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Fremde gehen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi!

Anscheinend habe ich aus Versehen ein unfertiges Kapitel veröffentlicht *Facepalm* Sorry dafür. Dieses ist jetzt fertig.

LG suugakusan Komplett anzeigen

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„Guten Morgen, Uchiha-san“

„Morgen, Naruto…“
 

Er stellt meine abgewaschene Tasse ab und verschwindet kurz darauf aus meinem Büro. So wie jeden Morgen im letzten Jahr. Und so wie jeden Morgen im letzten Jahr bringt diese triviale Begegnung mein Herz zum verrückten Flimmern. Tja, seitdem wir diesen neuen Assistenten angestellt haben, steht mein Leben auf dem Kopf.
 

Ich bin 42, einer der Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Großkonzerns, Ehemann und zweifacher Vater. Meine Familie bedeutet mir alles. Ich würde sie bis zum bitteren Ende mit allen mir zustehenden Mitteln beschützen. Alles, damit es ihnen gut geht. Und dafür arbeite ich jeden Tag.
 

Trotzdem knalle ich meinen 23-jährigen Assistenten und lüge meiner Frau ins Gesicht.
 

Das ist schon ziemlich verwerflich, oder?
 

Ja, natürlich ist es das. Trotzdem möchte ich anmerken, dass es von vornherein so abgemacht war, dass niemand an dieses belanglose Miteinander Erwartungen haben soll. Ganz am Anfang haben wir uns darauf geeinigt, dass es nur um ein bisschen Spaß geht. Ich werde meine Familie nicht verlassen, ganz bestimmt nicht für ihn. Davon weiß er auch. Das hier ist ziemlich simpel: Keine versteckten Kosten, keine Verträge, keine Pflichten… und auch überhaupt keine Rechte. Niemand sollte sich ernsthaft reinsteigern. Mit diesem Grundgedanken sind wir in diese Miteinander reingegangen. Und dann hat Naruto alle Regel gebrochen.
 

Er hat sich ernsthaft in mich verliebt.
 

Woher weiß ich, dass es „verliebt“ und „ernst“ ist? Weil er es mir gesagt hat. Außerdem ist es ziemlich offensichtlich, dass er sich kümmert. Denn so geliebt wie von diesem Jungen wurde ich von niemandem.
 

„Naruto, kannst du bitte morgen irgendwie einen einstündigen Slot für Orochimaru-san finden?“, rufe ich nach einem Meeting durch.

„Sie wissen schon, dass ein Tag nur 24 Stunden hat, oder?“
 

Ich grinse. Ist dieser Junge dreist! Er ist schlagfertig und kann seine Dreistigkeit ziemlich elegant verpacken. Dafür bekommt er immer wieder Punkte.
 

„Ja, das ist mir durchaus bewusst“, fahre ich locker fort.

„Und dass Orochimaru-san wirklich jeden Tag schlafen muss, wissen Sie auch, richtig?“
 

Mir bleibt ein kleines Kichern im Rachen stecken. Was denkt er, darf er sich eigentlich erlauben? So ein freches Miststück, dieser Naruto!
 

„Ja“, erwidere ich weiterhin möglichst teilnahmslos. Er soll nicht merken, dass ich dabei Spaß habe. „Krieg es bitte hin, okay?“

„Aber Sie haben morgen schon 6 Besprechungen und sie gehen nahtlos ineinander über.“

„Na und?“

„Und ich darf auch niemanden schieben, richtig?“

„Das hast du gut erkannt.“

„Und das mit Orochimaru-san muss unbedingt morgen stattfinden, korrekt?“

„Genau so ist es…“
 

Er seufzt und es wird kurz stumm. Ich höre von seiner Seite aus ein regelmäßiges Tastaturklappern. Er guckt sich bestimmt meinen Kalender an und macht dabei ein sehr unzufriedene Miene, wo er mit der Stirn runzelt und konzentriert den Bildschirm anstarrt. Ja-ja genau die… kann ich mir richtig gut vorstellen.
 

„Uchiha-san, Sie machen es einem definitiv nicht leicht“, meldet sich das andere Ende nach einer kurzen Pause.

„Ich weiß, tut mir leid.“

„Nein, tut es Ihnen nicht.“
 

Mir bleibt noch ein kurzes Kicher im Rachen stecken. Hat er damit recht? Irgendwie ja, aber irgendwie auch nein… ich will eigentlich keinem unnötige Umstände bereiten, meinen Assistenten inklusive.
 

Am anderen Ende wird es mal wieder stumm. Und wieder das Tastaturklappern… Mein Blick schweift zur Wanduhr. Dieses Gespräch dauert schon ganze fünf Minuten. Ich sollte eigentlich gleich nach der Anweisung aufgelegt haben. Irgendwie mag ich dieses sinnlose Gespräch. Warum eigentlich? Neuerdings passiert mir sowas ziemlich oft. Ich bleibe zu lange in seiner Leitung hängen, ich bring ihm etwas vorbei, was er selbst abholen kann, ich koche Kaffee für zwei und eins geht an ihn… was ist eigentlich mit mir los?
 

„Und?“, frage ich nach einer halben Minute Stille.

„Ich hab es arrangieren können.“

„Yass! Ich liebe meinen Retter!“, exklamiere ich begeistert und gleichzeitig erlöst.
 

Scheiße. Ich wollte es nicht laut sagen. Während der Arbeitszeit bin ich lediglich sein Chef. Ich muss extrem darauf aufpassen, was ich sage. Nicht, dass er es irgendwie falsch aufnimmt.
 

„Ich dich auch, Sasuke…", spricht er sanft aus und legt den Hörer auf. Mein Herz rast wie verrückt.
 

Die nächsten Stunden werde ich damit verbringen, die Fälle der letzten Woche zu schließen. Die Akten auf meinem Tisch bilden mittlerweile einen so großen Berg, dass er einem Mount Everest sehr nahe kommt. Eine gute Nachricht ist, dass dieser Berg nur so fürchterlich aussieht. In Wirklichkeit lassen sich die meisten Fälle routinemäßig eins nach dem anderen abarbeiten. Ich liebe mein Handwerk. Selbst nachdem ich in die Chefetagen befördert wurde, wollte ich weiterhin am täglichen Geschäft beteiligt sein. Diese Bitte wurde befriedigt und jetzt darf ich einmal pro Woche für drei Stunden meinen alten geliebten Job machen. Während dieser Zeit komm ich zur Ruhe und reflektiere über alles, was in der letzten Woche vorgefallen ist. Diese Stunden sind sehr meditativ. Allerdings diese Woche werden sie von einem komischen Gefühl begleitet. Denn diese Woche sind meine Meditationsstunden ausschließlich Naruto Uzumaki gewidmet.
 

Plötzlich ploppt eine Nachricht auf dem Monitor auf.
 

„Uchiha-san, Sie haben einen Besuch. Soll ich die Person reinlassen?“
 

Ich hab jetzt ehrlich gesagt keine Lust auf Besucher. Aber es könnte wichtig sein.
 

„Wer ist denn da?“, tippe ich die Antwort ein.

„Danzou-san.“
 

Mein Gott, was will denn der schon wieder? Dieser alte Greis versteht nicht, dass unser Unternehmen an der Zusammenarbeit nicht interessiert ist und ich hab es satt, es ihm jede Woche erneut zu erklären.
 

„Ne, schick ihn weg. Er muss sich einen Termin holen, wie alle anderen.“

„Okay, wird erledigt.“

„Danke.“
 

Naruto ist wahrscheinlich derjenige, der mein „Danke“ tausend mal pro Tag hört oder liest. Wahrscheinlich nimmt er es nicht mehr richtig ernst. Aber ich bedanke mich bei ihm selten auf Autopilot. Keine Ahnung, ob ihm völlig bewusst ist, wie oft am Tag er meinen Arsch rettet. So wie er mit den Terminen jonglieren und die wichtigen Leute auf eine sehr nette Art überzeugen kann, ist schon sehr beeindruckend. Darüberhinaus kann er meiner Laune immer intuitiv folgen. Er weiß immer, wann man mich um Sachen bittet, wie man es tut und ob es Aussicht auf Erfolg hat. Er weiß, wie man mich auf meine Fehler aufmerksam macht und mich an scheinbar unwichtige Dinge erinnert. Und außerdem kann er sehr gut zwischen den Zeilen lesen. Ich verlasse mich oft auf seine Meinung, wenn es darum geht, jemanden um etwas zu bitten, was eigentlich zu gestern fällig war. Seitdem er mein Assistent ist, läuft die Verwaltung wie ein sicheres Uhrwerk. Ich merke nichts davon und es funktioniert zu jeder Zeit. Und alles ist immer irgendwie möglich. Auf diesem Gebiet ist er ein echter Zauberer. Da verlasse ich mich auf ihn komplett. Vielleicht lasse ich mich dadurch zu sehr verwöhnen. Er kann nicht für immer mein Assistent sein, das wissen wir alle. Sobald er mit seinem Studium fertig ist, ist er hier weg. Wann das passiert, ist mir zum Glück nicht bekannt. Wir sprechen selten über Privates. Schließlich soll ja jeder jederzeit dieses Miteinander beenden können. Dafür setze ich mich ein.
 

„Du musst langsam fertig werden, du hast noch deine Weihnachtsfeier.“
 

Mein Gedankengang wurde plötzlich unterbrochen. Naruto duzt mich jetzt. Ist es schon so spät? Ich blicke auf die Wanduhr. Ja, tatsächlich. Wow, die Zeit rennt immer davon, besonders wenn man in eine Aufgabe vertieft ist.
 

„Du kannst den schwarzen Anzug anziehen. Ich konnte ihn noch Last-Minute reinigen. Das Hotelzimmer hab ich verlängert. Und einen Abholservice von der Feier zum Hotel konnte ich für dich auch organisieren. Musst einfach am Empfang sagen, dass du Uchiha mit dem Nachnamen heißt.“
 

Wow, er hat tatsächlich an alles gedacht. Ich bin wie immer wirklich begeistert. Respekt. In solchen Momenten will ich ein Monument in seiner Ehre aufstellen. Keine Ahnung, wie er das macht. Man, das mit dem Retten ist nicht übertrieben. Dafür verdient er einen aufrichtigen Lob.
 

„Richtig beeindruckend, Uzumaki-san. Wie immer danke, ne?“, sage ich enthusiastisch und lächele ihn an.

„Na klar!“
 

Was sagt die Uhr? Noch ne Viertelstunde? Verdammt, ich schaff nicht mehr zu duschen…
 

„Beeil dich, du hast nur 15 Minuten bis zum Taxi.“

„Ich weiß, habe gerade genau daran gedacht.“ Dabei knöpfe ich die unteren Knöpfe des Hemds zu.

„Du behältst also selbst die Zeit im Blick, ja?“ Sein Kopf neigt sich nach links und sein Blick wird frech: „Man glaubt es kaum, aber sie werden so schnell erwachsen!“, wirft er mir selbstgefällig zu und grinst wie verrückt.

„Hallo!“ Ich verpasse ihm eins in den Nacken.
 

Vor Empörung ist mir nichts besseres als das eingefallen. Er kichert und hängt mein Sakko von der Bügel ab. Seine Körperhaltung lädt mich ein, in den Sakko hineinzuschlüpfen. Okay gut… ich gucke kurz in den Spiegel. Hmmm, sehe ich akzeptabel aus? Ja, oder? Ach, wird schon passen. Naruto tritt vor mich, knöpft das Sakko zu, macht einen Schritt nach hinten und begutachtet mich ebenfalls. „Passt“, lautet sein Urteil. Cool, dann sind wir uns darüber einig.
 

„Hast du irgendwo meine Fliege gesehen?“

„Natürlich, sie ist hier. Komm her, ich binde sie schnell.“
 

Ich breche die Schranksuche ab und drehe mich zu ihm hin. Naruto stellt mein Kragen auf und legt die Krawatte um meinen Hals herum.
 

„Du siehst richtig schick aus.“ Seine flinken Finger werkeln immer noch um meinen Hals.

„Kannst dir selbst dafür Lob aussprechen“, lächele ich ihn an.

„Stimmt! Gut gemacht, Herr Assistent!“ Seine Mundwinkel wandern ebenfalls nach oben.
 

Jedesmal, wenn er mich so anlächelt, bin ich für eine ganze Weile verhext. Wie ein Falter von einem hellen Licht in einer stockfinsteren Nacht. Ich weiß nicht, was in solchen Momenten passiert. Vielleicht ordnet sich das Universum irgendwie speziell an. Vielleicht sind die…
 

„Und schon wieder guckst du so.“
 

Es wird plötzlich richtig still und richtig peinlich. Was? Warum hat er das überhaupt gesagt? Seine Aussage ist komplett daneben. Warum hört sie sich auf einmal so verträumt an?
 

„Wie «so»?“, frage ich vorsichtig nach.

„Na… so, als würdest du dich eben kümmern…“ Er zieht die Schleife fest. Zu fest… der Konten drückt unangenehm.
 

Oh nein… er wird unnötig emotional.
 

„Fang bitte nicht schon wieder damit an“, sage ich leise.

„Sorry… ich wollt nicht… aber wenn du mich so liebevoll anguckst, machst du es mir extrem einfach…“ Er lockert die Fliege. Jetzt sitzt sie genau richtig.
 

Gut. Reicht.
 

„Ich muss jetzt los. Mein Taxi ist bestimmt schon unten.“

„Viel Spaß“, wirft er mir hinterher.
 

Oh man, ich sollte mich jetzt beeilen, bevor er noch etwas komisches sagt.
 

„Sasuke!“

Auf seinen Zuruf drehe ich mich automatisch um. „Was denn?“

„Ich liebe dich!“
 

Die Tür fällt endlich zu und wir sind räumlich getrennt. Ich lande abrupt im stockdunklen Flur. Krass, man kann hier fast nichts sehen. Verdammt, wo ist denn hier der dumme Schalter? Ich suche kurz die Wand ab. Ach, da! Klick… ich werde geblendet. Los, Sasuke beeil dich!
 

Ach, sehr schön, mein Taxi ist schon hier. Prima! Ich muss nicht blöd rumstehen. Draußen sieht es nämlich so aus, als würde es bald regnen wollen. Ich steige ein, grüße den Fahrer und schon geht es los. Sehr gut. Weg von diesen unnötigen Zärtlichkeiten. Einfach weg von hier.
 

