicher Gründe haben, mich das zu fragen? Um wen geht es?“

„Um einen Temerier. Hat früher bei der Armee angeblich als Kundschafter gearbeitet und sucht einen neuen Trupp.“

Kroll sah Dijkstra aufmerksam an.

„Und du willst ihm helfen, weil?“, fragte er.

„Ich will ihm nicht helfen. Ich will ihn sicher verwahrt wissen, wenn du so willst. Jemand soll ein Auge auf ihn haben.“

„Schätze, ich hab wohl keine Wahl, oder?“

„Doch. Aber wenn du ihn nimmst, bin ich dir was schuldig.“

„Gut, ich seh mal, was sich machen lässt. Um der guten alten Zeit willen“, versicherte Boris.

Die beiden Männer stießen mit ihren Kelchen an und wandten sich anderen, belangloseren Themen zu.

 

* * *

 

Für diesen Ausblick allein hatte sich der Aufstieg auf den Hügel schon gelohnt. Roche hatte sich in der Nacht heimlich vom Lager entfernt, was sich als gar nicht so leicht herausgestellt hatte. Um ein Haar hätte er einen seiner Männer aufgeweckt, der sich an einer ziemlich ungünstigen Stelle zum Schlafen gelegt hatte. Der Wache am Eingang zu ihrer Höhle hatte er erzählt, einen kleinen Rundgang zu machen, nur um hinter dem nächsten Busch über ein Schlaflager zu stolpern. Zum Glück war Carl nicht aufgewacht.

Der Weg auf die Dimmehügel war in der Finsternis der Nacht gar nicht so leicht zu finden. Da es zwischenzeitlich geregnet hatte, war Roche in zahlreiche Pfützen getreten. Ves musste bei Gelegenheit dringend seine Stiefel flicken.

‚Oder ich kauf mir gleich Neue‘, dachte er. ‚Ist vermutlich die bessere Investition.‘

Roche bildete sich ein, am Horizont im Nordosten Dreiberg erblicken zu können. Etwas sah in dieser Himmelsrichtung ungewohnt anders aus, etwas heller als die Umgebung, aber wer konnte es schon wissen, ob es sich tatsächlich um die Hauptstadt Redaniens handelte? Vielleicht wollte er es auch einfach nur glauben. Weder von Novigrad noch von Oxenfurt, die weit im Westen lagen, konnte er Lichter oder Umrisse erkennen. Der Hauptmann hatte vermutet, wenigstens von der größten Stadt der Welt den Turm des Tempels zu erkennen, aber offensichtlich machte ihm das schlechte Wetter einen Strich durch die Rechnung. Die Regenfront schien noch nicht vorübergezogen zu sein. Im Süden, fast so nah, dass man die Hand nach ihm ausstrecken konnte, zog sich der Pontar wie ein helles Band quer von links nach rechts. Selbst hier oben war zu erkennen, wie mächtig er soweit im Landesinneren schon war. 

Er seufzte. Der Hauptmann war im Leben weit herumgekommen, hatte viel gesehen und an noch mehr selbst beeinflusst. Doch er fühlte, dass der heutige Tag einer der wichtigen Wendepunkte in seinem Leben werden würde. Er betrachtete die Innenfläche seiner linken Hand, gerade so, als würde er auf ihr die Geschichte seiner Existenz ablesen können. Leider musste er sie umdrehen, um weiterlesen zu können. Roche zögerte. Er wollte nicht wieder auf das Herz blicken müssen, das O’Dimm ihm verpasst hatte. Wenn er ihn rief, musste er sich zusammennehmen, um nicht nach dem Grund für die außergewöhnliche Form zu fragen. Er atmete einmal tief durch und drehte die Linke um.

In der Finsternis war das Mal kaum zu erkennen. Der Hauptmann der Temerischen Partisanen bekam eine Gänsehaut, als sich seine rechte Hand seiner linken näherte. Sachte berührte er den Handrücken. Er fühlte, wie die Luft etwas kälter wurde.

„Seltsamer Ort für ein Stelldichein“, hörte er in seinem Rücken.

Roche fuhr herum.

„Kommt mir nicht damit!“, schnauzte er den Spiegelmeister an.

Dieser grinste nur mit seinem üblichen Gesichtsausdruck.

„Ves kommt nicht in Frage, damit das klar ist!“

„Ist das so?“, fragte sein Gegenüber erstaunt. „Und was bietet ihr mir stattdessen?“

Der Hauptmann verlor augenblicklich den Wind aus den Segeln. So schnell O’Dimm den Sturm gerufen hatte, so schnell hat er ihn wieder verschwinden lassen. Er schwieg ihn an.

„Nicht mal eine Idee?“

„Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, dass ihr sonst keine Bedürfnisse habt“, erwiderte er schon sachlicher.

