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Noch einmal mit Gefühl

[Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]
von

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Der stete Tropfen


 

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Tōkyō, Japan; 10 Jahre zuvor

 

Er konnte es nicht spüren, aber er hörte es. Hörte den donnernden Angriffsschrei, den Aufprall einer Wucht gegen die andere, das brutale Brechen von Knochen. Hörte das Publikum in entsetzter Verzückung johlen und brüllen. Hörte sich gegen die Torstange schmettern. Das Pfeifen des Schiedsrichters. Das Rauschen in seinen Ohren.

Dann. Stille. Schwarz.

Sasuke erwachte nur allmählich. Übelkeit schwappte über ihn hinweg, dämpfte die Geräusche um ihn herum – kontrolliert hektische Stimmen, Schritte um ihn herum, metallisches Rascheln. Schlanke Finger zogen seine Augenlider auseinander, ein Lichtpunkt blendete ihn.

»Patient bei Bewusstsein. Fertig machen zum Transport.«

Er wurde zur Seite gerollt, auf eine Trage gehievt und nach draußen geschoben. Da war kein Schmerz, kein Drücken oder Ziehen. Sein gesamter Körper war taub. Nein. Stumm. Während sie auf den Krankenwagen warteten, sprachen die Ersthelfer ihm gut zu, versicherten ihm, dass alles wieder werden würde. Die Ärzte sagten etwas anderes.

Femurfraktur, beidseitig. Seine Oberschenkelknochen waren gebrochen. Sehr ungewöhnlich, meinten die Ärzte. Es bedurfte enormer Kraftaufwände, um die stabilsten Knochen des Skeletts zu brechen. Nichtsdestoweniger war es passiert und er lag mit zwei obskuren Metallgestellen um seine Beine auf dem Krankenbett eines Einzelzimmers, die Bettdecke über seine Knie nach oben geschlagen.

»Scheiße«, zischte er. Mit seinen Fingerkuppen tastete er über den komplizierten Fixeur aus perfekt eingestellten Schrauben und Stangen. Zog daran, nur um zu prüfen, ob es wirklich wehtat. Zuckte laut fluchend zurück, als höllischer Schmerz von gerissenen Muskeln und gequetschtem Gewebe seine Wirbelsäule hinaufschoss.

»Sasuke-kun!«

Er wollte nicht zu ihr sehen; konnte ihr nicht in die mitleidigen, treuherzigen Augen blicken. Diese junge Frau, die ihm schon als Mädchen nachgelaufen war und ihn selbst hier in Tokio noch verfolgte. Soweit er sich erinnern konnte, war sie bei jedem Regionalspiel seiner Fußballmannschaft gewesen. Jedes Mal hatte sie ihn angefeuert, selbst – oder gerade wenn er ihren Jubel für unnötig hielt. Denn er war gut. Einer der Besten sogar. Darum war er nicht wie sein perfekter Bruder auf die Tōdai gegangen, sondern an eine Universität mit einer ernstzunehmenden Fußballmannschaft. Platz zwei in der Universitätsliga, zu großen Teilen dank ihm.

Nun sah Sakura ihn so. Einen Krüppel. Und er konnte es nicht ertragen.

»Geh weg«, befahl er in einem Tonfall, der hart und kalt klingen sollte, aber rau und jämmerlich herauskam. Vorhin hatte Sasuke seine Eltern weggeschickt – seinen vielbeschäftigten Vater, der extra aus einem wichtigen Meeting geholt worden war und seine wohlmeinende Mutter, die es gewagt hatte ihn zu trösten mit, du hättest ja sowieso nur mehr die nächste Saison spielen können, bevor du dein Auslandsjahr machst.

Sakura dachte nicht daran, zu gehen. Schuldbewusst hob sie ihre leeren Hände. »Ich wollte dir etwas mitbringen, aber ich wusste nicht, was in so einer Situation angemessen ist.« Langsam stellte sie einen der Besucherstühle neben das Bett und ließ sich darauf nieder. »Darum hab ich nur ein Versprechen mitgebracht.«

»Ich will nichts, Sakura.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist aufgewühlt und hast Schmerzen, aber das ist nicht das Ende der Welt, Sasuke-kun. Die moderne Physiotherapie ist gut und mit einem Fixeur geht alles viel schneller. Du bist nicht der erste Fußballspieler, der schwere Verletzungen hat. Sie kommen alle wieder auf die Beine und du auch.«

»Nein, Sakura, komme ich nicht. Muss ich auch nicht, nicht wahr? Wir können die UCHIHA Corp. einfach rollstuhlgerecht machen.«

Sie blinzelte verwirrt. »Was?«

»Du verstehst das nicht, okay? Wie könntest du.«

Jahrelang hatte er nichts gesagt, hatte sich von ihr beschatten lassen, denn welchen Unterschied machte es schon? Aber jetzt, hier, in diesem Moment der Verletzlichkeit, konnte er nicht den Mann spielen, der ihre übertriebene Bewunderung wert war.

