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So eisig die Nacht

von

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Chapter 6

18. 12.

9: 01 Uhr
 

Lennister kaute mal wieder Kaugummi, und am liebsten hätte Armstrong ihm dafür eine reingehauen.

Zugebenermaßen war sie ohnehin nicht sonderlich gut gelaunt an diesem Morgen, ganz im Gegenteil - sie hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen, bis Haystings Anruf sie aus dem Bett geholt hatte, und sie hatte bisher noch nicht einmal einen Kaffee bekommen.

Davon abgesehen ging ihr Lennisters Kaugummikauen allerdings ganz grundsätzlich verdammt auf die Nerven.

Dass sie heute darauf verzichtete, ihren Kollegen für sein unerträgliches Verhalten zurechtzuweisen, war in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass Armstrong damit beschäftigt war, nicht alle Anwesenden zusammenzuschreien. Sie hätte es niemals zugegeben, oder es sich auch nur irgendwie anmerken lassen - doch ihre Nerven lagen blank.

Tasha McAllister war ihre Patientin gewesen. Nicht ausschließlich, grundsätzlich war jeder vom medizinischen Fachpersonal für jeden Patienten zuständig, aber es gab so etwas wie „Hauptbetreuer“, und das war sie eben für McAllister gewesen. Armstrong machte sich nicht direkt Vorwürfe, war nicht unbedingt der Meinung, dass das, was sie hier in diesem Haus vorgefunden hatten, kurz nachdem McAllisters Verschwinden bekannt gegeben worden war, ihre Schuld war.

Doch einen bitteren Beigeschmack besaß das Ganze durchaus.

Sie betrachtete das Tuch, das über den Leichnam auf dem Wohnzimmerboden gebreitet worden war. Sie hatte die Leiche gesehen, und dieser Anblick hatte sie nicht geekelt - so etwas gehörte zu ihrem Job - aber erstaunt. Im Grunde war es nur noch ein Torso gewesen; die Gliedmaßen hatten sie bisher nicht auffinden können, und Armstrong glaubte auch nicht, dass sie das noch tun würden. Der Torso hatte Bisspuren aufgewiesen, teilweise waren Stücke herausgerissen worden; amateurhaft, wie mit einem Gebiss, das nicht für derartige Tätigkeiten gemacht war.

„Sie hat versucht, ihn zu essen!“, war es Armstrong bei diesem Anblick durch den Kopf geschossen, und trotz ihrer Abgeklärtheit hatte sich auf ihren Armen eine Gänsehaut gebildet.

Dabei war Tasha McAllister doch stets so eine höfliche Patientin gewesen. Armstrong hatte sie beinahe gemocht - eine Einstellung, die ihre Arbeit niemals zugelassen hätte - und das nicht nur wegen ihrer hervorragenden Eignung für das Projekt. McAllister hatte niemals Probleme gemacht, war immer freundlich gewesen, ruhig.

Und nun, so etwas.

„Zu was Menschen nicht alles in der Lage sein können.“, murmelte Armstrong nun, so leise, das niemand sie hören konnte, aber Lennister sah die Bewegung ihrer Lippen und hob fragend eine Augenbraue. Sein Gesicht war Bleich, er schien den Anblick der verstümmelten Leiche noch immer nicht verarbeitet zu haben.

Was für ein Weichei.

Armstrong ignorierte ihn, und wandte sich in Richtung der Haustür. Für sie gab es hier nichts mehr zu tun. Im Grunde war sie nur hier hergerufen worden, weil es die Hoffnung gegeben hatte, dass sie McAllister hier vorfinden würden, und in diesem Fall wäre Armstrong, neben Dr. Cormins, der McAllisters zweiter „Hauptbetreuer“ gewesen war, die wohl geeignetste Person gewesen, um die psychotische Patientin zu beruhigen.

Psychotisch. Das war, was Haystings ihr am Telefon gesagt hatte, und wenn Armstrong ehrlich war, dann war sie darüber nicht wirklich überrascht gewesen. Die psychotischen Schübe waren Standart bei McAllister gewesen, waren immer wieder in regelmäßigen Abständen aufgetreten, wenn bisher auch ohne aggressive Symptomatiken.

Nebenwirkungen, die Armstrong und ihre Kollegen gerne in Kauf genommen hatten.

