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Im Himmel ist der Teufel los

Apokalypse Reloaded
von

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Ab durch die Mitte

Das Gefängnis in Mathey war ähnlich wie das Höllengefängnis Abaddon in verschiedene Trakte aufgeteilt. Das erste Gebäude war die Besserungsanstalt, wo die Seminare für die Querulanten gehalten wurden, die wieder resozialisiert werden sollten. Der zweite weitaus strenger bewachte Teil war für Engel, die die Gesetze gebrochen hatten und erst ihre Strafe verbüßen mussten, bevor sie am Resozialisierungskurs teilnehmen durften. Der dritte Trakt war für diejenigen, auf die noch das endgültige Urteil warteten. Hier kamen alle hin, die Untersuchungshaft angeordnet bekommen hatten und selbst wenn sie am Ende für unschuldig befunden wurden, änderte es leider nichts daran, dass man seinen Ruf weg hatte. Immerhin musste es ja einen Grund geben, warum man überhaupt erst in Verdacht geraten war. Michael hatte dieses Gefängnis schon immer gehasst, insbesondere diesen bescheuerten Kurs, der seiner Meinung schlimmer war als die Hölle. Früher, bevor er zu dem wurde der er heute war, hatte er ständig an diesen dämlichen Kursen teilnehmen müssen, bis er sie irgendwann auswendig kannte. Aber das waren damals noch ganz andere Situationen gewesen, die ihn in Schwierigkeiten gebracht hatten und jeder wusste, dass er seinen Rang mehr als verdient hatte.

Doch nun war die Situation anders. Kaum hatte sich herumgesprochen, dass ihm der Mord an einen Kollegen zur Last gelegt wurde, hatten ihn selbst seine Kameraden mit abwertenden Blicken gestraft Obwohl sie ihn alle schon seit tausenden von Jahren kannten, hatte es sie nicht davon abgehalten, ihn als Mörder zu verurteilen. Am schlimmsten aber hatte ihn das mit Gabriel getroffen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass ausgerechnet dieser ihm so in den Rücken fallen würde. Nun war er ganz alleine und hatte niemanden mehr, auf den er sich noch verlassen konnte. Er, der einst strahlende Held des Himmels der Satan besiegt hatte, war nun ein Verbrecher, der bald als gefallener Engel enden würde. Was für eine bittere Ironie…

Niedergeschlagen saß er in einer Ecke seiner Zelle und starrte apathisch auf den Boden. Wenigstens waren die Gefängnisse in einem weitaus gepflegteren Zustand als die in der Hölle. Das Schlimmste aber war die Ungewissheit. Es konnte Tage, Wochen und vielleicht sogar Monate vergehen, bis er endlich mal einen richtigen Prozess bekam. Die himmlische Justiz war in etwa genauso langsam wie die Bürokratie weil beides eng miteinander verknüpft war und auch hier keiner so wirklich wusste, wer denn jetzt eigentlich für die Verurteilungen zuständig war und wer nicht. Und dieses schlimmstenfalls ewig lange Warten fürchtete er am meisten. Es konnte sogar sein, dass er überhaupt keinen Prozess bekam. Wenn die Beweislage eindeutig zu sein schien, würde er verurteilt werden ohne überhaupt die Chance zu bekommen, sich einigermaßen verteidigen zu können. Da hatten es die Menschen weitaus besser. Naja… zumindest jene mit einer funktionierenden Regierung, die etwas von fairen Gerichtsprozessen verstand.

Die Tür zu seiner Zelle wurde geöffnet und Michael rechnete zuerst damit, dass er verhört werden würde. Doch zu seiner Überraschung und Verwunderung war es ausgerechnet Gabriel, der von einem Wächter hereingeführt wurde. „Was machst du denn hier?“ fragte der erste Erzengel und fürchtete schon, dass sein Kollege nur gekommen war, um die Demütigung noch schlimmer zu machen. Doch dergleichen blieb aus. Stattdessen wandte sich Gabriel dem Wächter zu und befahl ihm: „Lass uns alleine. Ich will ihn alleine verhören.“

Der Wächter salutierte und verließ daraufhin die Zelle. Die Tür fiel hinter ihnen zu und Gabriel und Michael waren nun alleine.
 