»Du raffst es nicht, Sakura! Weil du keine Ahnung hast, wer ich wirklich bin! In welcher Welt ich lebe! Verdammt!« Er schlug eine Faust auf die weiche Matratze. Eine effektlose Geste, so sinnlos wie sein Ausbruch. Er war erbärmlich. So unglaublich erbärmlich.

»Ach ja?« Sakura legte ihre Hand auf seine Faust, erst zaghaft, dann umfasste sie sie. »Fußball ist mehr für dich als nur dein Hobby. Beim Spielen fühlst du dich frei und gut. Und du kannst es nicht ertragen, dass deine Familie deine Leidenschaft nicht akzeptiert und nur auf deinen Abschluss wartet, damit du dein Leben dem Familienunternehmen widmest. Ich weiß vielleicht nicht alles, Sasuke-kun, aber wenn du dir mal die Mühe machst, mit mir zu reden, höre ich zu. Also stell dich nicht so an.«

Er starrte sie an, direkt in diese funkelnden grünen Augen, die ihm so empathisch wie herausfordernd fixierten, als würden sie nur darauf warten, dass er ihr einen weiteren Happen hinwarf, an dem sie ihm beweisen konnte, wie falsch er lag.

Aber da war nicht mehr. Das war alles. Sein gesamtes Leben in zwei Sätzen zusammengefasst.

»Ich verstehe dich«, fügte Sakura hinzu und lehnte sich ihm entgegen, damit sie auch seine andere Hand in ihre nehmen konnte. »Ich war nie in deiner Situation, aber ich verstehe was du durchmachst. Lass mich dir helfen, Sasuke-kun. Nur dieses eine Mal.«

Er sah sie weiterhin an. Seine Brust zog sich zusammen, sein Atem verkürzte sich. Was passierte mit ihm? Plötzlich waren da Tränen in seinen Augen, wie damals vor so vielen Jahren, als er seinen Vater angefleht hatte, ihn in Konoha zu lassen, bei seinen Freunden, seinem Team, seinem Zuhause. Nur dass er sie diesmal nicht zurückhalten konnte.

Und plötzlich schluchzte er. Weinte er. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit, als ihm finstere Monster Angst gemacht hatten. Und Sakura … Sakura schüttelte nicht wie seine Mutter amüsiert den Kopf, befahl ihm nicht wie sein Vater, sich zusammenzureißen. Sie überschritt die Grenze, die er vor so vielen Jahren gezogen und seitdem mit Schulterzucken und Augenrollen verstärkt hatte. Ließ sich neben ihm am Bett nieder.

Und umarmte ihn.
 

 

Tōkyō, Japan; Gegenwart

 

Sakura rümpfte die Nase über die achtlos am Boden liegende Männerhose. Nicht, weil es eine Hose war oder weil sie eindeutig auf den Hüften eines Mannes gesessen hatte, bevor Ino sie in vermutlicher Verzückung über dessen festen, runden Hintern gestreift hatte, ehe sie in Ekstase über das entkleidete Individuum hergefallen und – nein.

Sakura störte sich nicht daran, dass Ino offensichtlich einen Mann abgeschleppt und so lauten Sex mit ihm gehabt hatte, dass Sarada davon aufgewacht war. Das Kind war noch zu klein, um lusterfüllte Schreie zu verstehen. Es frustrierte sie, dass sie es hatte mitanhören müssen.

Frustriert kickte Sakura die Männerhose zur Seite, um den Weg zum Esstisch freizumachen, wo sie ihren Laptop aufklappte und langgezogen seufzte. Wann hatte sie zuletzt mit ihrem Ehemann geschlafen? Es war zu lange her. An ihr letztes gutes Mal mit Sasuke konnte sie sich nicht einmal erinnern. Zu viele einsame Nächte und hitzige Streits waren seitdem vergangen.