Tasha McAllister war eine der wenigen Patientinnen gewesen, die die Gabe des Medikamentes gegen das Karzinom überlebt hatte. Besser noch, es hatte wirklich gewirkt, und nicht, wie in anderen Fällen, dafür gesorgt, dass das Geschwür nahezu explosionsartig gewachsen war und Metastasen gebildet hatte. Der Krebs war auch bei ihr zurückgekommen, ja, aber nicht in lebensbedrohlicher Form, sie hatten ihn im Griff gehabt, hätten ihn vielleicht sogar vollends heilen können. Aber in diesem Fall hätten sie keine weiteren Fortschritte erzielen können. Tasha McAllister war ein seltenes, wertvolles Exemplar eines Menschen gewesen, an dem sie die Wirkungen des Medikaments Schritt für Schritt testen und einzelne Faktoren anpassen konnten, und auch, wenn sie die Hauptkomponente für die Wirksamkeit bis zuletzt nicht hatten finden können, so waren sie doch vorangekommen. Bei einer Sterberate der Probanten von 98,4% konnte man auf so jemanden einfach nicht verzichten. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie McAllister damals nicht hatten gehen lassen können. Weshalb sie ihrem Mann, der sie so oft besucht hatte, auch dann noch, als sie sie nicht mehr zu ihr gelassen hatten, weil sie zu schwach gewesen sei, irgendwann mitgeteilt hatten, dass Tasha verstorben sei.

Über diese Entscheidung hatten sie damals viel diskutiert. Die meisten von ihnen waren der Meinung gewesen, dass das die beste Entscheidung war - verdammt, die einzig richtige Entscheidung sogar - aber manche, alles voran Lennister, dieses Weichei, hatten zu bedenken zu geben, dass das so ziemlich gegen jedes geltende Menschenrecht und damit gegen die Verfassung der vereinigten Staaten verstoßen würde.

Alleine bei dem Gedanken an diese Aussage stieß Armstrong ein schnaubendes Lachen aus.

Es gab wenige Dinge an ihrer Arbeit für die Corporation, die nicht gegen geltende Gesetze des Staates oder der Ethik verstießen. Das gehörte nun einmal zu diesem Job, und die Leute, die in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Sagen hatten, billigten diese Aktivitäten nicht bloß, sie förderten sie sogar teilweise. Insbesondere die großen Projekte drüben in Colorado oder Main, die einen militärischen Hintergrund hatten. Wer ein großer Freund von Menschenrechten war, der war bei der Corporation verdammt fehl am Platz.

Letztlich hatten sie dann aber doch die richtige Entscheidung getroffen.

Kenneth McAllister hatte ein Beileidsschreiben erhalten, überreicht von irgendeinem der Typen, die extra für solche Dinge beschäftigt wurden und sonst keine Ahnung hatten, was bei dem Projekt eigentlich passierte. Er hatte die Urne mit der Asche seiner Frau erhalten, und damit war das Thema durchgewesen, zumindest für Armstrong und ihre Kollegen.

Tja. Und nun hatten sie hier diese Situation.

„Ihr Mann war bestimmt ziemlich überrascht, als McAllister einfach vor ihm stand.“, dachte Armstrong, öffnete die Tür ihres Nagelneuen Ford und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Ein paar Meter vor ihr setzte sich grade der Krankenwagen in Bewegung, an dessen Bord sich der fünfjährige Sohn der McAllisters befand; ein schmächtiger kleiner Junge, den Armstrong nur kurz gesehen hatte, bevor er nach draußen gebracht worden war. Die beiden anderen Kinder besuchten, den Informationen, die Armstrong nebenbei aufgeschnappt hatte zufolge, außerhalb der Ferien ein Internat und waren demnach nicht zuhause gewesen.

„Glück für sie wahrscheinlich.“, murmelte Armstrong und drehte den Schlüssel im Schloss. Eine Leiche war mehr als genug. Es würde nicht leicht werden, das Ableben von Kenneth McAllister zu erklären, auch wenn bis jetzt keine Polizei oder sonstige Außenstehenden davon mitbekommen haben sollten. Auch die Besatzung des Krankenwagens gehörte der Corporation an, und bis nicht irgendjemand einen vernünftigen Plan hatte, wie das Ganze weitergehen sollte, würde auch der Junge erst einmal keinen Kontakt zur Außenwelt mehr haben.

Ja. Eine Leiche war wirklich mehr als genug. Und leider glaubte Armstrong, oder wusste viel mehr, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bei diesem einen Toten bleiben würde.



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