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Mord im Noh-Theater

Wichtelgeschichte für Puppenspieler
von

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One Shot

Es war ein lächerlich schöner Spätsommertag in Osaka, und wenn Conan lächerlich sagte, meinte er, dass es unfassbar lächerlich war, wie viel strahlender die Sonne über Osaka als über Tokyo schien, wann immer sie denn den Westen Japans besuchten. Oder es lag an Heijis lächerlich breitem Grinsen, das er ihm schenkte, wann immer er ihr kleines Grüppchen am Bahnhof abholte, in die Hocke ging und Conan zur Begrüßung durch die Haare wuschelte. So machte man das schließlich mit Kindern in seinem Alter; so zumindest Heiji (mit einem viel zu kalkulierendem Glanz in den Augen), als er ihn mal in einer ruhigen Minute gefragt hatte, was der Mist überhaupt sollte.

Kinder in seinem Alter. Conan konnte nur müde darüber lächeln, immerhin hatte der Idiot diesen Witz schon viel zu oft gebracht, seit sie sich kannten.

Als sie also an diesem Vormittag aus dem Zug aufs Gleis stiegen und Heiji seine Haare wie gewohnt attackierte, ließ er es einfach über sich ergehen. Bis ihm Kazuha, die zusammen mit ihm gewartet hatte, zur Rettung kam und Heiji belehrte, während er sich still ins Fäustchen lachte.

»So zeige ich meine Zuneigung«, maulte Heiji irgendwann so täuschend echt, dass Conan ihm für einen Moment glaubte. »Der Kleine hat mir gefehlt, okay?«

»Kein Grund, ihm gleich die Haare auszureißen!«

Die beiden funkelten einander an, völlig ungeachtet dessen, dass sie sich immer noch auf dem Gleis befanden, bis Ran sich schließlich erbarmte und versuchte, sie zu beruhigen. Conan seufzte innerlich. Der Tag fing ja schon prima an, und dafür war er extra früh aufgestanden, um den ganzen dämlichen Weg bis nach Osaka zu fahren. Eigentlich freute er sich zwar auch, Heiji wiederzusehen, aber das musste er ihm ja nicht jetzt direkt schon auf die Nase binden, sonst durfte er sich das für den Rest ihres Aufenthalts anhören. Und danach noch für ein paar Tage auf LINE, weil Heiji offenbar ein großes Vergnügen daraus bezog, ihn dort regelmäßig mit Stickern zu spammen.

Neben ihm gähnte Kogoro derweil ausgiebig. Conan fand das an sich ziemlich faszinierend, schließlich hatte er schon für den Großteil ihrer Zugreise geschlafen. Gut, dafür hatte er am Vorabend auch wieder einige Bierchen gezogen, aber dennoch war es erstaunlich, wie viel Schlaf der Mann brauchte, um zu funktionieren.

Kazuha schien sich wieder beruhigt zu haben und lächelte in die Runde.

»Wollen wir dann? Wir haben einiges für euch geplant.«

»Ich hoffe eure Pläne beinhalten ein ordentliches Mittagessen. Ich sterbe vor Hunger.«

Conan rollte mit den Augen, und obwohl Heiji nur auf die Uhr sah und dann mit den Schultern zuckte, war er sich sicher, dass er es ihm innerlich gleich tat.

»Ist zwar noch ein bisschen früh, aber klar, wieso nicht? Wir haben noch genug Zeit, bis wir am Theater sein müssen.«

Die Antwort ließ Conan dann doch aufhorchen. Theatervorführungen waren zumeist so gar nicht seins, aber so, wie Rans Augen bereits jetzt strahlten, konnte er sich da wohl nicht herausreden. Vermutlich hatte Heiji das mit Absicht getan, nur um ihn zu ärgern. Oder Kazuha hatte ihre Finger im Spiel, denn eigentlich konnte er sich nicht wirklich vorstellen, dass Heiji selbst ein großer Fan von so etwas war.

Bevor er nachfragen konnte, hatte Heiji sich zu ihm heruntergebeugt und grinste ihn so unverschämt frech an, dass es ihm alles abverlangte, ihm nicht ins Gesicht zu schreien.

»Was ist, Kleiner? Soll Nii-chan dich huckepack tragen?«

Da Conan seiner Stimme nicht ganz traute, verdrehte er lediglich die Augen und streckte dem anderen die Zunge raus. Seine Reaktion konnte außer Heiji ja sowieso niemand sehen.
 

Der eigentliche Plan hatte darin bestanden, dass sie nach dem Mittagessen alle zusammen ein Noh-Theater besuchten. Conan hatte für einen Sekundenbruchteil überlegt zu versuchen, sich in seiner Suppe zu ertränken, hatte die Idee jedoch schnell wieder verworfen. Er war zu genial, als dass er sein Leben wegen eines langweiligen Tages beenden sollte. Seine Rettung kam jedoch – sehr unerwartet, wie er fand – in Form von Mouri Kogorou, der es doch tatsächlich schaffte, sich mit der Wahl seines Mittagessens eine Lebensmittelvergiftung einzufangen. Zumindest gingen sie davon aus, dass es eine war, schließlich musste der werte Herr mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden.

Selbst ein Aufenthalt in nach Desinfektionsmittel stinkenden Warteräumen war vermutlich angenehmer als ein Theaterbesuch, also nahm er es Ran besonders übel, als sie meinte, sie würde allein mit ihrem Vater ins Krankenhaus fahren. Conan fühlte sich persönlich beleidigt, denn sogar Kazuha hatte als Unterstützung mitkommen dürfen. So blieben nur er und Heiji übrig, denen Kogorou mit letzter Kraft ein gekreischtes ›Damit der Bengel lernt, was Kultur ist!‹ mit auf den Weg gab. Er war sich sicher, dass er ohnehin mehr Kultur in seinem kleinen Finger besaß als der alte Mann im ganzen Körper, aber ihn fragte ja keiner.

Und hier standen sie also, er und Heiji, vor dem Ohtsuki Theater, und wussten nicht so wirklich, was sie machen sollten. Conan hatte sich noch nie weiter mit Noh beschäftigt, aber er musste sich auch keine Aufführung angucken, um zu wissen, dass er es tierisch langweilig finden würde.

Wenn es wenigstens Kabuki wäre! Das fand er zwar auch nicht allzu spannend, aber wenigstens passierte mehr auf der Bühne, als dass eine Handvoll Leute durch die Gegend schlurfte und derart anderweltliche Töne ausstieß, dass wirklich nur die Schauspieler selbst es wagten, diese als Gesang zu bezeichnen.

Nein, Conan musste etwas tun, solange es noch nicht zu spät war. Noch standen sie nur vor dem Theater und hatten noch genug Zeit zu fliehen. Gespielt gleichgültig verschränkte er die Arme hinterm Kopf und ließ den Blick schweifen.

»Nee, Hattori?«

»Hm?«

»Du hast doch bestimmt genauso wenig Lust hierauf wie ich. Wollen wir nichts was Interessanteres machen?«

»Zum Beispiel?«

Alles, wirklich, Conan war in diesem Moment nicht wählerisch, aber das klang zu verzweifelt, also musste er sich eine andere Antwort überlegen.

»Können wir uns nicht das Schloss noch mal ansehen? Oder in einen Buchladen gehen?«

Heiji zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Ihm war der Tonfall des anderen nicht entgangen.

»Das Schloss fandest du beim letzten Mal doch auch nicht sonderlich spannend. Und um Bücher zu kaufen, musst du nicht extra nach Osaka.« Er seufzte leise. »Pass auf, es tut mir leid, dass dir die Aktivitäten, die ich für dieses Treffen geplant habe, nicht in den Kram passen. Aber mein Vater hat hier seine Beziehungen für uns spielen lassen, also tu zumindest so, als wäre ein Schuss ins Knie nicht die bessere Alternative für dich gewesen.«

Das wunderte Conan dann doch nicht. Hattori Heizous Name hatte nicht nur ihnen bereits viele Türen geöffnet, die Normalsterblichen für gewöhnlich verschlossen blieben. Osakas Polizeipräsident kannte so viele Menschen, die ihm noch Gefallen von unterschiedlicher Signifikanz schuldeten, dass der Besuch in einem Theater fast schon lächerlich im Vergleich wirkte.

Trotzdem seufzte Conan innerlich. Heijis Vater in allen Ehren, aber nicht einmal der schaffte es, Noh interessant zu machen.

»Wer hätte gedacht, dass dein alter Herr so auf Noh steht«, bemerkte er resigniert.

»Tut er nicht. Ich hab ihn drum gebeten, dass er mit den Leuten von Ohtsuki spricht.«

»Du magst Noh? Ernsthaft? Das wusste ich gar nicht.«

Conan war davon so überrumpelt, dass seine Arme zurück an seine Seite fielen. Ehrliche Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Heiji sah ihn lange an und zuckte dann mit den Schultern.

»Es gibt einiges, das du nicht über mich weißt, Kudou.«

Irgendetwas an seiner Formulierung gefiel Conan nicht, denn die Implikation dahinter war, dass die Distanz zwischen ihnen größer war, als er angenommen hatte. Noch weniger gefiel Conan der Gedanke, dass Heiji tatsächlich Geheimnisse vor ihm haben könnte, wenn er bereits so etwas Banales noch nicht mit ihm geteilt hatte.

Conan antwortete ihm darauf nicht, teils aus Trotz und teils, weil er nicht wirklich wusste, was er darauf sagen konnte, ohne wie ein beleidigtes Kind zu klingen. Also fügte er sich. Wenn Heiji ein Fan davon war, konnte er dem ganze ja mal eine Chance geben.
 

Ohtsuki bot anscheinend häufiger Aktionen an, bei denen Besucher die Möglichkeit hatten, Kostüme und einfachere Masken anzuprobieren und sich dazu noch etwas mehr Hintergrundwissen über die Theaterform anzueignen. An sich eine echt gute Idee, wenn man denn Interesse an Noh hatte. Conan wäre damit auch vollkommen zufrieden gewesen, aber nein, Heijis Vater hatte es ja übertreiben müssen und sie nicht nur kostenlos in eine dieser Aktionen gebracht, sondern einen so großen Gefallen eingefordert, dass sie sogar bei den Proben zusehen durften. Absolut genial. Conan war so glücklich darüber, dass er hätte schreien können.