Nun saß sie in Inos Küche und googelte neben einer randvollen Kaffeetasse, wie man Kündigungsschreiben formulierte. Je früher sie sich ein eigenes Leben aufbaute, desto besser. Egal wie es mit Sasuke und ihr weiterging. Gestern hatte sie ein langes Telefonat mit ihrer früheren Mentorin geführt und sie darum gebeten, ein gutes Wort in einem der örtlichen Krankenhäuser für sie einzulegen. Krankenhäuser waren gut vernetzt und Tsunade wusste, wie man Fäden zog. Mit etwas Glück konnte Sakura nächstes Jahr sogar mit ihrer Facharztausbildung beginnen. Stellen für Kardiologie gab es fast überall.

Erst nach einer Weile wurden ihre Recherchen durch das Klicken einer Tür am Ende des Flurs gestört. Die leichten Schritte gehörten eindeutig zu Ino, die ein paar Sekunden später in Jogginghose und mit zerzaustem Haar vor Sakura stand.

»Ach ja, ich wohne ja derzeit nicht alleine hier. Ups.«

»Anstrengende Nacht gehabt?«

»Möglich«, meinte Ino knapp, unschuldig an ihrem Getränk nippend. Mit dem Schluck versuchte sie das breite Grinsen zu kaschieren, das sich über ihre Lippen zog. Nicht, dass ihr Versuch irgendetwas brachte.

Das war das Höchstmaß an gespieltem Desinteresse das Sakura aufbringen konnte. Sarada war längst im Kindergarten und so wie Inos Liebhaber geklungen hatte, würde er sich noch ein paar Stunden ausruhen müssen. Mit hochgezogenen Augenbrauen klappte Sakura den Laptop zu. »Also. Wer ist er? Wie sieht er aus? Erzähl mir alles.«

Ino presste die Lippen aufeinander. »Ich bin mir nicht sicher, ob du das hören möchtest«, überlegte sie vage.

Sakura verengte die Augen. »Komm schon, Ino! Ich brauch irgendwie wieder Erotik in meinem Leben und die Wände sind so dünn, dass ich sowieso quasi dabei war. Wen hast du aufgerissen? Verzweifelter Künstler? Insolventer Hedgefondsmanager?«

»Nein!« Entsetzt warf Ino die Arme in die Luft. »Jetzt hör auf zu raten. Bei dir klingt mein Beuteschema ja erbärmlich.«

Das Ausweichmanöver war viel zu leicht zu durchschauen. Seit wann war Ino so eine Geheimniskrämerin in diesen Dingen? Wenn überhaupt, wusste Sakura zu viel von ihrem Sexleben. Dass sie jetzt so herumdruckste, war verdächtig. Und der eben aufgetauchte Mann im Türrahmen machte deutlich, warum.

Es dauerte eine Sekunde, bis Sakura verarbeitet hatte, was sie sah. Einerseits, weil sie Uchiha Itachi noch nie mit zerknittertem Hemd, offenen Haaren und ohne Hosen gesehen hatte. Andererseits, weil sie erst die Chance ausrechnen wollte, dass ihr Schwager aus einem komplett anderen Grund als dem offensichtlichen halbnackt vor ihr stand. Pech für sie. Die Situation war ziemlich eindeutig. Sie versuchte krampfhaft, Itachi nicht mit dem lauten Stöhnen der vergangenen Nacht in Verbindung zu bringen; versuchte nicht daran zu denken, dass sie sich ziemlich detailliert vorgestellt hatte, welche Stellungen der mysteriöse Liebhaber wohl gewählt hatte und versuchte die gesichtslose Gestalt ihrer Gedanken nicht mit ihrem Schwager zu ersetzen.

Es half alles nichts.

»Sakura-san«, brachte er als erster heraus. Ino hatte ihr Gesicht in die Handflächen gedrückt, um nicht Zeuge dieser peinlichen Begegnung zu werden.

»Itachi-san.« Sakura schluckte. »Deine Hose liegt hinter der Couch.«

Er nickte nüchtern, dann verschwand er ins Wohnzimmer. Ino folgte ihm, eine stumme Entschuldigung auf den Lippen.

Über die nächste Minute versuchte Sakura sich auf ihr Kündigungsschreiben zu konzentrieren und nicht auf die gesenkten Stimmen, die vom Wohnzimmer ins Badezimmer und von dort den Flur entlang zum Eingangsbereich wanderten. Sie würde so tun, als wäre das hier nie passiert. Niemalsniemalsniemals. Nein. Ein paar Minuten später kam Ino zurück, vollständig angekleidet, und Sakura konnte es nicht ignorieren.

