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Verlorene Sonne

von

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Kapitel 5

Ohne den Blick von der Waffe zu nehmen, hob Tom die Hände vor die Brust, als könnte er sich so vor der tödlichen Kugel schützen. „Wir, äh, haben überhaupt nix gesehen.“

Die Ladenbesitzerin runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie Schwierigkeiten zu glauben, dass jemand so erbärmlich lügen konnte wie Tom es eben getan hatte. „Netter Versuch. Aber bitte spart euch weitere peinliche Ausreden, während ich mir überlege, was ich mit euch anstelle.“

Die kühle Entschlossenheit in ihren Augen jagte Tom einen Schauer über den Rücken. Sollte die Frau Skrupel haben sie an Ort und Stelle zu erschießen, lag das sicher nicht an ihrer Menschenliebe. Wenn er und Marlene nicht ganz schnell einen genialen Fluchtplan entwickelten, erlebten sie den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr.

Tom konnte nicht glauben, dass seine Henkersmahlzeit aus einem überteuerten Karamell-Minz-Frappuccino bestanden haben sollte. „Komm schon, wir finden doch bestimmt irgendeinen Kompromiss. Du lässt uns gehen und dafür erzählen wir niemandem, was wir hier gesehen haben.“

Die Frau neigte den Kopf. „Ich dachte, ihr hättet nichts gesehen?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme.

„Äh …“ Verdammt. Tom war nicht nur ein schlechter Lügner, sondern auch noch ein dummer.

„Mehrere Freunde von mir wissen, wo ich hingegangen bin.“ Im Gegensatz zu Tom klang Marlene völlig ruhig. Sie hätte sich ebenso gut mit einer Bekannten über das Wetter unterhalten können.

Die Ladenbesitzerin zeigte sich davon allerdings wenig beeindruckt. Noch immer hielt sie ihren Kopf geneigt; eine Haltung, die Tom an einen lauschenden Jagdhund erinnerte. „Und das sollte mich interessieren, weil …?“

„Weil ich ihnen gesagt habe, dass sie die Polizei rufen sollen, wenn ich mich nicht mehr melde.“ Marlene deutete auf die reglosen Körper hinter ihr. „Das da sind Menschen, die niemand vermisst.“ Tom schluckte seinen Protest herunter, als Marlene beim nächsten Satz auf ihn und sich selbst deutete. „Das gilt aber nicht für uns beide. Uns wird man suchen. Und in meinem Fall wird die Polizei auch ganz genau wissen, wo sie anfangen muss.“

Tom hatte keine Ahnung, ob Marlenes Argumente auf offene Ohren stießen, aber zumindest schaffte sie es damit, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ganz langsam war der Revolverlauf von Toms zu Marlenes Brust gewandert und verharrte dort. Sie zeigte sich auch davon unbeeindruckt. „Erschießen werden Sie uns übrigens schon zweimal nicht und ich erkläre Ihnen auch gerne, wieso.“

Bedächtig machte Tom erst einen winzigen Schritt zur Seite, dann einen weiteren.

„Es ist helllichter Tag, die Straßen sind voll mit Passanten.“

Noch einen Schritt.

„Sie mussten sich ja ausgerechnet eine der belebtesten Gegenden der Stadt für Ihren Laden aussuchen.“

Und noch einer. Inzwischen musste Tom fast aus dem direkten Sichtfeld der Ladenbesitzerin verschwunden sein.

„Bei so einer Menschenmenge wird irgendjemand den Schuss ganz sicher hören.“ Vielleicht erahnte Marlene Toms Plan, vielleicht hoffte sie, die Ladenbesitzerin wirklich überzeugen zu können. So oder so redete sie weiter. „Schüsse sind hier zum Glück eher selten, werden also die Polizei auf den Plan rufen und ich wette, das Letzte, das Sie wollen, ist ein Schwarm Polizisten, der Ihren Laden durchkämmt.“

Nur noch ein paar Schritte. Nur noch ein paar Schritte und Tom hatte eine realistische Chance, die Ladenbesitzerin zu überrumpeln. Vorausgesetzt, sie drückte den Abzug nicht schneller als er springen konnte. Was recht unwahrscheinlich war. Verdammt, das war ein wirklich beschissener Plan. Aber wenn er nichts tat, starben sie ebenfalls.