„Oh, natürlich! Da gibt es viele. Die Seele von Thamasa beispielsweise wäre schon mal ein Anfang. Oder die Steinsemmel.“

Roche sah ihn schief an.

„Ich weiß nicht, was das sein soll.“

„Natürlich nicht, wie überaus dumm von mir!“

„Macht ihr euch über mich lustig?“

„Nein, überhaupt nicht“, versicherte O’Dimm. „Ich wollte nur behilflich sein.“

Der Hauptmann schwieg und sah auf den Pontar, der sich hinter dem Spiegelmeister erstreckte.

„Ihr habt mich gerufen. Das werdet ihr ja wohl nicht ohne Grund getan haben. Und nicht, ohne mir etwas bieten zu können.“

„Ich bin nicht dumm. Mir ist durchaus bewusst, dass es andere gegeben haben muss, denen ihr eure... Hilfe angeboten habt. Wie haben sie euch bezahlt?“

„Mit ihren Seelen“, war die prompte Antwort.

Roche betrachtete ihn einen Moment.

„Seid nicht albern. Was für ein Geschäft soll das denn bitte sein? Ich hab nicht vor, bis an mein Lebensende euer Leibeigener zu sein. Ich hab Wichtigeres zu tun!“, konterte er ernst. „Und schlagt es euch gleich aus dem Kopf. Ves, oder ein anderer aus meiner Truppe, stehen diesbezüglich auch nicht zur Debatte.“

Gaunter O’Dimm sah ihn süffisant an.

„Vielleicht sollten wir erst einmal über euren Auftrag sprechen?“, schlug er vor.

Der Hauptmann fühlte ein Kribbeln direkt unter der Haut. Nicht die Unbehaglichkeit, die er generell in der Gegenwart des Spiegelmeisters verspürte. Mehr so, als sei eine dritte Präsenz anwesend. Roche sah seinen Gegenüber prüfend an, konnte aber keine Veränderung an ihm feststellen. Auch nicht, ob er dasselbe wahrnahm.

„Letztes mal habt ihr etwas von einem Attentat erwähnt. Um wen genau handelt es sich? Er oder sie scheint jedenfalls nicht leicht zu beseitigen sein, da ihr es offensichtlich nicht selbst versuchen wollt.“

Der Hauptmann ging zunächst nicht darauf ein. Er wandte sich gen Osten, wo der Himmel langsam heller wurde. Zu seinen Füßen, in den dichten Wäldern östlich der Dimmehügel, begannen die Vögel, den neuen Tag zu begrüßen.

„Es gibt da eine gewisse Person, die uns im Weg steht.“

„Eine Hexe?“, fragte O’Dimm neugierig.

„Nein. Oder ja, je nach den Umständen.“

„Das müsst ihr mir genauer erklären.“

„Die eigentliche Zielperson ist ein ganz gewöhnlicher Mensch. Es gab im Leben dieser Person eine Magierin, die ihr mal sehr nahe stand.“

„Interessant! Und weiter.“

„Wie ‚und weiter‘? Ich hab keinen blassen Schimmer, wie sie derzeit zueinanderstehen.“

Roche wandte dem Spiegelmeister den Rücken zu und sah nach Norden.

„Jedenfalls“, fuhr der Hauptmann fort, als O’Dimm nichts sagte. „Kann es sein, dass sich diese Magierin einmischt.“

„Hm. Verständlich, dass ihr euch über eine andere Lösung eures ... Problems, Gedanken macht. Ist sie sehr mächtig?“

„Ja“, antwortete Roche ohne zu Zögern. „Eine der Mächtigsten, die mir je begegnet sind.“

Er drehte sich wieder um. Der andere hatte sich ebenfalls abgewandt und blickte nach Westen, wo sich immer noch dicke Regenwolken türmten.

„Fürchtet ihr euch vor Hexen?“, fragte er neugierig.

Gaunter O’Dimm drehte sich wieder zu ihm um. Ein kurzer Schatten huschte ihm übers Gesicht. Der Hauptmann hatte nicht den Eindruck, dass es sich dabei um Angst handelte. Wut schien der richtige Begriff zu sein. Der Schleier verflog wieder.

„Euer Problem ist so gut wie gelöst“, meinte der Spiegelmeister. „Wenn die Bezahlung stimmt.“

Roche sah, wie er nach einer der Schriftrollen in seiner Umhängetasche griff und sie entrollte. Sie war vollständig beschrieben, nur unten war noch etwas Platz frei. Was seinen Blick mehr in den Bann zog, waren die krakeligen Buchstaben, die mit roter Tinte im oberen Bereich des Dokuments geschrieben waren und so gar nicht zum Rest der Schrift passen wollten. Gerade so, als ob zwei verschiedene Hände das Papier beschrieben hätten. Offensichtlich handelte es sich bei den Schriftrollen doch nicht um gestohlenen Dokumente aus der Oxenfurter Universitätsbibliothek.