»Er trägt Boxershorts von Armani«, sagte Sakura. Der Anblick hatte sich eingebrannt. Würde für immer in ihren Gedanken bleiben. »Es überrascht mich nicht, aber jetzt weiß ich mit definitiver Sicherheit, dass mein Schwager Boxershorts von Armani trägt.«

»Willst du immer noch wissen, wie groß sein –«

»Nein!«, unterbrach sie. »Alles, nur das nicht. Verdammt, Ino! Von allen Männern auf der Welt, die du haben kannst, musst du ausgerechnet mit Itachi-san schlafen!« In ihrer Agonie brach sie über ihrem Laptop zusammen und wedelte resignierend mit ihrer Hand über dem Kopf. »Dieses Leben ist zu viel für mich.«

»Jetzt reiß dich zusammen.« Lachend stupste Ino sie an der Schulter. »Wir sind alle erwachsen. Du bist mit seinem Bruder verheiratet, also wirf nicht mit Steinen. Wir sitzen beide im selben Glashaus.«

Sakura sah auf. Ihrer Meinung nach saßen sie nicht im selben Glashaus. Sasuke war unreif und egozentrisch, aber Itachi … »Du hast recht. Tut mir leid. Ich will nur nicht, dass du … du siehst ja, wie das mit Sasuke läuft. Sein Bruder ist zehnmal schlimmer.«

»Mag sein.« Ino ertränkte ein verschmitztes Grinsen in ihrer Kaffeetasse. »Aber der Sex ist Wahnsinn. Ist Sasuke auch so gut mit der Zunge –«

»Ino!«
 

 

Sasuke kam zu spät. Eine Minute. Verfluchte sechzig Sekunden, weil der Aufzug unvorhergesehen hängen geblieben war und er die Treppen hatte nehmen müssen. Der Vortrag über Verantwortung und die Notwendigkeit von Pünktlichkeit in der Geschäftswelt hatte doppelt so lange gedauert.

Itachi kam ebenfalls zu spät. Eine halbe Stunde, ganz ohne Begründung oder Entschuldigung. Er wurde begrüßt und über die bereits diskutierten Punkte der Agenda gebrieft.

Das Leben war beschissen. Dieses Unternehmen war beschissen. Ein Haufen bigotter Lackaffen in einer hübschen Welt aus goldenen Kugelschreibern und wichtigen Signaturen. Sasuke kannte ihre Namen und ihren Verwandtschaftsgrad zu ihm – seine Cousins Inabi und Naka, seine Großtanten Kaede und Fumi, sein Großcousin Tetsu – dennoch waren sie nichts mehr als ein Einheitsbrei an dunklen Augen und schwarzen Haaren, die ihn kritisch beäugten. Wie viel musste er noch geben, um dazuzugehören? Bis vier Uhr morgens hatte er Tabellen und Projektpläne aktualisiert, hatte Hochrechnungen angestellt, hatte seinen Schlaf und sein letztes frisches Hemd für diese eine Zahl geopfert, »Zwanzig Millionen Yen.«

»Bist du sicher, dass du damit auskommst, Sasuke?«, fragte Fugaku, tief versunken in dem Ordner, in dem Sasuke alles minuziös aufgeschlüsselt hatte.

Natürlich war er sich sicher. Seit einer Woche trug er rastlos alle relevanten Informationen dafür zusammen, nur für zwei Tage unterbrochen durch seine sinnlose Fahrt nach Konoha. Seine Rechnungen waren perfekt. Aber sein Vater wollte die Antwort nicht von ihm hören.

»Wie siehst du das, Itachi?«

Sasuke war nicht überrascht. Wartete wortlos, bis sein genialer Bruder die Ausdrucke durchgegangen war und seine Bestätigung gab. Ja, die Zahlen erschienen ihm realistisch. Welch Wunder, Sasuke hatte etwas richtiggemacht. Kaede und Tetsu funkelten ihn an, als hätte er ihnen ins Gesicht gespuckt. Seit Jahren wartete der Aufsichtsrat darauf, dass er einen letzten fatalen Fehler machte, um ihn ein für alle Mal loszuwerden. Nicht heute.

»Die Posten acht, neun und sechzehn«, sagte Itachi plötzlich, den Blick auf die Unterlagen gesenkt, »sehe ich allerdings als redundant. Wenn wir sie zusammenfassen und um die Hälfte kürzen, sparen wir rund vierzehn Prozent. Und wir sollten die Übersetzungskosten auf die Marketingabteilung buchen.«

»Übersetzungskosten vor dem Launch laufen immer über das Projektbudget«, wandte Sasuke ein. Es war ein schlechtes Argument, und er realisierte es in dem Moment, in dem er es gesagt hatte.