„Jetzt auf einmal spielst du dich nach all der Zeit wieder als himmlischer General auf“, stellte Michael trocken fest und wandte den Blick ab. „Passt dir ja ganz hervorragend in den Kram, um mir noch eins draufzugeben, was?“

„Ich bin nicht hier um mich mit dir zu streiten, Michael“, erwiderte Gabriel und stellte sich ihm gegenüber an die Wand gelehnt hin und verschränkte dabei die Arme. Sein forschender Blick blieb auf seinen gedemütigten Kollegen haften. „Ich will mit dir reden, das ist alles. Außerdem ist jetzt gerade wirklich nicht der Zeitpunkt für Streitereien.“

„Wozu? Die Situation sieht doch mehr als eindeutig aus! Was gibt’s da noch groß zu bereden? Alle haben mich doch schon für schuldig befunden“, rief der erste Erzengel verzweifelt und vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte das Gefühl, als würde die ganze Welt auf ihn einstürzen und es gäbe keinerlei Rettung für ihn. Wer sollte ihm auch schon glauben? Man hatte ihn mit der Mordwaffe in der Hand am Tatort gefunden und er hatte noch vorher angekündigt gehabt, es Raphael heimzahlen zu wollen. Man musste schon echt dämlich sein um nicht zu schlussfolgern, dass er sich mehr als verdächtig gemacht hatte. „Selbst du glaubst allen Ernstes, ich hätte ihn getötet! Ausgerechnet du traust mir so etwas zu.“

„Ich weiß und es tut mir leid!“ Mit diesen Worten sank der himmlische Botschafter zusammen und wirkte genauso niedergeschlagen und hoffnungslos wie Michael. Beschämt wandte er den Blick ab und konnte ihm nicht einmal in die Augen sehen. „Es war absolut falsch und ich hätte das nicht tun dürfen. Aber… ich weiß auch nicht. Du hast dich so verändert und ich wusste einfach nicht mehr, wer du überhaupt noch bist.“

„Ich habe mich verändert?“ platzte es aus dem Inhaftierten heraus und er starrte seinen Gegenüber fassungslos an. „Du bist doch derjenige, der nicht mehr wiederzuerkennen ist. Du warst damals General der Armee und hast die tödlichste Legion angeführt. Dann schmeißt du einfach alles hin, spielst nun Tagesmutter in Eden und beschimpfst deine ehemaligen Kameraden als kriegstreibende Blutsäufer. Und dann tust du auch noch so, als hättest du nie etwas mit denen zu schaffen gehabt und als wärst du über alle Fehler erhaben. Du bist zu einem völlig anderen Engel geworden und ich verstehe bis heute nicht, was zum Henker in dich gefahren ist!“

„Ich war es halt leid gewesen, stets und ständig Menschen abzuschlachten“, warf Gabriel lautstark zurück und stapfte dabei mit dem Fuß auf den Boden. Er war aufgebracht und emotional, was aber mehr der Tatsache geschuldet war, dass es ihm schwer fiel, seine eigene Vergangenheit zu akzeptieren und sich einzugestehen, dass Michael nicht ganz Unrecht hatte. Er hatte sich wirklich verändert, aber er war der Überzeugung gewesen, dass es zum Wohl der Menschen geschehen war, während Michael selbst bloß auf einem Egotrip war. Aber so ganz traf es die Wahrheit nicht. Er hatte sich die ganze Zeit für etwas Besseres gehalten und hatte es nicht einmal wahrhaben wollen. „Glaubst du es hat mir Spaß gemacht, die Erstgeborenen der Ägypter zu töten und das Wehklagen ihrer Eltern zu hören? Oder die Sache mit dem goldenen Kalb, weil die Israeliten es leid waren, jahrelang ziellos durch die Wüste zu tingeln? Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, immerzu nur Menschen zu töten, vor allem unschuldige! Wie kannst du das denn überhaupt verantworten? Du warst doch früher immer derjenige gewesen, der ständig über die Stränge geschlagen ist um die Leute in Schutz zu nehmen. Ich musste doch ständig ein gutes Wort für dich einlegen, damit du nur an diesem bescheuerten Besserungskurs teilnehmen musstest!“