„Was habt ihr gestern Vormittag gemeint, als ihr sagtet, was mir am wertvollsten sei?“

„Was ist euch denn am wertvollsten?“

„Nichts, was man einfach so aus der Hand geben kann.“

Gaunter O’Dimm sah ihn interessiert an.

„Es ist nichts Physisches“, ergänzte Roche, der sich zu einer Erläuterung genötigt sah. 

„Offensichtlich nicht. Aber das macht es doch umso schwieriger, es herzugeben, meint ihr nicht auch?“

„Jedem anderen würde ich zustimmen. Bei euch jedoch.“

„Ihr misstraut mir noch immer?“, konterte der Spiegelmeister entrüstet.

Er ließ die Schriftrolle sinken und sah seinen Vertragspartner in spe enttäuscht an. Zuckte dann mit den Schultern und packte das Papier wieder zusammen.

„Gut, ihr müsst wissen, wie ihr euer Problem löst. Wenn ihr mich nicht bezahlen könnt ... oder wollt, müsst ihr einen anderen Weg finden.“

O’Dimm wandte sich zum Gehen.

„Wartet!“, bat Roche, nachdem er sich einige Meter entfernt hatte, und lief ihm dann sogar nach. „Wartet doch!“

„Hm? Ich kann euch nicht helfen, wenn ihr keinen Vertrag unterschreibt.“

„Und ich kann euch schlecht etwas als Bezahlung anbieten, was ich noch nicht besitze.“

Der Spiegelmeister begann zu lächeln.

„Dann bezahlt ihr eben, sobald ihr es erlangt habt“, erwiderte er gnädig.

Der Hauptmann sah ihn überrascht an.

„Auch wenn es bedeutet, dass ihr unter Umständen länger darauf warten müsst?“

„Auch dann, ja. Ihr müsst wissen, dass Zeit in meinem Geschäft nur eine untergeordnete Rolle spielt. Früher oder später bezahlen alle meine Kunden.“

Roche zögerte immer noch.

„Was ist, wenn sich zwischendurch ändert, was mir am wertvollsten ist?“

„Oh, ich glaube nicht, dass es dazu kommt.“

„Hah! Wenn ihr euch da mal nicht täuscht.“

Gaunter O’Dimm erwiderte nichts.

„Was geschieht, wenn, nun ja, ich das Zeitliche segne, bevor ihr eure Bezahlung erhalten habt.“

„Dann geht die Schuld selbstverständlich auf eure Erben über.“

Der Hauptmann sah ihn unsicher an. O’Dimm wusste bestimmt, dass er zeitlebens keine Kinder gezeugt hatte. Zumindest keine, von denen er wusste. Trotzdem hätte er sein letztes Hemd darauf verwettet, dass der Fremde etwaige Nachkommen würde aufspüren können, auch ohne den geringsten Hinweis auf sie zu haben. Roche seufzte.

„Und es geht definitiv nicht ohne Vertrag?“, fragte er.

Der Gesichtsausdruck des Spiegelmeisters wurde ernst.

„Ihr wollt ein Geschäft eingehen. Geschäfte werden üblicherweise schriftlich festgehalten. Darf ich davon ausgehen, dass ihr nicht bereit seid, einen Vertrag zu unterzeichnen?“

„Es geht wohl nicht anders ...“

O’Dimm sah ihn durchdringend an.

„Also gebt schon her!“

Der Hauptmann nahm die Schriftrolle entgegen und begann zu lesen.

„Ich hab euch nie meinen Namen verraten!“, meinte er, als er bei den roten Buchstaben angekommen war.

„Nein. An euren Manieren habt ihr definitiv noch zu arbeiten“, schmunzelte der Spiegelmeister. „Ich meinerseits wäre aber auch nicht besonders intelligent, würde ich keine Nachforschungen über meine potentiellen Kunden anstellen.“

„So? Und was habt ihr so herausgefunden?“, erkundigte Roche sich und las weiter.

„Dass ihr früher am Temerischen Himmel hell gestrahlt habt, Hauptmann der Blauen Streifen.“

„Hmpf.“

Er las zu Ende, hob den Kopf und sah O’Dimm misstrauisch an..

„Wieso steht in diesem Vertrag eigentlich schon alles genau so, wie wir es eben erst besprochen haben?“

Sein Gegenüber grinste nur wieder sein schelmisches Grinsen.