Angespannte Stille legte sich über den runden Mahagonitisch. Ein paar der Anwesenden überlegten, der Rest wartete ab. Überraschenderweise war es Fumi, die zuerst wieder sprach. Sie war eine kleine, strenge Frau Ende sechzig, die seit vierzig Jahren in die Geschickte des Unternehmens involviert war. Sasuke konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein direktes Wort mit ihr gewechselt zu haben. Umso überraschter war er, als sie ihn unvermittelt ansah.

»Wenn Sasuke-san darauf vertraut, dass die Umsätze im nächsten Jahr an die Erwartungen herankommen, sollten wir das Budget freigeben. Spricht noch etwas dagegen außer ein etwas schlechterer Jahresbericht?«

Erneut fokussierten alle Augen auf Itachi. »Die Frage ist wohl eher, was für einen etwas schlechteren Jahresbericht spricht.«

Frustriertes Zischen schob sich durch Sasukes Lippen nach draußen. Verdammt. Er hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Professionell zu sein. Keine Angriffsfläche bieten, nicht in den Zahlen, nicht an seinem Verhalten. Und doch. »Was genau ist dein Problem?«

Er wusste, dass er schlecht reagierte. Dass er die Anwesenden förmlich einlud, ihm seine schlechten Manieren, sein unprofessionelles Auftreten vorzuwerfen. Ihm einmal mehr zu sagen, dass er sich ein Beispiel an seinem perfekten Bruder nehmen sollte, der ihn einfach nur ansah, als verstünde er die verfickte Frage nicht.

Aber Sasuke hatte alles gegeben, jeden Tag, jede Nacht, hatte sich von Kaffee und Kopfschmerzpulver ernährt, um diesen Bericht zusammenzustellen. Alles. Für das hier.

Dafür, dass Itachi mit einem einzigen Satz den winzigen Funken von Respekt zunichtemachte, für den Sasuke seit Jahren kämpfte. Er konnte Fumi eine Notiz in den Unterlagen machen sehen und er wusste, dass er verloren hatte. Einmal mehr. Einfach so.

Er stand auf. Und ging. Aus der Tür, in den Aufzug, hinunter in die Tiefparkgarage. Fuhr nach Hause. In eine leere Wohnung. Warf sein Sakko in eine Ecke und öffnete so viele Hemdknöpfe, bis er wieder frei atmen konnte. Ein Fußballspiel, das war, was er jetzt brauchte.

In einem der hinteren Kanäle fand er eines. AFC Champions League, Viertelfinale. Urawa Reds gegen al-Hilal, ein Spiel auf verlorenem Posten für die Saudi-Araber, aber immerhin hielt sich der Ballbesitz in etwa sechzig zu vierzig. Es brachte ihn auf andere Gedanken, machte ihn nostalgisch bis zu dem Punkt, an dem er die zweite Halbzeit ignorierte und ein Fotoalbum aus einer lange vergessenen Schublade kramte. Sakura hatte es ihm geschenkt, als er einen harten Rückschlag bei seiner Physiotherapie erlebt und vom Aufgeben gesprochen hatte. Es war kitschig, wie alles, was sie jemals für ihn gebastelt hatte, und dieser kleine, bislang unbedeutende Fakt ließ sein Herz verkrampfen.

Es waren schöne Erinnerungen, die er durchlebte, als er die Fotos samt verschnörkelten Beschriftungen und künstlerischen Versuchen von gemalten Fußbällen und Toren durchblätterte. Selbst ohne die Angabe von Ort, Datum und Gegner hätte Sasuke die meisten Fotos identifizieren können. Jedes seiner Spiele war auf irgendeine Art unvergesslich gewesen.

Beim Heimspiel gegen die Ryūtsū Keizai Universität im März vor acht Jahren hatten sie in den ersten sechs Minuten zwei Tore geschossen und in der zweiten Halbzeit mit acht zu zwei bitter verloren. Im Freundschaftsspiel gegen die Medizinische Fakultät der Akita Universität in der nächsten Saison war er wegen einer Kollision mit einem Verteidiger im eigenen Strafraum nach nur sechzehn Minuten Spielzeit ausgewechselt worden. Und im Finale der Kantō-Regionalliga gegen Waseda United hatte er nach einem riskanten Ballwechsel das entscheidende Tor in der vierundneunzigsten Minute geschossen und damit seinem Team zum ersten Mal seit sechzig Jahren den Aufstieg in die dritte Liga derJapan Pro Soccer League erkämpft – in der sie das erste Spiel vernichtend verloren und sich allesamt ein blaues Auge geholt hatten, denn natürlich hatten sie nichts in einer Profiliga zu suchen.