„Also?“, unterbrach Marlenes kühle Stimme seine Zweifel. „Ich würde vorschlagen, Sie stecken die Waffe weg, drehen auf dem Absatz um und sehen zu, dass Sie das Weite suchen. Wir geben Ihnen sogar eine Stunde Vorsprung, bevor wir die Polizei alarmieren.“

Ein Lächeln schenkte den blassen Zügen der Ladenbesitzerin einen schmierigen Film. „Ich denke, das lassen wir lieber. Oh, und wenn dein Kumpel hier“, träge schwenkte ihr Revolver zu Tom, „auch nur einen Millimeter weiterkriecht, jage ich erst ihm und dann dir eine Kugel in die Brust.“

Tom erstarrte. So viel zu seinem Überraschungsmoment. „Lass wenigstens Marlene gehen.“ Huch, wo war das denn hergekommen? Tom war ja einiges, aber sicher kein selbstloser Held. Sein Mund schien das allerdings noch nicht mitbekommen zu haben, denn der plapperte fröhlich weiter. „Du sammelst Kerle, ja?“ Er breitete die Arme aus. „Jung, sexy, Callboy und ohne Freunde oder Familie, die ihn vermissen würden. Ich bin dein feuchter Traum.“ Igitt, das Bild hatte er eigentlich nicht in seinem Kopf haben wollen.

Die Ladenbesitzerin antwortete nicht, aber immerhin hatte sie ihn bisher auch nicht erschossen. Und bildete sich Tom das ein, oder war der Revolverlauf ein kleines Stück tiefer gesunken? „Na? Was sagst du? Du lässt Marlene laufen und dafür benehme ich mich wie ein artiger Chorknabe, lege mich zu deinen anderen Eroberungen und mache ein langes Nickerchen.“ Aus dem er vermutlich niemals aufwachte.

Wieder flackerte ein Lächeln über die Lippen der Frau; falls sie ihren Revolver zuvor etwas tiefer gehalten hatte, tat sie das nun nicht mehr. Sie öffnete den Mund, doch ihre sicherlich höhnische Erwiderung verwandelte sich in einen Aufschrei, als Marlene sie mit Schwung gegen den Türrahmen rammte. Der Revolver fiel scheppernd zu Boden.

„Renn!“

Sie kamen nicht weit. Finger gruben sich in Toms Oberarm und der kalte Revolverlauf, der sich in seinen Nacken presste, nahm ihm die letzte Hoffnung auf ein Happy End. Still betete er, wenigstens Marlene würde entkommen. Als hätte sie ihn gehört, drehte sie sich um und versteinerte bei dem Anblick, der sich ihr bot.

„Schön stehenbleiben, Liebes“, schnarrte die Frau. Ihr feuchter Atem wehte über Toms Wange. „Du willst sicher nicht, dass ich das bisschen Hirn, das dein Kumpel hier besitzt, gleich an Ort und Stelle verteile.“

Geh!“ Tom hörte seine Worte kaum über das Hämmern seines Herzens. „Marlene, verschwinde endlich! Sie wird mich so oder so erschießen, aber du hast noch eine Chance!“

Zum Dank für seinen Heldenmut erntete Tom einen Schlag in seine rechte Niere. Vermutlich. Er war sich nicht ganz sicher, wo genau seine Nieren saßen und ehrlich gesagt war es ihm im Moment ziemlich egal. Der größte Teil seiner Aufmerksamkeit ging gerade dafür drauf, sich nicht wimmernd zusammenzukrümmen.

„Jetzt habe ich aber genug von euch beiden! Es wird Zeit, diese Farce zu been–“ Ein Knirschen erklang, das tief in Toms Magen vibrierte und die Säure darin nach oben trieb. Keine Sekunde später begrub das Gewicht der Frau ihn unter sich.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme, die er heute nicht zum ersten Mal hörte.