Nachdem sie beide schließlich das Theater betreten hatten, waren sie auch sofort von einem alten Mann begrüßt worden, dessen Nase so lang und gekrümmt war, dass Conan sich fragte, wie sie überhaupt hinter eine Maske passen konnte. Motomasa Saburou, so hieß der Gute nämlich, war zwar nicht mit körperlicher Ästhetik gesegnet worden, strahlte aber die Art von Autorität und Selbstsicherheit aus, die einem nur mehrere Jahrzehnte auf einer Bühne verschafften. Es stand außer Frage, dass er ihnen alles über Noh erzählen konnte, wenn sie ihm denn genug Zeit ließen, aber Conan hoffte doch sehr, dass sie diese Zeit nicht hatten.

Heiji hatte Motomasa nach ihrer Begrüßung ihre Situation und das Fehlen der anderen angekündigten Gäste erklärt, aber der alte Mann wirkte nicht allzu besorgt deswegen und ging stattdessen direkt in eine lange Erzählung zur Entstehung von Noh über.

Und da hatte Conan dann auch abgeschaltet. Er hatte gerade noch mitgekriegt, dass man die Hauptrolle Shite und deren Gegenstück Waki nannte, und sah sich jetzt stattdessen lieber die Bühne an, während Heiji anscheinend sehr interessiert zuhörte. Glückspilz. Das nächste Mal sollten sie zum Ausgleich zu einem Fußballplatz gehen.

Innerlich seufzend sah Conan sich im Raum um. Sie befanden sich gerade an den Zuschauerplätzen, die direkt zentral auf die quadratische Bühne sehen konnten. In jeder Ecke der Bühne befand sich ein Pfeiler aus ebenso dunklem Holz wie der Rest. Das von ihnen gehaltene Dach war reichlich verziert und erinnerte ihn an einen Tempel. Auf die Wand am Ende der Bühne war eine große dunkelgrüne Kiefer gemalt, von der Conan für einen kurzen Moment nicht den Blick abwenden konnte. Links davon verlief ein hölzerner Steg, der die Bühne mit dem Backstagebereich verband. Es erinnerte ihn entfernt an das, was man im Kabuki Hanamichi nannte, aber er war sich sicher, dass das Ding in Noh anders hieß und auch eine gänzlich andere Funktion hatte.

Viel spannender wurde der Raum nicht, also konnte es auch nicht schaden, wenn er dem alten Mann wieder zuhörte.

»Bitte achte speziell auf das Dach, Heiji-kun. Noh wurde früher in Shinto Schreinen aufgeführt, also haben die Bühnen bis heute diese Schreindächer, selbst wenn die Stücke drinnen aufgeführt werden. Die Pfeiler wiederum haben die folgenden Namen: Shitebashira, Metsukebashira, Wakibashira und Fuebashira.«

»Die Pfeiler haben unterschiedliche Namen?«

Conan konnte nicht sagen, wer überraschter wegen seiner Frage aussah; Heiji, weil er tatsächlich so etwas wie Interesse zeigte, oder Motomasa, weil er vielleicht schon wieder vergessen hatte, dass er auch anwesend war. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der alte Mann ihn anlächelte.

»Jeder Pfeiler wird mit einem der Schauspieler und ihren Aktionen auf der Bühne assoziiert.«

Motomasa sah ihn an, als würde er mit einer beeindruckten Reaktion rechnen, doch als Conan nur langsam nickte (innerlich fluchend, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte), richtete er sich wieder auf und wandte sich an Heiji.

»Ihr seid bestimmt schon gespannt wegen der Proben. Es wird auch allmählich Zeit, also stelle ich euch den anderen vor.« Er begab sich auf den Weg hinter die Bühne, dorthin, wo Conan die Umkleide vermutete. »Unser aktuelles Stück kommt mit sehr wenigen Schauspielern aus.«

Mit diesen Worten lief er los, ohne zu warten, ob die anderen beiden ihm folgten. Conan wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er bemerkte, wie Heiji ihn musterte.

»Was?«

Heiji ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

»Du bist gar nicht schlecht darin, Interesse zu heucheln, Kudou.«

»Ein Kompliment von dir? Womit hab ich das denn verdient?«

Darauf lachte Heiji, so wie er es für gewöhnlich tat, und auch wenn Conan eine Grimasse zog, war er froh, dass zwischen ihnen alles normal zu sein schien.
 

Da es sich bei Ohtsuki um eines der größeren Theater handelte, hatte Conan damit gerechnet, dass auch die Anlage etwas moderner oder geräumiger sein würde, aber dem war nicht so. Der Weg, der sie hinter die Bühne führte, war eng und dunkel, aber er war ja ohnehin ohne wirkliche Erwartungen in dieses Theater gekommen, als warum gerade jetzt anfangen, sich zu beschweren?

»So, da wären wir«, Motomasa klopfte an eine Tür und öffnete sie, »Kubota-kun, unsere verehrten Gäste sind hier. Ich dachte, ich stelle sie dir vor der Probe vor.«

Dann scheuchte er ihn und Heiji in das kleine Zimmer, in dem sich bereits zwei andere Personen befanden. Der Mann, vermutlich Kubota, war bereits in das gekleidet, was vermutlich sein Bühnenoutfit darstellen sollte. Die Frau neben ihm half ihm gerade dabei, seinen Kimono richtig zu legen.

Motomasa hob erstaunt eine buschige Augenbraue.

»Kobayashi-kun, was machst du denn hier?«

Die Frau unterbrach ihre Arbeit und verbeugte sich leicht.

»Kubota-san hat mich um Hilfe gebeten.« Ihr Blick fiel auf Heiji und Conan. »Ihr müsst unsere heutigen Besucher sein. Mein Name ist Kobayashi Aoi, ich bin der Wakitsure unseres aktuellen Stückes.«

Heiji und Conan stellten sich ebenfalls vor, doch gerade Conan musste sehr überrascht ausgesehen haben. Er war immer davon ausgegangen, dass es in den traditionellen Kunstformen Japans keinen Platz für Frauen gab. Kobayashi selbst war vermutlich in ihren frühen Dreißigern und wirkte neben Kubota und seinen breiten Schultern besonders zierlich. Der hingegen schenkte ihnen noch keine Beachtung. Erst, als er seinen Kimono vollständig angelegt und sich im Spiegel vor sich vergewissert hatte, dass alles richtig saß, wandte er sich zu den anderen und stellte sich vor.

»Kubota Juurou. Ihr seid die, die uns der Polizeipräsident aufgehalst hat, was?«

»Kubota-kun!«, rief Motomasa ihn zurecht, doch das gönnerhafte Grinsen auf seinem Gesicht verschwand nicht.

Conans Blick wanderte sofort zu Heiji, aber falls ihn der Kommentar gestört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen lächelte er breit.

»Mein Vater ist ein großer Fan Ihres Schauspiels. Er bedauert sehr, dass er nicht hat mitkommen können.«

»Mit Sicherheit.«

Damit erhob Kubota sich so fließend, wie sein Kimono es zuließ, griff nach einer Maske, die auf der Anrichte neben ihm lag, und schritt auf die Tür zu.

»Ich bin im Spiegelraum. Wir sehen uns auf der Bühne, Motomasa-san.«

Motomasa und Kobayashi sahen ihrem Kollegen mit gemischten Gefühlen nach, während Conan Heiji einen fragenden Blick zuwarf. Hattori Heizou ein Fan von Noh? Wenn sein Sohn da mal keinen Rufmord beging. Heiji zuckte jedoch nur grinsend mit den Schultern.

»Ich muss mich für ihn entschuldigen, Heiji-kun.« Motomasa neigte leicht den Kopf. »Kubota-kun ist ein außergewöhnlicher Künstler, aber seine zwischenmenschlichen Fähigkeiten lassen manchmal zu wünschen übrig.«

Heiji winkte ab.

»Nichts, weswegen Sie sich entschuldigen müssen. Aber was meinte er damit, dass er Sie auf der Bühne sehen würde? Sind Sie auch Teil des aktuellen Stückes?«

Das hatte Conan sich auch gefragt, größtenteils deswegen, weil er sich immer noch fragte, wie der alte Mann seinen Zinken hinter die Maske bekommen wollte. Motomasa lachte.

»Aber nur als Waki. Ich bin das Gegenstück zu Kubota-kun, der diesmal die Hauptrolle übernimmt. Deswegen auch die Maske.« Als hätte er gerochen, was Conan eigentlich fragen wollte, verschränkte er die Arme vor der Brust. »Masken mögen das sein, wofür Noh im Volksmund bekannt ist, doch auf der Bühne werden sie meist nur vom Shite getragen. Das gibt ihm die Möglichkeit, seine Emotionen kontrollierter durch Gestik und Körpersprache auszudrücken.«

Ergab soweit Sinn. Eine Frage hatte Conan aber noch.

»Und Kobayashi-onee-san spielt auch mit? Ich dachte, alle Rollen werden von Männern gespielt.«

Kobayashi und Motomasa tauschten einen amüsierten Blick aus, ehe sie ihm antwortete.

»Bei Kabuki ist das der Fall, genau. Auch Noh wurde zu seiner Entstehung nur von Männern aufgeführt, aber seit den Vierzigerjahren haben auch Töchter von angesehenen Figuren in der Szene auf der Bühne gestanden. Mittlerweile gibt es recht viele Frauen in unserem Handwerk.«

Motomasa nickte eifrig.

»Kobayashi-kun ist unsere erfahrenste Frau, aber vor einiger Zeit hat noch eine weitere Dame bei uns angefangen.« Er stockte kurz, als er Schritte vom Gang her hörte und lächelte verschmitzt. »Ich glaube, ihr werdet sie gleich kennenlernen.«

Wie zur Bestätigung ertönte ein Klopfen an der Tür und keine Sekunde später streckte eine junge Frau mit schulterlangen, dunkelbraunen Haaren den Kopf ins Zimmer.

»Motomasa-san, Aoi-san, die Hayashigata sind bereits versammelt. Wir wären dann bereit für die Probe.«

Während Kobayashi zügig ihre Sachen zusammenklaubte und aufstand, nickte Motomasa.

»Das ist Suda Misako, unser neustes Gruppenmitglied.«

»Hayashigata?«, fragte Heiji, ohne auf die Worte des alten Mannes einzugehen. Er musterte die junge Frau, die ihn und Conan erst jetzt zu bemerken schien. Ihre anfängliche Überraschung verschwand aus ihrem Gesicht, als sie die Frage endlich registrierte.

