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Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare

von

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Kapitel 9.

Sofort, als meine Zimmertür ins Schloss fällt, drehe ich den Schlüssel um, damit niemand hereinkommen kann und atme tief ein, obwohl das Atmen wehtut. Besonders das tiefe Einatmen. Aber dafür, unter anderem, habe ich ja Schmerztabletten bekommen. Gleich die Starken, die einen ziemlich neben der Spur stehen lassen, wenn man sie genommen hat. Eigentlich ist es lächerlich, doch ich denke im Moment nicht rational und muss weinen, als ich feststelle, dass das Zimmer noch ein bisschen nach Juli riecht. Juli, Juliet. Juli, Juli, Juli, Juliet. Was muss ich verdammt noch mal dafür tun, dass sie aus meinem Kopf, der auch ohne sie höllisch schmerzt, verschwindet? Ich lege die Tüte mit den Schmerztabletten, die der Kanakenarzt meinen Eltern ausgehändigt hat, auf meinen Schreibtisch und mein Smartphone dazu, nachdem ich zwanzig Nachrichten, die alle von Juli sind, nach einem Augenblick des Zögerns, ohne sie zu lesen, gelöscht habe. Es geht nicht, es darf nicht sein. Es ist, wie Paul sagt, wider die Natur. Es ist zu ihrem und meinen eigenen Schutz, denn es geht hier auch um mein Leben. Wenn ich es noch einmal verbocke, habe ich es verwirkt. Die Schmerzen, überall an und in meinem Körper, sind furchtbar, aber ich will keine Tablette nehmen, weil ich weiß, wie scheiße die Teile mich umhauen, wenn ich nichts gegessen habe. Die Tränen brennen auf meiner heilenden Haut, doch ich kann sie nicht verhindern. Weshalb ich mich frage, wie viel ein Mensch weinen kann, bevor er keine Tränen mehr übrig hat. Ich gehe langsam auf mein Bett zu und lege mich umständlich langsam, wegen der Schmerzen, darauf. Scheiße. Das Bett ist schlimmer. Es riecht noch intensiver nach ihr. Nach Juli. Gott, was muss ich tun, damit es aufhört? Nicht viel stelle ich fest. Mein Körper ist so erschöpft von der Tortur und dem vielen Weinen, dass er mich nicht sehr viel länger aushält. Ich schaffe es nicht einmal mehr, einen klaren Gedanken zu fassen, so schnell reißt mich der Erschöpfungsschlaf davon. Ich erwache erst am frühen Sonntagabend und bin völlig desorientiert, mit höllischen Schmerzen und Julis Geruch in der Nase, der zu meinem Leidwesen immer weniger wird. Leidwesen? Nicht Glück?
 

Der Schmerz ist es, der mich schließlich aus dem Bett befördert. Leise vor mich hin fluchend, bringe ich mich dazu, aufzustehen, was eine halbe Ewigkeit dauert. Auf meinen wackeligen Beinen schleppe ich mich zu meiner Tür, schließe sie auf und bin erleichtert, nicht runter in die Küche zu müssen, weil auf meiner Türschwelle ein Tablett mit Essen und Trinken steht. Nichts geht ohne Schmerzen, ächzend kicke ich die Tür zu, nachdem ich das Tablett hochgehoben habe und setze mich damit an meinen Schreibtisch, wo ich ein gefaltetes Blatt Papier entdecke, was ich vor dem Schlafen nicht gesehen habe. Zögernd entfalte ich es und lese die kurze Nachricht mit einem traurigen Lächeln. Wann sie wohl dazu Zeit hatte? Es handelt sich um einen Gutschein von Juli, sie lädt mich zu einem Kinofilm meiner Wahl ein, wenn ich nicht wieder nach den ersten zwanzig Minuten die Flucht antrete. Ich zerknülle das Stück Papier, lasse es auf meinen Schreibtisch fallen und spüre, wie mir übel wird, als ich an sie denke. Daran denke, wie scheiße ich sie behandelt habe und weiterhin behandeln muss. Ich könnte schon wieder weinen, weshalb ich abrupt aufstehe und der eintretende Schmerz, mich einen Moment vergessen lässt, wo ich bin. Als ich mich wieder gefangen habe, lasse ich das Essen auf meinem Tisch Essen sein und schleiche aus meinem Zimmer und unter Anstrengung hinab nach unten, wo ich mir meine Jacke überwerfe und meine Schlüssel aus der Schlüsselschüssel nehme. Die Kapuze meiner Jacke ziehe ich mir tief ins Gesicht, über den Verband, der langsam zu jucken beginnt. Die Haustür fällt ins Schloss und ich achte nicht darauf, wo mich meine wackligen Beine hintragen. Hier und da bleibe ich einen Moment stehen, wenn die Schmerzen zu stark werden, sehe mich aber nicht um, sondern bin tief in meinen eigenen, dunklen Gedanken gefangen.
 

