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Die Hoffnung von Aranii - Zerstörung -

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Die Frau stand bedrohlich über Anna. Doch was immer Anna am Boden hielt, es war nicht zu sehen. Eine große Brille umrahmte stechende Augen. Sie blinzelte nicht und schien mit Annas Antwort nicht zufrieden zu sein.

„Weshalb bist du hier?“, fragte sie in einem erstaunlich kühlen Alt.

Anna versuchte sich sowohl auf das Gesagte als auch auf die Ursache des Drucks auf ihrer Brust zu konzentrieren. „Was? Ähm…Ich war nur…“ Anna überlegte kurz. Konnte es sein das eine unsichtbare sie Kraft niederdrückte? „Ich war mit dem Rad unterwegs. Mehr nicht.“ Wenn es eine Kraft wie ihre war, dann konnte sie vielleicht gegenhalten. Die Frau stellte Anna noch eine weitere Frage, doch Anna fokussierte sich auf das was sich auf ihre Brust presste. Sie fühlte, dass es kein Gegenstand war, den sie nicht sah. Sie ertastete die Moleküle in der Luft. Das bedeutete –

Anna japste.

„Ich fragte,“ hörte sie die Frau grollend sagen, „was du von mir willst!“

„Nichts!“, presste Anna hervor. Die Frau hatte den Druck auf sie erhöht. Anna sammelte sich erneut und blendete alles aus, außer der Luftmoleküle, die sich geballt auf ihren Körper drückten. Diese Frau hatte sie komprimiert. Auf genau dieser einen Stelle erhöhte sie die Luftdichte. So stark, dass es Anna unmöglich war aufzustehen.

Das wollen wir mal sehen! Anna stellte ihre ganze Kraft gegen die Komprimierung. Sie wollte die Moleküle wieder zu ihrer eigentlichen Dichte versprengen. Oder wenigstens soweit lockern, dass sie aufstehen konnte. Sie tastete jedes Teilchen mit ihrer Kraft ab. Durchdrang die Komprimierung und schlüpfte durch die Nischen zum nächsten. Es verlief alles sehr schnell. Anna rann der Schweiß von der Stirn als sie sich zusammennahm und alle Kraft gegen die Luftmoleküle stieß.

Anna hatte erwartet, dass die Teilchen auseinanderstoben würden. Doch nichts geschah. Sie versuchte es erneut, sammelte sich noch einmal und setzte zum zweiten Schlag an. Doch bevor sie ihre Aktion umsetzen konnte, löste sich der Druck auf ihrer Brust buchstäblich in Luft auf.

Keuchend lag Anna am Boden. Ihre Augen weit aufgerissen auf die Frau gerichtet. Diese zupfte am Ärmel ihres Pullovers während sie ihre Position über Anna aufgab und sich vor sie stellte. Trotzdem ließ sie Anna nicht einen Moment aus den Augen. Der eiskalte Blick war zwar gewichen, doch dafür beherrschte nun Argwohn ihre Augen. Und das war nicht weniger angsteinflößend.

„Du bist,“ setzte sie an überlegte kurz und fuhr dann fort, „ein Splitter.“ Sie schüttelte das aschblonde Haar und fügte hinzu: „Aber das ist unmöglich.“

Anna wagte es aufzustehen. Sie wusste, dass diese Frau ihr ähnlich war. Daher blieb sie, wo sie war, beobachtete aber jede Bewegung der Fremden. Dann tat sie etwas, mit dem Anna nicht gerechnet hatte. Die Frau drehte Anna den Rücken zu, ging zur Eingangstür ihres Hauses und befahl: „Komm mit!“

Jetzt war es an Anna argwöhnisch zu sein. Diese Frau war wie sie, zumindest vermutete Anna das, und dass machte sie neugierig. Aber andererseits hatte diese Frau nicht nur bewiesen, dass sie aggressiv reagieren konnte, sondern auch weitaus stärker war als Anna. Sie starrte der Frau hinterher, die jetzt im Eingang stand und offensichtlich auf Anna wartete.