„Könnt ihr in die Zukunft sehen?“

„Aber nein. Das wär doch etwas zu viel des Guten, meint ihr nicht auch? Nein, ich hatte lediglich so ein Gefühl, auf was ihr euch einzulassen bereit seid.“

„Und auf der freien Linie oben soll ich reinschreiben, wer Ziel des Attentats ist?“

„Ihr habt es erraten.“

Roche sah nicht überzeugt aus, doch statt darauf einzugehen, streckte er dem Spiegelmeister die Hand hin.

„Was?“

„Eine Schreibfeder?“

O’Dimm kramte danach in seiner anderen Umhängetasche und förderte eine ziemlich zerfranste Gänsefeder hervor, die an dem einen Ende, wo sich eigentlich die Schreibspitze befand, eine seltsam geformte Spitze aus Metall besaß. Kleine, filigrane Zeichen waren auf ihr angebracht. Roche hatte so etwas noch nie gesehen.

„Spezialanfertigung nach meinem eigenen Entwurf“, erklärte der Spiegelmeister verlegen und reichte sie ihm.

Er nahm die Feder andächtig entgegen.

„Habt ihr auch Tinte in eurem Sack?“

„Einen Moment.“

Eine kleine Glasphiole kam ans Tageslicht. Gaunter O’Dimm entkorkte es und hielt es dem Hauptmann hin, damit dieser mit der Feder etwas von der farbigen Flüssigkeit aufnehmen konnte.

„Umdrehen.“

Der Spiegelmeister gehorchte und hielt ihm seinen Rücken als Schreibunterlage hin. Roche legte sich den unteren Bereich der Schriftrolle halbwegs zurecht und starrte dann eine volle Minute auf das Papier, die Aussparung auf dem Dokument, die mit ‚Unterschrift des Auftraggebers‘ untertitelt war.

‚Vertragsparteien, Gegenstand des Auftrags, Ausführung so bald wie möglich, Bezahlung erfolgt, sobald bezahlt werden kann, jedoch nicht vor vollständiger Erledigung des Auftrags ..., allgemeine Vertragsbestimmungen ...‘, las er sich in Gedanken noch mal die Vertragsinhalte vor. ‚Den Teil mit der Vertragsstrafe und dem Schadensersatz hat er mit der roten Tinte durch gestrichen ...‘

„Sollte im konkreten Fall nicht anfallen. Der Auftrag ist sehr einfach, deshalb habe ich diese Passagen gestrichen“, erklärte O’Dimm.

„Lest ihr meine Gedanken?“

„Ich warte seit fünf Minuten darauf, dass ihr den Vertrag unterzeichnet. Mir tut mein Rücken weh, wenn ich das anmerken darf.“

„Als ob euch körperlicher Schmerz etwas anhaben kann“, murmelte Roche. „Ihr wart eine schwarze, formlose Wolke. Wie schnell wird es erledigt sein?“

„Der Auftrag? Oh, innerhalb einer Woche, das kann ich euch versichern.“

„Wie werde ich von dem Erfolg erfahren? Sucht ihr mich auf?“

„Nein, das wird nicht nötig sein. Ihr werdet es von selbst bemerken“, erklärte der Spiegelmeister geheimnisvoll.

Roche atmete einmal tief ein und wieder aus. Schloss die Augen, öffnete sie wieder. Und setzte die kunstvoll gefertigte Feder an.

 

* * *

 

„Junge, das hat sich für dich ja jetzt schon gelohnt, findest du nicht auch?“, meinte er.

Leif erwiderte nichts und beschränkte sich darauf, neben dem dicken Mann herzureiten, den er so kurzfristig im Auftrag der Redanischen Armee nach Dreiberg eskortieren sollte. Er hatte ihn vor zehn Tagen kennengelernt, der Dicke hatte sich damals ihm gegenüber recht schroff verhalten. Heute war er schon höflicher zu ihm, was vielleicht auch an dem guten Wetter lag.

Sigi Reuven war für den jungen Aubry ein Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht hatte er ihm bei ihrem ersten Aufeinandertreffen einfach nur nicht vertraut. Leif verübelte ihm dies nicht einmal, hatte er doch ihn doch selbst alles andere als glaubhaft gefunden. Auch jetzt war er sich noch nicht so ganz sicher, wie er mit dem Mann umgehen sollte und verfluchte die anderen Soldaten, seine neuen Kameraden, dafür, dass sie sich sofort an den Anfang beziehungsweise das Ende ihrer kleinen Karawane gesetzt hatten.

„Warst du schon mal in Dreiberg?“, fragte Reuven.

Der Blondschopf schüttelte den Kopf.