Als ich Kies unter meinen Füßen, durch die Schuhsohlen stechen fühle und die Umrisse einer Schaukel, in der Dunkelheit der Nacht erkennen kann, schnappe ich aus meinen Gedanken und erkenne, dass ich am Rand eines Spielplatzes stehe. Unentschlossen gehe ich auf die Schaukel zu und setze mich nach einem Moment und beginne vorsichtig vor und zurückzuschwingen. Überraschenderweise schmerzt mich beim Schaukeln nichts. Ich erkenne den Spielplatz, hier war ich früher oft mit meiner Schwester, bis Lari keinen Bock mehr auf Spielplatz und mich diese Kanaken, hier in der Nähe vermöbelt hatten. Die Metallkettenglieder quietschen fröhlich vor sich hin und durch einen etwas kräftigeren Windstoß, rutscht mir meine Kapuze vom Kopf. Wenn ich den blöden Verband nur lösen könnte, die Haut darunter juckt fürchterlich.
 

»Yo«, erklingt eine dunkle Stimme neben mir und ich zucke erschrocken zusammen, halte die Schaukel an und mein alter Freund, der Schmerz, durchfährt meinen ganzen Körper. »Scheiße«, stöhne ich des Schrecks wegen und sehe neben mich, zu der zweiten Schaukel, die nun besetzt ist.
 

»Kannst du auch nicht pennen?«, fragt die Gestalt neben mir und eine kräftige Alkoholfahne weht mir entgegen, als die Gestalt zu schaukeln beginnt.
 

»Nee, ich habe höllische Schmerzen«, erwidere ich und weiß nicht, was mich dazu bewegt hat, zu antworten. Doch als die Worte meinen Mund verlassen haben, ist es zu spät, sie zurückzunehmen. »Mit denen es verdammt schwer ist, zu schlafen, wenn man nicht gerade todmüde ist.«
 

Die Gestalt neben mir hält an, sieht zu mir und hält mir eine Flasche entgegen. »Willst einen Schluck? Ist leider nur Billigfusel, aber ich teile gerne. Dir wurde ziemlich übel mitgespielt, yo?«, werde ich gefragt, als ich die Flasche entgegennehme und die Gestalt neben mir näher betrachte. Dabei stelle ich überrascht fest, dass die Person kein Kerl ist, wie ich es wegen dem Verhalten und der dunklen Stimme angenommen habe. Ich genehmige mir einen kleinen Schluck und nach dem der erste Anflug von Ekel verschwunden ist, einen weiteren. Nach dem vierten, großen Schluck, reiche ich die Flasche etwas beschämt zurück. »Dankeschön.«
 

»Bitte. Willst du drüber reden?«
 

Seufzend beginne ich mich wieder leicht hin und her zu schwingen und ignoriere den Schmerz in meinen Rücken für den Moment. »Nein, da gibt es nichts zu reden. Ich habe Mist gebaut und muss nun mit dem Echo leben, wenn ich nicht in einem Sarg meinen Abschluss machen möchte.« Ein Windstoß, der mich voll erwischt, weil ich ihm schaukelnd entgegenkomme, treibt mir die Tränen in die Augen und ich halte an, um sie mir mit dem Ärmel meiner Jacke wegzuwischen.
 

»Bist du dir sicher? Mein Opa sagte immer, dass es für alles eine Lösung gibt, yo. Noch einen Schluck?« Ich nehme ihr die Flasche wortlos ab und ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten, beginnt sie immer höher zu schaukeln. Leise seufzend strecke ich vorsichtig meine Beine aus, halte mich mit einer Hand an der Kette fest und hebe die Flasche zu meinem Mund, während meine Augen den Himmel nach Sternen absuchen. Als die Schaukel neben mir langsamer wird, spüre ich den Alkohol in meinen Beinen. Sie werden angenehm schwer und der Schmerz ist nicht mehr so präsent. »Ich bin übrigens Nina. Und du?«
 

»Romy«, erwidere ich und reiche Nina die Flasche zurück.
 