Eine unangenehme Stille trat ein und beide brachten es nicht fertig, einander in die Augen zu sehen. So viel war passiert und so vieles war niemals offen und ehrlich ausgesprochen worden. Damals, bevor sich die Dinge geändert hatten, waren sie beide noch ganz andere Engel gewesen und man konnte zu Recht behaupten, dass sie ihre Rollen komplett getauscht hatten. Gabriel war lange Zeit ein hohes Tier des himmlischen Militärs gewesen. Er erfüllte sowohl die Aufgabe als Gottes Botschafter sowie auch als General der zweiten Legion, welche bloß als „Henkerkommando“ bekannt war. Er führte damals die blutigsten Einsätze von allen durch. Die Plagen Ägyptens, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, der Massenmord an den Israeliten nach der Sache mit dem goldenen Kalb… all das ging auf Gabriels Konto. Irgendwann war er es leid gewesen, immer nur Tod und Zerstörung über die Menschheit zu bringen, hatte seinen Job als General deshalb an den Nagel gehängt und lange Zeit nur als einfacher Botschafter gearbeitet. Nachdem Sandalphon seinen alten Posten als Schutzengel der Kinder und Neugeborenen abgeben wollte, hatte Gabriel dies als Chance für einen Neuanfang gesehen.

Michael hatte sich stattdessen in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Er war früher ein Querulant vor dem Herrn gewesen, der sich nicht immer an die Regeln gehalten hatte, aber dafür immer Resultate vorweisen konnte. Er war der Beschützer der Menschheit, Verteidiger des Himmels und wurde sogar als „der Gottgleiche“ bezeichnet. Aber irgendwann wurden die Schwierigkeiten zu groß, in die er sich immer wieder reinmanövrierte und er war daraufhin zu einem stoischen Erbsenzähler geworden, der wie ein Besessener die Regeln befolgte und es nicht mal wagen wollte, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie beide hatten sich in die komplette Gegenrichtung entwickelt und es selbst nicht wirklich gemerkt. Und keiner von ihnen hatte es überhaupt für nötig befunden, mal offen und ehrlich darüber zu sprechen. Da war es abzusehen, dass es zu Missverständnissen kam, die sich im Laufe der Jahre immer weiter verschlimmerten, bis es dann schließlich eskalierte.

Nun, da sie beide erkennen mussten, dass sie all diese Streitereien hätten vermeiden können, wenn sie mal vernünftig miteinander gesprochen hätten, wurde es endlich Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Michael legte den Kopf zurück und starrte mit einem trübsinnigen Blick auf die Decke seiner Zelle. „Erinnerst du dich noch an den Einsatz in Sodom und Gomorrha? Wir beide waren damals mit der Mission betraut worden.“

„Wie könnte ich das jemals vergessen…“, seufzte Gabriel und wollte sich lieber nicht die Bilder in Erinnerung rufen. „Das war einer der schlimmsten Einsätze, die ich damals hatte…“

„Dann erinnerst du dich vielleicht noch an Lot und seine Familie“, fuhr Michael fort und musste feststellen, dass selbst nach all der Zeit die Erinnerung an diese eine Nacht immer noch so lebhaft in seinem Gedächtnis geblieben war, als wäre es erst gestern gewesen. „Der Befehl lautete damals, restlos alle Menschen in diesen zwei Städten auszulöschen. Lots Familie war da keine Ausnahme, weil Gott es nicht gepasst hat, dass der Kerl seine Tochter einer Gruppe Vergewaltiger überlassen wollte. Zugegeben, das war wirklich scheiße was er gemacht hat, aber ich wollte nicht, dass die Familie sterben muss, nur weil die Leute in der Stadt allesamt einen Dachschaden hatten. Also habe ich sie damals heimlich aus der Stadt geschleust, während du mit der Zerstörung angefangen hast.“

Der zweite Erzengel hielt inne und musste sich zurückerinnern. Es war ihm durchaus im Gedächtnis geblieben, dass Michael zu irgendeinem Zeitpunkt plötzlich verschwunden war, aber er hatte es einfach darauf geschoben, dass dieser mit der anderen Stadt beschäftigt gewesen war. Dass dieser aber stattdessen heimlich eine Familie rausgeschmuggelt hatte, die ebenfalls vernichtet werden sollte, hätte er nicht erwartet. Nun machte das Ganze weitaus mehr Sinn. Michael fuhr mit seiner Erklärung fort: „Gott hat natürlich Wind davon bekommen und ich hatte erst gedacht, dass ich bloß wieder in diesen blöden Kurs muss. Aber dieses Mal war es anders gewesen. Er war rasend vor Zorn! Und weil du den Einsatz geleitet hast, wollte er dich dafür bestrafen. Ich habe ihn umstimmen können, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich nie wieder so etwas tun würde. Wenn ich mir noch mal so etwas erlauben würde, dann wäre es das gewesen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich echt Angst gehabt…“