Das Fenster in meinem Büro springt mir beim Vorbeifahren noch ein letztes Mal ins Auge. Im hell beleuchteten Raum steht eine dunkle Silhouette und ich weiß genau, wem sie gehört. Dieser Junge ey! Dass er unbedingt unser unkompliziertes Miteinander mit den Gefühlen verunreinigen wollte, ist ja seine Sache. Aber warum muss er mich stets daran erinnern?! So war das überhaupt nicht abgemacht! Ich wollte ja nur… ähm… ich wollte ja… ich wollte…
 

Was wollte ich eigentlich?
 

Keine Ahnung. Und überhaupt ist es für solche Fragen definitiv schon zu spät heute. Oder zu früh halt, ich trinke ja nachher was… jedenfalls will ich jetzt nicht darüber den Kopf zerbrechen. Jetzt gibt es erstmal einen Empfang, den ich genießen werde. Und dann soll das, was auch immer das ist, der Zukunfts-Sasuke klären, okay?
 

Okay, das klingt nach einem wunderbaren Plan.
 

Perfekt.

Okay, Zimmer 512… man, ich komm hierher schon seit zehn Tagen. Es fühlt sich beinahe wie zuhause an. Betrunken erlebt sich dieser lange Gang mit einem hässlichen Teppich aber ganz schön anders. Ja, wenn die Atmosphäre gut ist, die Gesellschaft nett auftritt und der Whisky schmeckt, dann glänzt die Welt in ganz anderen Lichtern… Ach, wie ich den Abend genossen habe! Und der Abend ist noch ganz-ganz jung!
 

Oh, die 512…
 

Ich lege die Schlüsselkarte gegen den Leser, die Türklinke piepst und boom! Ich verliere das Gleichgewicht und die Tür rammt mit aller Wucht gegen die Wand.
 

„NARUTOOO! LASS UNS WEIHNACHTEN FEIERN!!!“
 

Ein meisterhafter epischer Auftritt!
 

Er zischt mich an: „Mach doch nicht so laut!“
 

Und da sitzt er, dieser Spaßverderber, und starrt die Glotze an. Sehr motivierend!
 

„Aber ich hab doch so eine gute Laune!“ Ich setze mich zu ihm auf Bett und schlinge meine Arme um ihn herum.

„Und willst unbedingt meine verderben, oder wie?“

„Wenn es darauf ankommt…“
 

Er ignoriert mich weiterhin. Okay, Uzumaki, du wirst mich sehen! Ich lege den Kopf auf seine Schulter und mache den Fernseher aus. „Guck MICH an!“, wispere ich.

Er befreit sich aus meiner Umarmung und starrt mich fordernd an: „Okay, und jetzt?“

Ich lege drei große Flaschen Whisky aufs Bett. „Jetzt machen wir Party!“

„Nun gut.“ Er nimmt eine Flasche und öffnet sie. „Dann fang an.“
 

Ist er jetzt genervt oder was? Warum hört er sich so überheblich an? Möchte er mich jetzt verspotten? Selbst wenn, das interessiert mich nicht. Wenn er nicht mitspielen möchte, dann muss ich ihn dazu bringen.
 

„Niemals habe ich blonde Haare gehabt“, fange ich an.

„Was?“ Er guckt mich verkorkst an.

Ich reiche ihm die offene Flasche: „Trink.“

„Hä?“

„Na du hast doch blonde Haare! Also trink!“

„Achso…“ Er nimmt einen Schluck. „Das ist ziemlich dumm und ziemlich unfair!“

„Hey, du musst ja noch betrunken werden! Ich bin es ja schon!“ Ich grinse. „Ich hab noch eins… niemals habe ich in der Schule abgeschrieben.“

Er greift stumm zu Flasche und nimmt noch einen Schluck. „Streber…“

„Haha! Ich wusste!“

„Na gut, dann bin ich dran… ähm… niemals war ich verheiratet.“ Ich trinke. „Und Kinder hatte ich auch noch nie.“ Ich trinke wieder.

„Du bist aber auch ziemlich unfair!“

„Gleiches mit gleichem, oder?“ Er stellt die Flasche ab. „Jetzt du!“

„Niemals habe ich einen Sekretärsjob gemacht.“ Ich gebe ihm die Flasche zurück.

„Du Arsch!“ Und er trinkt.

„Ich habe noch nie meine Frau betrogen.“

Jetzt muss ich eins trinken. „Richtig, dafür muss dich ja jemand aktiv wollen!“
 

Er streckt seine Zunge aus und macht eine Grimasse. Haha, das hat ihn ein bisschen angepisst! Wunderbar! Okay, dann bin ich wohl dran!
 

„Lass mich mal überlegen… ich habe noch nie… ähm… ich hatte noch nie Schulden.“ Naruto trinkt. „Wirklich? Du warst verschuldet?“

„Ja, ich konnte mir lange keine eigene Bleibe leisten…“

Ich unterbreche ihn und lächele hinterhältig: „Oh, dann hab ich noch was! Ich war noch nie in Wohnungsnot.“

„Ach, du bist so richtig gemein!“ Er trinkt schon wieder.

„Und seit wann hast du deine eigene Wohnung?“

„Erst seitdem ich diesen Job hab.“

„Achso?“ Diese Antwort hat mich richtig überrascht.

„Ja.“

„Hmmm, ich hab schon lange mein Haus, daher hat sich dieses Problem vor Jahren erledigt.“

„Das ist cool… irgendwann will ich auch dahin kommen.“

„Bestimmt.“

„Achso, und ich hab noch nie ein Haus gehabt.“

Ich trinke und gucke ihn abwertend an. „Nutzt gerne meine Schwachstellen aus, ne?“

„Natürlich!“
 

Er lächelt mich breit an. Seine Wangen sind etwas rötlich geworden. Das Alkohol macht sich auf seinem Gesicht bemerkbar. Seine Augen funken wunderschön… er sieht einfach bildhübsch aus!
 

„Weißt du, dein Spiel ist ziemlich langweilig.“

„Oha! Na dann mach du es doch besser!“

„Mach ich ja auch. Du musst mich betrunken machen.“

„Okay…?“

„Das neue Spiel heißt «Finde Narutos Schwachstellen». Die «Ich habe noch nie»-Regel wird aufgehoben. Du darfst alles behaupten. Und wenn es nicht auf mich zutrifft, muss ich eins trinken.“

„Das könnte richtig cool werden.“

„Kein Konjunktiv. Es wird cool.“

„Na dann fangen wir an?“

„Ja.“ Er neigt sich zu meinem Ohr und wispert: „Ich will so richtig weg, deswegen sei besonders hart zu mir.“

„Sowas besorge ich dir liebend gern.“

„Oh ja, bitte! Und wage dich gar nicht erst zurückzuhalten!“
 

***
 

Nach zwei Stunden hab ich seine Bitte mehr als vollständig befriedigt. Keine Ahnung, wie viel Alkohol in den drei Flaschen noch übrig war. Ich habe nach der ersten Stunde aufgehört darauf zu achten. Wie auch? In meinem Zustand war diese Aufgabe eh viel zu anspruchsvoll. Mir ist schlecht. Mein Körper sendet Warnsignale, die ich konsequent ignoriere. Ich werde gedanklich von einem Ort an den nächsten getrieben und davon wird mir nur noch schlechter. Aber genau das macht diese Nacht so besonders. Meine Welt hat sich während dieser Stunden komplett verändert. Heute bin ich der König von diesem Chaos. Gerissene Bettwäsche, zerbrochener Kaffeetisch, Glasscherben, klebriger Boden, der nach Alkohol und Körperflüssigkeiten riecht… heute geht alles, weil ich allmächtig bin. Neben mir liegt mein noch besoffenerer Assistent. Er labbert irgendwelchen tiefsinnigen Quatsch. Parallel macht er sich zum Clown, wenn ich ihn darum bitte. Heute Abend gehört er mir. Heute Abend ist er mein Leibeigener.
 

„Wahrheit oder Pflicht?“ Meine Zunge wiegt gefühlt hunderttausend Tonnen. Warum kann ich überhaupt halbwegs verständliche Wörter produzieren?!

„Wahrheit…“ Dass er sprechen kann, ist auch ein erstaunliches Wunder. Er hat immerhin den Inhalt von circa zwei Flaschen Whisky irgendwo in seinem Körper drin…

„Hast du jemals bereut, die Stelle angenommen zu haben?“

„Rate mal…“

„Nein. Das war die beste Entscheidung deines Lebens. Oder so?“

Er lacht mal wieder richtig verrückt. „Im Großen und Ganzen ja… aber ich wollte schon mal aufhören…“

„Was?! Was sind das für blasphemische Gedanken!“

„Hallo?! Ist halt manchmal nicht einfach, wenn du einseitig in deinen Chef verliebt bist! Hab doch ein bisschen Mitleid, okay!“

„Du Armer!“ Ich grinse ihn an: „Dein Chef ist ein Riesenarschloch!“

„Ja! Ja! Genauso ist das! Endlich jemand, der mich versteht!“
 

Oh, der war richtig gut. Wir können nicht aufhören, zu darüber zu lachen.
 

„Wahrheit oder Pflicht?“, frag ich als Nächstes.

„Pflicht…“

„Dann liege die nächsten 30 Sekunden still… du darfst nämlich gar nichts… keine Bewegung und keine Geräusche machen…“

„Willst du mich schon wieder irgendwie missbrauchen?“

„Jo…“

„Okay… und achtest du dabei wirklich auf die Zeit?“

„Nein, das sind gefühlte 30 Sekunden.“

„Alles klar. Bring it on!“
 

Ich klettere mühsam auf ihn drauf. Ich kann mich kaum aufrecht halten. Meine Arme stützen mich zwar, aber ich bin wackelig wie ein Haus auf Nudelstelzen. Seine Augen sind trübe vom Alkohol, aber er schaut mich trotzdem bezaubert an. Ihn interessiert wirklich, was ich jetzt vor hab. Wow, dass er noch so viel Denkleistung aufbringen kann! Leider hab ich gar keinen Masterplan. Vermutlich wird ihn das enttäuschen.
 

Oh, shit!
 

Mein Körper fliegt kontrolllos nach unten. Meine Arme haben mich doch betrogen. Okay… im nächsten Schnitt befinde ich mich auf seiner nackten Brust. Wie durch eine Lupe kann ich die Härchen auf seiner Haut betrachten. Manche sind beinahe durchsichtig. Ich puste eins der feineren Härchen an und er bekommt fast sofort auf dieser Stelle Gänsehaut. Wie cool! Seine Brustwarze wird auch härter. Er muss sich dabei ein kleines Lachen verkneifen. Stimmt, er hasst es, wenn ich ihn dort küsse.
 

Warte mal! Genau das mach ich jetzt. Schließlich muss er ja stillhalten!
 

Ich strecke die Zunge aus und lecke die Stelle, wo seine rechte Brustwarze sein soll. Aber weil ich übermenschlich betrunken bin, leckt meine Zunge irgendwo daneben. Na gut, dann versuchen wir es nochmal. Und wieder daneben. Tja, in diesem Zustand habe ich sogar die Grobmotorik verlernt. Aber sein Körpergeruch ist so reizend! Ja, er schwitzt ganz schön. Es ist aber auch heiß hier… aber, hey, alle guten Dinge sind drei. Und endlich eine Punktlandung! Seine Haut schmeckt salzig. Mmm, und dieses Gefühl, wenn meine Zunge auf die zarte Haut seiner Brustwarze trifft, ist unbeschreiblich! Ich will mehr davon! Ich küsse ihn noch einmal. Und dann noch einmal. Und dann noch einmal. Plötzlich mache ich mit seinem verschwitzten Körper ernsthaft rum.
 

„Sasuke, hör auf!“ Lachend versucht Naruto mich wegzuschieben. „Es kitzelt!“, beschwert er sich.

„Du hast verloren!“

„Ja-ja! Meinetwegen! Aber hör um Gottes Willen auf!“
 

Ich ignoriere die Aufforderung. Schließlich haben die Leibeigenen dem König nichts zu sagen, oder? Ich fahre mit dem Küssen fort. Sein Körper windet sich chaotisch. Ich glaub, er haut mich auf den Rücken und seine Beine zucken merkwürdig, aber ich bin mir nicht sicher. Mich abschütteln kann er nicht, denn dafür hat er nicht genug Kontrolle, und genau das nutze ich aus. Ich fange an, die zweite Brustwarze zu streicheln. Jetzt hört sich sein Lachen richtig ungesund an. Alles verklumpt sich wieder in Eins. Und das Verlangen nach Naruto ist das Einzige, was mich als Wesen antreibt.
 

Plötzlich hört er auf, wie ein sterbender Fisch zu zappeln. Sein krankhaftes Lachen ist auch weg. Stattdessen öffnet sich sein Körper einladend. Mag er jetzt das, was ich mache? Scheint so. Sonst würde er nicht so genüsslich stöhnen. Er spreizt seine Beine. Jetzt liege ich bequem. Seine Oberschenkel umschließen meinen Oberkörper fest. Kaum zu glauben, dass er nach all diesem Alkohol eine solche Kraft aufbringen kann. Meine Lippen wandern zu seinem Hals. Ich küsse ihn aggressiver. Jeder Kuss hinterlässt einen blauen Fleck. Aber das gefällt ihm. Er stöhnt lauter. Kräftiger. Häufiger. Und ich mag das. Das macht mich sowas von an! Ich rutsche etwas höher, zu seinen Lippen. Er guckt mich hungrig an, zieht hart an meinen Haaren und boom! Wir prallen schmerzhaft aufeinander auf. Er saugt sich an mir ungeduldig fest und wir verschlingen einander, wie zwei Raubtiere. Sein Atem ist heiß… seine Küsse machen mich verrückt… er hält mich mit den Beinen fest und ich pinne seine Arme über seinem Kopf. Er ist mein Käfig und ich bin seins. Niemand kann aus diesem Schlamassel raus und das ist gut so. Ja, Naruto, stöhn lauter! Du willst mich doch in dir drin, oder? Ja, gut machst du das… ich geb dir gleich das, was du willst.
 

„Liebst du mich?“
 

Wow! Was?
 

Dieses sanfte Flüstern hat den Fluss komplett gestört. Die ganze Magie dieses Vorspiels ist auf einmal verpufft. Nur eine leere Hülle verbleibt. Wir sind einfach nur zwei Betrunkene, die auf einem dreckigen Boden eines Hotelzimmers miteinander besoffen rummachen. Was für ein brutaler Realitätscheck! Seine blauen Augen schauen mich liebevoll an. Sein Blick ist komischerweise richtig klar, was mir richtig Angst macht. Das ist bestimmt ein direkter Blick in die Seele. Anders kann ich es nicht erklären.
 