»Wer war es, der dich so zugerichtet hat?«, fragt Nina neugierig und trinkt einen Schluck. Sie stößt ein verächtliches Geräusch aus und schwingt leicht vor und zurück. »Faschos waren das, oder?« Überrascht starre ich Nina an. Ist es so offensichtlich?
 

»Wie kommst du darauf?«
 

Nina trinkt einen weiteren Schluck und sieht mich schulterzuckend an. »Na die sieht man hier in der Gegend doch an jeder Ecke, yo? Wäre also keine große Überraschung. Was hast du angestellt, dass die dich so zugerichtet haben?«

Nichts, will ich sagen und Nina anlügen, der Alkohol muss es sein, der meine Zunge lockerer sitzen und die Wahrheit sprechen lässt.
 

»Ich«, stocke ich und sehe auf meine Füße. »Man hat mich gestern erwischt, wie ich mich mit unwürdigem Abschaum abgegeben habe. Dafür musste mich Paul bestrafen.«
 

Nina schnaubt abwertend und ich bereue es sofort, ihr davon erzählt zu haben und die Angst kehrt in meine Brust zurück. Ich habe Pauls Namen erwähnt. Hoffentlich wird er nie davon erfahren. »Du gehörst also zu dem braunen Gesocks, yo? Mann, und mit so was teile ich meinen Fusel. Wie tief bin ich bloß gesunken?«, die letzten Worte spricht Nina mehr zu sich und steht auf und sieht mich an. »Du bist auf jeden Fall tief gesunken. Wenn ich so zugerichtet werden würde, würde ich meine Beine in die Hand nehmen und mir so schnell es nur geht, andere Freunde suchen.«
 

»Und riskieren, dass meine Familie und Freunde bedroht werden?«, frage ich und kralle meine Finger fest um die Metallkette. Nina reicht mir die Flasche zurück und ich trinke den letzten Rest mit einem Mal aus. Achtlos lasse ich die leere Flasche zwischen meinen Beinen auf den Boden gleiten. Nina stellt sich direkt vor mich, hält die Metallketten meiner Schaukel fest und kickt die Flasche zu meinen Füßen, irgendwo nach hinten.
 

»Wie ich schon sagte, es gibt für alles eine Lösung. Mehrere Lösungen, du musst dich nur für eine Lösung entscheiden und hoffen, dass du mit deiner Entscheidung Frieden schließen kannst. Du kannst die Bullen einschalten, wenn sie euch bedrohen. Wegziehen, wenn das nicht hilft. Hauptsache du kommst aus dieser negativen Beeinflussung raus. Den ersten Schritt musst du aber tun, durch den Rest, musst du nicht alleine durch. Es gibt Stellen, die extra für Aussteiger aus der rechten Szene gedacht sind.«
 

»Scheiße«, lache ich hohl auf. »Du klingst wie eine dieser Zecken, die immer am Hauptbahnhof abhängen. Was macht euch besser als uns, hm?« Nina zuckt überrascht zurück, als ich aufspringe und wir uns nun auf Augenhöhe befinden. Eigentlich dachte ich, sie wäre kleiner. Ich strauchel gegen Nina, als mich eine Welle des Schmerzes überkommt, die gepaart mit meiner Angetrunkenheit nicht lustig ist.
 

»Wir verprügeln niemanden so schlimm, dass es genäht werden muss«, kommentiert Nina und hält mich fest. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«
 

»Danke«, schnaube ich und drücke mich von ihr weg. »Ich schaffe das auch alleine. Ich muss mich nicht von einer Zecke nach Hause bringen lassen. Am Ende lande ich nur wieder im Krankenhaus.«
 

»Doch musst du«, ertönt es über mir, als ich unsanft mit meinen Knien auf dem Boden aufpralle und ein stechender Schmerz durch meinen Oberkörper schießt. Verdammte geprellte Rippe und die Schmerzen in meinem Kopf werden auch nicht besser. Ich hätte den Alkohol nicht trinken sollen. Nina greift mir unter die Arme, zieht mich zurück in den Stand und legt dann einen meiner Arme über ihre Schultern und stabilisiert mich mit der anderen Hand, damit ich nicht nach vorne umfalle. »Sag an, in welche Richtung wir müssen, yo?«
 