„Micha…“, entfuhr es dem zweiten Erzengel und nun wurde ihm so einiges klar. Jetzt ergab es einen Sinn, warum Michael sich so widersprüchlich verhalten hatte. Er hatte immer gedacht gehabt, ihm wäre alles egal geworden und seine Karriere wäre ihm weitaus wichtiger als die Menschen, die er zu beschützen geschworen hatte. Aber da hatte er wohl falsch gelegen. „Warum hast du nie was gesagt?“

„Weil ich unter Eid ausgesagt habe, dass du von der ganzen Sache nichts wusstest und ich wollte, dass es dabei bleibt“, erklärte Michael und fuhr sich mit einem müden und abgeschlagenen Seufzer durch sein goldblondes Haar. „Ich bin nicht blöd, verdammt. Hätte ich dir davon erzählt, wärst du durchgedreht und hättest versucht, dich wieder vor mich zu stellen. Wenn das passiert wäre, dann hätte es so ausgesehen, als hättest du doch darüber Bescheid gewusst und dass ich gelogen hättte. Das Einzige, was ich machen konnte war sicherzustellen, dass sich dieser Vorfall niemals wiederholen würde. Ich dachte, dass es nicht wieder passieren würde, wenn ich stattdessen immer die Regeln befolge und nichts mehr eigenmächtig entscheide.“
 

Nun ergab alles ein schlüssiges Bild und endlich verstand Gabriel, warum ausgerechnet Michael sich derart verändert hatte und zu einem stoischen Paragraphenreiter geworden war. Vor allem verstand er endlich, wieso sich sein langjähriger Kollege sich gegen jede Belehrung gewehrt und nichts von persönlicher Moral und Prinzipien halten wollte. Die Ereignisse in der Vergangenheit hatten sie beide ziemlich mitgenommen und verändert und jetzt mussten sie den entstandenen Scherbenhaufen wieder aufkehren. „Es tut mir wirklich leid“, entschuldigte sich Gabriel. „Ich hatte immer das Gefühl gehabt, als würdest du dich nur für dich selbst interessieren.“

„Ich kann’s dir nicht verübeln“, gab der erste Erzengel geschlagen zurück. „Weißt du… als du gegen mich ausgesagt hast und ich eingesperrt wurde, ist mir klar geworden, wie oft ich mich immer auf dich verlassen habe. Vor allem wie selbstverständlich ich deine Hilfe immer genommen habe. Da kann ich’s verstehen, dass du es irgendwann mal leid warst. Deshalb… naja… es tut mir leid, dass ich dich nie genug wertgeschätzt habe. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich schon viel früher abgekratzt oder im Gefängnis gelandet…“

Das mochte zwar so sein, aber leider war Michael nun tatsächlich in Haft und das alles nur wegen eines mehr als dummen Ausrutschers. Gabriel begann zu überlegen, wie er seinem Kollegen am besten helfen konnte. Es musste doch irgendetwas geben, was Michael entlasten könnte. Dass dieser niemals einen Mord an einem Engel begehen würde, stand ganz außer Frage. Vor allem machte es überhaupt keinen Sinn, ausgerechnet Raphael zu töten. Wenn Michael jemals die Beherrschung verlieren und jemanden im Affekt töten würde, dann doch eigentlich denjenigen, mit dem er sich am häufigsten gestritten hatte. Das alles machte keinen Sinn, außerdem passte alles fast schon zu perfekt zusammen.