„Guck bitte nicht so verwirrt.“

„Es ist echt hart, weißt du?“

„Warum?“

„Na, was soll denn diese Frage schon wieder?!“

„Würdest du sie bitte trotzdem beantworten?“

„Naruto, das ist gegen…“

„Ich weiß, dass es alle Regel bricht, aber ich muss es einfach wissen. Bitte enthalte es mir nicht vor.“
 

Er bricht den direkten Blickkontakt ab und lächelt melancholisch an mir vorbei. Seine Fingerspitzen gleiten sanft über mein Gesicht. Er begutachtet nachdenklich eine abstehende Strähne aus meinem Haar und spielt mit ihr. Er wickelt sie auf und dann ab und dann wieder auf und dann wieder ab… er sieht so zerbrechlich aus! Trotzdem lässt er nicht von mir los. Seine Nähe wird kontinuierlich unerträglicher… oh man, dieser Anblick tut nur weh! Ich kann ihn nicht mehr angucken! Ich umarme ihn fest und begrabe mein Gesicht in sein Haar. Oh Gott! Es ist einfach schrecklich! Als wäre die Hälfte meines Körpers abgerissen worden! Ne, sowas tut mir definitiv nicht gut. Trotzdem will ich nirgendwo sonst auf der Welt sein als hier, in seinen Armen.
 

„Ich sag es dir nur ein einziges Mal, also pass gut auf, also…“, flüstere ich in den Boden. „Naruto, ich…“
 

Das Sprechen misslingt mir. Er bedeckt mit beiden Armen meinen Kopf und um mich herum wird alles schwarz. Ich mache meine Augen zu und wispere:
 

„Ich vertraue dir… mein Selbst vollständig an.“

„Achso“, haucht er leise aus.
 

Er scheint nichts weiter dazu gesagt zu haben. Um mich herum ist es immer noch dunkel. Ich bekomm schlecht Luft. Meine Welt wurde gerade eben hart zum Stillstand gebracht. Ich drücke ihn fester zusammen. Er ist mein Anker nach draußen, mein warmes wegweisendes Licht.
 

Sein Halt lockert sich. Er umarmt jetzt ganz entspannt meinen Rücken. Ich bin nicht mehr komplett abgeschirmt und kann mich frei bewegen. Ich richte mich auf und wir gucken einander an. Nur wenige Millimeter trennen unsere Gesichter. Sein Blick ist weiterhin klar. Die Farbe seiner Augen erinnert mich an ein ruhiges Meer. Am liebsten würde ich darin kopfüber eintauchen und für immer spurlos aus dieser Welt verschwinden.

Zu hell…
 

Das Tageslicht blendet mich. Ich öffne mit großer Mühe meine Augen und schaue mich langsam um. Die Überreste des zerbrochenen Kaffeetischs glotzen mich lachend an. Eine bis dato ekligste Mischung von Alkohol und etwas anderem verbreitet sich in einer giftigen Duftwolke um mich herum. Eine unbekannte Macht flüstert mir ins Ohr, dass ich die Nachforschung nach diesem „etwas anderem“ lieber lassen soll. Es hört sich auch extrem vernünftig an. Und diese Glasscherben. Wo kommen denn die her?! Gott sei Dank ist der Fernseher wenigstens ganz. Scheiße ist es eklig hier!
 

Was haben wir gestern überhaupt gemacht?! Was zur Hölle ist hier passiert?!
 

Ich setze mich hin. Pulsierende Schmerzen in meinem Kopf sind so stark, dass er gefühlt zu jeder Sekunde platzen kann. Meinem Körper geht es überhaupt nicht gut. Er verwandelte sich in eine unbewegliche Biomasse nach einem gewaltigen Schleudergang. Zumindest fühlt er sich gerade so an.
 

„Morgen!“, höre ich Narutos Stimme.

„Hi…“

„Geht’s dir gut?“

„Nein, überhaupt nicht… als hätte mich jemand in eine Waschmaschine gesteckt und 30 mal gewaschen… und wie geht es dir?“

„Auch ziemlich beschissen.“

„Okay… wann müssen wir auschecken?“

„Wann auch immer wir wollen. Ich hab das Zimmer noch für heute verlängert.“

„Sehr gut, danke.“

„Im Kühlschrank steht das Mineralwasser. Und ein Notfallbier.“

„Uzumaki, du bist einfach nur Spitze!“

„Ich weiß… aber jetzt lass mich bitte liegen. Mir geht es wirklich nicht gut.“

„Okay, ich bin duschen.“

„Alles klar.“
 

Ich setze mich auf den Boden der Duschkabine. Oh ja, das warme Wasser auf meiner Haut… wie schön entspannend! Genau das brauche ich jetzt. Aber nochmal, was zum Henker ist gestern passiert? Ich war bei der Weihnachtsfeier, das weiß ich noch… okay… dann kam ich hierhin… ja… und wir haben Trinkspiele gespielt… aber wann haben wir den Tisch kaputtgemacht? Und warum liegen überall Glasscherben rum? Warum ist der Teppich so eingesaut? Keine Ahnung. Darauf habe ich keine Antwort. Mir fehlt ein ganzes Stück vom gestrigen Abend. Ein echter Filmriss… das ist nicht so geil. Sowas passiert mir eigentlich kaum. Normalerweise kenne ich mein Maß. Gestern ist offensichtlich was schiefgegangen. Verdammt, was wenn zwischen uns etwas unschönes passiert ist? Nicht dass ich handgreiflich geworden bin. Oh Gott, vielleicht ist ja das Zimmer deswegen so verwüstet?! Nein-nein, dafür gibt es erstmal nur diesen einen Beleg. Aber sonst habe ich weder Blutspuren auf dem Boden gesehen, noch sieht Naruto verprügelt aus. Und er hat sich ja auch ganz normal mit mir unterhalten. Das sind erstmal gute Zeichen. Ich habe aber trotzdem ein unruhiges Gefühl. Ist trotzdem was heikles passiert? Keine Ahnung. Vielleicht? Ja, aber nicht panisch werden. Dafür gibt es erstmal keine Indizien.
 

Ich steige aus der Dusche und trockne mich ab. Scheiße, tut mir alles weh! Anscheinend sind wir auf dem Fußboden eingeschlafen. Sowas macht mein Körper nicht mehr so richtig mit. Hinzu kommt noch der krasse Kater. Das macht die Lage definitiv nicht besser. Naja, ich bin keine 20 mehr. So merkt man das eben.  
 

„Sasuke??“

„Ja?“ Ich verlasse das Bad.

„Weißt du noch, was du zu mir gestern gesagt hast?“
 

Oh nein… oh nein! Das ist das Indiz, oder? Also ist zwischen uns doch etwas passiert, was ich vermutlich überhaupt nicht schön finden würde, oder? Scheiße! Okay, ganz ruhig. Erstmal Infos sammeln. Ganz ruhig reden.
 

„Nein. Was hab ich denn dir gestern gesagt?“

„Ach, nicht so wichtig. Kannst mir mir bitte das Bier reichen?“
 

Ich suche im Kühlschrank nach einer kleinen Aludose. Irgendwie gestaltet sich die Suche unnötig schwierig. Nicht nicht so wichtig, ha? Warum dann überhaupt ansprechen? So ein Lügner! Er verheimlicht was. Wo ist denn diese verdammte… ach, da hinten! Mein Gott…
 

„Hier, bitte schön…“ Ich reiche ihm Erbeutetes weiter. Unsere Blicke treffen sich. Witzig, dass sein Blick so klar ist, obwohl er eindeutig richtig verkatert ist. Das passt irgendwie gar nicht zusammen… hab ich das schonmal irgendwo gesehen? Irgendwie kommt mir das richtig bekannt vor… ach, Moment mal…
 

Ich erinnere mich.
 

„Was ist los?“

„Ich hab mich jetzt erinnert.“

„Woran?“

„Daran, was ich dir gestern gesagt habe.“
 

Er setzt sich hastig hin und guckt mich direkt an. Sein Gesichtsausdruck wird richtig aufmerksam. Seine Augen strahlen plötzlich ein wunderschönes sanftes Licht aus. Es ist definitiv eine Vorfreude, die er unbedingt verbergen will. Tja, Naruto, so wird das nichts. Du bist viel zu einfach zu lesen. Mensch, das ist überhaupt nicht die Reaktion, die ich erwartet habe. Ich bin ein wenig verwirrt, aber okay. Ich gucke mal, was passiert.
 

„Ist echt dumm von mir gewesen, dich ernsthaft als meinen Leibeigenen zu bezeichnen und zu allen diesen niederen Dingen zu zwingen. Sorry.“
 

Sein Gesicht ändert sich in diesem Moment komplett, als hätte jemand auf den Aus-Knopf gedrückt. Er fährt buchstäblich runter: sein Körper sickert langsam nach unten — ich weiß nicht warum, aber es sieht richtig schmerzhaft aus —, seine Augen werden wieder alkoholisch-trübe und er hängt besiegt seinen Kopf. Anscheinend hat er was komplett anderes erwartet. Was hab ich denn falsch gemacht?!
 

„Schon gut“, murmelt er müde. „Danke für die Entschuldigung.“

„Ähm, ist was los?“, versuche ich tiefer reinzubohren.

„Nein, alles gut.“ Und er gibt nicht nach.

„Sicher?“ Mich verlässt das Gefühl nicht, dass etwas katastrophal nicht stimmt. Naruto, rede mit mir, verdammt! Du wolltest es doch so doll! Hier ist deine Gelegenheit! Sprich!

„Ja. Ich bin nur tierisch müde. Lass mich bitte noch etwas länger schlafen.“

„Okay, wie du wünschst.“
 

Er hat sich abgeschaltet. Dies bestätigt das Schnarchen, was er von sich gibt. Nein, zwischen uns ist definitiv noch etwas schwerwiegenderes vorgefallen, als das mit dem Leibeigenen. Und aus irgendeinem Grund will er nicht darüber reden. Es passt überhaupt nicht. Ausgerechnet jetzt, als ich mich ernsthaft mit ihm austauschen möchte, ist er plötzlich einer ganz anderen Meinung. Was hab ich denn zu ihm gesagt?! Was könnte es nur gewesen sein?!
 

SCHEISSE, WAS WAR DAS?!
 

Wütend und stumm packe ich unsere Sachen. Heute endet ja unser Hotelaufenthalt. Gott sei Dank. Endlich im eigenen Bett schlafen. Irgendwie freue ich mich voll darauf. Ich sage Naruto, dass wir nie wieder hier übernachten werden. Was auch immer hier zwischen uns vorgefallen ist, soll auch bitte hier bleiben. Nur Gott weiß, was es wirklich ist. Und Naruto Uzumaki auch. Toll, jetzt hat mein Assistent etwas mit einem Gott gemeinsam. Seine Reaktion war schon sehr komisch. Aber wenn er es mir nicht sagen wollte, soll ich wirklich lieber nichts davon wissen. Sonst gäbe es für ihn keinen Grund, es von mir so plump zu verheimlichen.

Die Tage am Ende des Jahres sind immer ein bisschen komisch. Das ganze Büro ist mit einer faulen entspannten Jahresabschlussstimmung durchtränkt. Leute gehen in den Ruhemodus, reden über die Pläne für Silvester und gehen in den wohlverdienten Urlaub. Zugleich müssen viele Dinge auf einmal fertig werden. Deswegen befindet man sich als Chef in einer ganz komischen Position, weil man selbst auch nicht besonders motiviert ist. Einfach alles abschließen und unbedingt an alle denken, den man gratulieren muss. Das ist schon gut genug. Von einem Abschlussmeeting ins nächste. Danach Mittagspause. Danach wiederholen. Nicht besonders spannend. Die letzten Tage dieses Jahres sind überraschenderweise weniger stressig ausgefallen als sonst. Ich konnte jeden Tag zu Hause schlafen und das gefiel mir ausgesprochen gut. Etwas mehr Zeit für die Familie zum Jahresende tut auch gut. Man kommt endlich zu den normalen Sachen wie zum Beispiel Geschenke für die Verwandtschaft auszusuchen.
 

Einen Wermutstropfen gibt es in diesem Honigfass trotzdem. Ich weiß nämlich immer noch nicht, was ich Naruto an jenem Abend gesagt habe. Sein Verhalten hat sich seitdem marginal verändert. Man merkt es kaum, nur wenn man ganz genau darauf achtet. Er lacht öfter, ihm passieren letzter Zeit kleine Flüchtigkeitsfehler und manchmal wenn wir miteinander reden, guckt er mich für eine halbe Sekunde so richtig komisch an. Wie gesagt, man merkt es kaum. Dennoch spüre ich, dass nicht alles beim alten ist. Was sich genau geändert hat — keine Ahnung. Ich hasse es allgemein, keine Kontrolle zu haben. Andererseits muss ich vom Glück reden, dass mein Gegenüber in dieser Situation ausgerechnet Naruto ist. So ist es wahrscheinlicher, dass dieses Etwas mir nicht all zu viel schaden anrichtet. Zumindest habe ich da eine gewisse Hoffnung darauf. Dieses Gefühl, nicht zu wissen, worauf man sich einlässt, ist nicht besonders angenehm. Irgendwie kann ich die Ungewissheit im Privaten viel schlechter ab als im Geschäftlichen. Warum wohl? Kann ich nicht sagen. Tja, mal wieder was neues über sich selbst gelernt. Erstaunlich, dass das nach 42 Jahren immer noch möglich ist.
 

Heute ist Silvester. Heute habe ich frei. Also, quasi. Mir wurde ein Bereitschaftsdienst zugeteilt. Wenn also irgendwelche Daten geklaut werden, darf ich mich darum kümmern. Naja, sowas ist in den letzten 12 Jahren nicht vorgekommen. Unsere Analysten haben breitflächig zugesichert, dass das auch zum dreizehnten Mal so kommt. Deswegen mache ich mir da keine Gedanken. Ich habe einfach keine Haltung dazu. Stattdessen beteilige ich mich an der feierlichen Hektik um den Silvester herum. Am frühen Morgen haben wir Bescherung gemacht. Dann waren wir zu viert spazieren. Das hat richtig gut getan, sowas haben wir schon seit langem nicht gemacht. Anschließend waren wir kurz was einkaufen, danach ging es ans Kochen ran. Zwischendurch haben sich Menma und Sakura ein bisschen gezofft. Er möchte unbedingt nachher zu den Freunden, aber Sakura hat eine strenge Ausgangssperre verhängt. Mittlerweile vertragen sich alle. Der Tag neigt sich langsam dem Ende. Gleich essen wir zu Abend. Unser Haus ist festlich geschmückt, wir haben alle zusammen an diesem schönen Essen gewerkelt, die Kinder necken einander ab und zu und Sakura geht dazwischen. Im Hintergrund läuft Fernseher, den niemand wirklich guckt. Da läuft ein Weihnachtsklassiker. Und im Kamin brennt ein warmes Feuer… ich halte einen Moment inne. Ja, ich fühl mich jetzt richtig wohl!
 

