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Verlorene Sonne

von

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9

Kapitel 9

Warnend legte Julius eine Hand auf Toms Unterarm, doch es war zu spät. Die Pfahlhammers hatten ihn gehört. Sie wussten, dass er es wusste.

„Sunny.“ Katja Pfahlhammer blickte an ihrem gestohlenen Körper herunter. „Den geschmacklosen Namen hatte ich völlig vergessen.“

„Wie viele?“ Julius presste die Hand, die nicht auf Toms Unterarm ruhte, gegen sein Ohr. „Hier sind so viele Sterbeechos, ich kann sie nicht einmal auseinanderhalten.“

Die Pfahlhammers zeigten sich denkbar unbeeindruckt; Herr Pfahlhammer brachte sogar ein Lächeln zustande. „Man verliert den Überblick. Was denkst du, wie viele es waren, Liebes? Zwanzig? Fünfundzwanzig?“

„Ich müsste nachsehen“, erwiderte seine Frau abwesend. Ihre Aufmerksamkeit galt Julius. „Sterbeechos, also. Ich gebe zu, ich bin überrascht. Bis eben habe ich Batistes Geschichten darüber für einen geschickten Marketingtrick gehalten, um uns diese hübschen Kritzeleien an der Eingangstür zu verkaufen. Offenbar habe ich mich geirrt.“

„Offenbar.“ Julius umfasste Toms Unterarm fester und machte einen Schritt nach hinten.

Nachdenklich tippte Frau Pfahlhammer gegen ihr Kinn. „Ich frage mich, ob diese Fähigkeiten körpergebunden sind.“ Sie drehte den Kopf zu ihrem Mann, allerdings ohne Julius und Tom dabei aus den Augen zu lassen. „Wäre das nicht spannend, Liebster? Echos zu hören?“

Ihr Mann reagierte wenig begeistert. „Klingt nach anstrengendem Schnickschnack. Außerdem ist mir der Blonde zu dünn. Der andere gefällt mir besser.“

Frau Pfahlhammers Blick huschte zu Tom. „Mir auch. Ein wenig mehr Gosse als ich gewöhnlich bevorzuge, aber ein maßgeschneiderter Anzug wirkt bekanntlich Wunder.“ Ihr Kichern klang wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. „Und natürlich der richtige Wirt im Körper.“

„Haha. Der richtige Wirt. Ganz klar.“ Tom brauchte Julius‘ nonverbales Drängen in Form von Fingernägeln, die sich tief in seinen Unterarm gruben, nicht. Er trat auch so einen Schritt zurück. Tatsächlich hätte er Umdrehen und Wegrennen bevorzugt, aber dazu müsste er den Pfahlhammers den Rücken zuwenden und diese Option behagte ihm so gar nicht. „War nett Sie kennenzulernen und so, aber ich schätze, wir gehen dann mal.“

„Das bezweifle ich.“ Frau Pfahlhammer bemühte sich nicht länger, ihr zuckersüßes Lächeln aufrechtzuerhalten. „Ihr denkt doch nicht wirklich, wir würden euch einfach so gehen lassen?“ Sie kramte in ihrem Handtäschchen herum, ohne den Blick von Tom und Julius zu nehmen. „Andererseits wart ihr ja auch dumm genug zu glauben, Batiste hätte uns nicht vor ihrem herumschnüffelnden Freund gewarnt.“ Plötzlich hielt sie etwas in der Hand. Zu spät erkannte Tom, dass–

Nadeln bohrten sich in seine Brust und die Welt verlor jede Farbe.