„Also gut…“, sagte er schließlich und verschränkte nachdenklich die Arme. „Jetzt müssen wir ernsthaft überlegen, wer Raphael loswerden und dir einen Mord unterschieben wollte. Es muss jemand sein, der deine Tagesroutinen kannte um zu wissen, wann du nicht in deinem Quartier bist und er muss in der Lage gewesen sein, Raphael aus dem Hinterhalt in seinen eigenen vier Wänden anzugreifen.“

„Es kann eigentlich nur jemand sein, der mich gut genug kennt“, schlussfolgerte der erste Erzengel. „Da kommen viele infrage. Es könnte jemand aus dem Hauptquartier sein, aber ehrlich gesagt traue ich niemandem von denen einen Mord zu. Und seien wir mal ehrlich: Uriel können wir ja wohl vergessen. Der wäre niemals abgebrüht genug, um aus eigener Kraft heraus einen solchen Komplott zu schmieden.“

Ja, das war die berüchtigte Nadel im Heuhaufen. Es war eben schwer, einem Engel einen Verrat zu unterstellen, wenn ihnen für gewöhnlich die gleiche komplexe und hinterlistige Art fehlte wie den Menschen und Dämonen. Gabriel erkannte, dass die Suche nach dem Täter sie vielleicht nicht unbedingt weiter brachte. Also überlegte er, an welchem Anhaltspunkt er stattdessen anknüpfen konnte. „Was mich stutzig macht ist, dass es keine Leiche gab. Ich meine… wenn dir jemand einen Mord unterschieben will, ist es doch Schwachsinn wenn alle Beweise außer dem Toten da sind. Es sei denn…“ Der göttliche Botschafter dachte weiter angestrengt nach und dann kam ihm eine Idee, die ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen war. „Sag mal Micha, du hast doch gesagt, dass Raphael dich abgezockt hat. Was genau war es eigentlich gewesen?“

Hier hob der erste Erzengel den Blick und zog erst irritiert über diese Frage die Augenbrauen zusammen, da er Gabriels Gedankengang nicht ganz folgen konnte. Dann antwortete er etwas zögerlich „Er wollte sich meinen Ring für einige Tage ausborgen. Du weißt schon… dieser Ring, den ich als Auszeichnung für Satans Vertreibung erhalten habe.“

Nun ging Gabriel endlich ein Licht auf und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Jetzt hatte er endlich die Antwort auf die wohl größte Ungereimtheit in der ganzen Geschichte gefunden und er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass ihm diese Möglichkeit nicht schon viel früher in den Sinn gekommen war. Fairerweise musste man aber auch dagegenhalten, dass Michael erst jetzt mit dieser wichtigen Information ankam und es vermutlich selbst noch nicht gemerkt hatte. „Jetzt wird mir alles klar“, rief der zweite Erzengel und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Kapierst du es nicht? Raphael ist vielleicht gar nicht tot. Wenn er deinen Ring noch hatte, als er mit dem Schwert angegriffen worden war, könnte er den Ring genutzt haben um mittels eines Wunders zu überleben. Überleg doch mal: der Ring gibt dir unbeschränkten Zugang zu allen göttlichen Wundern, also auch zu jenen, für die wir normalerweise eine Sondergenehmigung beantragen müssen. Wenn Raphael das gewusst hat, dann hat er den Ring genutzt, um zu flüchten.“

Diese Theorie machte durchaus Sinn, das musste selbst Michael zugeben. Allerdings beantwortete das nicht die Frage, warum Raphael verschwunden war und sich nicht einfach selbst geheilt und dann direkt im Anschluss zu den Wachen geeilt war um Alarm zu schlagen. Auch Michael und Gabriel wussten darauf keine Antwort und konnten nur spekulieren, dass Raphael von jemandem angegriffen wurde, der eine ernste Gefahr für ihn darstellte. Und wenn er mit einer heiligen Waffe verletzt worden war, brauchte es mit Sicherheit eine ganze Weile, bis er wieder auf den Beinen war. Da machte es schon Sinn, dass er irgendwohin verschwunden war, wo er nicht so schnell gefunden wurde.

Michael, der Gabriels Gedankengang weiter verfolgte, kam zu der Vermutung, dass Raphael sich höchstwahrscheinlich auf der Erde aufhielt. Immerhin kannte er sich dort wunderbar aus, machte dort regelmäßig seine Shoppingtouren und dort würde man ihn nicht so schnell finden.
 