„Sonst irgendwelche größeren Städte?“

„Nein, Sir.“

„Hm, dann wirst du aber Augen machen, das kann ich dir verraten. Wenn wir dort sind, nutz die Zeit und schau dich auf dem Gräbermarkt um. Dorthin kommen ab und zu Zwerge aus Mahakam, um ihre Waren anzubieten. Die meisten verkaufen natürlich Äxte und Schwerter, aber man kann dort auch allerlei anderes Handwerksmaterial finden.“

„Ja, Sir. Gräbermarkt?“

„Der heißt nur so wegen des Wassergrabens, der sich dort auf einer Seite an den Häuserfronten entlang zieht. Die finden sich in der ganzen Stadt wieder, und ...“

Leif hörte nur mit einem Ohr zu. Mit seinen anderen Sinnen versuchte er, die Umgebung, so gut es ging, im Auge zu behalten. Weniger, weil er einen Angriff auf ihre kleine Truppe fürchtete, sondern mehr, weil ihm die Gegend bekannt vorkam. Vor ihrer Nase hatten sie eine kleine Hügelkette, die immer näher kam und sich bis zum Pontar hinzog. Vor einiger Zeit war er mit Temerischen Partisanen hier unterwegs gewesen. Der Blondschopf hatte sich nichts anmerken lassen, als ihm seine Kameraden sagten, wohin es ging. Innerlich hoffte er, dass sie unentdeckt bleiben würden.

Die Chancen dafür standen nicht schlecht. Roche und seine Mannen hatten sich sicher irgendwo im Unterholz verkrochen, abseits der breiten Straße, der sie nun folgten. Mit der Kutsche, auf der Reuven saß, konnten sie schlecht einen anderen Weg nehmen und dummerweise kam man mit dem Gefährt auch nicht besonders schnell vorwärts, doch die Verfassung des Dicken ließ es nicht zu, dass er selber ritt. Sein linkes Bein war nach wie vor bandagiert. Leif hoffte nur, dass die Freischärler keinen Späher in der Nähe der Straße postiert hatten. Nicht auszudenken, was passierte, wenn sein Bruder Victor oder auch Athur ihn bei den Redaniern sehen würden.

„Na, was die zwei wohl für Nachrichten bringen?“

Boris Kroll, dessen Einheit man Leif zugeteilt hatte, kam ihnen mit einem weiteren Soldaten entgegen. Kroll wendete sein Pferd, als er auf Höhe der Kutsche war.

„Leif, sei so gut und schließ dich der Vorhut an. Als Späher taugst du nicht zum Beaufsichtigen von Zielpersonen.“

„Ja, Sir.“

Der Junge ritt dankbar an die Spitze des kleinen Zuges.

„Er hat sich schon eingelebt, eh?“, fragte Dijkstra, als er mit Boris alleine war.

„Ja. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.“

„Wenn ich mich daran erinnere, wie sehr du dich gesträubt hast ...“

„Man kann sich auch mal täuschen. Vor allem nach der Geschichte, die du erzählt hast. Aber bisher macht er sich gut. Nur heute scheint er etwas unruhig zu sein.“

„Hm.“

Dem Spion war es ebenfalls nicht entgangen, dass ihr Neuzugang sich hin und wieder verstohlen umsah.

„Vielleicht erwartet er, hier jemandem zu begegnen?“, überlegte Boris laut.

„Da bin ich mir fast sicher.“

Dijkstra machte sich in Gedanken eine Notiz, einen größeren Trupp in diese Gegend zu schicken. Wie dumm, dass er erst in einer Woche in Dreiberg ankommen würde. Bis dahin konnte sich eine Menge ändern.

„Hast du sonst irgendwelche Auffälligkeiten an ihm bemerkt? Schreibt er heimlich Briefe oder dergleichen?“

„Nein. Bisher hat er sich nur einmal nachts davongestohlen. Um ein Mädchen zu treffen, wie dein Mann herausgefunden hatte.“

„Yamur?“

Kroll nickte.

„Was für eine Seele. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen. Und ohne Heiner.“

„Wer ist Heiner?“

„Mein Koch.“

„Ah!“, kommentierte der Redanier vielsagend.

„Was soll das denn bitte heißen?“, fragte Dijkstra pikiert.

„Nichts. Ich hatte dich nur anders in Erinnerung. Breiter ...“

„Das ist aber nicht Heiners Verdienst.“

Boris fragte nicht weiter.

„Also? Wer ist die Holde? Yamur meinte, sie sei in Oxenfurt als Dienstmagd angestellt.“

„Dann weiß er mehr als ich. Sigi, ich eigne mich nicht so gut als Spion, das hast du selber mal gesagt.“

„Hätt‘ ja sein können, dass du sie zufällig kennst. Hat er euch etwas aus seiner Vergangenheit erzählt? Zum Beispiel, an welcher Front sein Vater gekämpft haben soll.“

„Ich hab nichts dergleichen mitbekommen. Ganz im Gegenteil, wenn er sich in meiner Nähe aufhält, ist er derjenige, der viele Fragen stellt.“

Der Redanische Offizier ritt etwas näher an die Kutsche heran und beugte sich in vertraulicher Manier zu Dijkstra.