Ich kralle mich fester als nötig an Ninas Kleidung fest und hasse meinen aktuellen Gleichgewichtssinn. Weil die Schmerzen in meiner Brust nicht besser werden, schweige ich, zeige ihr mit meinem Zeigefinger den Weg und konzentriere mich ganz auf meine Atmung. Nach und nach wird es wieder angenehmer. Sehr schnell wünsche ich mir aber die Schmerzen zurück, da diese mich wenigstens davon abgehalten haben, zu viel an Juli zu denken. Sie hasst mich jetzt bestimmt. Ich hasse mich jedenfalls, besonders für meine Worte und mein Benehmen ihr gegenüber.

»Erzähl mir von dem«, Nina lächelt mich zynisch an. »Abschaum, mit dem du erwischt wurdest und dir direkt so eine Abreibung verdient hast.«
 

»Sie ist wunderschön«, murmle ich und muss stehen bleiben, weil mir alles wehtut. Ich weiß nicht, warum ich Nina von Juli erzähle. Vermutlich ist es immer noch der Alkohol. »Sie hat die schönsten Augen, in die ich jemals geblickt habe«, schwärme ich.
 

»Und was ist sie? Türkin? Jüdin? Afrikanerin?«, holt Nina mich aus meinen Erinnerungen, als wir weitergehen. Verdammte Schmerzen. Jeder Schritt ist eine Überwindung.
 

»Pakistan, da kommen ihre Eltern her, sie selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen.«

Schweigend gehen wir einige Minuten weiter, bis es Nina ist, die unter einer Laterne stehen bleibt und mich ernst ansieht. »Weißt du eigentlich, dass du immer ein Lächeln auf den Lippen hast, wenn du im Gedanken zu ihr abschweifst?«
 

»Tue ich?«, frage ich erschrocken und versteife mich. Scheiße, wenn das stimmt, habe ich ein Problem. Ich muss versuchen eine gleichgültige Miene zu zeigen, wenn ich an sie denke. Vielleicht kann ich das die kommende Woche üben? Zu irgendetwas muss diese Krankschreibung nütze sein. Sobald ich zu Hause bin, lösche ich ihre Nummer, die sie mir gegeben hat, vernichte den Gutschein, lösche sie bei Facebook und übe vor meinem Spiegel.
 

»Yo, die Braut geht dir ganz schön unter die Haut, hm? Wer ist sie, dass sie so einen hohen Stellenwert in deinen Gedanken einnimmt, obwohl du wegen ihr erst im Krankenhaus gelandet bist?«
 

»Niemand«, erwidere ich mit fester Stimme und verbanne jeden Gedanken an Juli, indem ich versuche, an Paul zu denken. Als ich dann aber Nina neben mir wahrnehme und denke, dass auch sie schlechter Umgang, in Pauls Augen, ist, lasse ich es und frage mich stattdessen, wie ich von so einem bisschen Fusel, so alkoholisiert werden konnte.

»Für einen Niemand beschäftigt sie dich ganz schön«, flüstert Nina und zieht mich weiter. Wir schweigen, bis wir mein zu Hause erreichen. Nina lässt mich los und ich gehe langsam auf die Haustür zu. Nach drei Schritten drehe ich mich zu ihr zurück. »Danke fürs Bringen. Dafür, dass du eine Zecke bist, bist du echt okay.«
 

»Ich habe zu danken. Danke für die Ablenkung, soll ich später vorbei kommen und wir machen irgendetwas?«, lächelt Nina mich an. Nett ist sie ja, aber wenn mich jemand mit ihr sieht, kann ich mir meinen Sarg wirklich bestellen gehen. »Nein, ich denke eher nicht, wenn uns jemand zusammen sieht, liege ich im Leichenschauhaus.«
 

Enttäuscht sieht mich Nina an. »Okay, schade. Ist dein Bier, aber ich dachte, ich versuche wenigstens, dir eine Möglichkeit zu zeigen, wie dir der Ausstieg leichter fallen könnte. Denn mit Freunden außerhalb der Szene brauchst du die Idioten innerhalb bestimmt nicht mehr.« Nina winkt lax, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort in die Richtung, aus der wir kamen. Ich sollte rein gehen und mich die Treppen zu meinem Zimmer hoch kämpfen.
 