»Unsere Instrumentalisten, die Flöten und Trommeln«, erklärte sie. »Ihr schaut uns gleich bei der Probe zu, oder? Die Instrumentalisten sitzen alle auf der Bühne, also könnt ihr ihnen genau dabei zusehen, wie sie die Schauspieler musikalisch begleiten.«

Heiji nickte langsam. »Dann wollen wir keine Zeit verlieren, oder? Kubota-san schien ziemlich ungeduldig.«

Suda legte entschuldigend den Kopf schief.

»Er macht sich bestimmt nur Sorgen um seinen Sohn und will die Proben so schnell wie möglich beenden, um wieder zu ihm zu können.« Ihr Lächeln wurde sanft, als sie zu Conan sah. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, ehe sie fortfuhr. »Du müsstest im gleichen Alter sein wie Jun.«

»Jun?«

»Kubota-kuns Sohn«, Motomasa strich sich über seinen Bart, »Ein Kogata, einer unserer jungen Schauspieler. Er hat sein Training traditionell im Alter von drei Jahren begonnen. Eigentlich ist er Teil unseres Stückes, aber momentan muss er mit einer Grippe Zuhause bleiben.«

Conan konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Kubota nur aus reiner Vaterliebe so eine miese Laune hatte, aber das behielt er für sich. Heiji machte ebenfalls nicht den Eindruck, als hätte er Verständnis für den Mann, doch auch er sagte nichts.

Schließlich klatschte Motomasa in die Hände.

»Lasst uns gehen, immerhin wollen wir unseren Gästen auch eine kleine Vorstellung geben.«
 

Das Stück, das momentan im Ohtsuki Theater aufgeführt wurde, hieß Sumida-gawa, nach einem Fluss der alten Musashi Provinz. Es gab tatsächlich nur vier Schauspieler, von denen einer ja ohnehin fehlte, aber leer war es auf der Bühne dennoch nicht. Ein Haufen Flöten- und Trommelspieler saß neben einem Chor im hinteren Teil, damit es laufend musikalische Begleitung gab, und noch hatte Conan sich nicht entscheiden können, welche Gruppe die grausameren Töne produzierte.

Die Handlung selbst war schnell erzählt; ein Wanderer kommt an einem Fluss vorbei, an dem sich ein Bootsmann zu seiner letzten Überfahrt bereit macht, und berichtet ihm, dass eine verrückte Frau auf dem Weg ist. Die Frau ist den ganzen Weg von Kyoto gekommen, um nach ihrem vermissten Sohn zu suchen, der einst von Sklaventreibern entführt worden war. Nachdem der Bootsmann sie genötigt hat, ihn und seine anderen Gäste zu belustigen, beschließt er, sie mit über den Fluss zu nehmen. Während der Überfahrt erzählt der Bootsmann, dass vor genau einem Jahr ein Kind in dieser Gegend gestorben ist und bittet die Gäste, für den Jungen zu beten. Am anderen Ufer angekommen bleibt die Frau an Bord und hört nicht auf zu weinen, denn der Junge, der vor einem Jahr gestorben ist, war ihr Sohn. Der Bootsmann bringt sie zum Grab ihres Sohnes, wo er als Geist vor ihr erscheint. Als sie versucht, ihn zu umarmen, verschwindet er wieder. Unendlich traurig kann die Mutter nicht aufhören zu weinen, doch die Begegnung mit dem Geist ihres Sohnes hat dafür gesorgt, dass sie nicht länger verrückt ist.

Zumindest hatte Suda ihnen das so erklärt, während sie die Probe zusammen mit Conan und Heiji beobachtet hatte. Der erste Durchlauf hatte gut über eine Stunde gedauert, dabei hatte Conan bereits nach fünf Minuten genug gehabt. Die Musik tat ihm in den Ohren weh und was auch immer die Schauspieler auf der Bühne taten, entzog sich komplett seinem Verständnis. Ohne Sudas Erklärung hätte er keinen blassen Schimmer davon gehabt, was eigentlich vor sich ging.

Und wenn er ganz ehrlich war, jagte ihm die Maske einen Schauer über den Rücken. Als Shite war Kubota der Einzige, der eine Maske trug, doch die Frauenfratze, die den Zuschauern stumm entgegenstarrte, war der einer Verrückten wirklich würdig.

Ab und an glitt sein Blick zu Heiji, der dem ganzen Zirkus aufmerksam zu folgen schien. Oder er verarschte ihn auf ganzer Linie. Conan hoffte inständig, dass es Letzteres war, weil wenn der andere wirklich auf so einen Mist stand, musste er seinen eigenen Geschmack noch einmal überdenken.

»Ein trauriges Schicksal, findet ihr nicht?«

Sudas plötzliche Frage riss Conan aus seinem Selbstmitleid. Sowohl er als auch Heiji schenkten der Frau ihre komplette Aufmerksamkeit (alles, um sich nicht auf diese grausigen Flötentöne zu konzentrieren), aber sie ließ sich Zeit, bevor sie weitersprach.

»Nach all den Monaten und Jahren ohne ihren Sohn findet sie ihn endlich, nur um zu erfahren, dass er bereits gestorben ist.«

Conan nickte, ohne wirklich zu wissen, was er darauf antworten sollte. Heiji musterte die junge Frau eine Weile.

»Wenigstens hat sie am Ende gegen den Wahnsinn gewonnen.«

»Hat sie das denn wirklich?«

Darauf schien selbst Heiji etwas ratlos. Als Suda auch nach einigen Augenblicken nicht weitersprach, sah er schließlich wieder zur Bühne.
 

Als die erste Hälfte der Proben endlich beendet und zu einer Pause gerufen wurde, war Conan sich ziemlich sicher, dass es Kogorou im Krankenhaus mit ausgepumptem Magen noch besser ging als ihm in diesem Theater. Er hätte gerne mit ihm getauscht, aber das konnte er nicht laut sagen, sonst würde Heiji ihn das nie vergessen lassen. Zumindest hatten die Instrumentalisten aufgehört zu spielen, das machte alles schon mal gefühlt halb so schlimm.

Motomasa stieg von der Bühne herab und kam auf sie zu, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen.

»Tut mir leid, ihr zwei, es ist vermutlich nicht allzu spannend für euch, nur zuzugucken.«

»Ach iwo, alles in Ordnung. Nicht wahr, Conan?«, antwortete Heiji und besaß die Dreistigkeit, ihn erwartungsvoll und breit grinsend zu mustern. Bevor Conan jedoch etwas sagen konnte, das er vermutlich später bereut hätte, meldete der alte Mann sich wieder zu Wort.

»Nein nein, ihr solltet zumindest einmal die Kostüme und Masken aus der Nähe sehen. Wollt ihr sie anprobieren?«

Wollte Conan nicht, nein, aber erneut war Heijis Antwort schneller.

»Gerne. Der Kleine hat die Maske von Kubota-san die ganze Zeit so fasziniert angestarrt, ich glaube, er würde sie gerne mal anfassen.«

Irgendwann würde er Heiji umbringen. Er hatte bei weitem genug Mordfälle gelöst, um es erfolgreich wie einen Unfall aussehen zu lassen. Motomasa lachte herzlich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob Kubota-kun sie euch anfassen lässt, aber zeigen wird er sie euch bestimmt.« Er drehte sich um und hob die Stimme. »Kubota-kun, würdest du bitte kommen? Unsere Gäste würden gerne deine Maske sehen.«

Doch Kubota bewegte sich nicht vom Fleck, sondern wankte nur ein wenig. Die Bewegung war so minimal, dass Conan sich nicht einmal sicher war, ob überhaupt etwas geschehen war. Wenn er es recht bedachte, stand der Shite immer noch an dem gleichen Punkt, an dem er sich zum Ende der Probe befunden hatte. Die Maske hatte er auch noch nicht abgenommen. Vielleicht war das sein Problem? Conan konnte sich nicht vorstellen, dass man hinter den Holzmasken gut Luft bekam, und Kubota trug das Ding jetzt seit über zwei Stunden ohne Pause.

Kobayashi ging von der anderen Ecke der Bühne auf ihren Kollegen zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wenn du ihnen deine Maske nicht zeigen willst, kann ich auch meine holen.« Als sie keine Antwort bekam, runzelte sie die Stirn und schüttelte ihn sanft. »Kubota-san?«

Es war fast so, als würde die Hand auf seiner Schulter ihn wieder ins Leben aber zur gleichen Zeit aus dem Gleichgewicht bringen. Ein Zittern ging durch Kubotas Körper, ehe er ein widerlich gurgelndes Geräusch ausstieß, zur Seite kippte und hart auf dem Boden aufkam.

Kobayashi und Suda schrien beinahe zur selben Zeit, aber sowohl Conan als auch Heiji waren sofort in Bewegung.

»Nehmt ihm die Maske ab, er erstickt sonst!«, rief Conan und sprintete zur Bühne, Heiji dicht auf den Fersen. Er nahm die drei hohen Stufen in zwei Schritten und war als Erster an Kubotas Seite. Kobayashi stand zitternd neben ihm, zu überwältigt von der Situation, als dass sie seiner vorangegangenen Aufforderung hätte Folge leisten können.

Conan kniete neben dem Mann nieder und nahm ihm hastig die Maske ab. Kubota hatte sich übergeben und verschluckte sich nun an seinem eigenen Erbrochenem. Sein Gesicht war rot, verschwitzt, und seine Augen traten hervor. Das Chaos um sich herum kaum wahrnehmend, drehte Conan ihn auf die Seite, um ihm das Atmen zu erleichtern.

»Schnell, ruft einen Notarzt!«, hörte er Heijis Stimme über die Unruhe, die ihn umgab. Dann war der andere neben ihm, doch Conan schüttelte leicht den Kopf.

»Nicht notwendig. Ruft stattdessen die Polizei.«

»Verdammt.«

Heiji verstand sofort, was er gemeint hatte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche.

Conan hingegen ließ den Blick schweifen, beobachtete die anderen Schauspieler und Musiker im Raum. Alles, was ihm jetzt auffiel, konnte später von Bedeutung sein. Er lächelte leicht, milde erschrocken über seine eigenen Gedanken.

Noh war gerade um einiges interessanter für ihn geworden.
 

Es dauerte nicht lange, bis die Polizei im Theater eintraf. Sie hatten Ohtaki geschickt, vermutlich, weil es Heiji gewesen war, der angerufen hatte. Konnte Conan nur recht sein; dass der Polizeiinspektor ein Freund von Heiji war, machte es einfacher für sie beide, einen aktiven Part in den Ermittlungen zu übernehmen. Niemand hatte den Raum verlassen, seit Kubota auf der Bühne gestorben war. Conan hatte erwartet, dass zumindest der ein oder andere das versuchen würde, doch alle schienen zu geschockt, als dass sie sich überhaupt bewegen wollten oder konnten. Ihm war auch nichts Verdächtiges aufgefallen, als er die Anwesenden beobachtet hatte.