„Unter uns gesprochen, er ist sehr neugierig, was dich betrifft. Er scheint dir nicht zu trauen.“

„Ich ihm auch nicht“, ließ der Spion durchblicken. „Ich gehe davon aus, dass das, was er mir erzählt hat, größtenteils einer Märchengeschichte entstammt. Ich werd‘ sein Geheimnis schon noch herausfinden, da kannst du Gift drauf nehmen.“

„Lieber nicht. Aber warum ist es dir so wichtig?“

„Ach, weil ...“, fing Dijkstra an, ließ den Satz aber unvollendet.

‚Weil er höchstwahrscheinlich bis vor kurzem unter einem alten Bekannten gedient hat, mit dem ich ein Mordkomplott gegen Radovid ausgeheckt habe ...‘

„Na ja, wenn du nicht darüber reden willst ...“

„Will ich nicht. Boris, sei so gut, lass mich für einen Moment allein.“

„Aye! Aber wenn du meinen Rat noch annehmen willst, sei lieber etwas vorsichtiger in der Gegenwart des Jungen. Ich bin nicht ganz dumm. Mir ist durchaus bewusst, dass du dir bezüglich Leif viele Gedanken machst. Und dass euch zwei möglicherweise etwas verbindet, das noch übel enden kann.“

Kroll ließ sich zur Nachhut zurückfallen, ohne auf eine Antwort zu warten. Dijkstra sah ihm grübelnd hinterher. Vielleicht war er tatsächlich etwas zu unaufmerksam gewesen, als er den Blondschopf alleine neben sich hat herreiten lassen? Oder war er zu selbstsicher geworden, jetzt, wo sich der Zustand seines gebrochenen Beines langsam zu bessern schien?

„Oder liegt es einfach nur daran, dass du Gespenster siehst, Boris?“, brummelte er.

Es fühlte sich an, als habe sich ein Schleier über seine Gedanken gelegt. Der Spion schaute auf den Rücken des Kutschers, ohne diesen zu sehen. Er hörte das Wasser des Pontars, das hier und da geräuschvoll ans Ufer spülte, ohne es zu hören. Er roch den Tannenwald, der sich links neben der Straße türmte, ohne den Geruch wahrzunehmen. Dijkstra schloss schläfrig die Lider.

Phil tauchte vor seinem inneren Auge auf, jedoch war es nicht die rachsüchtige Philippa Eilhart, die er zuletzt gekannt hatte. Nein, diese Version, die er vor sich sah, hatte schon vor einiger Zeit zu existieren aufgehört. Damals, als sie ihm Meuchelmörder auf den Hals gehetzt hatte. Die Magierin vor seinem inneren Auge war jene, mit der er damals in Dreiberg so eng zusammengearbeitet hatte, um Redanien nach der Ermordung König Wisimirs zusammenzuhalten. Und mit der er die ein oder andere Nacht im Gespräch verbracht hatte, begleitet von der ein oder anderen Flasche teuren Weins.

Ein Schatten legte sich über den Spion, ohne dass er es merkte. Er hatte damals nie so recht verstanden, warum das, was er mit Philippa hatte, in die Brüche gegangen war. Warum sie ihm von heute auf morgen ans Leder wollte. Nicht einmal zuletzt, als sie sie versehentlich aus ihrer misslichen Lage befreit und sie sofort zum Angriff übergegangen war, hatte die Hexe ihre Beweggründe durchblicken lassen. Wobei Dijkstra zugeben musste, dass er sich selbst auch nicht gerade wie ein Kavalier benommen hatte.

Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Es hatte keinen Zweck, zu lange in der Vergangenheit herumzustochern. Die Hexe hatte ihren Entschluss gefasst. Selten hatte sie sich von Sigismund etwas einreden lassen. Dijkstra schätze, dass sie sich in dieser Hinsicht nicht geändert hatte.

Er sah sich um.

„Seltsam ...“

Dijkstras Umgebung wirkte farblos. Gerade so, als wäre vom Fluss her eine dicke Nebelschwade herangezogen, die sie nun einhüllte. Trotz des warmen Vormittags. Die Vögel hatten zu zwitschern aufgehört, jedenfalls schien es so. Der Kutscher fuhr einfach weiter, ohne es zu bemerken. Reuven drehte seinen massigen Oberkörper einmal zur einen Seite, dann zur anderen.

„Hey, merkst du das auch?“, fragte er den Kutscher.

Dieser zuckte zusammen.