»Hey«, rufe ich ihr hinterher. »Komm am Nachmittag vorbei, wenn du Bock hast.«
 

»Yo«, ruft Nina über ihre Schulter hinweg, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Bis dann.«
 

Ich muss lebensmüde sein, denke ich schmunzelnd, als mich die Schmerzen wieder an Paul erinnern. Vermutlich sehe ich aus wie eine Irre, als ich vor der Haustür, in meinen Jackentaschen nach dem Schlüssel krame und wie bescheuert lache. Das Öffnen der Tür wird mir abgenommen und ich trete noch immer lachend in den Flur. Papa drückt die Tür hinter mir ins Schloss und Mama steht mit verschränkten Armen vor mir und sieht mich ernst an.

»Wo kommst du jetzt noch her, um diese gottlose Uhrzeit?«
 

Ich gebe mir wirklich Mühe, nicht weiter zu lachen und habe es schon auf ein stockendes Kichern reduziert, als ich aber ihr verkniffenes, wütendes Gesicht betrachte, kann ich nicht an mich halten und verfluche den Alkohol dafür, dass er es mir so schwer macht, nicht zu lachen. Denn eigentlich sollte ich weinen, bei den Schmerzen, die ich immer noch habe. »Ich war spazieren und auf dem Spielplatz.«
 

»Natürlich«, zickt Mama mich an. »Und ich bin des Weihnachtsmanns kleine, grüne Gehilfin. Hör auch mich für dumm zu verkaufen, Romy. Du hast die restliche Woche Hausarrest und nun ab auf dein Zimmer.« Den Hausarrest hat sie mir sicherlich nur verpasst, damit ich mich nicht mehr mit Paul treffen kann, von dem sie ja annimmt, dass ich ihn gerade gesehen habe. Also war mein Hausarrest nichts anderes als ein Umgangsverbot. Clever von Mama, das so zu vertuschen. Mit jeder Stufe, die ich erklimme, spüre ich, wie der Alkohol aus meinem Körper weicht und der Schmerz immer schlimmer wird. Ob ich es riskieren kann, eine der Schmerztabletten zu nehmen? Die letzte Stufe kämpfe ich mich ächzend hoch, als ich die Stimmen von Mama und Papa aus dem Wohnzimmer höre. Sie streiten sich lautstark, vermutlich wegen mir. Seufzend lehne ich mich gegen meine Zimmertür und drücke mit meinem Ellenbogen die Türklinke hinab.
 

»Romy, bist du das?«, erklingt Laris verschlafene Stimme und hält mich zurück. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, flüstert sie, als unten im Wohnzimmer Ruhe einkehrt und sie mich vorsichtig umarmt hat. Weil ich zurzeit über null Gleichgewichtssinn verfüge, stolpern wir rückwärts in mein Zimmer. Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass wir gemeinsam hinfallen, indem ich mich im letzten Moment an der Tür festhalte. »Uhh Lari«, zische ich und sehe schwarze Punkte vor meinen Augen. »Du tust mir weh.«
 

»Sorry«, erwidert Lari, sieht mich reuevoll an, nachdem sie mich losgelassen hat. Erleichtert schleppe ich mich zu meinem Bett und lasse mich darauf nieder, während Lari die Tür zu drückt und sich dann unschlüssig zu mir zurückdreht.
 

»Ist schon okay«, lächel ich schwach und klopfe neben mir auf das Bett. »Tut mir leid, dass ich, ohne etwas zu sagen, gegangen bin. Ich brauchte frische Luft.«
 

»Wo warst du?«, fragt meine Schwester, kommt meiner stummen Einladung nach und rümpft ihre Nase, als sie neben mir auf dem Bett sitzt. »Du stinkst furchtbar nach Alkohol.«
 

»Irgendwie bin ich auf dem Spielplatz gelandet, weißt du noch, der, zu dem wir früher immer regelmäßig gegangen sind?« Lari nimmt meine Hand und legt sie in ihre.
 

»Was hast du denn da gemacht?«, fragt sie mich und drückt meine Hand kurz.
 

