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Land unserer Väter

Magister Magicae 1
von

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Beschützer

[Moskau, Russland]
 

„Petze-Petze Lise

morgen gibts Gemüse,

übermorgen Schweinebraten,

da seid ihr alle eingeladen“
 

Der Singsang, ein Chor aus etlichen Kinderstimmen, hallte über den ganzen Schulhof, als Mischka nach dem Unterricht aus dem Gebäude kam. Gehässiges Lachen mengte sich darunter. Mitten auf dem Schulhof stand ein kleines Mädchen mit langen, dunkelbraunen Locken, umringt von den anderen Schülern ihrer Klassenstufe. Sie zog ein verbittertes Gesicht, weil sie weg wollte, aber nicht durchgelassen wurde. Sie drückte ein Schulbuch an sich und hatte schon Wuttränen in den Augen.
 

„Petze-Petze ging in' Laden,

wollte Schweizer Käse haben.

Käse Käse gab es nicht,

Petze-Petze ärgert sich.

Ärgert sich die ganze Nacht,

hat vor Wut ins Bett gemacht“, ging es erbarmungslos weiter.
 

Einer der Schüler spritzte das Mädchen mit seiner Trinkflasche nass. Ein anderer begann, ihr derb die Haare zu zerwuscheln. Jemand versuchte ihr die Tasche wegzureißen. Wieder dieses garstige Lachen, wie nur böse Kinder es hinbekamen. Sie sangen weiter dieses gemeine Lied, dessen Wortlaut eindeutig auf ihr Opfer bezogen war.

Das reichte jetzt. Mischka warf seinen Ranzen in die Ecke und rannte los. „Lasst Inessa in Ruhe!“, brüllte er schon von weitem.
 

„Am Morgen kommt die Mutter rein

und sagt zu ihr: du altes Schwein!

Kommt der Vater noch dazu

und sagt zu ihr: du dumme Kuh!“
 

Die 5.-Klässler schafften es noch, die Strophe komplett zu beenden. Keiner hatte auf eine eventuelle Einmischung geachtet. Sie waren alle miteinander viel zu beschäftigt damit gewesen, ihre Mitschülerin zu ärgern. Erst als Mischka sich kopflos in den Pulk hinein stürzte und wie ein Besessener alles boxte und trat, was er in Reichweite bekam, wurden sie munter. Ein paar mutige Jungen nahmen die Herausforderung direkt an und begannen sich mit dem Blondschopf zu prügeln. Die meisten suchten aber das Weite oder blieben zumindest in sicherer Entfernung stehen, um als Kreis Schaulustiger zuzuschauen und die Jungen anzufeuern.

„Euch werd' ich zeigen, was es heißt, meine Schwester zu ärgern!“, fluchte Mischka und rangelte sich verbissen weiter, obwohl seine Gegner in der Überzahl waren.

Irgendwann ging ein genervter Lehrer dazwischen, löste die Pausenhof-Schlägerei auf und schleppte die mutmaßlichen Rädelsführer zum Direktor.
 

Der Schulleiter, ein drahtiger End-Vierziger mit einem langsam immer deutlicher werdenden Grauanteil im Haar, rollte schon mit den Augen, als er den blonden Jungen nur zur Tür herein kommen sah. „Bogatyrjow, du schon wieder ...“, stöhnte er. Er musste gar nicht fragen, was los gewesen war. Mischkas blutige Nase und das leicht zugeschwollene, rechte Auge sprachen Bände. Mal wieder eine Prügelei. Das war schon die dritte in diesem Schuljahr, in die er involviert war. „Hast du es denn wirklich nötig, Kleinere zu verhauen, sag mal?“

„Haben die 'Kleinen' es etwa nötig, auf meiner Schwester rumzuhacken?“, entgegnete Mischka trotzig. So viel jünger waren die übrigens auch nicht. Er war in der 6. Klasse, also gerademal ein Jahr älter als seine Schwester und der Rest ihres Jahrgangs.

Der Schulleiter schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich verstehe, daß du dich als Inessas großer Bruder berufen fühlst, sie zu beschützen. Aber ihr solltet lernen, eure Streitigkeiten mit etwas weniger Gewalt zu lösen.“

„Ich hab ja nicht angefangen!“, beharrte der Junge und funkelte dabei den 5.-Klässler neben sich böse an.

„Wer angefangen hat, ist mir egal. Tatsache ist, daß ihr alle mitgemacht habt. Ich werde mit euren Eltern darüber sprechen. Und ihr schreibt mir bis übermorgen alle beide einen Aufsatz über gewaltfreies Streiten. Mindestens 5 Seiten“, entschied der Direktor. „Jetzt gebt euch die Hand, ihr zwei. Vertragt euch wieder und dann schert euch nach Hause. Und lungert bitte nicht mehr auf dem Schulhof rum, sonst gibt es am Ende gleich wieder die nächsten Rangeleien.“
 

Muffelig verließ Mischka das Büro des Schulleiters. Er fühlte sich total ungerecht behandelt. Wieso durfte er seiner Schwester nicht helfen, wenn sie auf dem Schulhof gepiesackt wurde? Sollte er etwa tatenlos zusehen? Ihre Klassenkameraden waren einfach doof, die verstanden nur eine saftige Tracht Prügel. Und der Direks offenbar auch, nur konnte man den leider nicht verhauen. Der 12-Jährige setzte ein Lächeln auf, als er seine Schwester wartend draußen im Gang sitzen sah.