Nein, dachte Tom. Seine Welt war zu eng, warme Flüssigkeit tropfte auf seinen Nacken, auf genau jene Stelle, gegen die bis eben der Revolverlauf gedrückt hatte.

Marlene sagte etwas, doch er verstand durch das Rauschen in seinen Ohren nur Bruchstücke. „… tot?“ Ihre Stimmt klang so piepsig, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte.

„Ich weiß nicht“, antwortete Mr. Magick gepresst.

„Ich bin nicht tot“, stellte Tom klar.

„Nicht du.“ Ah, das klang schon mehr nach der Marlene, die Tom kannte und … nun ja, eben kannte. „Die Frau.“

Toll. Tom lag nicht nur unter dem Körper einer irren Killerin begraben, er lag unter dem Körper einer toten irren Killerin. Seine Magensäure startete einen neuen Fluchtversuch und irgendetwas, über das er lieber nicht näher nachdenken wollte, drückte schmerzhaft gegen sein Steißbein. „Holt. Mich. Hier. Raus!“

„Machen wir. Bleib ruhig.“ Marlene ächzte und Mr. Magick gab ein Geräusch zwischen Schnaufen und Grunzen von sich, doch das Gewicht verschwand von Toms Rücken.

Schwerfällig setzte er sich auf, sorgsam darauf bedacht, nicht auf das reglose Bündel neben sich zu achten. „Danke. Glaube ich.“

„Und?“, fragte Marlene. „Ist sie jetzt hinüber oder nicht?“

„I-Ich weiß nicht.“ Im Gegensatz zu Marlenes, klang Mr. Magicks Stimme noch immer eine Oktave zu hoch. „Ich finde keinen Puls.“

Und Tom würde dem Arschloch weiß Gott nicht noch mehr Zeit dafür lassen. Mit einem Zornesschrei, den er selbst kaum wahrnahm, stürzte er sich auf ihn. „Du Wichser!“ Einen Unterarm gegen Mr. Magicks Kehle gepresst, fixierte Tom ihn an der nächstbesten Wand. „Wusstest du von den Männern im Lager? Was hast du uns noch verschwiegen? Wo ist Sunny? Was habt ihr mit ihr angestellt?“

„Tom!“

Einmal mehr wurde er gepackt, doch dieses Mal weigerte er sich nachzugeben. „Ich will Antworten!“

„Die bekommst du aber nicht, wenn du den einzigen Typen erwürgst, der sie uns geben kann!“

Mr. Magick sah in der Tat nicht allzu gut aus. Ungesunde Röte flammte unter seiner leichenblassen Haut und ein Tränenfilm verschleierte seine Augen. Seine Hände lagen auf Toms Unterarm, ohne wirklich Gegenwehr zu leisten. Nicht unbedingt das, was man als das blühende Leben bezeichnete.

Widerwillig ließ Tom von ihm ab. Eine Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge wäre die Kirsche auf dem Kackehaufen dieses Tages. „Du hast dreißig Sekunden, um uns zu erzählen was zum Fick hier los ist.“

Die dreißig Sekunden verstrichen, ohne dass Mr. Magick auch nur eine Silbe über die Lippen gebracht hätte. Abwesend rieb er über seinen Hals, aber sein Blick war fest auf den auf reglosen Körper der Ladenbesitzerin gerichtet. Blut verklebte ihre Haare und rote Spritzer sprenkelten die schwere Kristallkugel neben ihr. „Sie ist tot.“ Mr. Magick barg das Gesicht in den Händen. „Ich habe sie umgebracht.“

Marlene ging neben der Leiche in die Knie und presste zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Eine endlose Sekunde später stand sie wieder auf. „Nicht tot. Nur echt hinüber. Wir sollten einen Arzt rufen.“

„Sie lebt?“ Auf Marlenes Nicken hin gaben Mr. Magicks Beine unter ihm nach, unkontrolliert flossen Tränen über seine Wangen.

Tom beobachtete das Schauspiel, unfähig, die Wut, die ihn bis eben noch erfüllt hatte, erneut zu entzünden.

„Wir sollten verschwinden.“ Marlene lief zum Telefon hinter der Verkaufstheke, um einen anonymen Anruf zu tätigen.



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