»Geschaukelt«, grinse ich schwach. »Ich wollte meinen Kopf von all dem Ballast freibekommen.«
 

»Wo passt da der Alkohol dazu?«
 

»Nina hat ihre Flasche Billigfusel mit mir geteilt. War irgendwann einfach da. Gehört zu den Zecken, die regelmäßig am Bahnhof anhängen. Hatte wohl Bock aufs Schaukeln oder Krach zu Hause, was weiß ich. Sie war es auch, die mich unfallfrei hierher gebracht hat.«
 

Ich sehe es an Laris ganzer Haltung, dass sie mir nicht glaubt, dazu muss ich ihr noch nicht einmal in die Augen sehen. »Hey Süße, habe ich dich jemals angelogen?« Lari schüttelt ihren Kopf und entspannt sich ein bisschen.

»Siehst du. Also warum sollte ich jetzt damit anfangen?«, frage ich sie, als sie mich noch immer zweifelnd ansieht.

»Ach komm schon, Lari. Aber gut, dann glaub mir halt nicht. Nina will nach der Schule vorbei kommen, dann kann sie dir bestätigen, dass wir auf dem Spielplatz waren und ihre Flasche geleert haben.«
 

»Ist es die Nina?«, fragt Lari plötzlich und schaut mich interessiert an.
 

»Wie, die Nina?«, frage ich irritiert zurück.
 

»Weil du von Zecken sprichst. Auf meiner Schule gehen einige Punks und die haben eine stadtbekannte Punkrockband. Nina ist Frontsängerin dieser Band. Nennen sich Herzzivil.«
 

»Kenn ich nicht«, murmle ich, wobei das kein Wunder ist, höre ich doch nur Rechtsrock, die Onkelz und ein paar ausgewählte englischsprachige Bands. »Lassen wir uns überraschen, die Stadt ist groß. Sicherlich gibt es mehr als eine Nina. Mach dir nicht so viele Sorgen um mich, Süße. Ich komme schon klar.«
 

»Das sieht man ja«, entfährt es Lari ungewollt. Weil sie mich gleich darauf entschuldigend ansieht, weiß ich, dass sie das eigentlich nicht laut sagen wollte. Sie drückt meine Hand sachte und steht auf. »Ich sollte wieder schlafen gehen. Im Gegensatz zu dir, muss ich nachher wieder in die Schule. Sieh zu, dass du noch etwas isst.«
 

»Ja Mama«, murmle ich und entlocke Lari damit ein leises Lachen, bevor sie die Zimmertür aufzieht und geht.
 

Das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf nervt. Ich will mich ins Bett legen, einschlafen und alles, für einen Augenblick, vergessen. Aber ich bin nicht müde und nicht liegen, wegen den Schmerzen. Wie spät es wohl ist? Ich taste nach meinem Smartphone, doch es liegt nicht an seinem eigentlichen Platz. Ich stehe stöhnend auf und schleppe mich zu meinem Schreibtisch, wo das Tablett mit dem Essen steht, die Schmerztabletten und mein Smartphone noch liegen. Ich nehme es und schaue auf die Uhrzeit. Kurz nach Mitternacht erst. Drei neue Nachrichten habe ich bekommen, seit ich die zwanzig von Juli gelöscht habe. Die jüngste Nachricht ist von Paul.
 

22:31; Paul Mazur: ›Meine Maulwürfe haben mir Interessantes berichtet. Romy, das ist meine letzte Warnung, lass die Finger von Abschaum, sonst muss ich mit den Jungs doch einmal ausrücken und dort wo sie wohnt, aufräumen. Ja, ich weiß, dass sie dich gefunden und erstversorgt haben. Du hättest direkt gehen sollen!‹
 

Ich kralle mich an meinem Schreibtisch fest, um nicht vom Stuhl zu kippen, als mich eine unbeschreibliche Angst überkommt. Also stehe ich tatsächlich unter Beobachtung? Was kann ich dafür, dass ich ausgerechnet von Juli erstversorgt wurde? Mit den zitternden Fingern meiner Hand, die das Smartphone hält, öffne ich die Nachricht von Uschi und versuche, mich zu beruhigen.
 