Kurz nach ihrem Eintreffen hatten die Polizeibeamten mit ihrer Befragung begonnen, während die Spurensicherung sich auf der Bühne an die Arbeit machte. Ohtaki hatte zuerst mit Heiji und ihm gesprochen, ihre Zeugenberichte aufgenommen und sie dann sich selbst überlassen. Nun standen die beiden etwas abseits in dem großen Raum und dachten darüber nach, was in der letzten halben Stunde geschehen war.

»Da hast du deine Aufregung, Kudou«, sagte Heiji irgendwann, ohne ihn anzusehen. Obwohl die Formulierung etwas anderes vermuten ließ, wusste Conan, dass er es nicht als Seitenhieb meinte. Es war nur seine verquere Art, ein Gespräch zu starten.

Conan grinste, ging nicht auf seine Anmerkung ein, sondern stellte stattdessen eine Frage.

»Was sagst du zu dem Fall?«

»Vermutlich Gift. Bin gespannt, welche Substanz genutzt wurde.«

Die Spurensicherung hatte ihren Bericht zwar noch nicht abgegeben, aber sie waren sich auch so sicher, dass Kubota keines natürlichen Todes gestorben war. Sobald einer von ihnen anwesend war, war kein Tod natürlich; Mord und Totschlag schienen ihnen mit jedem Schritt zu folgen.

»Ich frage mich, wie sie verabreicht wurde.«

»Und von wem.«

»Bisher würde ich auf einen seiner Kollegen setzen.«

Heiji grinste schief und sah ihn spöttisch an.

»Geht dein Hass auf Noh etwa so weit, dass du die armen Schauspieler beschuldigst?«

»Würde ich nie. Es kann genauso gut einer der Musiker gewesen sein.«

Conan erwiderte Heijis Grinsen, stoppte jedoch, sowie der andere sich zu ihm herunterbeugte und ihm durch die Haare wuschelte. Heiji war wie immer ein bisschen zu forsch und Conan wünschte sich, er würde endlich damit aufhören, denn Heijis Hand in seinem Haar lenkte ihn nur unnötig ab. Zum Glück für ihn winkte Ohtaki ihnen zu.

»Hei-chan, die Spurensicherung ist fertig!«

Heiji hielt in seiner Bewegung inne, blinzelte kurz und winkte dem Inspektor dann ebenfalls knapp zu. Er schenkte Conan ein letztes Grinsen, verlegener diesmal, und gemeinsam gingen sie auf Ohtaki zu.
 

Sie waren nicht überrascht zu hören, dass Kubota tatsächlich vergiftet worden war. Conan, Heiji und Ohtaki standen in einem Halbkreis vor dem Leiter der Spurensicherung und warteten gespannt auf dessen Bericht.

»Das Opfer ist an einer Digoxin-Vergiftung gestorben. Wir haben Spuren des Giftes auf der kompletten Innenseite der Maske gefunden, die das Opfer auf der Bühne getragen hat.«

Ohtaki hob beide Augenbrauen. »In der Maske?«

Conan und Heiji tauschten einen kurzen Blick aus, während der Mann nickte und weitersprach.

»Sobald Digoxin in den Blutkreislauf gelangt, greift es das Herz an und sorgt schließlich dafür, dass es aufhört zu schlagen. Davor können Magenbeschwerden, Kopfschmerzen oder Halluzinationen auftreten. Häufig übergeben Opfer sich auch vor ihrem Tod.«

Damit verbeugte er sich leicht und wandte sich zum Gehen, um dem Rest seines Teams dabei zu helfen, ihre Utensilien zusammenzupacken. Ohtaki entschuldigte sich ebenfalls und kehrte zu den anderen Ermittlern zurück.

»Digoxin«, murmelte Conan mehr zu sich selbst als zu Heiji, doch der antwortete ihm trotzdem.

»Fingerhut. Wird auch in der Medizin genutzt, ist aber überdosiert tödlich.«

»Also etwas, wo man ohne große Schwierigkeiten herankommen kann.«

»Du sagst es.«

Fast zeitgleich drehten sie sich um, damit sie eine bessere Sicht auf die anderen Anwesenden hatten. Die Musikanten hatten ihre Instrumente auf der Bühne zurückgelassen und standen nun mit den Schauspielern an einer Seite des Raums, bevor sie einzeln von den Beamten vernommen werden würden.

Nach einigen Augenblicken der Stille sprach Conan als Erster.

»Irgendeiner von den anderen Schauspielern muss es gewesen sein.«

»Vermutlich, ja. Die Instrumentalisten haben weniger bis gar keine Möglichkeiten, an Kubotas Maske zu kommen.«

»Aber findest du es nicht auch komisch?«

»Was?«

»Wir haben mehrere Stunden mit den Vieren verbracht, in denen sie ziemlich viel erzählt haben. Obwohl wir zugehört haben, wissen wir so gut wie gar nichts darüber, wie sie zueinander stehen.«

Heijis Antwort war trockener, als das amüsierte Funkeln in seinen Augen vermuten ließ.

»Du meinst ich habe zugehört. Du hast vermutlich an Fußball gedacht.«

»Als ob.«

»Oh? Dann erinnerst du dich doch bestimmt daran, was Motomasa-han uns zu den Masken erzählt hat?«

Jetzt hatte er ihn. Peinlich berührt vermied Conan es, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Musste er aber auch nicht; er konnte sich gut vorstellen, wie Heiji ihn angrinsen musste – und das zurecht. Alles, was mit den Noh-Masken zu tun hatte, konnte nun ein wichtiges Detail in ihrer Ermittlung sein. Er könnte sich selbst in den Hintern beißen, dass er nicht besser zugehört hatte. Dann wiederum hatte er ja auch nicht ahnen können, dass wieder jemand starb, nur weil er und Heiji beschlossen hatten, den Tag miteinander zu verbringen.

Conan lächelte zynisch. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er gesagt, dass genau das der Grund war, aus dem sie jetzt eine Leiche mehr auf ihrem Konto hatten.

Heiji ahnte indes nichts von seinem Gedankengang und klopfte ihm nur aufmunternd auf die Schulter.

»Ich will mal gnädig sein, Kudou. Es sieht so aus, als würde Ohtaki-han die anderen ohnehin gleich befragen. So gerne, wie der alte Mann über die Masken gesprochen hat, wird er es bestimmt noch mal wiederholen, wenn wir ihm die Möglichkeit geben.«
 

»Kubota-san wurde vergiftet?«

Sudas Hände flogen zu ihrem Gesicht und bedeckten ihren Mund, während sie versuchte, sich wieder zu beruhigen. Kobayashi legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, auch wenn sie selbst mit sich zu ringen schien. Nur Motomasa zeigte Gefasstheit, aber das mochte auch etwas sein, das mit seinem Alter und seiner Bühnenerfahrung kam.

Die Musikanten wurden bereits separat von anderen Beamten befragt, aber Ohtaki hatte zugestimmt, die anderen Schauspieler gemeinsam mit Heiji und Conan zu vernehmen. Sie beide schwiegen erst einmal und ließen den Inspektor seine Arbeit machen.

»Aber wie soll das möglich sein?«

Kobayashi klang fassungslos, beinahe wütend, Suda bei ihren nächsten Worten dafür umso verzweifelter.

»Armer Jun-kun, wie sollen wir ihm das nur beibringen?«

Ohtaki hob beschwichtigend die Hände.»Ich kann verstehen, dass das schwer für Sie sein muss, aber ich bitte Sie um Ihre Mithilfe. Kubota-san hat das Gift über seine Maske aufgenommen, also kann es sein, da—«

»Über seine Maske?!«

Dass Motomasa plötzlich die Stimme hob, überraschte sie alle. Ohtaki warf Heiji rasch einen verwirrten Blick zu, ehe er etwas unsicher antwortete.

»J-ja, der Täter hat anscheinend Gift auf die Innenseite aufgetragen und—«

»Das ist eine Beleidigung sondergleichen für jedes Mitglied dieser Truppe!«

Mittlerweile etwas angesäuert, weil er nicht nur einmal, sondern gleich zweimal unterbrochen worden war, sagte Ohtaki darauf erst einmal nichts. Stattdessen war es Conan, der nachfragte, damit sie endlich weiterkamen.

»Wie genau meinen Sie das?«

»Erinnerst du dich daran, was ich euch vorhin über die Noh-Masken erzählt habe?«

Motomasa sah ihn erwartungsvoll an und Conan fühlte sich ziemlich ertappt. Netterweise kam Heiji ihm zur Hilfe.

»Die Masken, die für Noh verwendet werden, sind Familienerbstücke und werden von einer Generation zur nächsten vererbt.«

Der alte Mann nickte, offensichtlich zufrieden, dass ihm zumindest einer zugehört hatte.

»Ganz genau. Für uns sind unsere Masken nicht nur ein Ersatz für Theaterschminke.« Conan ahnte, dass seine Erklärung eine Weile dauern könnte, aber da er beim ersten Mal nicht aufgepasst hatte, war es eigentlich auch egal. Je mehr Informationen sie jetzt bekamen, desto besser. »Bevor ein Shite seine Maske aufsetzt, begibt er sich in den Kagami no Ma, den Spiegelraum. Es gibt um die sechzig verschiedene Maskentypen, jeder mit einer eigenen Atmosphäre, die der Shite vermitteln muss. Jede Maske ist besonders, jede Maske ist anders. Indem er die Maske anlegt, wird er regelrecht zu dem Charakter, den er verkörpert. Die Gefühle und Gedanken der Maske sind dann seine eigenen.«

Kobayashi nickte eifrig. Während sie Motomasas Ansicht vollkommen zu teilen schien, sah Suda für einen Moment so aus, als wollte sie etwas dazu sagen, doch letzten Endes blieb sie still. Conan wiederum war ein bisschen verblüfft darüber, auf wie vielen Ebenen Noh zu agieren schien. Es war ein schwacher Trost für ihn, dass Ohtaki tatsächlich noch weniger von all dem begriff.

»Also?«, hakte Ohtaki ungeduldig nach. Motomasa musterte ihn mit einem Blick, den man üblicherweise für Gäste reservierte, die in seinem Haus nicht erwünscht waren.