Bei jedem Spiel hatte es etwas gegeben, das ihn begeistert hatte, egal ob Sieg oder Niederlage. Und jetzt? Jetzt saß er in Budgetmeetings und trug Projektberichte vor und konnte einen Tag nicht vom nächsten unterscheiden.

Ein Anruf riss ihn aus seinen Gedanken. Itachi. Er hatte keine Lust, abzuheben, dennoch tat er es. Vielleicht, weil er sich selbst hasste. Weil er sowieso auf verlorenem Posten stand. Besser, er brachte es schnell hinter sich.

»Was willst du?«, fragte er. Im Hintergrund hörte er Fahrgeräusche und Hupen. Später Abendverkehr. War er wirklich den ganzen Abend dagesessen und hatte seiner verpatzten Fußballkarriere nachgetrauert?

»Die Marketingunterlagen sind fertig. Yoshida-san hat die Flyer und Broschüren auf die neue Präsentation angepasst.«

»Und?«, brummte Sasuke. Was ging ihn das an? Es war nicht so, als hätte er in seinem Projekt irgendetwas zu sagen. Seit Wochen quälte Itachi sich mit dieser verdammten Präsentation herum. Natürlich bekam er sie gerade jetzt fertig, um seine Genialität pünktlich zu den Budgetmeetings einmal mehr unter Beweis zu stellen und Sasuke den letzten Funken Genugtuung zu nehmen, der ihn über ebenjene Wochen über Wasser gehalten hatte.

»Ich dachte, du würdest sie gerne sehen, bevor wir sie in Übersetzung und Druck geben. Es ist immerhin dein Projekt.«

Auf Papier vielleicht. Dass Itachi ihn daran erinnern musste, wer die Projektleitung eigentlich hatte, sprach eine andere Sprache. »Wie alles andere, das du tust, wird bestimmt auch das brillant sein. Gib sie frei, ist mir scheiß egal.«

»Sasuke –«

»Nein, wirklich«, beharrte er. Sasukes Knie protestierte, als er aufstand. Stundenlang auf dem Boden zu sitzen war keine gute Idee gewesen. Während er in seiner dunklen Küche nach Alkohol und einem passenden Glas suchte, sagte er, »Du machst das schon. Und weil du so genial bist, trinke ich auf dich. Scotch ist hoffentlich nach deinem Geschmack. Cheers.«  

Er hörte Itachi seufzen, dann legte er auf. Trank das viel zu volle Glas mit zwei Schlucken aus und unterdrückte den aufkommenden Husten, den die süß-brennende Flüssigkeit aus den Tiefen seiner Kehle heraufkitzelte. Eine heiße Gänsehaut jagte über seinen Nacken seine Arme entlang und ließ ihn schaudern.

Ein zweites Glas folgte, diesmal nicht auf seinen Bruder, sondern auf seinen Vater und Tante Fumi und Cousin Tetsu und den Rest des Aufsichtsrates – nein, auf seine gesamte Familie, die er seit dreißig Jahren enttäuschte. Der zweite Sohn mit seinem sinnlosen Hobby und der nicht standesgemäßen Ehefrau. Der kluge Junge, der leider kein Genie war. Der ach so bemüht war und doch nichts auf die Reihe bekam.

Das dritte Glas trank er auf Sakura. Seine Frau, die er gegen den Willen seiner Familie geheiratet hatte. Die er in diesem Haifischbecken als Verbündete gesehen hatte. Und die ihn am Ende ebenso verraten hatte wie alle anderen. Die behauptet hatte, dass sie ihn verstand, seinen Kampf, seine Fehler, und nun weg war, weil sie es nicht verstand. Es tat weh, so unglaublich weh, dass er die Scotchflasche mit seinem Arm und einem Wutschrei zur Seite wischte. Realisierte, dass sie fallen und zerbrechen würde, wie sein Projekt, wie seine Ehe, wie die Beziehung zu seiner Tochter, weil Scherben alles war, das er produzieren konnte. Versuchte die Flasche aufzufangen in einem verzweifelten Versuch, weil er es nicht ertragen konnte, noch mehr zu zerstören.

Aber er konnte es nicht länger leugnen und die gläsernen Kanten schnitten in seine Haut und taten mehr weh als alles andere, weil die Schnitte und das Blut und die Scherben einhergingen mit der bitteren, der einzigen Wahrheit.