Abhauen, oder bleiben? Abhauen oder bleiben? Anna war sich nicht sicher, was die richtige Entscheidung war. Doch nachdem Anna wieder stand und den Blick über das Gebäude schweifen ließ, dessen Inneres sie immer noch zu sich rief, folgte Anna der ominösen Frau.

Anna betrat das Haus und fand sich zunächst in einer holzgetäfelten Diele wieder. Hier waren eindeutig verschiedene Epochen verewigt, betrachtete man den Baustil des Hauses, die Art der Vertäfelung und die Möbel. Jedes Element, das Anna erblickte schien einer anderen Zeit anzugehören. Eine Lampe aus den 70ern, eindeutig Kunststoff in grellem rot, stand auf einem kleinen Beistelltischchen mit Intarsien und Schnitzereien der Renaissance. Anna hatte genug Schlösser und Burgen mit ihrem Großvater besucht und sich angehört, wie er über die diversen Stile der Epochen referierte, um zu erkennen, dass die Möbel authentisch waren.

In diesem Raum war jedoch nicht Schluss. Anna folgte der Frau durch eine Tür, links der Diele und betrat damit die Küche des Hauses. Sie war geräumig und auch hier war der Mix aller möglichen und unmöglichen Stile und Zeiten zu erkennen. Eine Küchenhexe aus dem 19. Jahrhundert stand zwischen einer verspielten Anrichte aus der Romantik und einem mit Gold und Ranken verzierten Hochschrank aus dem Barock. Wobei die Essecke aus Eiche eindeutig aus dem 21. Jahrhundert stammte.

Die Einrichtung wirkte skurril und doch passte alles auf unharmonische Weise zusammen. Falls so etwas funktionieren sollte.

Anna war so fasziniert von diesem Anblick, dass sie fast vergaß, weswegen sie hier war. Die Frau zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem sie ein vernehmliches Räuspern von sich gab. Sie wies Anna einen der Stühle der modernen Essecke. Sie selbst lehnte sich an die Anrichte, spielte mit den Kugeln ihrer Halskette und starrte Anna an.

„Entschuldigen Sie,“, begann Anna, doch sie klappte den Mund wieder zu. Ihr Gegenüber sah sie erwartungsvoll an. Doch mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht von Anna zu erwarten. Von all den Fragen, die ihr gerade im Kopf herumschwirrten, ließ sich keine lange genug greifen, um sie in verbaler Form umzusetzen.

Als die Frau erkannte, dass Anna nicht den Anfang machen würde ergriff sie die Initiative.

„Mein Name ist Moruka. Moruka Cestei. Hexenmeisterin 13. Grades und Wächterin des 3. Portals.“ Sie sagte es, als wäre es eine Beiläufigkeit und fügte, ebenso beiläufig hinzu: „Und wie komme ich zu dem Vergnügen einen Hexensplitter vor meiner Haustür zu finden?“

Anna entnahm diesen wenigen Sätzen einige Informationen und es bildeten sich neue Fragen, doch ebenso wie die anderen huschten sie in einen Winkel ihres Gehirns, der eine Weiterverarbeitung unmöglich machte. Also konzentrierte Anna sich auf die ihr gestellte Frage.

„Ich war mit dem Rad unterwegs und als ich dieses Haus sah, da hat es mich irgendwie…naja, angezogen.“ Anna kratzte sich im Nacken und versuchte dem forschenden Blick von Moruka standzuhalten.

Diese kniff die Augen zusammen und fragte dann weiter: „Anna. Richtig?“ Anna nickte bejahend. „Wie heißt du weiter und wie alt bist du?“

Den Grund der ersten Frage erfasste Anna. Es war schlichte Höflichkeit sich vorzustellen. Doch weshalb sie auch ihr Alter wissen wollte, konnte Anna sich nicht vorstellen.