Auf der Erde nach ihm zu suchen war tatsächlich, als würde man die Nadel im Heuhaufen suchen. Wenn Engel es verstanden, sich gut genug zu tarnen, war es nahezu unmöglich, sie zu finden. Aus diesem Grund mussten himmlische Boten regelmäßig Kontakt mit der Zentrale aufnehmen, damit es nicht erst dazu kam, dass man sie aus den Augen verlor. In der Vergangenheit, bevor sich die Sintflut-Geschichte ereignet hatte, war es regelmäßig dazu gekommen, dass sich Engel heimlich auf die Erde abgesetzt hatten. Damals war die Bevölkerungsdichte bei weitem nicht so enorm gewesen wie zur heutigen Zeit und selbst da war es schon schwer gewesen, die ausgebüxten Engel aufzuspüren und wieder in den Himmel zurückzuholen. Teilweise hatte es sogar Jahre gedauert und wenn man sie endlich lokalisiert hatte, war es schon zu spät gewesen. Das Ergebnis war gewesen, dass sich zahllose Engel mit den Menschen eingelassen und Nachkommen gezeugt hatten.

An sich wäre diese Sache ja kein großes Drama gewesen, aber es gab da ein kleines Problem: die Nachkommen von Engeln waren keine normalen Menschen, noch waren sie vollwertige Engel. Sie waren groß gewachsene und vor allem mächtige Wesen, die auch als Nephilim bekannt waren und sie waren so etwas wie das christliche Pendant zu den Halbgöttern der griechischen Mythologie. Wenn man sich also vorstellte, dass deren Kinder das Potential eines Achilles oder Herakles besaßen, brauchte man sich nicht mehr unbedingt auf Gott zu verlassen, wenn man stattdessen einen übermenschlichen Helden aus Fleisch und Blut zur Verfügung hatte. Gott hatte zwar damals behauptet, dass ihm die Menschen zu lasterhaft waren und sie deshalb ausgelöscht werden sollten. In Wahrheit wollte er aber bloß nicht, dass die Erde von fleischgewordenen primitiven Superhelden überrannt wurde, die ihm den Rang streitig machen könnten. Und wie schon die Herrschergötter in der griechischen Antike hatte er das einzig Vernünftige getan und sie allesamt ausgelöscht. Zumindest war der Abgang eleganter gewesen, als bei lebendigem Leibe vom eigenen Vater verschlungen zu werden…

Seit sich also die Sintflut ereignet hatte und die Menschheit und die Nephilim mit der Ausnahme von Noah und seiner Familie ausgelöscht worden waren, gab es strengere Regeln im Himmel. Jede Reise zur Erde musste vorab genehmigt werden und wer sich nicht daran hielt, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Und je nachdem wie oft sich das zugetragen hatte, konnte man sogar in die Hölle verbannt werden. Weniger streng waren die Regeln für die vier Erzengel, weil diese aufgrund ihrer unzähligen Aufgaben regelmäßig zur Erde reisen mussten. Aber nach all der langen Zeit waren sie schon lange nicht mehr unten gewesen um göttliche Arbeit zu verrichten. Trotzdem würde ihnen weitaus weniger Ärger für einen heimlichen Abgang zur Erde drohen als den meisten anderen Engeln im Himmel. Wenn Raphael also auf der Erde war, stellte sich natürlich die Frage, wie man ihn finden konnte.

Gabriel dachte scharf nach und erinnerte sich vage, dass sein vermisster Kollege ganz bestimmte Städte für seine Ausflüge bevorzugte. Wenn er sich also irgendwo aufhielt, dann höchstwahrscheinlich dort, wo er sich am besten auskannte. Stellte sich jetzt natürlich die entscheidende Frage, was sie tun sollten. Normalerweise würde er diese Info einfach an die Wächter weitergeben und dann würde man die Sache weiter untersuchen. Das Problem war aber, dass man den ganzen Fall so auslegen konnte, dass Michael seinen Ring zurückhaben wollte, Raphael sich geweigert hatte und er diesen daraufhin erschlagen hatte. Dann konnte man natürlich behaupten, dass Michael es absichtlich so aussehen ließ, als wäre Raphael mit dem Ring verschwunden. Der Himmel war leider ziemlich rückständig, was vernünftige Ermittlung betraf und erschwerend kam die katastrophale Bürokratie hinzu. Schlimmstenfalls würde man Michael hinrichten, bevor man überhaupt in Betracht zog, auf der Erde nach Raphael zu suchen. Dieses Risiko wollte Gabriel lieber nicht eingehen. Da war es doch besser, wenn er und Michael sich selbst um die Sache kümmerten. Wenn sie Raphael als erste fanden und erfuhren, wer hinter diesem Komplott steckte, konnte das Todesurteil noch abgewendet werden. Das Schlimmste, was ihnen dann drohte, war lediglich dieses dämliche Besserungsseminar. Natürlich bestand auch ein Risiko, dass sie von den Kriegsengeln gejagt werden würden, aber gemeinsam sollten sie mit denen schon fertig werden.