„Sarada, könntest du mir noch ein bisschen Salat drauf tun?“ Ich reiche den Teller meiner Tochter. Sie füllt ihn und gibt ihn mir zurück.

„Naja, auf jeden Fall mach ich ab dem neuen Jahr bei diesem Physik-Projekt mit“, erzählt sie weiter.

„Wie heißt das Ding nochmal, was ihr bauen wollt?“, frage ich kurz nach.

„Rastertunnelmikroskop.“

„Und was ist da der Unterschied zum normalen Mikroskop, den wir aus dem Biounterricht kennen?“

„Wir wollten, dass man ihn am Computer anschließen kann und dass die Bilder gleich am PC gespeichert werden können.“

„Ha, interessant“, erwidere ich nur.

„Streber!“ Menma mischt sich ein.

„Menma!“, und wird sofort von Sakura abgeschritten. „Hättest du sowas mal auch gemacht! Du solltest eigentlich deine Schwester zum Vorbild nehmen!“

„Bla-bla-bla! Physik ist für Nerds! SPORT!!! Mir ist eh das Sportstipendium zugesichert, von daher brauch ich nichts von einem… ähm… Etwas-Tunnel-Mikroskop oder so zu verstehen!“

„Übrigens, was macht deine Bewerbung?“, richte ich die Frage an meinen Sohn.

„Nichts, ich hab noch genug Zeit.“

„Hast du dich ordentlich darüber informiert?“

„Brauch ich nicht. Da, wo ich hinmöchte, sind die Fristen nicht so straff.“

„Hmmm, wenn du es so sagst…“, murmelte ich nachdenklich.

„Die achten auch auf den Schnitt, du Blödmann!“ Sarada übernimmt das Gespräch. Und natürlich muss sie ihren Bruder blöd nennen. Naja, eigentlich darf sie sich das erlauben. Sarada ist weit erfolgreicher im akademischen Sinne als Menma. Geistig ist sie ebenfalls deutlich reifer, obwohl sie die jüngere ist.

„Aber die Auswahlprüfung ist entscheidender!“, kontert er. Tja, was kann man sonst dazu sagen…

„Das heißt trotzdem nicht, dass du jetzt überhaupt nicht mehr lernen musst! Wäre echt witzig, wenn ausgerechnet du am Schnitt scheiterst!“

„Menma, hör deiner Schwester zu.“ Ich steige wieder ins Gespräch ein. „Wenn deine Bewerbung wirklich nur am Schnitt scheitert, wäre es echt bitter, oder?“

„Ihr alle so Schnitt-Lernen-Scheitern… ein Schritt in die falsche Richtung und man wird sofort erschossen!“, regt sich mein Sohn auf. „Wie soll man dann überhaupt Spaß am Leben haben, ha? Sarada, erklär‘s mir!“

„Das ist die Kunst des Lebens“, merke ich leise an. Niemand scheint die Anmerkung mitbekommen zu haben.

„Lernen muss nicht unbedingt langweilig sein, man findet immer etwas, wofür man sich begeistert.“

„Und ich begeistere mich für Videospiele! Was machst du dann?!“

„Kannst ja lernen, wie man sowas programmiert zum Beispiel.“

„Ne, dafür bin ich zu blöd!“

„Okay, da geb ich dir vollkommen recht!“
 

Während sich meine Kinder über Gott und die Welt streiten, konsumiere ich stumm den Salat. Der schmeckt übrigens richtig gut. Ich muss immer wieder erstaunt feststellen, dass sie eigentlich keine Kinder mehr sind. Ich vergesse das gern. Jedoch haben sie schon ihre eigene kleine Weltanschauung, ihre eigenen Wünsche und Träume. Beide haben eine Idee, wie das Leben zu funktionieren hat, und lustigerweise glauben beide, dass seine oder ihre Idee komplett richtig ist. Wer kennt das nicht? In der Oberschule meinte ich auch, das Leben komplett verstanden zu haben. Später hat sich rausgestellt, dass dieses Verständnis komplett falsch war. Und wo treibt das Leben sie als Nächstes hin? Bei Menma ist diese Frage ziemlich aktuell. Im nächsten Jahr geht er auf die Uni. Das bedeutet Veränderungen für ihn. Aber auch für uns.
 

Mein Handy vibriert plötzlich. Ich hebe es hoch und sehe auf dem Display: „Senju, Hashirama“. Ich seufze. Wenn der Präsident mich am Silvester um 20:30 anruft, kann es bestimmt nichts gutes heißen. Der Name auf dem Display verhext mich. Ich muss ran… aber dann endet meine familiäre Ruhe… dann muss ich zur Arbeit.
 

Oh man, dieser Gedanke ist schon ziemlich abstoßend.
 

Ich gucke immer noch wie hypnotisiert auf mein Handy. Die Kinder streiten sich immer noch im Hintergrund, aber ich höre nicht mehr zu. Sakura hat alles mitbekommen. Sie analysiert mich kurz und ihr Blick wird streng. Ja, sie weiß definitiv, was Sache ist. Na gut, ich muss mich wohl mit meinem Chef unterhalten. Ich gehe ran.
 

Wir haben tatsächlich ein Security Breach. Es geht um den wichtigsten Kunden. Jemand muss sich schnellstmöglich darum kümmern. Und weil ich die Bereitschaft hab und die Abteilung eh leite und blablabla… und es tut ihm ausgesprochen leid… und ich hab alles sofort ohne diesen Wortsalat verstanden. Richtig toll. Tja, von wegen es kommt auch zum 13. Mal auch so. Scheißanalysten.
 

Ich stehe auf und gehe aufs Balkon im zweiten Stock. Erstmal frische Luft schnappen. Und dann eine rauchen. Sakura folgt mir. Sie sieht nicht gerade belustigst aus. Verdammt… ich habe ihr einen Feiertag versprochen, an dem ich wirklich zuhause bin. Das Versprechen ist gebrochen und sie weiß es. Okay, das wird jetzt richtig hässlich.
 

„Nein, oder?“ exhaliert sie angespannt. Dabei entsteht eine Dampfwolke vor ihrem Gesicht. Draußen ist es ziemlich kalt.

„Doch“, wispere ich leise. Dabei sehe ich, wie die Welt in ihren Augen zusammenbricht.

„Kann das nicht jemand anders übernehmen?!“ Sie hört sich verzweifelt an.

„Ich habe Bereitschaft, also…“

„Warum bist du überhaupt dafür zuständig?!“ Jetzt wird sie langsam wütend.

„Weil ich der Abteilungsleiter bin.“

„Okay, aber warum kann nicht jemand anders diese verdammte Bereitschaft machen?!“

„Ich kann diese Pflicht nicht einfach so weiterschieben…“

„Achso! Und deine Familie muss schon wieder eins zurückstecken, ja?! Jede Familienfeier endet so! Jeder einzige!“ So, jetzt habe ich ihren Feiertag ruiniert.

„Das stimmt nicht…“

„Oh, komm mir jetzt nicht damit an! Weißt du noch…“
 

Sie zählt jetzt tatsächlich die letzten Feiertage auf, die ich verpasst habe. Gut. Dabei vergisst sie, dass mir das auch überhaupt keinen Spaß macht. Aber das haben wir alles schon durch. Im Endeffekt kann ich die Situation eh nicht schön reden. Es ist Kacke. Ist halt so. Na gut, lass sie reden. Bevor sie den Dampf nicht abgelassen hat, beruhigt sie sich so oder so nicht. Ich mache die Zigarette aus und gehe ins Schlafzimmer. Sie regt sich immer noch furchtbar auf. Ich höre nicht mehr zu. In solchen Momenten kapsele ich mich ab. So ist es einfacher, schätze ich. Anstatt bewusst zu handeln führe ich maschinell ein Notfallprogramm durch. Schritt 1: in den Schrank greifen und die erstbesten Klamotten ausfischen. Schritt 2: mich anziehen. Sakura hat aufgehört sich laut aufzuregen. Stattdessen versucht sie mich mit ihrem Blick zu vernichten. Früher hatte ich echte Angst davor. Mittlerweile kann ich es ziemlich gut abschütteln. Schritt 3: Taxi rufen. Schritt 4: warten. Unterpunkt 4.1: mich bei Sakura erneut entschuldigen.
 

„Es tut mir wirklich leid.“ Sie lässt den Satz unkommentiert und rollt nur genervt die Augen. Für eine Sekunde werde ich etwas menschlicher und sage ihr: „Ich mach’s wieder gut, okay?“ Dabei meine ich es so. Leider hält dieser Zustand nicht all zu lange an. Zurück zum Programm.
 

Unterpunkt 4.2: mich von den Kindern verabschieden. Schritt 5: runtergehen. Schritt 6: ins Auto steigen. Hier endet das Programm.
 

Und ich atme tief durch.

Ich bin seit ca. anderthalb Stunden bei der Arbeit. Ich hatte erhebliche Probleme, die Datensicherung durchzuführen und niemand ist so richtig erreichbar. Aber was wollte ich überhaupt? Es ist schon fast 22 Uhr und es ist Silvester. Natürlich ist niemand erreichbar! Außer Hashirama. Aber er ist ja bekanntermaßen gehirngeschädigt. Gefühlt arbeitet er rund um die Uhr. Keine Ahnung, wann dieser Mann private Probleme klärt. Nur leider ist IT-Sicherheit überhaupt nicht sein Gebiet. Alles, was er zu dieser Zeit machen kann, ist Leute anzurufen, die eventuell helfen könnten. Und ich habe mich über Serververwaltung schlau machen müssen. Tja, so ist das halt. Mit diesen kollektiven Anstrengungen ist es mir gelungen die Datensicherung zu starten. Neben all diesem technischen Kram versuche ich mich mit Sakura zu vertragen. Ich habe ihr gesagt, dass ich es möglicherweise bis Mitternacht nach Hause schaffe. Aber wenn ich den grünen Balken ansehe, glaube ich nicht, dass es was wird. Naja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ist mein Job wirklich so wichtig, dass ich sogar den Jahreswechsel im Büro verbringen muss? Keine Ahnung. Ich sollte mir lieber diese Frage nicht stellen. Das macht viel zu wütend. Leider sehe ich ein, warum all das auf gar keinen Fall warten kann. Deswegen bin ich ja überhaupt hier. Trotzdem ist es extrem bitter, dass andere schön zuhause ihr Sektchen trinken, während ich hier an diesem Kackbericht werkeln muss. Naja, genug davon. Ich verderbe mir sonst den Abend komplett. Es ist leider nicht viel Gutes davon übrig.
 

Die Datensicherung schreitet langsam voran. Nichts passiert. Vor Langeweile machte ich mir Videos im Internet an. Die Uhr sagt zwar, dass der Tag um weitere dreißig Minuten kürzer wurde, aber so fühlt es sich überhaupt nicht an. Ich verberge das Video und gucke den grünen Balken an. 37 Prozent… ich schaffe es niemals bis um 12 nach Hause. Ich muss es Sakura erzählen. Ein hartes Gespräch, was? Ich seufze. Ich muss mich trotzdem melden. Das hab ich ihr schließlich versprochen.
 

Mensch, ist es schlimm, dass ich überhaupt keine Lust auf meine Frau habe?
 

Ich seufze erneut, greife zu meinem Handy und tippe Sakuras Nummer ein. Eine der wenigen Nummern, die ich auswendig kenne. Erster Suchvorschlag: „Uzumaki, Naruto“. Hmmm, lustig, dass die Nummern denselben Anfang haben. Ich tippe ein bisschen weiter. Narutos Nummer verschwindet. Nächster Suchvorschlag: „Haruno, Sakura“. Ich drücke auf den grünen Knopf und lande in einer Warteschleife mit kaltem tonalen Piepsen. Ach, Sakura, all das tut mir ausgesprochen leid. Du glaubst mir wahrscheinlich nicht mehr, aber ich meine es so. Ich wünschte, ich müsste dich heute nicht schon wieder enttäuschen.
 

„Und?“ Ich glaube, sie weiß genau, was ich zu sagen habe. Das kann ich nur aus diesem einen Wort raushören.

„Ich hab schlechte Nachrichten.“

„Ach, war ja so klar.“ Der Satz klingt so gleichgültig-einstudiert. Oh Gott, ich hasse es!

„Macht euch bitte trotzdem einen schönen Abend, okay? Ist Menma zu den Freunden hin?“

„Nein“, scheidet sie zackig ab. Sie will eindeutig nicht mit mir reden. Verständlich.

„Bist du sauer auf mich?“

„Nein, nicht mehr. Es bringt doch gar nichts. Kostet allen Beteiligungen nur Nerven.“

„Sakura…“

„Entschuldige dich nicht. Ich hab mich dran gewöhnt, ich bin ja nicht seit gestern mit dir verheiratet. Typischer Uchiha-Feiertag.“
 

Oh man, bitte sag das nicht so! Ich seufze schon wieder.
 

Ihr letzter Satz hat mich richtig fertig gemacht. Bloß nichts Falsches sagen. Noch eine Sekunde länger inne halten… sie hat jedes Recht sauer zu sein. Schließlich habe ich mich schon wieder für den Job entscheidenen und damit ihren Feiertag ruiniert.
 

„Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend“, spreche ich leise aus.

„Ja, rette deine Firma. Gib dein Bestes. Bis später.“
 

Sie legt auf. Stille. Dieses Telefonat hat einen sehr bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Ihre Worte haben weh getan und ich fühle mich echt mies, aber ich kann es ihr überhaupt nicht übel nehmen. Typischer Uchiha-Feiertag, wie sie sagt. Hmmm, wenn wir uns noch bis zum Jahresende vertragen könnten, wäre es echt schön… ach, komm, ich rufe sie nochmal an. Schaden kann es definitiv nicht.
 

Ich wähle ihre Rufnummer erneut. Sie lehnt den Anruf ab. Ich rufe nochmal an, sie unterdrückt den Anruf wieder. Ich versuche trotzdem nochmal. Und wieder abgelehnt. Dieses Spiel kennen wir beide. Nach zehn Minuten haben wir keine Lust. Ich verfasse eine extrem lange Nachricht und schicke sie ab. Vielleicht ruft sie doch nochmal zurück. Vielleicht auch nicht. Mir bleibt erstmal nichts anderes übrig, als einen tiefen Seufzer abzulassen. Es gibt nichts mehr, womit ich das hier reparieren kann. Ist okay. Ich fange schonmal meinen Bericht an.
 