Er hatte nicht nur alles gegeben, er hatte alles geopfert. Und nun saß er da, beobachtete das Blut über seine Haut quellen und in feinen Linien über seinen Unterarm rinnen und schmollte wie ein unreifes Kind, das mit dem Fuß laut aufgestampft hatte und trotzdem nicht beachtet wurde. Weil er ein Idiot war. Ein sinnloser, dummer Idiot, der einem Lob nachjagte, das er niemals bekommen würde, egal wie sehr er sich anstrengte.

Er würde immer der zweite Sohn bleiben. Immer nach Itachi kommen. Immer eine Armlänge entfernt bleiben von der Anerkennung, der er so versessen seit dreißig Jahren nachjagte.

Und es war ihm egal. Weil es nicht synCOM oder die UCHIHA Corp. oder sein Vater oder Itachi war, deren Abwesenheit ihm in seinem tiefsten Moment heiße Tränen in die Augen trieb. Weil er nicht das Lob vermisste oder eine brüderliche Umarmung.

Sondern Sakuras naiven Optimismus, Sakuras bedingungsloses Lächeln. Sakura, die immer dagewesen war, für die er nichts hatte opfern müssen, sondern die ihm alles geschenkt hatte. Sakura, die nicht da war, um ihn zu trösten, als er in raues Schluchzen und bittere Tränen ausbrach, bis seine Stimme brach.

Weil er versagt hatte. Nicht als Projektleiter oder Mitarbeiter.

Sondern als Mensch.
 

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Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit ist Sasukes Sicht offiziell meine Lieblingsperspektive geworden. Obwohl er in dieser Geschichte bereits 30 ist und eigentlich mit einer Ehefrau, einer Tochter und einem geregelten Job fest im Leben stehen sollte, fühlt sich seine Geschichte an wie ein Coming-of-Age Arc - und das ist sie im Grunde auch. Denn Erwachsensein ist keine Checkliste, es ist Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und das muss Sasuke gerade auf die harte Tour lernen.
Und ja, ich bin mir bewusst, dass ich gerade meine eigene Geschichte arg hype, aber ich nehme mir diese Freiheit für dieses eine Kapitel. :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von:  Sylvia73hille
2019-08-04T21:14:54+00:00 04.08.2019 23:14
Diese deine Geschichte ist sehr vielschichtig. Gestartet habe ich damit weil das Paring Ino Itachi mir gefallen hat. Es ist bei jeder Figur wieder interessant mit zu empfinden und fühlen wenn diese an einem Punkt angelangt sind, an dem sie eine Situation nicht in ihrem Sinne beeinflussen und ändern können. Auch das Paring Sakura und Sasuke lässt mich total mit fiebern. An welchem Punkt ist Sakura? Würde Sasuke noch eine2. Chance von ihr bekommen? Oder ist sie schon darüber hinaus? Wieviel Kraft hat Sakura und wie lange reicht sie noch um selbst noch an ein Happy end zwischen sich und Sasuke zu glauben?
Was wird Sasuke nun als nächstes tun? Den ersten Schritt hat er nun hinter sich gebracht und die Erkenntnis zu gelassen. Er kennt seine Frau bis zu einem gewissen Grad. Sie ist gerade dabei sich weiter zu entwickeln und das auch ohne ihn. Ist die Frage wieviel Gefühl ist noch vorhanden für Sasuke und wird das für einen Neustart für die beiden ausreichen?
Itachi mag ein Eigenbrötler sein, ein Workaholic, der fast voll und ganz mit der Firma verheiratet ist, apropos wieso wurde bei Itachi noch nicht versucht ihn Zwangs zu verheiraten zum wohle der Firma? Aber er ist auch heimlich nach Ostasiens geflogen um Recherchen an zustellen, weil jemand seinen hart arbeitenden kleinen Bruder in die Pfanne hauen will. Es dürfte auch für Itachi nicht einfach sein als Genie, sein IQ wurde zwar noch nie erwähnt, soziale Kompetenzen zu entwickeln, seinem kleinen Bruder genug Entwicklungs Raum zu lassen und sich trotzdem selbst treu zu bleiben. Bin schon auf das nächste Kapitel gespannt. LG Ylva
Von:  Levisto
2019-08-04T19:47:30+00:00 04.08.2019 21:47
MEGA! Sitze gerade heulend im Bett, obwohl ich längst schlafen müsste, und lese dein Kapitel. Und das hat es in sich.

Inos Nacht scheint sehr gut verlaufen zu sein und Sakura hat ein lebenslanges Kopfkino dazu erhalten.

