1999
Prolog. 1999.
Nami versteckte sich im Baumhaus, das ihr Großvater Garp vor einem Jahr zusammen mit Ruffy und Ace in dem großen Garten hinter ihrem Haus gebaut hatte, und drückte mit ganzer Kraft eines der herumliegenden Kissen gegen ihre Brust. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie fürchtete, es würde zerspringen.
Schluchzend vergrub sie ihr verheultes Gesicht in dem weichen Stoff und wippte mit ihrem Körper vor und zurück.
Sie hörte wie Ace ihren Namen rief, doch Nami beachtete ihn gar nicht. Er war an allem Schuld. Wenn er ihr nicht diese schreckliche Nachricht überbracht hätte, würde sie jetzt nicht hier sitzen und sich die Augen rausheulen. Wusste er denn gar nicht, wie schlimm das alles für sie war?
„Nami! Jetzt komm schon runter“, hörte sie nun die Stimme Garps. „Die Welt wird nicht untergehen, hörst du? Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen!“
Nami knirschte knurrend mit ihren Zähnen. „Ich bin ein kleines Mädchen!“, brüllte sie zurück und vergrub gleich darauf wieder ihr Gesicht in dem Kissen. Warum konnte ihr Großvater sie nicht endlich mal wie ein normales, neunjähriges Mädchen behandeln?
Ihre kleine Welt war gerade dabei, sich Stück für Stück aufzulösen. Es würde sich einfach alles ändern.
„Hey, Nami.“
Entgeistert schreckte sie beim Klang seiner Stimme auf und blickte mit großen Augen in sein Gesicht. Warum war er hier?
Nami fiel wieder ein, weswegen sie sich hier oben versteckte und rückte eingeschnappt von ihm weg, als er einen Schritt auf sie zuging. Sie wollte ihn nicht sehen, sondern ihn einfach nur vergessen. So unauffällig wie möglich wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und strich den verknitterten Stoff des Kissens glatt.
Mit Argusaugen beobachtete sie jeder seiner Bewegungen, als er sich gegenüber von ihr auf den Boden setzte. Seine schmutzigen Schuhe berührten beinahe ihre neuen Sandalen, die Dadan ihr vorgestern von der Stadt mitgebracht hatte. Wie immer hatte er seine grünen Haare unter einem schwarzen Cap versteckt. Nami wusste, dass er dies nur tat, weil die Zwillingsschwestern von der Straße gegenüber immer ihre Kaninchen auf seinen Kopf setzten, weil sie dachten, da würde Gras wachsen.
Das hatte er ihr mal erzählt. Er sagte, es sei ein Geheimnis und nicht mal Ace wüsste davon. Noch nie war sich Nami so besonders vorgekommen, wie in diesem Moment. Damals dachte sie, er würde ihre Gefühle vielleicht sogar erwidern. Irgendwann vielleicht.
„Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, während er sie musterte.
Am liebsten würde sie ihn anbrüllen und vor Wut auf ihn einprügeln, doch sie blieb einfach still sitzen und wich seinem Blick aus.
„Warum hast du es mir nicht erzählt?“, platzte es plötzlich aus ihr heraus.
Jetzt war er derjenige, der ihrem Blick auswich. „Weil du dann angefangen hättest zu heulen.“
„Ich heule nicht!“, protestierte Nami, doch wusste im selben Moment, dass ihre roten Augen sie verraten würden.
Trotzig stand sie auf und kramte in dem kleinen Kästchen neben ihr herum. Was sie genau suchte, wusste sie selbst nicht. Sie wollte einfach seinen neugierigen Blicken entgehen.
War sie wirklich so eine Heulsuse, dass er ihr nicht mal selber sagen konnte, dass er wegziehen würde?
„Du hast mir doch nicht wieder einen Brief geschrieben, oder?“, fragte Zorro und sah besorgt auf das verknitterte Blatt Papier, das Nami eben aus dem Kästchen gezogen hatte.
Nami spürte, wie die Hitze in ihren Wangen hochstieg. Wütend warf sie ihm eines der Kissen entgegen. Nein, hatte sie nicht! Warum mussten er und Ace sie ständig damit aufziehen? Seit sie schreiben gelernt hatte, schrieb sie täglich Tagebuch und auch den ein oder anderen Liebesbrief für ihn.
War das denn so schlimm daran? Namis beste Freundin Bonney schrieb ständig irgendwelche Briefe an ihre Mitschüler. Auch wenn das nicht gerade Liebesbriefe waren, sondern Beleidigungen, die Nami sich niemals trauen würde auszusprechen.
Dadan hatte vermutlich Recht. Jungs alterten einfach langsamer als Mädchen und mittlerweile war sie vermutlich reifer als er und Ace, die zwei Jahre älter waren als Nami.
Sie strich sich über ihr gelbes Sommerkleid, das Dadan bereits an einigen Stellen geflickt hatte, und wollte das Baumhaus verlassen. Doch im letzten Moment drehte sie sich nochmal zu ihm um. Er saß immer noch auf der gleichen Stelle.
„Leb wohl, Zorro“, verabschiedete sie sich von ihm. Ihrer ersten großen Liebe.
Schon übermorgen würde er mit seiner Familie wegziehen und vermutlich würde sie ihn nie wieder sehen. Noch nie war sie so traurig gewesen. Nicht mal, als Ruffy ihr Lieblingskuscheltier mit einer Schere kaputt gemacht hatte.
Bevor er ihr eine Antwort geben konnte, hastete sie die knarzende Leiter nach unten und lief mit pochendem Herzen ins Haus, wo sie an ihren Ziehbrüdern und Garp vorbei rannte und sich in ihrem Zimmer einsperrte.
Sie suchte in der Schreibtischschublade nach ihrem Block und legte ihn auf den Tisch.
Tief durchatmend beugte Nami sich über das leere Blatt Papier. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Stift in die Hand nahm und die erste Zeile mit ihren Augen fixierte.
Sie würde ihm einen letzten Brief schreiben. Doch dieses Mal sollte es kein Liebes- sondern ein Abschiedsbrief werden und sie nahm sich fest vor, die geschriebenen Zeilen noch vor seiner Abreise an Zorro zu überreichen.
Schniefend wischte sie sich über ihre tränenden Augen. Es gab noch hunderte Lorenor Zorros da draußen, da war Nami sich sicher. Sie würde sich wieder verlieben. Vielleicht nicht morgen oder nächste Woche, aber irgendwann ganz sicher.
Dadan hatte ihr mal gesagt, dass man die erste Liebe niemals vergessen würde.
Doch was zählte, war die letzte Liebe.
Lieber Zorro ...