»Was ich damit sagen will, ist Folgendes, Inspektor«, trotz seiner geringen Körpergröße baute er sich vor den zwei Frauen auf, »wer Noh so lebt, wie die Mitglieder dieses Theaters es tun, würde es niemals übers Herz bringen, eine Maske zu schänden, ganz gleich, ob es seine eigene oder die eines anderen ist.«

In seiner Stimme lag so viel Überzeugung und Autorität, dass es dem Polizeiinspektor vollends die Sprache verschlug. Conan seufzte leise; das konnte ja noch heiter werden.
 

Ohne jeden Anhaltspunkt blieb ihnen erst einmal nichts anderes übrig, als nach Hinweisen zu suchen. Während Ohtaki und seine Leute weiterhin mit den Mitgliedern des Theaters sprachen, nutzten Conan und Heiji die Gelegenheit, sich ungestört im Backstagebereich umzusehen. Die Chance, dass sie das Gift oder andere belastende Beweise in den Umkleiden fanden, war zwar nicht allzu hoch, aber man konnte nie wissen, auf was man nicht zufällig stieß.

»Die Maske muss präpariert worden sein, bevor Kubota den Raum verlassen hat, um sie aufzusetzen«, merkte Heiji an, während er in einigen Schubladen herumwühlte.

Mittlerweile waren sie wieder in dem Raum, in den Motomasa sie vorhin geführt hatte, und durchsuchten alles, was sich irgendwie öffnen ließ. Heiji hatte zwei Paar Handschuhe von der Spurensicherung mitgehen lassen, die Conan zwar zu groß waren, aber ein bisschen Schwund war immer. Conan fischte in Kubotas Tasche herum und nahm sich einige Momente Zeit, ehe er antwortete.

»Definitiv. Der alte Mann mag sagen, was er will, aber einer von ihnen ist der Mörder.«

»Sehe ich genauso. Aber davon mal ab«, Heiji schloss eine der Schubladen und öffnete die nächste, »fandest du es nicht auch beeindruckend, wie überzeugt er war?«

Dazu konnte Conan nicht wirklich etwas sagen. Vielleicht hatte Motomasas Auftritt bei Heiji einen tieferen Eindruck hinterlassen, weil er selbst eine Sportart ausübte, die traditionell japanisch war. Stattdessen runzelte er die Stirn.

»Also meinst du, dass ihn das als Mörder ausschließt?«

»Nicht zwingend. Etwas überzeugend rüberzubringen heißt nicht, dass man am Ende nicht doch skrupellos handeln kann.«

»Uns fehlt auch immer noch ein Motiv.«

Heiji zuckte mit den Schultern.

»Wie der netteste Kerl schien er mir jetzt nicht.«

»Aber seine Kollegen schienen zumindest von seinem Talent angetan.«

»Muss nichts heißen.«

Da hatte er recht. Conan seufzte schwer.

»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen nachher ein paar unangenehme Fragen zu stellen.«

»Meine Lieblingsbeschäftigung.«

Immer noch mit der Kommode vor ihm beschäftigt, zog Heiji eine Grimasse. Conan beobachtete ihn eine Weile dabei, bis ihm auffiel, dass er nicht mehr an den Fall, sondern an ganz andere Dinge dachte. Er räusperte sich kurz.

»Hast du schon einen Verdacht?«

»Am wahrscheinlichsten scheint mir derzeit Kobayashi. Immerhin hat sie ihm mit seinem Kostüm geholfen«, sagte Heiji, nachdem er eine Weile überlegt hatte. Conan nickte.

»Und sie hat gezögert, ihm die Maske abzunehmen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie wirklich von dem Gift wusste oder einfach nur zu schockiert war, um zu handeln.«

Eigentlich hatte Conan erwartet, darauf eine Antwort zu erhalten, doch Heiji blieb still. Verwirrt sah er auf und stellte erstaunt fest, dass das Gesicht des anderen ziemlich blass war. Selbst Heijis Stimme zitterte bei seinen nächsten Worten etwas.

»Oi, Kudou.«

»Hm?«

»Wie zügig hast du dir die Hände gewaschen, nachdem du die Maske angefasst hast?«

Zuerst wusste Conan nicht, was er damit meinte. Er war kurz zur Toilette gegangen, bevor sie ihre Spurensuche begonnen hatten, und natürlich hatte er sich danach die Hände gewaschen. Wäre ja auch eklig, wenn nicht. Warum fragte er überhaupt—

Und dann verstand er.

Bevor Conan jedoch antworten konnte, zwang ihn ein plötzlicher, stechender Schmerz in der Brust beinahe in die Knie. Schwer atmend krümmte er sich nach vorne, versuchte sich so klein wie möglich zu machen, damit der Schmerz weniger Angriffsfläche hatte. Reflexartig krallten sich seine Hände in der Vorderseite seines Shirts fest.

Schließlich gaben seine Knie nach, doch Heiji war sofort an seiner Seite und packte ihn fest an beiden Schultern.

»Reiß dich zusammen, Kudou!«

Conans erster Reflex war es, den anderen zu beruhigen, aber er bekam keinen Ton heraus. Es wäre sowieso eine Lüge gewesen und das Letzte, das er wollte, war, Heiji anzulügen.

»Verdammt noch mal, tu mir das nicht an!«

Als er die Panik in Heijis Augen sah, fühlte er sich so schuldig, dass er sich fast auf der Stelle übergab. Dann spürte er, wie das letzte Bisschen Kraft aus seinem Körper wich. Im nächsten Moment war alles schwarz.
 

»Also, nur damit ich das richtig verstanden habe«, Heijis Tonlage schwankte irgendwo zwischen Unglaube und trockenem Sarkasmus, »du hast vor einigen Tagen eine Pille geschluckt, die dich wieder wachsen lässt, um einen Fall zu lösen. So weit, so gut. Aber anscheinend war die Mischung nicht ganz korrekt, und deswegen hast du dich jetzt noch einmal zurückverwandelt?«

Oder Ai hatte absichtlich etwas an der Mischung geändert. Sie hatten sich kurz davor über irgendetwas Unsinniges gestritten und vielleicht war das ihr Weg, es ihm heimzuzahlen. Oder – was viel wahrscheinlicher war, weil Ai nicht nachtragend war – sie wollte einfach nur wissen, was passierte, wenn sie die Zusammensetzung der Pille änderte.

Aber das wollte Shinichi nun wirklich nicht zugeben, also nickte er knapp. Heiji hob skeptisch eine Augenbraue.

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

Shinichi rollte mit den Augen. Sonst war der andere doch auch nicht so pingelig. Mochte aber auch sein, dass Heiji ihm immer noch übel nahm, was für einen Schrecken er ihm eingejagt hatte. Als Shinichi zu sich gekommen war, hätte er schwören können, dass Heijis Augen rot gewesen waren, aber das jetzt anzubringen, schien ihm nicht klug.

Also musste ihre übliche Zankerei herhalten.

»Und dennoch stehe ich vor dir.«

»In all deiner nackten Pracht, ja.«

Sich seiner momentanen Situation mit einem Mal wieder bewusst, merkte Shinichi, wie sein Gesicht warm wurde. Seine Stimme klang lauter als nötig.

»Stell dir vor, die Kinderklamotten passen mir in der Größe nicht.«

Erst sah es so aus, als wollte Heiji darauf etwas erwidern. Stattdessen seufzte er jedoch und zog das Hemd aus, das er über seinem Shirt getragen hatte. Auffordernd hielt er es Shinichi hin, der es nur musterte, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. Sein Gesicht fühlte sich noch viel wärmer an.

»Wieso muss ich dein Hemd tragen?«

»Würdest du lieber nackt zu den anderen zurück? Ließe sich auch einrichten.«

Bevor Heiji sein Angebot zurückziehen konnte, griff Shinichi nach dem Kleidungsstück.

»Ist ja gut. Such lieber nach einer Hose für mich.«

Doch Heiji dachte gar nicht dran. Er starrte ihn an, ungeniert und mit einem Pokerface sondergleichen, bis Shinichi kurz davor war, etwas nach ihm zu werfen. Dann grinste er provokant.

»Warum denn?«

»Hattori!«

»Ja ja, ich mach ja schon.«

Für Shinichis Geschmack viel zu amüsiert lachend machte Heiji sich auf die Suche nach einer passenden Hose. Er war gerade damit fertig, das Hemd zuzuknöpfen, als der andere ihm Kubotas Hose reichte.

»Bisschen geschmacklos, die Hose eines Toten zu tragen.«

»Wenn du lieber ohne—«

Shinichi trat nach Heiji, doch der wich immer noch lachend aus.

»Sei endlich still und denk darüber nach, wer der Mörder sein könnte!«

Denn genau das war der eigentliche Grund, aus dem sie hier waren. Weder in diesem Raum, noch an den Orten, an denen sie vorher gesucht hatten, war ihnen irgendetwas ins Auge gestochen, das verdächtig schien. Es war nicht unwahrscheinlich, dass der Mörder das Gift immer noch bei sich trug, und in dem Fall sollten sie sich zuerst auf das Motiv zu konzentrieren.

Es frustrierte ihn, dass sie noch keine Anhaltspunkte hatten, aber zumindest in einer Angelegenheit war Shinichi sich ziemlich sicher; er konnte es sehr viel besser ertragen, wenn Heiji sich über ihn lustig machte, als wenn er sich Sorgen um ihn machte.
 

Shinichi war sich seines Aufzuges unangenehm bewusst, als er und Heiji in den Vorführungssaal zurückkehrten. Kubotas Hose war ihm zu groß und sah an ihm etwa so gut aus wie ein Sack Kartoffeln. Dafür passte Heijis Hemd ihm viel zu gut, aber daran versuchte er nicht zu denken. Er wollte auch nicht daran denken, was die Beamten und Schauspieler denken mussten. So konzentrierte er sich einfach darauf, selbstbewusst einen Schritt vor den anderen zu setzen, als sie direkt auf Ohtaki zusteuerten, um ihn nach Updates zu fragen.

Ohtaki schien milde überrascht, dass Heiji nun von Shinichi anstatt von Conan begleitet wurde, nahm es aber schweigend hin. Vermutlich war er einfach froh, zwei Detektive zu haben, auf die er sich verlassen konnte – immerhin hatte es keine neuen Erkenntnisse oder Spuren gegeben, seitdem die beiden Jugendlichen den Raum verlassen hatten.