„Anna. Naja. Eigentlich Johanna Hoffmann. Ich bin 22.“ Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.

„22? Wirklich?“, hakte Moruka nach.

Wieder nickte Anna. Konnte diese Frau nicht einmal den Blick von ihr nehmen?

„Wer weiß noch von deiner Kraft?“

„Niemand. Nur ich.“ Moruka musste glauben, Anna wäre etwas dümmlich. Sie ärgerte sich selbst über ihre einsilbigen Antworten. Aber es war schwer einen Gedanken zu fassen. All die Zeit dachte sie, sie wäre allein. All die Jahre in denen sie niemanden von ihren Kräften erzählt hatte. All die Fragen woher die Kraft kam und warum sie sie hatte. Diese Frau konnte sie beantworten. Und ihr noch viel mehr Antworten geben, als sie vor wenigen Minuten noch Fragen hatte. War es wirklich erst ein paar Minuten her, dass Moruka Anna angegriffen und sie erkannte hatte das Moruka wie sie war?

Moruka riss Anna aus ihren Gedanken. „Weißt du was du bist?“

Eine sehr gute Frage, dessen Antwort Anna sich auf Grund einiger Informationen Morukas zusammenreimen konnte. „Seit eben, so in etwa.“, sagte sie daher zögerlich und schaute Moruka hoffnungsvoll an.

Jetzt war es an Moruka zu nicken. „Ich denke wir werden ein bisschen länger reden. Etwas Tee kann nicht schaden.“ Damit griff sie nicht etwa zu einem Wasserkessel, den Anna vergebens in dieser Küche suchte, sondern sie setzte sich unverzüglich zu Anna an den Tisch wo zeitgleich zwei Becher mit dampfendem Wasser und dem Geruch von würzigem Tee erschienen. Ebenso tauchte eine längliche Schatulle aus Stein und Glas mit Einlagen aus Metall auf. Sie war wunderschön und Anna betrachtete sie fasziniert.

Moruka nahm einen Schluck von ihrem Tee und Anna tat es ihr gleich. Auch wenn er eben noch gedampft hatte, so war die Temperatur jetzt perfekt zum Trinken.

„Ich hoffe du magst ihn etwas stärker, ich mag keine dünne Plürre.“, merkte Moruka an.

„Er ist gut so danke.“

„Ich muss gestehen, für mich ist das hier auch eine neue Situation.“ Moruka drehte ihren Stuhl, sodass sie jetzt Anna gegenübersaß und beugte sich ein Stück vor. „Es gibt, neben dem Planeten, auf dem wir jetzt sind, noch viele weitere. Es sind ebenfalls bewohnte Planeten, von denen einige durch Portale miteinander verbunden sind.“

Annas Augen weiteten sich und sie wagte es nicht Moruka zu unterbrechen.

„Eines dieser Portale bewache ich hier. Es führt zu einem Planeten, der ganz anders ist als die Welt, die du bisher kennst. Und doch stammen wir alle von denselben Vorfahren ab. Als die Menschen sich zwischen dem Homo Erectus und dem Homo Sapiens befanden, gab es eine Gruppe, die in der Lage war, besondere Dinge zu bewerkstelligen. Zuerst war es nur einer, doch je mehr Abkömmlinge dieses einen Menschen auf die Welt kamen, desto häufiger waren sie anders. Sie waren noch nicht wie wir es heute sind. Doch diese Gruppe von Menschen, gelangte bei ihrer Wanderschaft durch eines der Portale. Ob und wann genau sie sich entschlossen, dies als ihre neue Heimat anzusehen kann heute niemand mehr sagen. Doch diese Menschen blieben vollzählig auf diesem neuen Planeten. Er ist der Erde nicht unähnlich und doch ganz anders.“ Moruka nippte gedankenverloren an ihrem Tee.