 

~~~~~~~~~~

 

„Oh, fuck.“ Toms Schädel pochte schlimmer als nach dem legendären Besäufnis von 2016 und er fühlte sich ähnlich desorientiert. Behutsam öffnete er die Augen, aber egal wie oft er blinzelte, die Konturen um ihn herum wollten nicht schärfer werden. Wie auch immer er an diesen Ort gelangt sein mochte, er musste dabei seine Kontaktlinsen eingebüßt haben.

Nach drei Sekunden genaueren Hinfühlens stellte er fest, dass das nicht seinen einzigen Verlust darstellte. Er war nackt. Und nicht allein. Neben ihm lag eine zusammengekrümmte Gestalt.

„Julius? Julius! Wach auf!“

Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang zwischen Julius Lippen hervor, doch Tom war zu erleichtert, um Mitleid zu empfinden. Für einen schrecklichen Augenblick hatte er das Schlimmste befürchtet.

Vorsichtig, mit vielen Pausen, richtete sich Julius auf. „Wo sind wir?“

„Keine Ahnung.“ Tränen brannten in Toms Augen. In den ersten desorientierten Sekunden nach dem Aufwachen hatte ihm sein Gehirn erfolgreich vorgegaukelt, aus einem bösen Traum hochgeschreckt zu sein. Er lag gar nicht nackt auf kaltem Boden, einen fast Fremden neben sich. Sunny lebte, anstatt wie eine makabre Puppe fremdgesteuert durch ein Mausoleum zu stolzieren. Doch die Sorge um Julius pumpte genug Adrenalin durch Toms Adern, um den Nebel zu lichten.

„Ich glaube, ich bin gefesselt“, krächzte Julius.

Noch ein Punkt, den Toms Gehirn bisher erfolgreich wegrationalisiert hatte und dem er sich nun stellen musste. „Ich auch.“ Etwas, das sich nach rauem Seil anfühlte, verband seine Hand- und Fußgelenke miteinander. Schmerz schoss durch seine auf dem Rücken fixierten Arme, wann immer er versuchte, seine Beine auszustrecken.

Heiße Wut erblühte in seiner Brust, ließ keinen Platz für Trauer – mit der konnte er sich den Rest seines Lebens auseinandersetzen. „Ich kann nicht glauben, dass uns diese blöde Kuh überwältigt hat! Mit was hat sie da überhaupt auf uns geschossen? Nee, sag’s mir nicht. Ist mir nämlich herzlich egal, so lange ich nie wieder Bekanntschaft damit mache!“

„Ich bin mir nicht sicher, ob–“ Ruckartig drehte Julius den Kopf, allerdings nicht zu Tom, sondern in Richtung des schmalen Streifens diffusen Leuchtens, das die einzige Lichtquelle im Raum darstellte. Eine angelehnte Tür, sofern Tom seiner kontaktlinsenberaubter Sehschärfe Glauben schenken wollte. „Was ist los?“

Doch Julius reagierte nicht.

„Würdest du bitte mit mir reden?“ Tom hasste sich selbst dafür, wie kläglich seine Stimme klang und noch mehr für die Angst, die sich still und heimlich am Rand seines Bewusstseins positioniert hatte, darauf harrend, ihn im unpassendsten Moment zu überwältigen. „Julius?“

Nach der dritten, zunehmend drängender werdenden Ansprache, drehte sich Julius endlich zu Tom, den Ansatz eines verlegenen Lächelns auf den Lippen. „Entschuldige. Es ist nichts. Meine Nerven haben mir wohl einen Streich gespielt.“

„Sicher?“

Julius blinzelte träge, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Sicher.“

Fragen brannten auf Toms Zunge, doch er ersetzte sie durch die einzige, die ihm im Augenblick wirklich wichtig erschien. „Irgendwelche Vorschläge wie wir hier rauskommen?“ Seine Bemühungen, sich aus den Fesseln zu lösen, wurden mit schmerzhaften Abschürfungen belohnt, mehr Bewegungsfreiheit gewann er dadurch nicht. Nichtsdestotrotz machte er weiter. „Ich nehme nicht an, dass du zufällig Entfesselungskünstler bist?“

„Tut mir leid.“ Erschreckenderweise klang Julius, als meinte er es ernst.

„Schon gut. Du kannst ja nicht alles können.“ Tom schielte zur Seite. „Eine Frage hätte dann aber doch noch … Warum bist du angezogen und ich nicht?“

„Vermutlich, weil es nicht mein Körper ist, den die Pfahlhammers wollen.“

„Oh.“

„Tom?“

„Ja?“

„Ich habe vielleicht genug Bewegungsspielraum, um deine Fesseln zu lösen. An die Knoten in meinen eigenen komme ich nicht ran, aber bei deinen könnte es klappen.“

Nicht der ausgeklügelte Plan, den sich Tom erhofft hatte, aber besser als nichts. Bereitwillig wälzte er sich über den rauen Boden (Aua! Aua! Aua!), bis er Julius seine auf dem Rücken gefesselten Hand- und Fußgelenke präsentieren konnte. „Versuch dein Glück.“

„Dafür muss ich dich aber berühren.“

Fast schon belustigt schnaubte Tom. „Nur zu. Ich bin nicht schüchtern.“

„Das, äh, ist gut zu wissen, aber mir ging es eher darum, dass du mir das letzte Mal beinahe umgekippt wärst.“

Toms Erinnerungen an den elektrischen Schlag und die darauffolgende Welle an Emotionen, die ihn gnadenlos überrollt hatte, waren sich in der Tat noch schmerzhaft frisch. „Kannst du nicht – Wie hast du es genannt? – deine Barrieren hochfahren?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Ist egal, ob du’s kannst oder nicht. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, um hier rauszukommen, haben wir eh keine Wahl. Fang schon an, wer weiß, wie lange wir noch allein sind.“