»Hei-chan, Kudou«, Ohtaki legte ihnen flüchtig je eine Hand auf die Schulter, »wir zählen auf euch.«

»Bloß kein Druck, Ohtaki-han«, sagte Heiji gespielt theatralisch, nachdem der Polizeiinspektor außer Hörweite war. Shinichi grinste.

»Wo ist denn dein übliches Selbstvertrauen hin?«

»Hab ich an dich weitergegeben, damit du dich in den Klamotten überhaupt unter Menschen traust.«

»Es ist dein Hemd.«

»Und genau deswegen siehst du nicht komplett lächerlich aus.«

Am liebsten hätte Shinichi ihm das triumphale Grinsen vom Gesicht gewischt, aber er beließ es einfach dabei. Der Klügere gab ja bekanntlich nach. Also sah er sich stattdessen im Raum um. Die meisten Beamten waren mittlerweile nicht mehr anwesend; entweder, sie waren noch dabei, die Musiker zu befragen, oder sie waren bereits abgezogen und zu anderen Tatorten gerufen worden. Während er seinen Blick schweifen ließ, bemerkte er Suda etwas abseits von den anderen. Sie kniete vor einem Jungen mit wilden schwarzen Haaren, der aufgeregt um sie herumlief.

»Was macht das Kind hier?«, fragte Shinichi unverblümt und ignorierte dabei die Tatsache, dass er für gewöhnlich das unerwünschte Kind an Tatorten war. Auch Heiji hatte den Jungen vorher nicht bemerkt und runzelte nun nachdenklich die Stirn.

»Gute Frage«, murmelte er, ehe er entschlossen auf Kobayashi zuging, die einige Meter von ihnen entfernt stand und ihr auf die Schulter tippte. »Kobayashi-han, wer ist denn der Junge bei Suda-han?«

Sie sah etwas mitgenommen aus und brauchte eine Weile, bis sie Heijis Frage verstand und zu einer Antwort ansetzte.

»Kubota-sans Sohn Jun. Misako wollte seine Frau erreichen, aber stattdessen ist er ans Telefon gegangen.« Ihr Lächeln wirkte müde und angespannt zugleich. »Er wohnt hier gleich um die Ecke und fühlt sich wohl viel besser, also ist er vorbeigekommen.«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, hielt jedoch inne und musterte Shinichi mit einem Mal misstrauisch. Für einen Moment fühlte er sich persönlich angegriffen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ursprünglich als Conan hier gewesen war und die Schauspieler deswegen allen Grund hatten, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Rasch stellte er sich vor. Zum Glück hatte Kobayashi seinen Namen bereits einige Male aufgeschnappt und schien deswegen ein wenig beruhigter.

Heiji, der derweil Suda und Kubotas Sohn beobachtet hatte, ergriff wieder das Wort.

»Sie scheint gut mit Kindern zu können.«

Kobayashi nickte. »Misako liebt Kinder, das hat sie schon immer.«

»Sie wird bestimmt mal eine gute Mutter abgeben.«

Auf Heijis Kommentar atmete sie scharf ein und wurde danach ganz still. Heiji legte verwirrt den Kopf schief.

»Was?«

Sie wich seinem Blick aus, sah zur Seite und schien mit sich zu hadern.

»Gibt es etwas, das Sie uns erzählen möchten?«, hakte Shinichi nach. Kobayashi haderte lange mit sich, seufzte jedoch schließlich und senkte die Stimme etwas, als fürchte sie, die andere Frau könnte sie hören.

»Misako ist bereits Mutter.« Sie hielt inne, schloss kurz die Augen. »Nun ja, sie war es zumindest. Ihr Sohn ist vor einigen Jahren in einem Unfall ums Leben gekommen.«

»Was genau ist passiert?«

Sie sah keinem von ihnen in die Augen.

»Genaues weiß ich nicht. Das war, bevor sie zu uns gekommen ist.«

»Wie lange kennen Sie sich schon untereinander?«

Kobayashi antwortete erst nicht auf Shinichis Frage. Sie hatte all das bereits mit der Polizei besprochen und sah keinen Sinn darin, es zu wiederholen, gab aber schließlich nach.

»Motomasa-san ist seit über siebzig Jahren an diesem Theater, Kubota-san seit fast vierzig. Ich selbst habe in Tokyo angefangen, bin aber vor etwa zwanzig Jahren nach Osaka gezogen.« Sie überlegte kurz. »Misako hat vor zwei Jahren hier angefangen.«

Sowohl Heiji als auch Shinichi sahen sie überrascht an.

»Sie ist erst seit so kurzer Zeit hier, und dennoch verteidigt Motomasa-han sie so sehr?«

Einen Augenblick lang war ihre Müdigkeit wie weggeblasen und ihr Lächeln aufrichtig.

»Das macht er nicht speziell wegen Misako, sondern weil alle Mitglieder ein Teil unserer Familie sind. Egal, wie lange sie schon mit uns auf der Bühne stehen.«
 

Sie beschlossen, mit Motomasa weiterzumachen. Die Polizei hatte zwar bereits alle anderen Schauspieler befragt, aber Shinichi und Heiji waren in zu viele Fälle verwickelt gewesen, als dass sie sich darauf noch verließen.

Motomasa beobachtete sie wachsam, als sie sich ihm näherten. Er war bei weitem nicht so begeistert und enthusiastisch sie zu sehen, wie es am Anfang des Tages der Fall gewesen war, aber das war nur verständlich. Heiji und Shinichi hatten den Tod in sein Theater gebracht; das konnte man nicht so leicht verzeihen.

Diesmal stellte Shinichi sich direkt vor, um Missverständnisse zu vermeiden, doch der alte Mann schien kein großes Interesse daran zu zeigen, wer er war oder warum nun er statt des desinteressierten Kindes hier war. Er nickte knapp und richtete sich dann etwas gerader auf, bevor einer von ihnen etwas fragen konnte.

»Die Polizei hat uns während ihrer Befragung bereits einige Dinge unterstellt, ohne einen von uns wirklich zu kennen. Ihr scheint mir zwei aufgeweckte junge Männer zu sein. Seid bitte vorsichtig mit euren Anschuldigungen; ihr wisst nie, was ihr damit anrichten könnt.«

Sie tauschten einen kurzen Blick aus, aber Shinichi ließ Heiji hier den Vortritt, was ihre Antwort anbelangte. Er hatte sich ohnehin viel besser mit Motomasa verstanden als er selbst.

»Es ist nicht unsere Absicht, Ihnen das Leben schwerzumachen. Aber Sie müssen verstehen, dass jemand ermordet wurde.«

»Glaubt mir, das verstehe ich besser als jeder andere hier.« Er schwieg kurz, sammelte sich wieder. »Ich kannte Kubota-kun länger als mein halbes Leben. Er hat dieses Ende nicht verdient.«

»Niemand hat das.«

Shinichis Mund war schneller, als ihm in diesem Moment lieb gewesen wäre. Er wusste den Blick, mit dem der alte Mann ihn musterte, nicht zu deuten.

»Es kann unmöglich jemand von uns gewesen sein. Wir sind eine Familie.«

Auch in Familien wurde gemordet, öfter sogar, als man glauben wollte, aber diesmal hütete Shinichi sich, das laut auszusprechen. Im Gegensatz zu ihm war Heiji gut darin, mit Motomasa zu reden, also sollte er das übernehmen – auch wenn er nicht glaubte, dass sie von ihm noch viel erfahren würden. Heiji schien dasselbe zu denken, denn er hakte nicht nach und stellte auch keine weiteren Fragen mehr.

Nach einiger Zeit seufzte Motomasa lautlos und ließ die Schultern etwas sacken.

»Ich nehme an, ihr wollt mit Suda-kun sprechen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er ihren Namen und winkte sie zu sich, sowie er ihre Aufmerksamkeit hatte. Suda schien überrascht, sagte dann etwas zu Jun, das sie natürlich nicht verstehen konnten, und kam dann ohne den Jungen auf sie zu. Während sie näherkam, sah sie unsicher zu Shinichi, der sich damit zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit vorstellen durfte.

Dann wandte Suda sich an Motomasa.

»Ich habe Jun-kun noch nichts von seinem Vater erzählt.«

»Es wäre wohl am besten, auf seine Mutter zu warten«, stimmte er zu und schwieg.

Jeder von ihnen schien ein wenig unschlüssig und wusste nicht, wie sie die Konversation erneut aufnehmen konnten, ohne dass es merkwürdig wirkte. Besonders Suda wusste nicht ganz, weswegen man sie überhaupt gerufen hatte, aber bevor sie Motomasa fragen konnte, entschuldigte dieser sich und ging gemächlich auf Jun zu, um den Jungen zu beschäftigen.

Nachdem sie sich geräuspert hatte, sah Suda Heiji und Shinichi etwas verunsichert an.

»Ihr wolltet mit mir sprechen?«

Beide lächelten kurz. Trotzdem war es Heiji, der das Gespräch begann, und wenn er es recht bedachte, war Shinichi ihm dankbar dafür. Er fühlte sich wohl, wenn es um Logik und Deduktion ging, aber alles Zwischenmenschliche zählte wahrlich nicht zu seinen Stärken.

»Sie und Jun verstehen sich wirklich gut.«

Wie erwartete erwiderte Suda Heijis Lächeln.

»Er spielt ja auch im letzten Drittel der aktuellen Vorführung mit, also sehen wir uns regelmäßig. Und auch, wenn er ein Schauspieler wie jeder andere ist, ist er immer noch ein Kind. Ihm wird schnell langweilig, also musste jemand ihn beschäftigen.« Ihr Lächeln wurde eine Spur trauriger, als sie zum Boden sah. »Er hat mich gefragt, wo Kubota-san sei, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Er ist doch noch ein Kind.«

Shinichi hielt es für klug, ihr ein wenig Zeit zu gegen, ehe er ihr die nächste Frage stellte.

»Wenn Sie sich so gut mit Jun verstehen, hatten Sie doch bestimmt auch einen guten Draht zu seinem Vater?«

Darauf sagte sie erst einmal nichts, schien mit sich zu ringen. Für einen Moment sah es aus, als wäre sie gedanklich nicht mehr im Theater. Als sie schließlich sprach, klang sie distanzierter als zuvor.

»Kubota-san war ein unglaublicher Schauspieler, von dem ich viel lernen konnte. Aber er lässt andere nicht sofort an sich heran. Ich bin nicht lange genug an diesem Theater gewesen, als dass ich ihm eine Freundin hätte sein können.«

»Sein Tod nimmt Sie dennoch ziemlich mit.«

Der verständnislose Blick, den Suda ihm zuwarf, irritierte Shinichi ein wenig. Erst, als er aus dem Augenwinkel sah, wie Heiji mit den Augen rollte, kam ihm in den Sinn, dass seine Anmerkung nicht unbedingt taktvoll gewesen war.