18:00; Uschi Maler: ›Danke, dass du dich gestern bei mir gemeldet hast. Das bedeutet mir wirklich viel. Wenn du uns brauchst, scheu dich nicht und melde dich!‹
 

So schnell, wie meine Finger reagieren, kann ich gar nicht darüber nachdenken, was ich gerade tue. Erst als ich mir das Smartphone ans Ohr drücke, kommt in meinem Hirn an, dass ich gerade Uschi anrufe. Es klingelt und klingelt. Ich will gerade auflegen, als auf der anderen Seite jemand ran geht. »Hallo?«, murmelt Uschi verschlafen.
 

»Hey«, murmle ich unsicher und bekomme einen Krampf in der Hand, die den Tisch umklammert hält.
 

»Wer ist da?«, fragt Uschi und ich kann es rascheln hören. Ich stelle mir vor, dass sich Uschi gerade aufgesetzt hat. »Romy«, ruft sie und klingt plötzlich hellwach. Vermutlich hat sie aufs Display geschaut und meinen Namen gelesen. »Ist etwas passiert?«
 

»Ja«, erwidere ich und spüre, wie ich nicke, obwohl sie das nicht sehen kann und plötzlich sind überall Tränen. Schon wieder. »Ich wurde zusammengeschlagen«, schniefe ich und hasse mich für diesen Gefühlsausbruch. Dabei stelle ich aber etwas wichtiges fest. Ich weine nicht nur wegen dem, was sie mir angetan haben oder wegen meinen Schmerzen und der Platzwunden. Ich weine, weil ich ohne große Emotionen, völlig skrupellos auf den Mann gezielt und den Abzug der Waffe betätigt habe. Was macht das aus mir? Ob ich irgendwie überprüfen kann, ob sich der Mann selbst befreien konnte? Hoffentlich geht es ihm gut.
 

»Romy, was ist passiert?«
 

»Paul ist passiert«, hauche ich und höre Uschi auf der anderen Seite scharf einatmen. »Er ist wieder frei. Schubi hat alles auf sich genommen.«
 

»Erklärt mir lieber, warum du zusammengeschlagen wurdest.« Ich seufze. Eigentlich will ich nicht mehr daran denken, aber wenn ich sie schon anrufe, kann ich ihr auch gleich alles erzählen. Uschi ist schließlich meine erste und längste Freundin.
 

»Erinnerst du dich, an unser Gespräch am Samstag?«
 

»Natürlich«, erwidert Uschi und klingt ein bisschen konfus. »Aber was hat unser Gespräch damit zu tun?«
 

»Weißt du noch, wie du mich gefragt hast, wer das war? Als du etwas gehört hast, wo ich meinte, Niemand?« Uschi bleibt einen Moment still und ich stelle fest, dass der Krampf in meiner Hand vorbei ist. Ich strecke meine Finger, mache eine Faust und strecke die Finger wieder aus.
 

»Ja ich erinnere mich. Ich war der Meinung, das Wort Voraussetzungen, gehört zu haben.« Ich lege meine entkrampfte Hand auf meinen Schoß.
 

»Das war Juli«, beginne ich zu erklären. »Ihre Eltern kommen aus Pakistan und Paul hat mich gesehen, wie ich sie geküsst habe«, fasse ich das Geschehen kompakt zusammen und höre Uschi überrascht ausatmen. »Deswegen habe ich mir die beiden Platzwunden, die Rippenprellung und die zahlreichen blauen Flecken verdient. Und jetzt droht mir Paul, weil es zu meinem Pech Juli und ihr Vater waren, die Ersthilfe geleistet haben, damit, bei neuerlichem Kontakt, mit seinen Jungs auszurücken und bei ihr zu Hause einmal aufzuräumen. Uschi ich habe höllische Angst«, flüstere ich den letzten Satz und kralle meine freie Hand dieses Mal in meinen Oberschenkel. »Denkst du, dass ihr kommen könnt? Scheiße, nein vergiss es, bleibt dort, wo ihr seid. Paul hat euch zum Abschuss freigegeben.«
 

»Wow«, beginnt Uschi nach einigen Augenblicken, in denen ich mir schon ausgemalt habe, dass sie nicht mehr mit mir spricht. »Ich bin sprachlos. Ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht, was ich als Erstes fragen soll. Aber seit wann küsst du Mädchen? Nicht das ich Pauls Aktion gutheiße, denk das bloß nicht. Ich bin immer noch froh, das wir übers Aussteigen geredet haben und du unser Telefonat nicht ablehnend beendet hattest.«
 

»Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir von diesen wunderschönen Augen vorgeschwärmt habe?«
 

»Nein«, stößt Uschi laut aus und lacht. »Die gehören nicht dieser Juli, oder? Du hast mir so oft von diesen Augen erzählt, das mir noch heute die Ohren bluten«, scherzt Uschi.
 