Anna ließ ihren Tee unbeachtet. Sie wollte mehr erfahren, so unglaublich das Alles auch klang.

„Aus diesen Menschen entwickelten sich Hexen und Hexer. Es ist meine Welt. Und in gewisser Weise auch deine. Auch, wenn du bis eben nicht davon wusstest. Es gab eine Zeit, da wanderten Hexen und Hexer zwischen den Portalen hin und her, wie es ihnen beliebte. Doch es kam immer wieder zu Verbindungen zwischen beiden Welten und deren Nachkommen fanden nicht immer ihren Weg zu uns. Vor einigen hundert Jahren verabschiedete die Regierung ein Gesetz, nachdem das Betreten der Portale allen untersagt wurde. Alle Kinder aus Verbindungen zwischen Hexen und Erdenmenschen wurden eingesammelt. Seitdem das Gesetz in Kraft getreten ist, dürfen nur noch Portalwächter auf der Erde verweilen, bis sie abgelöst werden. Sie verlassen ihren Posten nie.“ Wieder nahm Moruka einen Schluck. Dann hob sie den Blick und sah Anna fest in die Augen. Unbewusst rückte Anna bis an die Kante ihres Stuhls. „Obwohl es unmöglich erscheint, bist du ein Nachkomme einer Hexe oder eines Hexers.“

Anna wollte bereits einwerfen, dass das bei ihren Eltern wohl kaum möglich sei, da hob Moruka die Hand. „Es ist wahrscheinlicher, dass deine Kräfte einige Generationen übersprungen haben. Manchmal bemerken Kinder aus solch einer Verbindung selbst nichts von ihren Fähigkeiten und geben sie unbemerkt weiter. Es kann also sein, dass du nur noch zu einem geringen Teil eine Hexe oder einen Hexer in dir hast. Dennoch macht dich das zu einem Hexensplitter. So werden Nachkommen wie du genannt.“

„Ich bin ein…ein Hexensplitter.“, flüsterte Anna ehrfürchtig. Sie hätte nie gedacht das die Bezeichnung dessen, was sie war, so viel Bedeutung haben konnte. Doch nur allein zu wissen, welchen Namen das hatte, was sie war, machte Anna ein Stück leichter.

„Anna,“ richtete Moruka wieder das Wort an Anna, „Ich würde gerne einen Test mit dir machen.“

Anna versteifte sich. „Was für eine Art Test?“

Moruka lachte herzlich. Es war das erste Mal, dass Freundlichkeit ihr Gesicht erhellte und Anna war überwältigt von der Intensität. „Keine Sorge, du musst nichts weiter machen, als einige dieser Kugeln in die Hand zu nehmen.“ Mit diesen Worten schob sie den wunderschönen Kasten zu Anna hinüber und öffnete ihn.

Nun war Anna noch faszinierter. Sie hatte es durch die gefärbten Glaseinlagen nicht sehen können. Aber im Inneren der Schatulle befanden sich 20 Kugeln, fein säuberlich nebeneinandergereiht. Jede so groß wie eine Murmel und jede in einer anderen Farbe oder Musterung. Keine war wie die andere.

Moruka griff in die Schatulle und nahm die dreizehnte Glaskugel heraus. Sie war blutrot und weiß marmoriert. Moruka hielt sie zwischen den Daumen und Zeigefinger, sodass Anna sie gut sehen konnte. Zunächst geschah nichts, doch dann fing die Kugel an zu leuchten. „Diese Sphären sind eine Art Skala. Mit ihnen kann die Kraft einer jeden Hexe und jedes Hexers gemessen werden.“ Sie legte die Kugel zurück auf ihr Bett aus Samt. „Alle Sphären links der dreizehnten kann ich aktivieren. Doch alle darüber erfordern eine Kraft, die ich derzeit nicht besitze.“ Moruka wies auf die Kugeln. „Probier du es jetzt.“

Anna zögerte kurz, streckte dann aber die Hand aus, um die erste Kugel von links zu nehmen. Sie war glasklar mit einer bläulichen Tönung.