Kühl strichen Julius‘ Finger über Toms Handgelenke, hinterließen prickelnde Sehnsucht. Blieb die Frage: Handelte es sich dabei um Julius‘ oder Toms?

„Geht’s?“, erkundigte sich Julius.

„Alles gut.“

„Dann fange ich jetzt an.“

Tom konnte nicht sehen, was genau Julius in seinem Rücken anstellte, aber seine Bewegungen fühlten sich trotz der erschwerten Bedingungen – Rücken an Rücken, ohne Sichtkontakt, dafür mit mehr als eingeschränkter Bewegungsfreiheit – methodisch an. Stück für Stück lockerte er die Knoten, ruckelte mal an der einen mal an der anderen Stelle. Schon nach wenigen Minuten glaubte Tom, sich freier bewegen zu können. „Warte. Vielleicht kann ich schon rausschlüpfen, wenn du die Seile festhältst.“

„Versuch’s.“

Er büßte ein paar Hautfetzen ein, doch am Ende waren Toms Hände frei. Mit vereinten Kräften folgten kurz darauf seine Fußgelenke. Innerlich jubelnd sprang er auf und vollführte die ersten Schritte eines kleinen Freudentanzes, bis ihn Julius‘ Blick – oder vielmehr die Abwesenheit dessen – daran erinnerte, dass er noch immer keine Kleidung am Körper trug. „Ähm. Ich kümmere mich dann mal um deine Fesseln, ja?“

Doch entweder waren diese fester gebunden als Toms, oder er stellte sich signifikant dümmer an. So oder so rührten sich die Dinger trotz intensiver Bemühungen kein Stück. „Ich krieg dich nicht los.“

„Versuch’s weiter.“ Julius‘ Stimme klang gepresst. Kein Wunder, die Fesseln hatten sich in den letzten Minuten nur noch tiefer in seine Haut gegraben – inzwischen rann Blut über seine Hände.

Irgendwann ertrug Tom das glitschige Gefühl an seinen Fingern, begleitet von Julius‘ unterdrückten Schmerzlauten, nicht länger. „Das bringt nichts. Ich kann hier noch stundenlang weitermachen, da wetze ich eher deine Arme und Beine bis auf die Knochen durch, als dass ich dich befreie. Vielleicht finde ich irgendetwas, womit ich die Fesseln durchschneiden kann …“ Er blickte sich im Raum um, entdeckte jedoch nichts als blanken Beton. Das Leuchten hinter der Tür schien mit jeder verstreichenden Sekunde lauter zu rufen. „Nebenan könnte–“

„Ich bezweifle, dass du da etwas findest.“

„Aber wissen tun wir‘s erst, wenn ich nachgesehen habe.“

„Tom, ich denke nicht, dass–“

„Irgendetwas muss ich tun, um dich loszukriegen. Mit den Händen klappt es offensichtlich nicht.“

„Lass mich nicht allein.“

„Nur kurz. Ich will doch bloß–“

„Geh da nicht rein! Bitte!

Schon im Begriff aufzustehen, erstarrte Tom mitten in der Bewegung. Julius‘ Flehen war das letzte, womit er gerechnet hatte und er konnte ausgesprochen gut darauf verzichten, noch einmal so viel Angst in einem einzigen Wort zu hören. „Julius …“

Doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Es ist okay. Such lieber Marlene. Holt Hilfe, wenn ihr könnt. Ich komme zurecht. Nur bitte, geh nicht nach nebenan!“

Wieder am Boden kniend, griff Tom nach den Händen seines Freundes.

Und plötzlich war sie da. Angst. Nein, mehr als das. Panik. Sie nahm Tom den Atem, verkrampfte seine Muskeln und flutete seine Sinne. Nur das Wissen, dass es sich nicht um seine eigenen Gefühle handelte, bewahrte ihn davor, die Flucht zu ergreifen.

Er ließ Julius‘ Hand nicht los, umklammerte sie nur fester. Schloss die Augen. Atmete ein. Beschwor den Klang zirpender Grillen herauf. Atmete aus. Das Plätschern von Wasser. Atmete ein. Malte sich Sonnenstrahlen aus, die seine Haut wärmten – atmete aus – und goldene Lichtreflexe auf Sumpfgras zauberten. Atmete ein.

Ruhe legte sich über ihn und er hoffte, einen kleinen Teil davon an Julius abzugeben. „Was macht dir solche Angst?“ Er musste die Frage noch zweimal wiederholen, bevor eine Antwort erhielt.

„Der Raum nebenan.“ Julius starrte an Tom vorbei, zum Lichtschein des Türspalts. „Hier unten kann ich die Echos besser verstehen. Wir sind näher an dem Ort an dem …“ Er schluckte hörbar. „Nebenan sind Menschen gestorben. Viele Menschen. Qualvoll.“

Für einen Moment flammte Toms eigene Angst auf, aber keine Sekunde später knüppelte sein Pragmatismus sie nieder. „Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden.“ Er musterte Julius‘ schmale Silhouette. „Ich kann dich tragen. Ein Stück zumindest. Wir müssen es ja nur bis zum Auto schaffen.“

„Falls ihr das Auto eurer Freundin meint … Die hat schon lange das Weite gesucht.“ Zum wiederholten Mal an diesem Tag richtete eine Frau eine Waffe auf Tom.



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