»Doch genau die«, hauche ich. »Und der Kuss, die Küsse, tja, wo genau das herkam, weiß ich noch nicht so genau.«

»Oh Mann. Romy du bist unglaublich. Wirklich! Nur du schaffst es und kannst unter tausend Menschen genau die Person wiederfinden, die dich der Polizei beschreiben konnte«, flüstert Uschi und kichert. Daran habe ich noch gar keinen Gedanken verschwendet.
 

»Meinst du echt, dass Juli das war?« Das ich wegen ihrer Beschreibung meine Haare lassen musste?
 

»Wer sonst?«, erwidert Uschi und ich kann sie mir bildlich vorstellen, wie sie breit grinst. Ja. Richtig, wer sonst. Ich weiß nicht, wer mich sonst noch gesehen hat, als mir die Kapuze vom Kopf gerutscht ist.
 

»Paul meint, es sei wieder die Natur«, flüster ich, weil ich nicht direkt fragen will, wie Uschi darüber denkt, dass ich ein Mädchen geküsst habe. Schweigen. Eine ganze Weile sagt Uschi nichts und ich höre nur ihren Atem.
 

»Entschuldige, ich wollte sichergehen, dass die Belustigung aus meiner Stimme ist, bevor ich dir antworte. Nicht dass du denkst, ich würde dich auslachen. Paul ist ein Arsch, Romy, und ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin. Weder über Pauls Verhalten noch über dich.« Das ist nicht die Antwort, mit der ich gerechnet habe.
 

»Nicht?«
 

»Nein. Denn ich habe schon länger geahnt, dass du ein Ding für Frauen hast. Schließlich lagen deine Augen immer auf den weiblichen Bandmitgliedern, wenn wir auf Konzerten waren und all die Typen, die dich beeindrucken wolltest und die du nicht mit dem Arsch angesehen hast. Deswegen war ich ja so überrascht, dass du mit Paul zusammengekommen bist.« Uschi lacht abermals, als ich nichts mehr sage und sie mich nur noch schniefen hört. »Pass auf, Ralf und ich kommen zu dir. Wir setzen uns gleich ins Auto und fahren los. Völlig egal, ob Paul uns zum Abschuss freigegeben hat oder nicht, du bist uns verdammt wichtig und ich habe dir ja gesagt, dass ich dir helfe, wenn du Hilfe brauchst.«
 

»Kannst du mir noch einen Gefallen tun?«, frage ich erstickt, nachdem ich mich wieder etwas gefangen und mir die Tränen aus dem Gesicht gestrichen habe.
 

»Alles, außer du willst, dass wir uns küssen«, höre ich sie leise lachen.
 

»Keine Sorge«, murmle ich und räuspere mich. »Ich«, beginne ich und muss mich erneut räuspern und zum Weitersprechen zwingen. »Ich musste mich beweisen, nachdem Paul der Meinung war, ich hätte genügend Schläge und Tritte empfangen. Er«, ich stocke und Uschi macht ein ermutigendes Geräusch. »Er gab mir eine Waffe und ließ mich damit auf einen Mann zielen. Einen Türken.« Uschi atmet hörbar ein und wieder aus. »Ich habe abgedrückt, Uschi«, flüster ich beschämt. »Es waren nur Platzpatronen geladen, zum Glück, aber wir haben den Mann in dem Lagerhaus zurückgelassen. Kannst du der Polizei vielleicht einen anonymen Tipp geben? Du kennst mehr Verstecke als ich, ich weiß nur, dass sich das Lagerhaus in der Nähe des Parks befindet, wo mein Elternhaus steht.«
 

»Mache ich«, erwidert Uschi wertfrei. »Und du hebst alle Drohnachrichten auf, die er dir eventuell schickt. Wir sehen uns bald. Versuch zu schlafen, Romy.«



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