Aber meine ganze Euphorie gilt deiner Beschreibung von Sasuke! Wie sehr man sich in ihn rein versetzt hat, als er im Meeting saß, auf Anerkennung von IRGENDJEMANDEN gewartet/gehofft hat, einen kleinen Lichtblick gesehen hat, der sofort niedergeschmettert wurde vn einer Existenz, die schon immer besser war. Bis man aufgegeben hat, am Anfang noch wütend nach Hause fuhr, nur um darauf in Nostalgie mit anschließender Traurigkeit zu versinken.

Und dann hat man es wieder von außerhalb betrachtet: sah Sasuke über ein Fotoalbum sitzen und realisieren, was der größte und schmerzhafteste Splitter in seinem Scherbenhaufen ist.
Es hat sehr lange gedauert und man kann nur hoffen, dass Sakura dieselbe Ausdauer ihm gegenüber hat wie früher.

Und ein wenig neugierig bin ich auch auf Itachis Sicht. Steckt in ihm mehr Charakter?

So, jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Hat mich wirklich gefreut!

In freudiger Erwartung
Levisto
Von:  Kleines-Engelschen
2019-08-04T18:23:38+00:00 04.08.2019 20:23
ein schönes kapitel. ich finde es toll das sasuke langsam die einsicht bekommt was wirklich zählt. freue mich auf das nächste kapitel

greetz
Von:  MayLuSan
2019-08-04T04:29:08+00:00 04.08.2019 06:29
Ich schreibe auch selten Kommentare. Aber ich muss sagen dein Schreibstil ist einfach der Wahnsinn, ich liebe ihn! Ich habe bis jetzt alle deine Naruto-Geschichten verschlungen (und geliebt)und bin froh, dass mit A Handbook on Living eine weitere folgt. Du hast einfach ein abartiges Schreibtalent. Und mir gefällt tatsächlich jede Sichtweise gleich gut. Mach weiter so, ich freue mich schon riesig darauf weiterzulesen, ist immer mein persönlicher Höhepunkt wenn ein neues Kapitel online kommt ;)
Liebe Grüße Marie
Von:  Annasche
2019-08-03T13:43:01+00:00 03.08.2019 15:43
Na endlich! Sasuke denkt nach und überdenkt! Er scheint langsam zu begreifen, woran er arbeiten muss und was bzw wer wichtig ist! Endlich lässt er mal wieder etwas Gefühl zu... Auch wenn es im ersten Moment hart ist! Ich hoffe, dass er mit der gewonnenen Erkenntnis endlich richtig handeln kann! Bin wirklich auf seine nächsten Schritte gespannt!
Dieses Kapitel, mit Sasukes Gedanken und Gefühlen, ist richtig gelungen und zeigt seine Zerrissenheit!

Freu mich aufs nächste Kapitel!!
Von:  Haruno
2019-08-03T10:14:53+00:00 03.08.2019 12:14
Hey,
Tolles Kapitel :)
Besonders dass Itachi Armani Boxershorts trägt xD
Wissen wir jetzt alle Bescheid xDD

Sasukes Sicht zu lesen, war interessant. Denn genauso habe ich es in der Story bisher vermutet.
Ich bin gespannt was er aus seiner Erkenntnis jetzt für einen Schritt wagen wird. :)


Gruß Cherry
Von:  Fuffy
2019-08-03T08:52:42+00:00 03.08.2019 10:52
Hallo 4FIVE,

ein äußerst gelungenes Kapitel. Ich finde es sehr intensiv, wie du die zerbrochenen Träume von Sasuke beschreibst. Man kann alles sehr gut nachvollziehen und hofft, dass er jetzt endlich seinen "Mann steht" und nicht mehr so stur ist und endlich hinne macht :)
Ich bin schon sehr gespannt wie es weitergeht!

lg, F
Von:  franny
2019-08-02T21:16:51+00:00 02.08.2019 23:16
Es war einfach nur toll!!!!
Man hat mit Sasuke richtig mitgefühlt und ich hoffe so sehr das er jetzt endlich einsieht, das er was in seinem Leben ändern muss. Ich bin gespannt wie es mit ihm weitergeht, und ob er was ändert und um Sakura und sarada kämpft.
Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel!!!! =)

Glg franny
Von:  Chihiro5
2019-08-02T19:39:35+00:00 02.08.2019 21:39
Ich liebe dieses Kapitel. Und damit ist auch Sasukes Sicht meine offizielle Lieblingsperspektive. Ich schreib eigentlich nie gerne Kommentare, aber ich liebe deine Geschichte. Ich hoffe so das es ein happy end gibt.
Bitte schreib schnell weiter.


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