»Ein Mensch ist gestorben. Selbstverständlich nimmt mich das mit!«

Obwohl er sich danach für seine Aussage entschuldigte, verstand er nicht ganz, warum er das überhaupt tat. Sicher, es war nicht die netteste Frage gewesen, aber so taktlos war sie auch nicht. Außerdem war sie notwendig gewesen, aber anscheinend war er der Einzige, der das so sah. Innerlich seufzte er laut; er musste sich erst wieder daran gewöhnen, dass er einige Sachen, die man ihm als Conan durchgingen ließ, als Shinichi nicht fragen konnte.

Schließlich ergriff Heiji wieder das Wort und wechselte das Thema.

»Geht es Jun denn gut genug, hier zu sein? Er sollte doch eigentlich im Bett sein.«

»Kubota-san war sehr übervorsichtig, was seinen Sohn betraf, aber eigentlich geht es ihm wieder gut genug, um auf der Bühne zu stehen«, antwortete Suda leise, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Aber ich bin froh, dass er heute nicht bei den Proben war.«

»Wie findet er das Stück denn generell? Sumida-gawa ist ja nicht unbedingt fröhlich, gerade für Eltern und Kinder.«

Die junge Frau blieb darauf so lange still, dass sie erst dachte, sie hätte sie nicht gehört.

»Kyoujomono, also Stücke mit verrückten Frauen in der Hauptrolle, haben für gewöhnlich ein gutes Ende. Ihr Sohn mag zwar von ihr gegangen sein, doch seinen Geist ein letztes Mal zu sehen, hat die Mutter in diesem Fall aus ihrer Manie gerettet.«

Das war zwar keine Antwort auf Heijis Frage, aber Shinichi ließ ihn entscheiden, wie er darauf reagieren wollte. Einen Augenblick lang wurden die Augen des anderen dunkler. Shinichi musste sich ein Schmunzeln verkneifen; offensichtlich hatte Heiji sich dazu entschieden, seine Strategie zu wechseln.

»Und wie haben Sie reagiert, als das Theater sich für dieses Stück entschieden hat?«

Sudas schockierter Blick sprach Bände. Shinichi bemühte sich bei seinen nächsten Worten um einen sanfteren Tonfall als zuvor, schließlich wollte er Heijis Arbeit nicht ruinieren.

»Kobayashi-san hat uns erzählt, was damals mit Ihrem Sohn passiert ist.«

Einige Sekunden lang dachte Shinichi, Suda würde vor ihren Augen auseinanderfallen, doch sie schaffte es, sich zusammenzureißen. Er hätte nicht gedacht, dass sie ihnen tatsächlich antworten würde, doch als sie es tat, versuchte sie, dabei so würdevoll wie möglich zu klingen.

»Es ist therapeutisch für mich. Noh hat mir Hoffnung gegeben, als mein Leben an einem Tiefpunkt angelangt war.«

Es klang einstudiert, aber sie war schließlich auch Schauspielerin. Bevor sie es schaffte, den Zuschauern etwas vorzuspielen, musste sie wohl zunächst sich selbst etwas vormachen. Er und Heiji tauschten einen kurzen Blick aus und beschlossen dann stumm, es bei dieser Aussage zu belassen.

»Entschuldigen Sie die Fragen, Suda-han. Wir wollen nur, dass sie alle so schnell wie möglich nach Hause gehen können.«

Heijis Stimme war sanfter, als Shinichi es gewohnt war, und irgendetwas daran störte ihn, auch wenn er nicht sagen konnte, was genau. Suda wiederum zwang sich zu einem Lächeln und schaute zur Seite. Dann stutzte sie jedoch, als wäre ihr etwas eingefallen, über das sie schon die ganze Zeit nachgedacht hatte. Mit neugierigem Blick fixierte sie Shinichi.

»Was ist eigentlich mit dem kleinen Jungen passiert?«

Shinichi war so überrumpelt von der Frage, dass seine Tonlage höher klang als sonst.

»M-mit meinem Neffen?« Hilfesuchend sah er zu Heiji, doch der war zu beschäftigt damit, sich sein Lachen zu verkneifen. »Der, äh... wollte sehen, wie es Mouri-san geht, also ist er ins Krankenhaus gegangen.«

Ganz überzeugt wirkte die junge Frau nicht, doch sie nickte langsam, verbeugte sich und ging danach zurück zu Jun, der immer noch mit Motomasa spielte. Sobald Suda außer Hörweite war, konnte Heiji sein Lachen nicht mehr zurückhalten.

»Hast auch schon mal besser gelogen, Kudou.«

»Hättest mir ja auch helfen können.«

»Aber du schaust doch so niedlich, wenn du versuchst, dich aus solchen Situationen herauszureden.«

Er zwinkerte ihm zu und Shinichi hoffte inständig, dass seine Wangen nicht so rot waren, wie ihn die Wärme, die er in seinem Gesicht spürte, vermuten ließ.

»Hilfreich wie eh und je, Hattori.«

»Stets zu Diensten.«
 

Shinichi und Heiji hatte sich etwas abseits auf die Zuschauerplätze gesetzt. Von dort aus hatten sie eine hervorragende Übersicht über den ganzen Raum und die darin befindlichen Personen. Mittlerweile waren auch die anderen Beamten und Musiker wieder versammelt und Ohtaki und sein Team waren genauso ratlos wie vorher. Die Polizei war bereits dabei, alles einzupacken, also blieb ihnen nicht mehr viel Zeit, den Fall zu lösen.

Als die beiden zusammenfassen wollten, was sie bereits herausgefunden hatten, fiel ihnen erst auf, wie wenig sie eigentlich hatten.

»Wir sind uns zwar beide sicher, dass es einer von den Schauspielern war, aber beweisen können wir nichts davon.«

»Wie auch? Wir haben kein Motiv.«

»Wem traust du es denn am ehesten zu?«

Es war eine ziemlich verzweifelte Frage, die Heiji ihm da stellte, aber daran ließ sich auch nichts ändern. Shinichi hätte sie vielleicht selbst gestellt, wenn der andere ihm nicht zuvorgekommen wäre.

»Motomasa schon mal nicht«, antwortete er schließlich gedehnt. Man konnte es unvorsichtig nennen, den alten Mann auszuschließen, aber Shinichi konnte es sich wirklich nicht vorstellen, dass sie mit ihm ihren Mörder gefunden hatten. Es war ein reines Bauchgefühl, aber für gewöhnlich konnte er sich gut darauf verlassen.

Heiji stimmte ihm zu. »Ich glaube auch eher, dass es eine von den Frauen war.«

»Hmm.«

»Was ist, Kudou? Du siehst aus, als würde dich mehr als nur der Fall beschäftigen.«

Heiji hatte sich nach vorne gebeugt, einen Ellbogen auf sein Knie abgestützt und den Kopf in seiner Hand gebettet, und sah ihn neugierig an. Shinichi ordnete seine Gedanken, bevor er antwortete. Die ganze Zeit über schon war ihm etwas im Kopf herumgeschwirrt, von dem er wusste, dass es hilfreich war, woran er sich aber nicht komplett erinnern konnte.

»Ich hab vor einigen Jahren mal einen Zeitungsartikel gelesen, an den ich wieder denken musste.«

»Worum ging's?«

»Um einen Autounfall in Tokyo. Eine alleinerziehende Mutter hat den Autofahrer vor Gericht gebracht, aber er wurde freigesprochen. Ich glaube, der Fahrer war ein berühmter Schauspie—« Er stoppte mitten im Satz, riss den Kopf herum und sah Heiji alarmiert an. »Hast du hier drin Empfang?«

»Bin schon dabei.«

Der andere hatte sein Handy bereits aus der Hosentasche gefischt und war auf der Suche nach Zeitungsartikeln. Ungeduldig rückte Shinichi näher an ihn heran, um ihm über die Schulter zu gucken. Nach einigen Minuten grinste Heiji schließlich breit und zeigte ihm einen Artikel, der vor gut drei Jahren veröffentlicht worden war. Nachdem Shinichi das Geschriebene kurz überflogen hatte, erwiderte er das Grinsen.

»Und damit haben wir unser Motiv.«

»Gut gemacht, Kudou!«

Shinichi hatte nicht einmal Zeit, einen selbstüberzeugten Kommentar abzulassen, so überrascht war er davon, dass Heiji ihn plötzlich näher zu sich zog und ihm durch die Haare wuschelte. Innerlich zählte er die Sekunden, bis Heiji realisierte, dass er eben nicht Conan vor sich sitzen hatte und ihn dann verlegen räuspernd wieder losließ (es waren fast fünf, wenn er über sein pochendes Herz richtig hatte zählen können).

Anscheinend war er nicht der Einzige, der sich daran gewöhnen musste, dass er für einige Stunden wieder Shinichi und nicht Conan war.
 

Obwohl sie beide nun wussten, welcher der Schauspieler Kubota aus welchem Grund umgebracht hatte, hatten sie keine konkreten Beweise dafür gefunden. Ihnen fehlte aber auch schlichtweg die Zeit, sich erneut auf die Suche zu begeben, also mussten sie genau überlegen, wie sie mit der Situation umgehen wollten. Zunächst hatten sie Ohtaki gebeten, alle Anwesenden zusammenzurufen, der daraufhin alle Schauspieler, Musiker und Beamten vor der Bühne versammelt hatte. Nur einen Beamten hatten sie zusammen mit Jun in ein Nebenzimmer gebracht, damit der Junge nicht auf diese Weise von dem Tod seines Vaters erfuhr. Mittlerweile hatten sie es auch geschafft, seine Mutter zu erreichen, die innerhalb der nächsten halben Stunde ankommen würde. Gerade genug Zeit also, diesen Fall abzuschließen.

Sie alle waren angespannt, als Ohtaki endlich das Wort ergriff.

»Ihr habt also herausgefunden, wer Kubota-san umgebracht hat?«

Er klang hoffnungsvoll, hatte sich vermutlich wirklich völlig darauf verlassen, dass sie beide diesen Fall für ihn lösten. Damit hatten sie keine andere Wahl, als vollkommen von sich selbst überzeugt aufzutreten, damit kein Verdacht aufkam. Sie wussten ja nicht einmal, wo das Gift versteckt war. Aber wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellten, arbeiteten sie ohnehin auf ein Geständnis des Mörders hin, und dann war es irrelevant, ob sie Beweise hatten oder nicht.