Im Word öffne ich eine passende Vorlage aus. Datum: 31.12. Oh man, davon bekomm ich Augenkrebs. Okay, tief durchatmen und einfach weiter die Form ausfüllen. Okay, fertig. Jetzt bleibt nur noch der Hauptteil. Das schwierigste. Dann mal ran. Je eher ich damit fertig bin, desto eher ist es vorbei. Gut. Ich atme tief durch und zwinge mich den Anfang zu erzeugen. Dabei hämmere ich gewaltsam die Finger in die Tastatur und auf dem Bildschirm erscheinen die ersten Sätze. Das Schreiben fällt mir schwer, denn meine Gedanken sind definitiv nicht bei diesem Bericht. Hat Sakura womöglich meine Nachricht gelesen? Ich gucke nur kurz.
 

Ich greife zu meinem Handy mit voller Entschlossenheit die Nachrichten-App zu öffnen, doch ich weiche von diesem Kurs rapide ab. Die abgeschnittene Rufnummer meiner Frau liefert wieder den Suchvorschlag: „Uzumaki, Naruto“. Hmmm, was macht er gerade? Möchte ich es überhaupt wissen? Ja, irgendwie schon, oder? Dann schreib ich ihn an. Ne, warte… soll ich meine Affäre wirklich ohne jeglichen Grund stören? Ach, komm, was soll’s! Dieser Abend kann eh nicht viel schlimmer werden. Also warum überhaupt noch irgendwelche Standards einhalten? Willst du die Affäre anschreiben? Bitte schön! Kann ja nur schiefgehen!
 

„Hey, geht’s dir gut? Was machst du gerade?“
 

So, abgeschickt. Jetzt kann es nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich sehe den Chatverlauf an. Diese unbeantwortete Nachricht lässt mein Herz wie verrückt pochen. Es fühlt sich genauso an, wie jeden Morgen, wenn er mir meine abgewaschene Tasse vorbeibringt. Ach, Naruto… warte mal… habe ich jetzt tatsächlich meine Affäre einfach so aus dem blauen angeschrieben?
 

Oh Gott, wie dumm bin ich eigentlich?!
 

Ich lege mein Handy hastig weg. Ich öffne den Bericht und versuche mich darauf zu konzentrieren. Das hier ist super wichtig, ja? Ich schriebe jetzt einfach und berühre das Telefon nicht. Nicht ablenken lassen, sondern eher fertig werden. Selbst wenn ich für einen brauchbaren Satz ganze fünf Minuten brauche, ist es okay. Solange der Bericht irgendwie vorankommt, ist alles…
 

Bzzzzzzzt… mein Handy vibriert.
 

Er hat sich gemeldet.
 

„Hi! Ja, es geht mir ganz gut. Mach grad nicht viel. Und du?“
 

Okay, Sasuke, du wolltest zwar nicht das Telefon berühren, aber jetzt hast du seine Nachricht geöffnet. Das ist nicht so schlimm. Jetzt ist es ganz wichtig, dass du nichts falsches machst, okay? Also, entschuldige dich für die Störung, wünsche ihm ein frohes Fest und beende das Gespräch. Es ist nicht schwer. Komm, mach das jetzt!
 

„Möchtest du zufälligerweise ins Büro rüberkommen? Ich bin eh noch ein bisschen hier.“
 

Scheiße, Uchiha, das lief ja überhaupt nicht nach Plan! Warum sabotierst du dich selbst so dermaßen?! Was machst du?! Das ist überhaupt keine gute Idee!
 

„Bin in einer halben Stunde da.“
 

Siehst du, jetzt hast du alles vermasselt! Nein, warte, wir können es noch retten. Schreib ihm, dass er nicht kommen muss. Na los, mach jetzt!
 

„Du kannst auch nein sagen.“
 

Okay, das ist nicht ganz das, was du machen sollst, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Hoffentlich sagt er ab und dann kannst du in aller Ruhe…
 

„Ist okay. Ich hab dich so oder so tierisch vermisst.“

„Nur Loser müssen am Silvester arbeiten!“, höre ich aus dem Flur.
 

Achso, Naruto ist da. Alles klar.
 

„Dir auch frohes neues!“, entgegne ich. Er kommt rein.

„Was ist passiert?“

„Datenklau.“

„Wie ätzend.“

„Ummm…“

„Ist die Datensicherung schon durch?“

„Ne. Ist heute extrem langsam. Guck mal diesen Kack an.“ Ich öffne das Programm und zeige ihm den aktuellen Fortschritt. „Seit zwei Stunden ist es nur so weit gekommen.“

„Boah! Dann wird die Nacht extrem lang, oder?“

„Sieht so aus.“

„Dann müssen wir irgendwie diese Zeit vertreiben!“ Er hört sich sehr enthusiastisch an. Das ist gut. Ich brauche jetzt ein Stück guter Laune.

„Ich habe überlegt, Pizza zu bestellen. Bis sie da ist, vergeht auch nochmal mindestens ne Stunde. Wirst du bis dahin Hunger haben?“

„Bestimmt.“

„Cool. Dann machen wir das?“

„Joa, hört sich gut an. Übrigens, ich habe von zuhause eine Flasche Champagner mitgebracht.“

„Super! Dann können wir sie feierlich um 12 öffnen, dabei frohes neues brüllen und überall den Schaum verteilen.“

„Hey, der Oberstreber versteht auch was vom Feiern!“, grinst er frech.

Ich ignoriere meisterhaft seine Bemerkung: „Willst du Feuerwerke angucken? Dann könnten wir kurz vor 12 runtergehen.“

„Gerne.“

„Hast du noch Wünsche? Was könnten wir noch silvestermäßiges machen?“

„Hmmm…“ Er neigt den Kopf etwas nach links. Seine Augen wandern nach oben. Er denkt also ernsthaft darüber. Lustiger Kerl! „Willst du vielleicht danach richtig feiern? In einem Club zum Beispiel.“

„Ne. Ich mag keine Clubs.“

„Okay, ich hab mich geirrt. Du verstehst nichts vom Feiern, du alter Streber.“

„Bravo!“ Ich klatsche langsam. „Hast mich ja gut in zwei Worten zusammengefasst. Na gut, wenn dir noch was einfällt, dann sag Bescheid. Wir kriegen es bestimmt irgendwie unter.“

„Jo.“

„Würdest du bitte bestellen? Ich mach noch ein bisschen am Bericht weiter.“

„Wird erledigt.“

„Musst jetzt nicht so reden. Ist ja keine Arbeitszeit.“

„Okay, dann…“ Er macht eine wehklagende Grimasse und spricht deutlich höher als sonst: „Liebling! Ich opfere gern fünf Minuten meiner Lebenszeit um uns diese feierliche…“ Ich kichere und er unterbricht sich, weil er selbst auch lachen muss. Nach einem Moment fährt er fort: „…feierliche Pizza zu organisieren. Bitte hab ein wenig Geduld!“

Ich gucke ihn verkorkst an. Nein, das verdient kein Kommentar.

„Was denn? Du bist doch mein Liebling!“, sagt er so, als wäre es eine allgemein anerkannte Tatsache.

Ich verspüre eine brennende Fremdscham. Parallel sehe ich zu, dass ich nicht wie eine lachende Bombe explodiere. „Sasuke ist mein Liebling!“, ruft er belustigt aus und verschwindet an seinen Arbeitsplatz. Ich verdecke stumm das Gesicht mit der Hand. „Ich liebe ihn so se-ehr!“ Und jetzt fängt er an zu singen. Endstation Wahnsinn erreicht. Es kann ja gar nicht schlimmer werden. „Deswegen bin ich hie-er! Weil ich heute mit ihm feiern darf! Woooo!“
 

Ach, dieser Junge… ich kann einfach nicht mehr.
 

„Ich bin dann arbeiten, ja?“, rufe ich ihm hinterher.

„Sasuke ist ein Stre-eber!“, hallt er singend nach. Ich schmunzle und öffne dabei Word. Ist das dumm!
 

Na gut, los geht’s!
 

Nach einigen holprigen Sätzen läuft die Arbeit doch langsam an. Ich konnte mich endlich in die Aufgabe gedanklich vertiefen. Naruto übernimmt für mich ab und zu kleine Recherchen. Es hilft ungemein im Fluss zu bleiben. Wenn er gerade nicht damit beschäftigt ist, schmückt er das Büro. Er hat irgendwo alte Lichterketten und Kerzen gefunden und Weihnachtsmusik angemacht. So wird mein langweiliges Streber-Büro deutlich gemütlicher. Zwischendurch haben wir unsere Pizza gegessen, und das direkt aus dem Karton mit der Hand. Ja, ich bin dieser Spießer, der die Pizza ausschließlich mit Besteck isst. Ich habe vergessen, dass solche Formalitäten manchmal den Geschmack negativ beeinflussen können. Diese hier schmeckt fantastisch! Irgendwie hat dieser Abend geschafft, sich komplett um 180 Grad zu wenden. Wer hätte denn das gedacht?
 

„Sasuke, es ist schon 23:40.“

„Und?“

„Na, wir wollten doch Feuerwerke angucken gehen, oder?“

„Achso, ja. Dann lass uns fertig machen.“
 

Ich speichere das Dokument und gucke nochmal auf den Fortschritt der Datensicherung. 61 Prozent. Tja… die ersten Stunden des ankommenden Jahres müssen definitiv diesem Bericht gewidmet werden. War aber so oder so klar. Jetzt muss man eh warten, bis alles fertig ist. Die Ergebnisse der Datensicherung müssen unbedingt in den Bericht rein. Daher sind die 20-30 Minuten Pause überhaupt nicht verkehrt. Eigentlich kommen sie genau passend.
 

„Sasuke, ist unser Firmengebäude das höchste im Stadtzentrum?“

„Ja. Wieso?“

„Wäre cool, wenn wir vom Dach dem Feuerwerk zusehen könnten.“

„Weißt du, wir machen das. Coole Idee. Komisch, dass ich selbst nicht daran gedacht habe.“

„Echt jetzt?“

„Aha.“

Er guckt mich etwas verwundert an: „Und wie?“

Ich mache eine überhebliche Grimasse eines Allwissenden: „Indem wir zunächst den Schlüssel holen, der die Tür zum Dach aufmachen und dann aufs Dach rausgehen.“

„Ist das so einfach?“ Sein Gesicht wird misstrauisch.

„Ja.“

„Warum habe ich nie davon was gewusst?“

„Keine Ahnung. Vermutlich weil du nicht nachdenken kannst, oder?“

„Arschloch!“ Er rollt genervt die Augen. Dabei schenkt er mir trotzdem ein sonniges Lächeln.

„Also, wollen wir trotzdem den Plan in die Tat umsetzen?“

„Na klar!“

„Dann warte hier kurz, ich hol den Schlüssel.“

„Okay!“
 

Den Schlüssel habe ich problemlos besorgt. Was Naruto allerdings nicht weiß, ist, dass ich damit eigentlich die Hausordnung breche. Die Saga des Dachs geht so: In der Hausmeisterkammer steht ein gewisser Safe, in dem alle möglichen Zugangstokens zu allen möglichen technischen Räumen aufbewahrt werden. Das ist so, weil dieses Gebäude eigene Hausverwaltung hat und deren Mitarbeiter stets diese Tokens brauchen. Offiziell dürfen nur sie die besagten Räume betreten. Warum weiß ich sowas? Weil der Vorstand vor ein paar Jahren den Abschluss eines der spektakulärsten Deals in der Geschichte unseres Konzerns mit einer fetten Party mit einem Panoramablick über die Stadt krönen wollte. Es war ein ziemliches Hin und Her, welches im Endeffekt aus Sicherheitsgründen nicht genehmigt wurde. Trotzdem juckt mich überhaupt nicht, was die Hausverwaltung in diesem Sinne vorschreibt. Deswegen habe ich die streng geheime — Achtung, Sarkasmus — vierstellige Zahlenkombination des Safes mit den Tokens rausgefunden. Seitdem bin ich ein paar Mal zu oft auf dem Dach gewesen, um wie ein cheesy Teenager eine zu rauchen und die Stadt von ganz oben zu beobachten. Die Dachbesuche sind nicht nur allein meine Sünde. Fast der gesamte Vorstand hält sich gerne mal fünf Minuten an der Spitze der Stadt auf — selbstverständlich nur vereinzelt und nur nach dem offiziellen Arbeitsschluss. Die Sache ist auch, dass die Vorstandsmitglieder das Recht haben, die Hausmeisterkammer zu betreten. Dabei ist der magische Schlüssel vom Dach überhaupt nicht der offizielle Grund. Stattdessen werden Sachen genannt wie die Verkabelungen, an die man nur durch diesen Raum rankommt oder sowas. Naja, dass ich dabei die Zahlenkombination des Safes zufälligerweise kenne, muss keinen interessieren. Ich vermute sogar, dass die Hausverwaltung mit Absicht auf beiden Augen blind ist, was das angeht. Sonst könnten sie sich wenigstens ein Mal pro Monat eine neue Zahlenkombination ausdenken oder den Safe ein Mal pro Jahr verlagern. Aber das ist nur so, am Rande. Ein kleiner Fun Fact übers Gebäude, in dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe.
 

„Willkommen auf die Spitze der Stadt!“, verkünde ich siegreich und öffne dabei die Tür, die zum Dach führt.

„WOOOOAH! WIE GEIL IST DAS DENN?!“
 

Allein an dieser Reaktion ist klar: Dieser Ort hat Naruto komplett umgehauen. Er rennt zum Gitter, lehnt sich darauf und guckt verträumt in die Ferne. Bei diesem Anblick wird mir gleich schlecht. Nicht, dass dieser Idiot wirklich abstürzt. Dann haben wir alle ein riesengroßes ekliges Problem.
 

„Geh da weg!“ Ich ziehe ihn am Kragen weg vom Gitter. Er wankt tollpatschig zurück. Endlich hat er einen akzeptablen Abstand von einem Fast-Abgrund. Mein Gott, ich dachte nie, dass ich ernsthaft einen 23-jährigen auf sowas aufmerksam machen muss.

„Es ist so krass hoch!“ Er hat scheinbar gar nicht mitbekommen, dass ich mich eingemischt habe. Seine Augen sind immer noch der Ferne zugewandt. Sein Gesicht verrät eindeutig, dass das hier das Beeindruckendste ist, was er je gesehen hat. Kann sowas einfaches ihn so sehr beeindrucken? Anscheinend schon. Hmmm, manchmal vergesse ich, dass er eigentlich noch ziemlich jung ist.