Sie sprang sofort auf und fiel ihm mit einem „Mischka!“ um den Hals.

„Hey. Lass uns heim gehen, Inessa“, schlug er ruhig vor und strich ihr über die dunklen Haare. Sie kam optisch komplett nach ihrer Mutter, während Mischka mit seinen blonden Strubbelhaaren eindeutig nach dem Vater geraten war.

„Geht es dir gut?“, wollte sie besorgt wissen.

„Ja.“ Er nahm ihr den Schulranzen ab und trug ihn in einer Hand, während er seinen eigenen längst wieder auf dem Rücken hatte. „Worum ging es diesmal?“

„Ich habe eine 5 in Mathe geschrieben.“

„Na, ist doch super. Glückwunsch“, lächelte Mischka sie an. In Russland gingen die Schulnoten von 5 bis 1, wobei die 5 die beste Note war. Eine 5, 4 oder 3 galt gemeinhin als 'bestanden'.

„Meine Klassenkameraden beschimpfen mich aber als Streber.“

„Ach, hör nicht auf sie. Die sind nur neidisch“, entschied der Junge, legte ihr den freien Arm um die Schultern und kam sich dabei unglaublich erwachsen vor. Wie so ein großer Bruder eben sein musste. „Irgendwann werden sie schon verstehen, daß man gute Noten einfach braucht, wenn man es im Leben zu was bringen will.“

„Und wann wirst DU endlich verstehen, daß man gute Noten braucht?“, schmunzelte sie ihren Bruder vielsagend von der Seite an. Seine Noten waren ja auch nicht gerade traumhaft. Mischka war ein Schüler, der sich eher in der Mitte des Notenspektrums bewegte.

„He! Ich weiß, daß man sie braucht, ja!?“, protestierte er. „Ist halt nicht jeder so ein Superhirn wie du. Wenigstens hänsel ich dich nicht für deine guten Noten!“
 

Mischka schloss die Wohnungstür auf und wuschelte gewohnheitsmäßig erstmal den kleinen, weiß-braunen, langhaarigen Pinscher durch, der ihnen wie immer sofort entgegen gesprungen kam. Das Fellknäuel gehörte der griesgrämigen, alten Frau, die mit hier wohnte. Abgesehen davon, daß der Hund am laufenden Band kläffte und alles vollhaarte, fand Mischka ihn aber eigentlich ganz süß.

Diese 6-Raum-Wohnung hier war eine Kollektiv-Wohnung, in der ganze 6 Familien zusammen lebten. Mischkas Familie, die Bogatyrjows, hatten nur ein Zimmer. Die alte, verwitwete Frau mit dem Hund hatte auch ein eigenes. Die Jeschows, die im hintersten Zimmer wohnten, hatten ein Kind in Mischkas Alter und passten häufiger mit auf Mischka und Inessa auf, wenn ihre Eltern verhindert waren. Das Bad und die Küche teilten sich alle. Es war ein Leben auf engstem Raum und unter permanenter, gegenseitiger Überwachung. Man hatte eigentlich nie Privatsphäre. Aber andere Wohnungen bekam man in Russland so gut wie nicht. Jedenfalls nicht als Normalverdiener. Darum waren alle so scharf darauf, irgendwo eine eigene Datsche oder eine Ferienhütte zu haben. Dort war man dann endlich mal unter sich.

„Hi, Mam', wir sind wieder da“, grüßte Mischka und stellte die beiden Schulranzen, die er getragen hatte, in die Ecke.

„Mein Gott, Kind, wie siehst du schon wieder aus?“, gab seine Mutter mit Blick auf seine blutige Nase zurück.

„Ich hab Inessa gerettet!“

„Na, wenn das so ist ...“, scherzte sie und drückte jedem ihrer Kinder einen Schmatz auf die Stirn. Dann schickte sie die beiden zum Händewaschen ins Bad. Nach dem Kaffeetrinken würden sie mit der Bahn in ihre Datsche am See fahren und das ganze Wochenende dort bleiben. Ihr Mann, der Vater der beiden, kam am Abend nach der Arbeit ebenfalls dorthin nach.

Inessa kehrte als erste aus dem Bad zurück. Sie holte ihre Hausaufgaben aus dem Schulranzen und setzte sich damit an den Tisch, um beim Essen ihrer Prjaniki-Lebkuchen schonmal damit anzufangen. Sie war eigentlich immer fleißig. „Dürfen wir Pipp mitnehmen, wenn wir an den See fahren?“, wollte sie wissen, womit sie den kleinen, wuscheligen Pinscher der alten Frau meinte.

„Ich hab nichts dagegen“, stimmte ihre Mutter lächelnd zu. „Frag Frau Beloussov ruhig, ob sie dir ihr Hündchen mitgibt. Bestimmt freut sie sich, wenn sie mal ein Wochenende lang nicht mehrfach am Tag Gassi gehen muss. Sie ist ja nicht mehr so fit.“

„Dürfen wir im See schwimmen?“, warf auch Mischka seine Wünsche ein.

„Nein! Wo denkst du denn hin? Es ist kein Sommer mehr!“, entrüstete sich seine Mutter fassungslos. Sie goss ihm Kakao ein.



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