Sie mussten nur genau überlegen, was sie sagten, aber Shinichi hatte ohnehin beschlossen, Heiji bei diesem Fall ein wenig den Vortritt zu lassen. Osaka war immerhin sein Revier.

Als hätte er gewusst, was Shinichi vorhatte, straffte Heiji seine Schultern ein wenig und hob erneut die Stimme.

»Die Person, die Kubota-han umgebracht hat, ist dafür extra von weit her nach Osaka gereist. Genauso wie die Mutter aus Sumida-gawa, die den Geist ihres toten Sohnes noch einmal sehen wollte.«

»Sumida-gawa?«

Ohtakis Zwischenruf klang verwirrt, aber das wunderte Shinichi nicht, immerhin hatte der Polizeiinspektor sich nicht durch dieses Stück quälen müssen. Die drei Schauspieler erstarrten jedoch ausnahmslos. Doch Heiji ließ sich nicht beirren und fixierte die junge Frau in der Mitte mit festem Blick.

»Suda-han, Sie haben ihn ermordet, aus Rache für Ihren toten Sohn.«

Einige Augenblicke lang füllte die fassungslose Stille den Raum, die Shinichi und Heiji nur zu gut von ihren vorangegangenen Fällen kannten. Alle Augen waren auf Suda gerichtet, die sich nicht rührte und unverwandt gen Boden starrte.

»Unsinn!« Es war Motomasa, der zuerst aus seiner Starre erwachte. »Ich habe euch doch gesagt, dass es niemand von uns gewesen sein kann! So respektlos, wie der Mörder mit Kubota-kuns Maske umgegangen ist—«

»Motomasa-san, es ist in Ordnung«, unterbrach Suda ihn leise. »Ich habe Noh nie so geliebt, wie Sie geglaubt haben.«

Shinichi realisierte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als er jetzt erleichtert ausatmete. Sie waren nur wenige Sätze von einem Geständnis entfernt, und damit lief es sehr viel besser, als er befürchtet hatte.

Nur Motomasa ließ sich nicht beirren.

»Was sagst du denn da? Du hast so hart gearbeitet, seit du bei uns bist; du kannst ihn unmöglich getötet haben!«

Kobayashi, die bisher gefasster gewirkt hatte, schien schlagartig etwas zu begreifen und wurde mit einem Mal leichenblass.

»Dann war Kubota-san derjenige, der deinen Sohn...«

Sie ließ den Satz unbeendet, konnte es nicht übers Herz bringen, doch Suda nickte auch so und biss sich auf die Lippe, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.

»Kubota war es, der Hiro angefahren hat.«

Selbst Motomasa war darauf sprachlos und wandte den Blick von ihr ab. Suda hingegen war den Tränen nah, doch Shinichi und Heiji wussten, dass sie jetzt kein Mitleid mehr zeigen durften.

»Das Gericht in Tokyo hat ihn damals nicht verurteilt, also haben Sie sich dazu entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.«

»Ich wollte ihn nicht umbringen! Zumindest am Anfang nicht!« Sie war immer lauter geworden, verzweifelter, und schien darüber selbst erschrocken. Um sich wieder zu fassen, atmete sie einige Male tief ein und aus, bevor sie weitersprach. »Es stand damals Aussage gegen Aussage, und natürlich hat das Gericht dem bekannten Schauspieler geglaubt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich ein halbes Jahr später nach Osaka gezogen, um ihn noch einmal persönlich zu konfrontieren.«

Sie stockte, kämpfte mit den Tränen.

»Und was ist dann geschehen?«, fragte Heiji leise. Suda lachte gurgelnd.

»Er hat mich nicht mal mehr erkannt! Der Mistkerl hat meinen Sohn auf dem Gewissen und hat nach ein paar Monaten bereits mein Gesicht vergessen!«

Kobayashi wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen, stoppte jedoch im letzten Moment und zog ihre Hand zurück. Falls Suda es bemerkt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Also habe ich in diesem Theater angefangen. Zuerst wollte ich nur sehen, ob ich nicht ein Geständnis aus ihm herausbekommen kann, aber nach einiger Zeit hat das nicht mehr gereicht.« Sie schluckte und schloss kurz die Augen. »Ich wollte das nehmen, was ihm am meisten bedeutet, und ihn damit so zerstören, wie er mich.«

Shinichi kam in den Sinn, dass die meisten anderen an ihrer Stelle vermutlich Jun ermordet hätten anstatt Kubota selbst, aber das hätte sie niemals gekonnt. Sowohl Motomasa als auch Kobayashi konnten sie nicht mehr ansehen.

Dafür blickte Suda erst Heiji und dann Shinichi lange in die Augen.

»Ihr zwei habt mich gefragt, wie es für mich war, als Kubota die Hauptrolle in Sumida-gawa spielen sollte. Es war ein Zeichen. Als würde mir meine Leidensgenossin aus dem Stück zuflüstern, es endlich zu beenden.«

Danach sagte sie nichts mehr. Ohtaki nahm das als Anlass, seinen Männern ein Zeichen zu geben. Zwei Beamte traten vor und legten der jungen Frau Handschellen an, die das kommentarlos über sich ergehen ließ. Als sie an Shinichi vorbei abgeführt wurde, konnte er sich nicht zurückhalten.

»Und was ist mit Jun?«, fragte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Immerhin musste der Junge von nun an ohne seinen Vater weiterleben. Suda kämpfte mit den Tränen, ehe sie ihm mit einem Lächeln im Gesicht antwortete.

»Wäre das alles nicht passiert, hätten er und Hiro bestimmt gute Freunde werden können.«
 

»Warte, dann magst du Noh gar nicht?!«

Endlich waren sie aus diesem schrecklichen Theater raus, der Fall war gelöst, alles war gut – zumindest dachte Shinichi das, doch wenn sein empörter Ausruf als Anhaltspunkt dienen konnte, war er jetzt kurz davor, seinen Kopf gegen den nächsten Laternenpfahl zu rammen.

Nachdem sie beide nämlich wieder an die frische Luft getreten waren, hatte er sich erneut darüber beschwert, wie langweilig Noh war und dass es ihnen darüber hinaus auch noch den ganzen Tag geraubt hatte, und was machte Heiji? Der Sack gab ihm auf einmal recht!

Shinichi wusste nicht, was für ein Gesicht er gerade machte, aber Heiji fand es wohl so lustig, dass er seit fast einer halben Minute nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Mittlerweile fand er das Ganze so witzig, dass er sich den Bauch halten musste.

»Bist du irre? Du hast doch selbst gehört und gesehen, was da auf der Bühne abgeht. Als ob ich Bock auf so was hätte!«, brachte er endlich zwischen Atemzügen heraus, als er sich etwas beruhigt hatte. Dann grinste er so unverschämt frech und provokant, dass Shinichi fast nach Luft geschnappt hätte. »Aber süß, wolltest du dem Mist echt eine Chance geben, weil du dachtest, ich fahr drauf ab?«

Okay, darauf schnappte er tatsächlich empört nach Luft.

»Bild dir bloß nichts darauf ein, du verda— Hattori?!«

Er hatte sich lauthals beschweren wollen, doch auf einmal packte Heiji ihn am Kragen und zog ihn so nah zu sich, bis ihre Lippen sich berührten. Es war nur ein flüchtiger Kuss, aber es war genug, um nicht nur ihm die Schamröte ins Gesicht zu treiben.

Shinichi brauchte einige Sekunden, bis er seiner Stimme wieder soweit vertraute, nicht plötzlich zu brechen. Fassungslos sah er Heiji an.

»W-was sollte das denn jetzt?!«

Der andere besaß auch noch die Dreistigkeit, darauf lediglich mit den Schultern zu zucken.

»Wer weiß, wann ich dich das nächste Mal in der Größe vor mir habe.« Jetzt schmollte er sogar noch. Frech, wie er war, schob er seine Unterlippe vor und musterte Shinichi herausfordernd. »Als ob ich guten Gewissens ein Kind küssen könnte.«

Das ergab zwar Sinn, war aber nicht wirklich der Punkt. Nicht, dass Shinichi jetzt die Energie hatte, ihn diesbezüglich zu korrigieren. Seine Lippen kribbelten schließlich immer noch, also wollte er sich erst einmal nicht beschweren.

In der Stille, die sich allmählich zwischen ihnen ausbreitete, sahen sie beide zunächst unschlüssig zu Boden. Bis Shinichi sich räusperte, seinen Kragen richtete (er durfte nicht daran denken, wessen Hemd er hier eigentlich trug) und versuchte so zu tun, als hätte ihm der Kuss nichts ausgemacht.

»Und jetzt?«

Heiji war weitaus besser darin, so zu tun, als würde sein Herz ihm nicht immer noch bis zum Hals schlagen. Betont lässig warf er einen Blick auf seine Uhr.

»Hmm, Kazuha hat sich noch nicht gemeldet, also haben wir wohl noch etwas Zeit.«

Er sah zum Horizont, wo die Sonne gerade begann, hinter den Häusern zu versinken und Osaka in ein Meer aus Rot und Orange zu tauchen.

»Nee, Kudou?«, fragte er viel zu beiläufig für Shinichis Geschmack.

»Hm?«

»Lust auf ein Date?«

»W-was?!«

»Du wolltest doch etwas Aufregenderes machen, als dir Noh anzusehen. Ich hab da genau die richtige Idee.«

Shinichi hob eine Augenbraue. »Ach hast du?«

»Vertraust du mir etwa nicht?«

»Hab ich nicht gesagt.«

Nun ebenfalls schmollend (aber im Gegensatz zu Heiji hatte er allen Grund dazu!) sah er zur Seite. Er konnte Heijis breites Grinsen zwar nicht sehen, als dieser ihm plötzlich einen Arm um die Schulter legte, aber dafür konnte er es in seiner Stimme hören.

»Sehr gut!« Er wuschelte Shinichi erneut durch die Haare, langsamer diesmal, verweilend. »Nii-chan wird sich schon darum kümmern, dass du Spaß hast.«

Shinichi zog zwar eine Grimasse, ließ sich aber dennoch von ihm mitziehen. Heijis Hand, die seine fest umschlossen hielt, war in etwa so warm, wie sich seine Wangen anfühlten, und er war verdammt froh, dass er sein rotes Gesicht im Notfall auf den Sonnenuntergang schieben konnte.



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