Mit diesem Entschluss kramte Gabriel die Zellenschlüssel raus und wandte sich Michael zu. „Komm, wir gehen gemeinsam zur Erde um Raphael zu finden.“

„Was?“ entfuhr es dem ersten Erzengel und erschrocken sah dieser seinen Kameraden an. „Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Das wird aussehen, als wären wir beide Verräter!“

„Du sitzt meinetwegen in Untersuchungshaft, also werde ich das mit ausbügeln! Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass du unschuldig zum Tode verurteilt wirst. Wenn wir erwischt werden, nehme ich alles auf meine Kappe und regle das. Und jetzt komm schon.“

Michael, der seinerseits nicht verstand was diese Anspielung auf die Todesstrafe zu bedeuten hatte, war zu überwältigt von Gabriels plötzlicher Entscheidung als dass er hätte Protest einlegen können. Also ließ er sich mehr oder weniger freiwillig mitreißen. Noch bevor er aufgestanden war, sperrte sein Kollege die Zellentür auf, packte ihn am Handgelenk und eilte mit ihm auf den Gang hinaus. Sie schlichen sich unerkannt an den Wächtern vorbei und schafften es tatsächlich, das Gefängnis zu verlassen. Erst als sie am Tor ankamen und einer Patrouille über den Weg liefen, wurde Alarm geschlagen. Bis aber Verstärkung eintraf und die Kriegsengel die Verfolgung aufnehmen konnten, waren die beiden Flüchtigen schon an der Himmelspforte und begannen mit ihrem Abstieg zur Erde.
 

Einer derjenigen, die als erste den Alarm vernommen hatten, war Uriel. Dieser war immer noch panisch auf der Suche nach der vermissten Leiche und als er von Michaels und Gabriels Flucht hörte, war ihm sofort klar was Sache war. Zuerst dachte er darüber nach, die Verfolgung aufzunehmen und die beiden aufzuhalten. Doch er wusste nur zu gut, dass er gegen die beiden mächtigsten Erzengel nicht den Hauch einer Chance hatte. Michael und Gabriel waren beide Kriegsveteranen, die zusammen absolut unaufhaltbar waren. Sich ihnen in den Weg zu stellen und sie gewaltsam aufzuhalten wäre einfach nur dumm gewesen. Stattdessen kam ihm eine ganz andere Idee, wie er sicherstellen konnte, dass sie ihm keine Scherereien machen würden.

Als der ganze Himmel in kürzester Zeit in Aufruhr geriet und Panik losbrach weil allem Anschein nach zwei Erzengel sich als Verräter entpuppt hatten, flog Uriel zum Wachturm und wies an, die Pforte zu verschließen. Wenn er schon nicht in der Lage war, die beiden aufzuhalten, konnte er wenigstens sichergehen, dass sie nicht in den Himmel zurückkehren konnten. Sie mochten zwar mächtige Erzengel sein, aber es würde sich noch herausstellen, ob sie auch in der Lage waren, den modernen Wahnsinn auf der Erde zu überstehen und völlig auf sich gestellt zu sein. Mit genügend Glück würden sie unter die Räder kommen oder von einem zugedröhnten Junkie abgestochen werden. So oder so waren die beiden verloren und er brauchte sich nicht mit ihnen herumzuschlagen. So wie er die Menschen kannte, würden die schon die Arbeit für ihn übernehmen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Charly89
2020-12-14T08:16:17+00:00 14.12.2020 09:16
Der Ring! Oh, Gott, den hatte ich total vergessen ^-^"
Nun, Raphael lebt also wahrscheinlich wirklich noch.

Ich finde es schön, dass die beiden sich endlich ausgesprochen haben :)
Der Ausflug der beiden auf die Erde wird bestimmt lustig XD


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