„Deswegen nicht am Gitter kleben.“

„Was?“ Die letzte Bemerkung hat er wirklich überhört. Er ist immer noch zutiefst fasziniert.

„Nicht am Gitter kleben!“, wiederhole ich lauter.

„Hast du etwa Angst um mich?“
 

Anscheinend ist seine Reise durch ferne Galaxien zu Ende, denn sein Blick wird wieder frech und er sieht wieder aufnahmefähig aus.
 

„Ich will einfach keine Probleme“, spreche ich leise aus.

„Weil man doch nicht hier sein darf, stimmt’s?“

„Genau.“

„Aha, von wegen ich kann nicht nachdenken! Ist schon wieder so ein Vorstandsprivileg?“

„Nicht direkt, nein.“

„Also verstoßen wir gegen die Hausordnung?“

„Ja.“

„Aha…“

„Deswegen mach hier bitte nichts Dummes. Wenn du hier stirbst, dann wird jedem Zutritt zum Dach verweigert. Und das fänd ich echt-echt zum Kotzen.“

„Man, du bist ganz schön selbstsüchtig, weißt du?“, schaut er mich empört an. „Wenn Naruto auf dem Dach stirbt, hat Sasuke deswegen Unbequemlichkeiten! Toll, einfach nur toll!“ Ich sage nichts dazu. Er umarmt mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter. „Aber keine Sorge, ich hab’s eh nicht vor… also zumindest nicht heute. Schließlich möchte ich lebend ins neue Jahr starten.“

„Das ist löblich.“
 

Das Gespräch ist erstmal hier beendet. Niemand sagt was. Es ist so komisch, dass die ganze Stadt buchstäblich ausrastet, während wir zwei auf dieser Höhe eine absolute Ruhe haben. Das ist ein Multiversum in Echt, oder? Da unten passiert alles auf einmal: ein lautes Jahresabschlusskonzert, einige Feuerwerke werden voreilig abgeknallt, Autosirenen gehen los, Polizei ist mit Licht und Hupe unterwegs, Leute schreien… es wird so heftig gefeiert, als gäbe es kein morgen. Und wir sind hier ganz allein. Obwohl wir auch ein Teil dieser Feierlichkeiten sind, fühlt es sich überhaupt nicht so an.
 

„Zehn! Neun! Acht!“
 

Die Musik des Konzerts stoppt. Naruto brüllt den Countdown mit. Ich bücke mich zur Champagner Flasche und mache sie bereit.
 

„Sieben! Sechs! Fünf! Vier!“
 

Jetzt brüllen wir zu zweit. Unsere Stimmen echoen kräftig durch die kalte Silvesternacht und zerbrechen gegen den endlosen schwarzen Himmel. Diese Rufe werden nie erwidert. Weil niemand in dieser Welt uns hören kann.
 

„Drei! Zwei! Eins!“
 

Die Flasche öffnet sich mit einem lauten Knall und der Inhalt regnet auf unsere Köpfe.
 

„FROHES NEUES!!!“, brüllen wir den Kosmos an. „AM SILVESTER ARBEITEN NUR LOSER!!!“, wirft der Uzumaki hinterher.
 

In der ganzen Stadt gehen die Feuerwerke los. Sie sehen aus wie fantasievollen Blumen, die man fast anfassen kann. Doch sie verschwinden zu schnell. Naruto schreit laut. Er skandiert mit der weit entfernten Menschenmenge mit. Er lebt absolut in diesem Moment.
 

„Frohes neues, Sasuke!“
 

Er springt mich an und legt die Arme um meinen Hals. Er ist so nah. Sein Atem haucht sanft an meinen Wangen vorbei und er fällt mir fast auf die Lippen. Er lächelt und scheint absolut glücklich zu sein. Um uns herum knallen die Feuerwerke. Dadurch leuchtet seine Haut in allen möglichen Zwischentönen. Ich bin von diesem Fabelwesen absolut bezaubert.
 

„Frohes neues, Naruto“, flüstere ich ihm.

„Glücklichstes Neujahr in meinem Leben“, wispert er verträumt zurück.

„Übertreib‘s nicht.“

„Ich übertreibe nichts.“
 

Er küsst mich. Ich erwidere. Er ist leidenschaftlich. Ich bin’s auch. Ich schließe die Augen und lasse los. Seine Haare, sein Atem, meine Arme, diese Höhe, die Kälte, die Geräusche der Stadt, die Feuerwerke… es passt. Es macht Sinn. Es kommt natürlich. Es ist perfekt! Am liebsten hört es nie auf… bitte, hör nie auf!
 

„Ich liebe dich einfach so sehr, Sasuke.“
 

Und es ist weg.
 

Die Perfektion ist viel zu flüchtig.
 

Nach einer Viertelstunde sitze ich schon wieder an meinem Schreibtisch. Nein, leider hat sich der Bericht nicht selbst verfasst.
 

***
 

Ich bin endlich fertig und es ist schon 2:14. Alles ist erledigt: Die Daten sind gesichert und der Bericht ist an Hashirama abgeschickt. Natürlich hat er sich schon dafür bedankt. Nicht nur ist er immer nur am Arbeiten, schlafen tut er auch nie. Natürlich, denn Schlafen ist für Schwache. Ist bestimmt sein Lebensmotto. Ich verstehe diesen Mann nicht. Naruto ist inzwischen auf der Couch eingeschlafen. Sein Schnarchen bildet komischerweise eine sehr entspannende Geräuschkulisse. Jetzt muss ich ihn trotzdem wecken. Wir wollen ja auch irgendwann nach Hause kommen.
 

„Naruto?“, spreche ich ihn leise an. „Bitte wach auf. Wir können nach Hause.“

„Ummm…“ Er dreht sich unwillig weg.

„Komm, bitte aufwachen.“

„Nein…“, kreischt er müde.

„Bitte.“ Ich schüttele ihn vorsichtig. Es funktioniert. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen und setzt sich mühselig hin. „Mach dich fertig, okay? Ich rufe Taxi an.“

„Ummm…“ Hä? Ich glaube, er hat ja gesagt.
 

Er schleppt sich vom Sofa zum Kleiderschrank, holt seine Jacke raus und zieht sie an. Sein Fertigwerden ist der bitterste Kampf, den ich je gesehen habe. Er sieht so aus, als hätte er einen Berg bewegt. Er kollabiert zurück auf Sofa und nickt langsam ein.
 

„Bitte nicht einschlafen, wir müssen gleich los.“

„Aha…“

„Lass uns schon in den Empfangsbereich bewegen.“

„Okay…“
 

Wie ein Zombie wandert er aus meinem Büro raus, während ich kurz Ordnung mache. Die Tokens sind zurück in den Safe? Ja. Das Dach hab ich auch abgeschlossen, oder? Ja, bin mir ziemlich sicher. Die Deko kann gern auf der Wand hängen bleiben… und der Müll? Hab gerade alles entsorgt. Narutos Rechner ist auch aus. Okay, dann habe ich an alles gedacht. Gut. Abschließen.
 

„Sasuke, wo schläfst du heute?“ Er ist mittlerweile wach geworden. Das ist gut.

„Ich wollte nach Hause fahren.“

„Willst du nicht lieber zu mir?“

„Keine Hausbesuche. Weißt du noch?“

„Ich weiß. Aber heute war so schön mit dir, ich dachte, wir könnten…“

„Nein“, unterbreche ich ihn. „Ist genug für heute.“

„Okay… wie du sagst. Ich hätt‘s nur echt lustig gefunden.“
 

Wir gehen runter. Sein Taxi ist da. Er geht zögerlich zum Auto hin und ich bleibe auf der Treppe stehen. Er sucht verzweifelt nach Augenkontakt, den ich immer wieder abbreche. Naruto, steig einfach ins Auto. Ist nicht so schwer. Und hör auf mit diesem stummen Geflehe! Warte, was macht er da? Warum kommt er jetzt plötzlich zurück?
 

Er springt mich wieder so an, wie vor ein paar Stunden auf dem Dach. Er ist schon wieder viel zu nah und fällt mir fast direkt auf die Lippen. Diesmal fühl ich mich dadurch richtig eingeengt.
 

„Willst du wirklich diesen tollen Abend so brutal killen?“, wispert er. „Bitte komm mit.“

„Nein.“ Ich weigere mich.

„Wieso?“

„Weil ich nach Hause muss.“

„Und wer wartet auf dich dort, ha? Du hast dich bestimmt mit Sakura wegen der Bereitschaft gestritten, oder? Warum sonst würdest du mich aus dem blauen anschreiben?“ Oh nein… nicht schon wieder das.

„Das geht dich nichts an.“

„Doch! Ich kann dich nicht weiter leiden sehen!“ Er versucht mich zu küssen, aber ich stoße ihn weg. „Komm einfach mit! Bitte!“

„Naruto, bitte fahr doch einfach. Du lässt Leute warten.“
 

Er nimmt Abstand von mir und ich kann endlich tief durchatmen. Mir hat wirklich die Luft gefehlt. Krass.
 

„Du bist so verdammt kompliziert, Sasuke!“ Oh ne, er regt sich viel zu laut auf. „Kannst du nicht einfach das machen, worauf du wirklich Bock hast?!“

„Schhhh! Wir sind draußen! Sei um gottes Willen etwas leiser!“ Ich werde unruhig. Ich bin nicht die Person, die unbedingt auf der Straße private Probleme klären muss. Anscheinend ist Naruto so einer. Gut zu wissen.

„Dann guck mich an und sag, dass du wirklich nach Hause willst!“

„Dauert das noch lange?“ Der Taxifahrer guckt unzufrieden aus dem Fenster. „Ich hab nicht ewig Zeit.“

„Tut mir leid.“ Ich gehe runter und drücke ihm ein paar Scheine in die Hand. „Bitte fahren Sie weiter.“

„Was für…“, murmelt er und startet sein Auto.

„Frohes neues“, werfe ich dem Fahrer hinterher, doch er ist schon weg. Ich wende mich genervt an Naruto: „Man, musstest du wirklich das hier abziehen?“

„Ja, musste ich“, kontert er feindselig.

„Und? Bist du zufrieden?“ Ich werde langsam wütend. Er wird viel zu frech und es ist eine Art Frechheit, die ich absolut nicht ausstehen kann.

„Nein.“ Er spuckt mir dieses Wort provokant ins Gesicht. „Du hast mir noch nichts gesagt! Guck mich an und sag, dass du zu deiner Frau willst! Na los! Sag es!“ Verspottet er mich oder was?

„Ich muss dir überhaupt nichts“, hisse ich ihn giftig an. „Ich werde mich jetzt nicht rechtfertigen. Ganz bestimmt nicht vor dir.“

„Das schuldest du dir selbst, du Blödmann.“

„Halt den Mund.“

„Dir gehen Argumente aus, stimmt’s? Sag es doch einfach!“

„Versucht du aus mir eine Liebeserklärung zu erzwingen, oder wie?“

„Nein, ich will, dass du endlich einsiehst, dass Sakura dich überhaupt nicht glücklich macht!“

„Lass Sakura da raus!“

„Nein! Ihr seid unglücklich! Gib es verdammt nochmal zu!“

„Du willst mir deine Fantasien in den Mund legen und behauptest dabei mich zu lieben. Du bist richtig amüsant, Uzumaki Naruto!“
 

Er sagt nichts mehr, aber er ist erzürnt. In seinen Augen brennt ein Höllenfeuer. Er ist entschlossen, obwohl ich nicht ganz verstehe, was er vorhat. Ehrlich gesagt, kann mir das egal sein. Auf die Fortsetzung des Streits habe ich überhaupt keine Lust. Zum Glück kommt mein Taxi. Ich fahre weg und lasse ihn allein wütend auf den Stufen stehen. Keine Ahnung, was er macht. Ich soll nicht noch seine Probleme klären. Für einen Abend habe ich genug geregelt. Jetzt sind meine Kapazitäten erstmal erschöpft.

Seit dem Silvester hat sich ein bisschen was geändert. Erstens konnte ich mich relativ zeitnah mit Sakura vertragen. Wir haben uns sogar im Sommer einen gemeinsamen Urlaub gebucht. Das war ein wirklich epischer Sieg. Yeah! Zweitens wurde es zwischen Naruto und mir ein bisschen verzwickt. Verständlicherweise. Dieser Streitzustand dauert schon sechs Wochen an. Unsere tägliche Kommunikation hat sich radikal geändert. Jetzt läuft es hauptsächlich schriftlich. Wir reden nur dann, wenn es wirklich nicht anders geht. Jeder Austausch ist unglaublich trocken. Da muss ich zugeben, dass mir unsere üblichen Interaktionen fehlen. Ich möchte ihn wieder necken dürfen und er soll sich immer mit einer schlagfertigen Antwort verteidigen. Während des Tages gehen wir einander tendenziell aus dem Weg. Trotzdem beäugt er mich heimlich. Ich ziehe vor, ihn dabei nicht zu erwischen, denn wenn ich es tun würde, guckt er nicht mehr zu und dann vermisse ich diese sinnlose Interaktion. Deswegen gucke ich ihm heimlich dabei zu, wie er mich heimlich anguckt. Klingt übelst dumm. Das ist auch übelst dumm. Wir sind keine Mittelschüler mehr, verhalten uns aber so, als wären wir. Seine Produktivität ist ebenfalls gesunken. Er scheint sich häufig abzulenken. Das spiegelt sich auf seinem Überstundenkonto wieder — er macht neuerdings viel zu viele Überstunden. Außerdem darf ich unter der Woche alleine im Hotel schlafen. Das war zu erwarten, aber trotzdem hat es mich ziemlich kalt erwischt. Jeden Abend macht sich seine Abwesenheit richtig bemerkbar. Wenn ich allein im Hotel hocke, verschlingt mich plötzlich eine seltsame Sehnsucht. Deswegen arbeite ich seit sechs Wochen noch mehr als sonst. Ich mutiere langsam in einen Hashirama. Vielleicht arbeitet er auch nur, um vor etwas zu fliehen? Kann sein. Ich habe seit Silvester jedenfalls etwas mehr Verständnis dafür.
 

Trotz der jetzigen Situation ist auf Naruto weiterhin hundert Prozent Verlass. Obwohl er scheinbar mehr Zeit verschwendet, läuft die Verwaltung trotzdem wie ein sicheres Uhrwerk und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Hoffentlich ist ihm das weiterhin bewusst, denn ich bin aktuell zu stolz dafür, um ihn zwischendurch mal unverbindlich zu loben. Ja, ich bin ein unfähiger Chef.
 