„Nimm gleich die zweite oder dritte. So, wie du mir Paroli geboten hast, bist du über den ersten Grad hinaus.“, warf Moruka ein und setzte die Tasse wieder an. Als sie bemerkte, dass diese leer war füllte sie sich wie von selbst mit frischem, dampfendem Tee.

„Okay.“ Annas Finger zitterten, als sie die zweite Sphäre berührte. Sie legte sie flach auf die Hand.

„Du musst deine Energie in die Kugel leiten.“, ergänzte Moruka. Sie ließ die milchige, blassrosa Murmel nicht aus den Augen.

Kaum befolgte Anna die Anweisung erstrahlte die kleine Kugel so plötzlich, als hätte Anna einen Lichtschalter betätigt. Bevor Moruka etwas sagen konnte tauschte Anna die Kugeln aus. Grellgrün kullerte sie auf Annas Handfläche und gewann an Intensität, als Anna sie zum Leuchten brachte. Wieder wechselte Anna die Kugel aus. Dieses Mal gegen eine Kugel, die den 4. Grad anzeigte. Es war eine cremefarbene mit kupferroten Äderchen. Anna hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und führte ihr Kraft zu. Doch trotz aller Anstrengungen brachte sie nicht das kleinste Glimmen zustande.

„3. Grad. Beachtlich ohne jede Unterweisung.“ Moruka nickte anerkennend.

Anna legte die Kugel zurück in die Schatulle und betrachtete sie. „Moruka, was wird jetzt geschehen?“ Sie dachte an die Gesetze, von denen Moruka ihr kurz zuvor erzählt hatte und sie schluckte.

Moruka presste die Lippen aufeinander und sah aus einem Fenster, dass den Bach zeigte. „Genau kann ich es nicht sagen. Ich werde dem Qireratum Meldung machen müssen. Dieser Rat wird letztlich entscheiden, was mit dir geschieht.“ Moruka wandte sich Anna zu. „Es kann sein, dass du auf Aranii leben wirst. Es kann aber ebenfalls sein, dass du hier auf der Erde bleibst.“ Sie holte tief Luft und sprach weiter: „Dann aber ohne deine Kräfte.“

Anna erstarrte. „Nein!“, brach sie aus und schüttelte heftig den Kopf. „Das bin ich! Auch wenn ich es geheim halte, gehört diese Kraft zu mir!“ Sie sprang auf und rannte hinaus. Sie würde ihre Kräfte nicht aufgeben. Sie musste nur die Tür erreichen und weit genug vom Haus entfernt sein, dann konnte diese Frau sie nicht mehr einholen. Nicht, wenn sie sich an die vorgegebenen Regeln hielt.

„Anna warte!“ Hörte sie hinter sich rufen. Anna nahm in der Hektik die Tür links von sich. Sie hatte erwartet draußen zu stehen. Doch stattdessen stand sie in einem neuen Raum. Anna machte auf dem Absatz kehrt und setzte einen Schritt aus dem Zimmer heraus. Dann blieb sie wie versteinert stehen.

BABUM. BABUM. BABUM.

Zuerst dachte Anna an eine Panikattacke, so heftig schlug ihr Herz. Dann drehte sie sich um und warf einen skeptischen Blick ins Zimmer. Dieser Raum war eigenartig. Die Wände waren steinern, ebenso die Decke. Nur der Boden bestand aus Holzdielen. Einige Lampen in der Decke erleuchteten den Raum. Es gab keine Fenster und auch ansonsten war nichts in diesem Raum. Nicht ein Möbelstück.

Moruka stand hinter Anna. Doch sie bemerkte es nicht. Anna scannte den Raum. Irgendetwas musste hier sein. Sie spürte, wie es sie anzog. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schritt sie das Zimmer ab. Es war etwas in der Mitte des Raumes.