„Was meint Ihr, Herr?“

„Na, die Umgebung? Siehst du nicht den Nebel?“

Der Mann auf dem Kutschbock sah sich nun ebenfalls um.

„Nein, mein Herr, wo sollte der denn herkommen?“

Dijkstra antwortete nicht, sondern ließ sich wieder auf die Bank zurücksinken.

Entweder versuchte man, ihm einen Bären aufzubinden, oder tatsächlich nahm nur er die Veränderung wahr, die sich seiner kleinen Karawane bemächtigt zu haben schien.

„Du bist ja wirklich schnell von Begriff!“, sagte jemand neben ihm.

Der Spion zuckte zusammen und wäre um ein Haar aus der Kutsche gesprungen, hätte ihn sein lädiertes Bein nicht davon abgehalten. Neben ihm saß ein Typ, ein obdachloser Vagabund, wie es schien, mit Glatze und ziemlich abgerissenen Klamotten. Die blaue Hose war wohl das Auffälligste, was er trug.

„Wer bist du!?“, herrschte Dijkstra ihn an.

„Nur ein armer Landstreicher auf dem Weg nach Dreiberg. Kann ich ein Stück weit mitfahren?“, fragte er. „Ihr scheint denselben Weg zu haben.“

„Verschwinde!“

Der Spion griff nach dem Dolch, den er an seiner linken Seite am Gürtel hängen hatte.

„Aber aber, nicht gleich so aggressiv!“, meinte der Fremde, sprang auf und kletterte auf den Kutschbock.

„Wer bist du?!“, fuhr Dijkstra ihn noch einmal an, besorgt darüber, dass der Kutscher die Anwesenheit des Fremden offensichtlich nicht registrierte.

„Er kann mich nicht sehen“, erklärte der Vagabund dann auch. „Die anderen im Übrigen auch nicht, also gib dir keine Mühe, nach ihnen zu rufen.“

„Was bist du?!“

„Interessant, dass du das fragst.“

Der Glatzkopf saß mit dem Rücken in Fahrtrichtung neben dem Kutscher und grinste ihn an, ohne auf seine Fragen zu antworten.

„Du scheinst ein wichtiger Mann zu sein“, mutmaßte er.

Dijkstra reagierte nicht.

„Auf dem Weg zu wichtigen Geschäften, ja?“

„Geht dich einen Scheiß an. Verschwinde!“

„Sonst was?“

Der Fremde zog etwas aus einer zerrissenen Umhängetasche, die er bei sich trug. Dem Spion lief es kalt den Rücken runter und er packte seinen Dolch fester, bereit, sich notfalls mit Händen und Füßen zu wehren. Erst auf den zweiten Blick sah er, dass es sich um einen schon etwas verwelkten Blumenkranz handelte. Grinsend setzte der Vagabund den Kranz auf den Kopf des Kutschers, ohne dass dieser reagierte. Reuven sah feindselig drein.

„Einen schönen Tag haben wir heute, findet ihr nicht?“

„Ja ... Er wäre noch bei weitem schöner, hätte ich meine Kutsche wieder für mich allein ...“, entgegnete Dijkstra bissig.

„Wie geht es eurer Hexe? Philippa, richtig?“

„Hat sie dich geschickt?“, fragte der Spion hitzig.

„Nein, sonst würde ich ja nicht nach ihr fragen“, raunzte der Fremde.

„Euch kann man wohl alles zutrauen. Also? Wie kann man dich loswerden?“

„Wie unhöflich. Ich will nur ein Stück des Weges mitfahren.“

„Und am Ende hockst du hier in der Kutsche, bis wir in Dreiberg ankommen, ich bin nicht dumm.“

Der Fremde kramte wieder in seiner Umhängetasche und holte nun einen abgewetzten Holzlöffel hervor. Er begann, damit zu spielen.

„Damit es klar ist, von unserem Proviant geben wir nichts ab. Der ist genau berechnet für ...“

„Schon klar!“

Dijkstra bemerkte den süffisanten Blick, den der Vagabund seiner Figur beimaß.

„Obwohl es nicht schaden würde, wenn ihr etwas abspeckt“, meinte er dann auch.

„Hah! Hat Happen dich geschickt?“

„Wer?!“

„Ach, lass gut sein.“

Der Spion ließ seinen unerwarteten Begleiter nicht aus den Augen. Tatsächlich hatte bisher niemand sonst die Anwesenheit des Fremden bemerkt. Es war geradezu gespenstisch.

„Wo kommt ihr her?“, fragte Dijkstra.

„Interessant, dass ihr das fragt. Ich halte mich schon seit einiger Zeit hier auf. Ihr glaubt ja nicht, wie viele Leute man hier in dieser Wildnis so trifft. Erst der Trupp Soldaten von vor ein paar Tagen, jetzt euch ...“

„Soldaten?! Hier?!“, unterbrach ihn der Spion. „Welche Farben trugen sie?“

„Blau, wenn ich mich recht erinnere. Mit weißen Lilien.“

Dijkstra ließ sich zurücksinken. Sein Gehirn hatte sofort in den Arbeitsmodus geschaltet.