„Naruto, könntest du bitte am 21.02 einen Tisch für vier buchen?“
 

Ich starre die verfasste Nachricht krumm an. So hätte ich ihn früher abgeschrieben. Nein, ich hätte sogar angerufen und dann sinnlos in seiner Leitung gehangen. Seit sechs Wochen ist es undenkbar. Ich seufze. Ich berichtige den verfassten Text. Jetzt liest er sich folgendermaßen:
 

„Bitte am 21.02 ein Geschäftsessen für vier Personen organisieren. Vielen Dank.“
 

Wie uncool, ha? Ich schicke die Nachricht so ab. In zehn Minuten bekomme ich eine vergleichbar trockene Antwort: Eine Email mit einer Reservierungsbestätigung. Und seine Signatur killt mich einfach… Freundliche Grüße… Uzumaki, Naruto… blablabla…
 

Augenkrebs.
 

Mittlerweile ist es schon wieder spät. Ich bin zurück von wichtigen Verhandlungen. Alles verging super, ein besseres Outcome hätten wir uns nicht wünschen können. Deswegen bin ich jetzt relativ gut gelaunt, seit langem mal wieder. Was meine Laune zur aktuellen Stunde verdirbt, ist die Tatsache, dass Naruto immer noch im Büro sein könnte. Ich möchte ihm nicht über den Weg laufen, besonders nicht zu so einer späten Stunde. Hoffentlich ist er schon weg. Die Kernarbeitszeit ist immerhin seit anderthalb Stunden vorbei.
 

Schon beim Laufen durchs Korridor wird mir klar, dass meine Hoffnungen tot sind. In meinem Empfang brennt das Licht. Oh nein! Ich muss ihm also wirklich Eins-zu-Eins begegnen. Meine Hände schwitzen. Ich hab davor… eine gewisse Angst?
 

Nein! Sasuke, hör auf! Du bist sein Chef und er ist dein Mitarbeiter. Du grüßt ihn kurz und passierst seinen Tisch. Wie du es sonst machst. Es ist absolut normal! Hör auf, dich so jämmerlich anzustellen! Na los, mach die Tür auf!
 

Ich drücke auf die Klinke. Die Tür geht auf. Ich komme rein. Er sitzt an seinem Platz und tippt irgendwas.
 

„Hi“, werfe ich kurz.

„Hallo“, erwidert er automatisch.
 

Er hat nichtmal den Kopf hochgehoben. Ist das jetzt gut oder schlecht? Irgendwie bin ich froh, dass ich ihm nicht direkt in die Augen gucken muss. Andererseits was zum Henker?! Ich bin sein Chef! Da kann man mich wenigstens ordentlich grüßen! Na gut, egal. In diesen Umständen ist so ein Umgang eh das Beste für uns beide. Ich gehe zu meiner Tür durch. Wo ist mein Token? Verdammt! Ich hab ernsthaft vergessen, ihn vorher rauszutun. Nicht schlimm. Er sollte gleich hier in der vorderen Tasche sein. Da! Ich halte den Firmenausweis gegen den Kartenleser und er leuchtet grün. Ich gehe in mein Büro rein und knalle die Tür zu. Endlich! Endlich sind wir nicht in demselben Raum! So eine Qual… ich atme tief durch. Ich hänge meinen Mantel auf und setze mich schon wieder an die Arbeit ran. Okay. Konzentration.
 

Nach einer Weile geht meine Tür auf. Naruto guckt vorsichtig herein. Unsere Blicke treffen sich. Ich werde sofort im Blau seiner Augen gefangen. Mein Herz flimmert.
 

Scheiße.
 

„Ich wollte nur kurz Tschüss sagen…“
 

Nein, wolltest du nicht.
 

Wir starren einander so lange an, dass es mittlerweile inakzeptabel ist. Ich kann aber nicht aufhören.
 

„Dann Tschüss.“ Ich setze verhext die ursprüngliche Unterhaltung fort, ohne dabei den Blickkontakt abzubrechen.

„Dann geh ich jetzt“, sagt er genauso hypnotisiert wie ich.

„Okay. Bis morgen.“

„Bis morgen.“
 

Die Tür schließt. Er verschwindet. Ich starre immer noch die Stelle an, an der er vor fünf Minuten zu sehen war. Ich bin über diese Begegnung so aufgeregt, dass mein Herz aus meinem Brustkorb gleich rausspringt. Ich kann nicht mehr…
 

Ach, verdammte Scheiße! Zur Hölle mit allem! Was soll’s?!
 

Im nächsten Augenblick reiße ich die Tür auf. Er wollte anscheinend genau dasselbe machen. Wir prallen ziemlich schmerzhaft aufeinander. Wir sind beide leicht verwirrt. Er beäugt mich so hart, dass ich seine Blicke mit meinem gesamten Körper wahrnehmen kann. Ich starre ihn auch penetrant an.
 

Und dann fallen wir hungrig übereinander.
 

„Streber!“, ächzt er zwischen den tausenden Küssen.

„Schwachkopf!“, erwidere ich genauso hastig.

„Ich hasse dich!“

„Ich dich auch!“

„Ich hab dich so lächerlich doll vermisst, du stiehlst jeden meinen Gedanken…“

„Halt den Mund!“

„Niemals!“
 

Er steckt seine Zunge gewaltsam in meinen Rachen und ich schlucke sie mit größtem Vergnügen. Er macht mich verrückt. Seine Nähe ist berauschend. Sie schädigt bestimmt direkt oder indirekt meinem Gehirn. Aber ich kann trotzdem nicht genug von ihr kriegen. Ich stürze mich kopfüber in diesen Wahnsinn und es tut gut. Es ist so befreiend! Ich hab unter seiner Abwesenheit furchtbar gelitten. Jetzt verschlinge ich alles, was ich kriegen kann! Am Ende bleibt überhaupt nichts übrig! Er ist bis zum letzten Krümmel meins! Naruto, endlich hab ich dich! Freust du dich auch so absurd darüber?
 

Die Klamotten fliegen mittlerweile über das ganze Büro. Diese unnötige Verpackung gehört eh abgerissen. Ich haue ihn grob um. Er prallt schmackhaft gegen den Fußboden. Bäm! Er kreischt kurz, unterbricht den Monsterkuss trotzdem nicht. Er leistet überhaupt keinen Widerstand. Ganz im Gegenteil. Er fügt sich liebend gern. Er ist auch ausgehungert. Seine Küsse sind schmerzhaft und bissig. Er ist auch grob zu mir und das ist gut so. Es gibt einfach nichts besseres! Ich zwing mich gewaltsam zwischen seine Beine. Ich gewinne. Ihm ist diese Tatsache zutiefst egal. Er beißt weiterhin in mich hinein und wird dadurch genauso verrückt wie ich. Es tut so tierisch gut!
 

„Hast du mich vermisst?“, wispert er.

„Kommst selbst nicht drauf?“ Ich erwidere.

„Doch, du hast mich vermisst!“

„Na dann hast du es.“
 

Er wirft mich um und setzt sich auf meine Oberschenkel. Jetzt endet der Monsterkuss. Aber wir erschaffen sofort einen neuen.
 

„Ich hatte dich seit Ewigkeiten nicht in mir drin und das ist richtig schlimm“, wispert er direkt in mein Ohr.

„Du dreckiges notgeiles Ding!“

„Willst du dieses dreckige Ding haben?“

„Oh Gott, ja! Ja!“, stöhne ich laut.

„Dann fick mich, bis ich ohnmächtig werde!“ Er leckt gründlich mein Ohr aus. Seine Zunge fährt über die Stelle hinter meinem Ohrläppchen und ich kriege Gänsehaut im Nacken. „Und wenn ich ohnmächtig geworden bin, hörst du nicht auf!“

„Bist du etwa ein Sexsklave?“

„Nein. Du bist einer.“

„Richtige Antwort!“
 

Ich überwältige ihn und drehe ihn mit dem Gesicht nach unten. Ich fixiere ihn am Hals und drücke seinen Kopf in den Boden. Er kniet nieder. Ich küsse ihn am Nacken und falle über seinen Rücken her. Er ist so warm. Er ist so lebendig. Er gehört mir.
 

Sein Wesen ist absolut berauschend.
 

„Hör auf mit den Zärtlichkeiten.“ Das klang gerade wie ein Befehl.

„Wie du wünschst.“ Und ich stehe zu seinen Diensten.
 

Ja, wir vertragen uns wieder. Gott sei Dank!
 

Denn ich habe ihn wirklich-wirklich doll vermisst.

„Hallo!“
 

Ich bin endlich ins Hotel angekommen. Ich bin so froh! Heute war ein echt langer Tag.
 

„Krass hat die Videokonferenz lange gedauert!“, ruft er aus anstatt mich ordentlich zu begrüßen.

„Ja, das war echt der Horror.“ Ich setze mich zu ihm auf Bett. „Was hast du so gemacht?“

„Nicht viel. Ich musste leider ohne dich essen, ich hatte so einen Hunger. Bitte nimm’s mir nicht übel.“

„Alles gut.“

„Falls du möchtest, im Kühlschrank steht noch ein bisschen was vom Abendbrot.“

„Sehr schön! Ich bin in dieser Konferenz fast vor Hunger verstorben.“

„Ging sie ohne Pausen?“

„Ja. Sie sollte eigentlich gar nicht so lange dauern, deswegen waren keine Pausen eingeplant. Bei der Fragerunde ist aber eine hitzige Diskussion entstanden. Es hat einfach ewig gedauert.“

Er legt die Arme über meine Schulter und sagt sanft: „Du arbeitest immer so viel…“

Ich senke den Kopf auf seine Schulter: „Hätte ich meinen erstklassigen Assistenten nicht, müsste ich noch mehr tun.“

„Haha, danke!“, lächelt er. „Trotzdem ist deine Lebensweise nicht besonders gesund, ich mach mir Sorgen um dich.“

„Musst du nicht.“

„Aber ich möchte.“ Er küsst mich leicht und steht auf. „Ich mach dir dein Essen warm, okay? Kannst dich ein bisschen hinlegen.“
 

Ich befolge seine Anweisung, lege mich ins Bett und starre den Fernseher an. Ich lasse mich neuerdings öfter von ihm abends „bekochen“ — er kocht ja nicht wirklich, wir kriegen meistens alles geliefert. Man kann hier eh nicht viel machen. Es ist trotzdem praktisch im Hotel eine rudimentäre Küchenzeile zu haben, denn seit der großen Wiedervereinigung — also, seit dem Tag, an dem wir uns wieder vertragen haben — essen wir oft zusammen. Er steht sogar jeden Morgen um 5:30 auf, nur um mit mir zu frühstücken. Vor Silvester war es undenkbar. Genauso undenkbar war, dass ich hungere, nur um mit Naruto die Abendmahlzeit zu teilen. Vorhin habe ich ein bisschen geschwindelt. Mit etwas Mühe hätte ich mir bestimmt was organisieren können. Erstens hätte ich mir etwas Mühe machen müssen. Und zweitens wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mich auf seine Gesellschaft beim Abendessen ein bisschen gefreut. Das war bei der Entscheidung ein nicht unerheblicher Grund.
 

„Chef! Essen!“, ruf er mich energisch zum Tisch. Ich muss kurz darüber kichern. Ach, dieser Junge!

„Chef kommt!“, erwidere ich genauso dumm und setze mich auf den Stuhl. „Man, du musst sogar außerhalb deiner Arbeitszeit mein Leben managen.“ Ich nehme mit den Stäbchen ein Stück Fleisch auf und fahre fort: „Das hat niemand verdient. Tut mir echt leid, ne?“

„Na, wenn du deine crazy 70-80 Stunden Wochen schieben kannst, dann kann ich dich ein bisschen unterstützen. Du kriechst ja abends tot an.“

„Aber nur, wenn du wirklich möchtest. Ich will nicht, dass du das Gefühl hast, dass du musst, oder so.“

„Klar.“

„Naruto, es ist mir sehr wichtig. Ich will überhaupt nicht, dass du nach der Arbeit auch nur einmal etwas für mich aus Pflichtgefühlen oder Mitleid machst.“ Ich gucke ihn direkt an. Hat er mich vorhin nur so kurz abgetan?

„Ist das jetzt eine neue Dienstverordnung?“ Er grinst frech. Ja, er hat es definitiv mitbekommen. Ich mag dieses Grinsen überhaupt nicht.

„Ja.“

„Okay.“ Er lächelt.

„Bitte nimm es ernst.“ Ich gebe nicht nach. Man, ich will unbedingt eine Bestätigung dessen, dass er diese eine Regel nicht verletzt. Schließlich haben wir in letzter Zeit vieles missachtet.

„Sasuke, ich weiß das alles. Mach dir da keinen Kopf.“ Jetzt erwidert er bewusst meinen Blick. Seine Augen wirken nicht mehr so schalkhaft wie vorhin. Ich glaube, er hat es verstanden.

„Danke.“ Ich esse stumm weiter.

„Willst du Tee?“ Die Frage hat mich etwas verwirrt. „Keine Angst, ich möchte dir ganz von mir aus einen Tee kochen.“

Ich rolle die Augen. Dieser Naruto ey! Man, ich wusste, dass er mir damit ins Bein schießt. Na gut, schließlich mag ich diese Schlagfertigkeit so doll. „Wenn du so eifrig möchtest, dann nur zu. Ich hätt echt Bock auf einen guten Tee.“

„Okay. Dann mach ich dir eins.“
 

Jetzt nehmen wir nur noch das Bad und dann geht’s auch schon ins Bett. Ich bin vom heutigen Tag so erschöpft, dass ich auf nichts eine richtige Lust habe. Ihm geht es genauso. Wir sitzen im warmen Wasser und es tut gut. Er schmiegt sich an mir und ich merke, dass er tierisch müde ist. Seitdem er um 5:30 aufsteht, ist er abends nicht mehr so fit. Zudem hatte er heute volle Hände zu tun. Wir haben demnächst eine firmeninterne Tagung und irgendwie ist es so gedreht geworden, dass meine Abteilung für deren Organisation zuständig ist. Ich war richtig sauer darüber, aber naja, man kann leider nicht viel tun. Naruto hat die Orga-Aufgabe leider abbekommen müssen. Heute stand in diesem Zusammenhang irgendeine Lieferung an. Er musste den ganzen Tag ziemlich hin und her hetzen. Außerdem habe ich schon wieder einige Termine durcheinander gebracht und er musste für mich schon wieder betteln. Ich mache sein Leben durch sowas definitiv nicht einfacher und jedesmal sagt er nur „na klar“ oder „wird erledigt“. Keine Ahnung, warum er auch nach dem Dienstschluss auf mich Lust hat. Er ist ein echt komischer Typ.
 