„Was…?“, entfuhr es Anna und erstarrte in ihrem Gang.

Im Zentrum des Raumes flirrte die Luft. Es sah aus, wie an heißen Tagen über dem Asphalt. Doch waren es Abmaße wie bei einem Kleiderschrank. Das war es, was sie die ganze Zeit über angezogen hatte.

„Was ist das?“, flüsterte Anna in den Raum hinein und erwartete keine Antwort. Daher erschrak sie, als Moruka zu sprechen begann.

„Das ist das Portal.“ Moruka kam einen Schritt näher. „Du kannst es spüren?“

„Ja.“, raunte Anna und ließ das Portal nicht aus den Augen. „Dahinter liegt es?“

„Aranii, ja.“, bestätigte Moruka.

In Anna stieg ein Gefühl auf, dass sie nicht benennen konnte. „Moruka, kann ich es mir überlegen?“ Sie drehte sich um. Mit standhaftem Blick unterstrich sie ihre Bitte.

Die Arme verschränkt nestelte die Frau an ihrer Kette. Dann nickte sie. „Ich werde nichts sagen.“

Lautlos formten Annas Lippen ein ‚Danke‘ und sie ging an Moruka vorbei, hinaus aus dem Haus. Und mit jedem Zentimeter, den sie sich vom Portal wegbewegte, pochte ihr Herz einen Schlag weniger.
 

„Moin Opa!“, sprach Anna in ihr Smartphone.

„Was gibt’s mien Deern? Ist irgendwas passiert? Wir haben doch erst heute telefoniert.“, hörte Anna die vertraute, aber besorgte Stimme ihres Großvaters.

„Nichts Besonderes. Alles gut. Ich brauche nur deinen Rat.“, beschwichtigte sie ihn und sprach schnell weiter. „Was meine, ähm, berufliche Zukunft angeht.“ Anna wägte ihre Worte gut ab. Egal wie sie sich entschied, sie würde ihrem Großvater keine Lügen auftischen. „Angenommen du hast die Möglichkeit etwas zu tun, dass du unbedingt machen möchtest, aber du kannst die Konsequenzen nicht genau einschätzen. Würdest du es trotzdem tun?“ Anna war sich nicht sicher, ob diese Wortwahl ihn nicht eher noch mehr beunruhigte.

Doch wie so oft erstaunte Ben sie. Nach kurzer Überlegung sagte er bemüht sorgenfrei: „Mien Deern. Du kennst doch die Geschichte von Oma und mir.“

Natürlich kannte Anna die Geschichte ihrer Flucht aus Nordirland. Opa, protestantischer Geschichtsprofessor und Oma Marie, Tochter aus katholischem Hause.

„Als wir in den 60ern aus Nordirland flohen.“, fuhr Annas Großvater fort, „Da wussten wir auch nicht, was uns erwartete. Wir mussten es tun, denn es war das Richtige für uns. Trotzdem waren die Konsequenzen hart. Marie hat ihren Vater nie wiedergesehen. Nur deine Urgroßmutter kam einmal im Jahr zu uns, nachdem sich das Schlimmste gelegt hatte. Es war das einzige, was deine Großmutter jemals Schmerz gebracht hat.“ Anna hörte Wehmut in seiner Stimme. Und in diesem Moment vermisste sie ihre Großmutter zusammen mit ihm.

„Aber sie hat es nie bereut.“, stellte Anna fest.

Ein schwaches Lächeln auf den Lippen sagte Ben: „Nein, niemals.“

Mit ruhiger Hand strich Anna sich eine Strähne hinter das Ohr. „Danke Opa.“

„Konnte ich dir helfen?“

„Da bin ich mir noch nicht sicher.“. Anna schnippte einige Kekskrümel vom Vorabend von der Couch.