„Wie viele waren es?“, fragte er neugierig.

„Ich hab sie nicht gezählt. Achtzig, vielleicht neunzig?“

‚Das sind viel zu viele ...‘

„Ihr Anführer hatte ein paar interessante Geschichten zu erzählen ...“

„Ach? Und weiter?“, fragte Dijkstra.

„Von einem König, dem ein paar gemeine Gauner den Garaus gemacht haben sollen.“

„Ach? Und wie hieß der König?“

„Hab seinen Namen vergessen.“

Der Spion brummte.

„Als ob du das vergessen hast. Ich weiß, dass du von Vernon Roche sprichst!“, raunzte er den Fremden an.

„Ihr seid ja wirklich einer von der schnellen Sorte.“

„Und jetzt hat er einen wie dich geschickt, mich zu beseitigen?“

„Genau!“

„Hah! Sieht ihm gar nicht ähnlich!“

Dijkstra war innerlich angespannt. Er war sich nicht sicher, ob der Fremde ihn nun angelogen oder die Wahrheit gesprochen hatte. Überhaupt hatten ihn seine Sinne verlassen. Das juckende rechte Ohrläppchen, das ihn immer so zuverlässig darauf hingewiesen hatte, wenn jemand log. Bei Leif hatte es noch wunderbar funktioniert.

„Ich dachte, es wär‘ der Junge ...“, brummelte er.

„Welcher Junge?“, fragte der Fremde.

„Ach. Niemand. Und? Wie willst du’s bewerkstelligen? Einer wie du hat doch mit Sicherheit ein paar originelle Tricks auf Lager.“

„Sei versichert, ihr werdet es als Erster erfahren.“

Dijkstra musterte ihn.

„Verrat mir nur eins, bevor es so weit ist. Was hat Roche dir im Austausch für deine ... Dienste versprochen?“

„Das, was ihm im Leben am wichtigsten ist.“

„Ach, uns was wäre das?“

Der Fremde grinste ihn verträumt an.

„Herr Dijkstra?“, fragte jemand hinter ihm.

Der Angesprochene zuckte zusammen.

„Er kann mich nicht sehen, vergiss das nicht“, meinte der Fremde.

Der Spion drehte sich um.

„Boris, was erlaubst du dir, mich so zu erschrecken?“

„Entschuldigt. Der Kutscher gab uns ein Zeichen, dass etwas nicht stimmte.“

„Ach, tatsächlich?“

„Ja. Ich würde wirklich gerne wissen, was los ist. Führst du Selbstgespräche?“

Dijkstra sah Kroll herausfordernd ins Gesicht.

„Wenn ich Selbstgespräche führe, dann nur, weil ich laut nachdenke. Das mache ich im Übrigen öfters.“

Boris sah ihn zweifelnd an.

„Gut. Es wirkt nur etwas ... verrückt, wenn man dich in der Öffentlichkeit so erlebt. Und vielleicht solltest du deine Gedankengänge wirklich für dich behalten ... Aus Sicherheitsgründen, du verstehst?“

„Verzieh dich wieder auf deinen Posten!“

„Ist ja schon gut, kein Grund, wütend zu werden.“

Kroll ritt zur Spitze und begann augenblicklich ein Gespräch mit Leif und den anderen beiden Soldaten seiner Eskorte.

Der Spion sah ihnen eine Weile zu, schaute hin und wieder auf den Rücken des Kutschers. Täuschte er sich, oder herrschte wieder strahlender Sonnenschein?

„Du kannst mich nicht so rein reiten ...“, hauchte er, als er sicher war, dass der Mann auf dem Kutschbock abgelenkt war.

Der Fremde antwortete ihm nicht. Dijkstra drehte sich zu dem Glatzkopf um. Er war wieder allein. Auf der Bank neben ihm lag lediglich der Holzlöffel, den der Fremde aus seiner Tasche gezogen hatte. Zerbrochen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Peacer
2018-08-14T18:14:47+00:00 14.08.2018 20:14
Ach Roche, der Arme. Vertrau dich doch jemandem an!
Und gesteh dir endlich ein, dass du auf Ves stehst, geez. xD
Au weia, ich hoffe doch sehr, dass Geralt ihn abmurkst, bevor Roche bezahlen muss. xD Wenigstens hat er den Vertrag gründlich durchgelesen...
Gaunter O'Dimm ist wirklich genial als Charaktere und du machst ihm alle Ehre. Was wohl aus Sigi wird...


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