„Hm.“, brummte Ben. „Liegt dir sonst noch etwas auf der Seele?“

Kurz dachte Anna daran, ihrem Großvater alles zu erzählen. Sie hatte schon oft daran gedacht ihn einzuweihen. Doch sie wollte nicht, dass ihr geliebter Opa sie mit anderen Augen sah. „Nein, das war alles. Danke Opa. Ich melde mich bei dir.“, versprach Anna.

„Bis dann mien Deern.“, vernahm sie noch. Dann war das Gespräch beendet und Anna saß allein in der neuen, noch chaotischen Wohnung. Draußen begann es zu dämmern.

Was, wenn sie diesen Schritt ging? Es würde sich viel verändern. Sie würde viel zurücklassen. Anna legte die Kopfhörer in ihre Ohren und suchte nach der richtigen Playlist. Lang Langs Interpretation von ‚Merry Christmas Mr Lawrence‘ setze an. Als das Lied endete schaltete sie auf Wiederholung. Etwas regte sich in Anna. Es war eine Empfindung die neu für sie war. Als zöge es an ihr. Als griff es in ihr Innerstes und forderte sie auf.

Als das Lied zum dritten Mal lief erkannte sie, welches Gefühl es war, das sie seit dem Erblicken des Portals mit sich trug. Fernweh. Nie zuvor hatte sie sich nach einem fremden Ort gesehnt. Nicht einmal an einen bekannten. Sie verspürte nie Heimweh und auch Fernweh war ihr bis heute nur dem Namen nach bekannt gewesen. Kein Platz auf dieser Welt hatte sie derart gelockt. Dabei wusste sie nichts, rein gar nichts von dieser anderen Welt. Diesem Planeten namens Aranii. „Das ist hirnrissig!“, tadelte Anna sich.

Doch Großvater hatte recht. Manchmal waren es die Dinge wert, alles zu riskieren.

Anna riss sie die Kopfhörer ab und rannte ins Schlafzimmer. Das Bett war bereits aufgebaut und auch der Schrank stand bereit gefüllt zu werden. Doch Annas Ziel waren die Kartons unter dem Fenster. Wie von Geisterhand hoben und stellten sie sich so auf, dass Anna in jeden bequem reinschauen konnte. Sie überflog den Inhalt einiger Kisten, bis sie einen fand, dessen Inhalt zu dem passte, was sie suchte.

Stifte und Papier. Sie rannte wieder ins Wohnzimmer und setzte sich an den Couchtisch, den Block auf dem Schoß und einen Stift in der Hand. Unsicher setzte sie an: Liebster Wolf… Es war zwar ein Anfang, aber was sollte sie nun schreiben? Wie sollte sie erklären, was sie bewogen hatte zu gehen? Wie verhindern, dass man sie suchte? Es dauerte lange, bis Anna die richtigen Worte fand und letztlich verfasste sie zwei Briefe. Einen adressierte sie an Wolf, den anderen an ihren Großvater. Sie legte sie gefaltet auf den Tisch. Dann hielt sie inne. Wenn jemand verschwindet, was nimmt er mit?

Hastig packte sie einige Kleidungsstücke zusammen. Das Ladekabel für das Smartphone, auch wenn sie es vermutlich nicht brauchte, packte sie ebenfalls ein. Dazu Portemonnaie, Schlüssel und Hygieneartikel.

„Geld!“, stieß Anna hervor. Wer verschwand brauchte Geld. Sie würde auf dem Weg zu Moruka alles Geld von ihrem Konto abheben. Was nicht viel war, da der Großteil ihres Lebens von Wolfs Einkommen als Fernfahrer bestritten wurde. Aber es machte die Geschichte ihres Verschwindens authentischer.

Anna drehte sich noch einmal um. Diese Wohnung hatte ihr neues zu Hause werden sollen. Hier hatten sie gemeinsam leben wollen. So wie es aussah, würde das wohl nicht geschehen.

Anna knipste das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.



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