So langsam wird das Wasser kalt. Ja, wir sollten definitiv ins Bett. Er ist tatsächlich eingeschlafen. Oh man… jetzt ist er richtig unansehnlich. Das ist aber irgendwie ziemlich süß. Ich möchte ihn eigentlich möglichst nicht wecken. Hmmm, sollte ich ihn rübertragen? Ja, ich mache das.
 

Nun liegt der Goldjunge im Bett. Es ist gar keine einfache Aufgabe ihn von A nach B zu befördern, wenn er nur halb dabei ist. Jetzt schläft er richtig fest. Sobald sein Kopf das Kissen berührt hat, war er weg. Das ist gut. Er soll sich gut erholen. Ich habe mich auch hingelegt. Leider kann ich trotz der schrecklichen Müdigkeit nicht einschlafen. Ich liege auf dem Rücken und starre in die Decke. Die Gedanken an unser Miteinander füllen dabei automatisch meinen Kopf.
 

Seit der Wiedervereinigung ist es zwischen uns irgendwie „netter“ geworden. Wir essen zusammen, haben einen fantastischen Sex, tauschen uns über private Sachen aus und hören einander dabei sogar zu. Oberflächlich wirken wir ein recht glückliches Pärchen, aber wir sind definitiv meilenweit davon entfernt. Das kann ich absolut versichern. An einem Tag hat er mich dringend um Hilfe gebeten. Ich konnte die Bitte nicht abschlagen, weil sein Problem ziemlich übel war. Ich bereue keineswegs, ihm dabei geholfen zu haben. Dies hatte aber zur Konsequenz, dass das berüchtigte Privat-Tabu etwas anknackste, und jetzt ist es ziemlich kaputt. Durch die privaten Gespräche habe ich viel über meinen Assistenten erfahren. Zum Beispiel, er ist ein Waisenkind. Seine Eltern sind kurz nach seiner Geburt verstorben. Er wuchs in einem Kinderheim auf. Seine Jungend war extrem hart. Vieles war dabei: Mobbing, zwielichtige Bekanntschaften, Fast-Schulabbruch, leichte Drogen, kleine Ladendiebstähle, bitterer Kampf um den Studienplatz, Jobs, die ihn übelst ausgenutzt und nicht mal entlohnt haben, Räumungsklagen und sogar einige Wochen im Obdachlosenheim… als er darüber sprach, ist mein Gehirn mehrfach hintereinander explodiert. Ich komm immer noch nicht so richtig damit klar. Er schlägt sich trotz seiner Umstände ziemlich gut rum. Davor habe ich einen echten Respekt. So eine Charakterstärke ist mir selten begegnet. Sie ist richtig bewundernswert. Wahrscheinlich ist er deswegen so ein guter Mitarbeiter und so ein wunderschöner Mitmensch. Seit der Wiedervereinigung ist mir letzteres endlich bewusst. Ich habe diese wichtige Tatsache wahrscheinlich mit Absicht so lange ignoriert. Jetzt ist es unmöglich geworden und plötzlich ist mir sein Wohlergehen ziemlich wichtig. Ich möchte, dass sein Leben endlich in geordneten Bahnen verläuft und dass er allgemein mit sich und seinem Umfeld zufrieden ist. Leider hat er sich ausgerechnet in mich verliebt. Das ist äußerst unglücklich, denn weder verdiene ich seine Zuneigung noch bin ich derjenige, der ihm zu einem geregelten Leben verhilft. Ich tue eher das Gegenteil. Außerdem würden wir bestimmt nicht als Pärchen funktionieren. Ich finde diese Idee zutiefst absurd und richtig abstoßend. Aber wenn ich ernsthaft möchte, dass es ihm gut geht…
 

Warum zur Hölle nehme ich ihn dann jede Nacht ins Hotel mit?
 

Dafür gibt es eigentlich keine Erklärung. Deswegen muss dieses Miteinander schnellstmöglich beendet werden. Realistisch betrachtet führt es eh in eine traurige Sackgasse. Dessen unausweichliche Ende wird jedem Beteiligten einen extremen Leid zufügen. Ja, wir hängen jetzt zu zweit darin. Es ist auch irgendwo fair. Wenn er am Ende davon Schaden nehmen muss, dann muss ich es auch. Naruto sieht die Situation gar nicht so kritisch, glaube ich. Er scheint sogar, trotz der Umstände unseres Miteinanders sich Hoffnungen zu machen und ich frage mich manchmal, ob es nicht zu viele sind. Ich habe das Gefühl, dass er ernsthaft überzeugt ist, dass ich der Richtige für ihn bin, was auch immer das bedeuten soll. Ich vermute auch, dass er meint, mich ernsthaft retten zu müssen, ich weiß allerdings nicht wovor. Also wenn jemand einen Schlussstrich zieht, dann bin das ich. Das ist aber einfacher gesagt als getan. Ich kann dieses Miteinander nicht beenden und ich verstehe nicht warum. Jedesmal, wenn ich es ansprechen möchte, bleibt mir der Satz im Rachen stecken und dann wird dieses Thema bequem unter den Teppich gekehrt. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich habe mich irgendwo zwischen Arbeit, Familie und Naruto völlig verirrt. Ich verstehe gar nicht mehr, was ich eigentlich will. Warum kann ich ihn nicht einfach gehen lassen? Es wäre nur fair. Was fühle ich zu ihm wirklich? Schwer zu sagen. Wo ist sein Platz in meiner Welt? Ist Naruto wirklich nur mein Seitensprung? Wenn ja, dann hat er auf jeden Fall was besseres verdient, und Auseinanderzugehen wäre das Beste für ihn. Wenn nein, dann habe ich ein Problem, und Auseinanderzugehen wäre das Beste für mich. Ich habe all das völlig unterschätzt.
 

Ich drehe mich zu ihm. Er schläft so friedlich. Allgemein wirkt er in letzten Wochen so glücklich. Ist es, weil wir einem echten Pärchen so doll ähneln? Ich hoffe nicht, dass es daran liegt, denn ich habe vor, bald dieses toxische Miteinander zu beenden.
 

Naruto, sag mal, was bist du für mich?
 

Du bist ein wertvoller Mitarbeiter und ein wunderschöner Mensch. Aber was bedeutet das jetzt genau? Möchte ich dich deswegen irgendwie besonders behandeln? Keine Ahnung… teilweise? Ich fühle zu dir nicht dasselbe, was ich zu Sakura oder zu Menma oder zu Sarada fühle, und, Naruto, leider würde ich nur diese Gefühle als Liebe bezeichnen. Du bist mir aber überhaupt nicht egal. Nein, ich kümmere mich schon. Bloß, ich kann dieses Kümmern dir gegenüber nicht näher beschrieben. Wahrscheinlich möchtest du es auch wissen, aber sorry, ich bin da völlig verloren. Ich verdiene dich nicht und kann dich eh nicht zufriedenstellen. Ich kann dir leider keine gesunde Beziehung geben und die verdienst du auf jeden Fall. Deswegen nimm mir bitte meine Entscheidung nicht übel. Glaub mir, es ist zum besten so.
 

Und zwar für uns beide.

Einige Wochen sind seit meinem Entschluss vergangen und alles läuft immer noch größtenteils wie bisher. Mein Vorhaben zieht sich furchtbar hin und dadurch fühle ich mich von Tag zu Tag mieser. Hinzu kommt, dass Naruto unter der Woche sehr glücklich wirkt. Dagegen fällt ihm der Abschied ins Wochenende jedesmal spürbar schwerer. Von Montag bis Donnerstag ist er eine kleine Sonne mit einem lebensfrohen Lächeln und strahlenden blauen Augen, die mich immer so unerklärlich verhexen. Diese blumigen Bilder kontrastieren harsch mit den eines unterdrückten Wesens, das Freitag Nachmittag kurz in meinem Büro zum Verabschieden erscheint. An sich ist es nicht hundertprozentig belegt, dass er meinetwegen so ist. Er hat mich zumindest nie darauf angesprochen. Aber ja, nur ein völlig Gehirnamputierter würde hier keinen Zusammenhang vermuten. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass seine Stimmungsschwankungen doch irgendwie was mit mir zu tun haben, und mein Gewissen schreit, dass ich mich endlich darum kümmern muss. Und was mache ich? Richtig, Aufschieben. Morgen. Montag. Freitag. Nächste Woche… ich warte den nichtexistenten perfekten Moment ab, um mit meinem Seitensprung Schluss zu machen. Tja, Sasuke, viel Spaß dabei! Gott, ich bin so verdammt schwach! Trotzdem nehme ich ihn bei all dem Chaos jede Nacht ins Hotel mit. Nein, ich bin nicht nur schwach, sondern auch extrem widerlich.
 

Um auf andere Gedanken zu kommen: Heute ist tatsächlich Freitag. Das bedeutet, ich kann endlich nach Hause. Diese Woche hatte Menma die Aufnahmeprüfung auf seine Wunschuni. Ich bin richtig gespannt, wie sie verlaufen ist. Sarada hat bestimmt viel über ihr Physikprojekt zu erzählen. Sie haben schon ein funktionierendes Prototyp eines Mikroskops, sie wird bestimmt Fotos davon zeigen. Mit Sakura möchte ich heute über unseren Urlaub reden. Anscheinend gibt es da irgendwelche Probleme mit der Buchung. Heute gibt es Katsudon zum Abendessen. Ich freu mich voll drauf! Morgen gehen wir alle ins Kino. Menma ist von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. Er hat allgemein wenig Lust auf Familie, was an sich okay ist. Neuerdings hat er eine neue Freundin und seine Abneigung uns gegenüber nimmt jetzt katastrophale Ausmaße an. Er ist überhaupt nicht scharf darauf, das kostbare Wochenende mit den Alten und seiner kleinen Schwester zu verbringen. Mittlerweile ist Sakura und mir seine Einstellung dazu egal. Wenn Menma seine Freundin nicht nach Hause einladen möchte, dann kann er sie mal auf Freitag oder Montag schieben. Es ist ja nicht so, als würden wir ihm jedes Wochenende rauben. Viel zu tun hat er auch nicht. Naja, Menmas sauere Miene ist kein Weltuntergang. Ich habe ihn trotzdem lieb und freue mich auf alle drei. Was mir diesen lieblichen Vorgeschmack verdirbt, ist der bevorstehende Abschied von Naruto. Jedesmal, wenn er niedergeschlagen mein Büro verlässt, zuckt mein Herz schmerzhaft zusammen.
 

„Klopf-klopf…“ Ich hebe meinen Kopf hoch. Naruto steht in der Tür. „Ich wollte gleich nach Hause gehen.“ Oh nein. Jetzt ist es soweit.

„Wow, machst heute um unglaubliche 15:30 Schluss? Was ist los?“, werfe ich ihm verspielt zu und trage den Betreff der Email ein. Vielleicht ist er heute besser drauf als sonst?

„Ich hab zu viele Überstunden“, antwortet er ernst. Ne, er scheint nicht in Stimmung auf eine schlagfertige Antwort zu sein. Okay, dann necke ich ihn nicht weiter.

„Ist ja richtig. Dann mach dir einen schönen Abend noch.“

„Danke.“
 

Ich führe meinen Blick zurück zur Email. Er geht nicht. Seine Präsenz macht sich gerade richtig bemerkbar. Ich spüre seine zaghaften Blicke auf meiner Haut.
 

„Ähm, hast du das vorhin mitbekommen?“, fragt er planlos. Er möchte definitiv eine Unterhaltung erzwingen.

„Dass Orochimaru-san am Montag gleich auf 8 Uhr verlegt wurde?“, frage ich ohne die Augen vom Monitor wegzunehmen.

„Ja.“

„Ja, habe ich. Danke, dass du nochmal Bescheid gibst.“
 

Stille. Er beäugt mich immer noch. Er will nicht gehen, aber er muss und das weiß er. Ich weiß auch, dass er es weiß. Trotzdem möchte er die Regel unbedingt missachten. Aber ehrlich gesagt, wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, wen kümmert‘s schon?
 

„Ist noch was?“ Ich hebe meinen Kopf hoch. In seinen Augen erblicke ich eine zarte hoffnungslose Melancholie. Nein, Naru, bitte nicht machen!

„Nein, aber…“
 

Er geht hastig auf mich zu, zieht mich vom Stuhl hoch und küsst mich. Das ist eigentlich auch gegen die Regeln. Keinen körperlichen Kontakt während der Kernarbeitszeit haben. Das hier ist deutlich schwerwiegender. Eigentlich müsste ich ihn stoppen. Aber nein. Ich bin zu schwach. Meine Arme winden sich fest um seinen Oberkörper und ich erwidere den Kuss. In dieser Sekunde bin ich vollständig seiner Leidenschaft hingegeben.
 

„Heeeey, was soll das? Die Kernarbeitszeit ist noch nicht um“, sage ich erst jetzt, als es eh zu spät ist. Ja, ich möchte mich dadurch nur etwas besser fühlen.

„Niemand sonst ist hier, keine Sorge.“ Er versucht mich nochmal zu küssen, aber diesmal habe ich genug Vernunft, um ihn aufzuhalten.

„Du solltest jetzt auch gehen.“

„Aber…“

„Nein“, schneide ich ihn zackig ab. Er wirft mir einen verzweifelten Blick und ich tue so, als hätte ich diesen nicht mitbekommen. Natürlich habe ich und natürlich tut es fürchterlich weh. Ich trenne mich körperlich von ihm und erzwinge das Ende des Gesprächs: „Schönes Wochenende. Bis Montag.“
 

Er verlässt stumm mein Büro. Ich kollabiere auf den Stuhl. Mein Herz pocht wie verrückt. Ich muss auf andere Gedanken kommen. Wie ging nochmal die Email? Ich starre den Bildschirm an, aber es wirkt nicht. Nichts anderes ist in meinen Kopf gekommen. Ich habe ihn schon wieder verletzt. Davon wird mir richtig mies. Nächste Woche beende ich alles. Nächste Woche unbedingt. Diesmal traue ich mich wirklich.
 

Versprochen.
 

***
 

Es ist schon 18:30 und jetzt steht nichts meinem Feierabend im Wege! Alle Emails abgeklappert, drei Berichte fertig gemacht und an diversen Meetings teilgenommen. Gut, oder? Nur noch alles runterfahren, zumachen und abhauen. Wochenende, ich komme! Mein Rechner ist bereits aus und mein Büro ist ordentlich. Sehr schön. Tür zu und jetzt weg von hier!
 

Ich laufe entlang eines langen dunklen Gangs, der nur durch den Ausgang am Ende beleuchtet wird. Ja, ich habe mir nichtmal Licht angemacht. Ich bin zu faul. Ist ja eh… warte… was war das gerade eben? Sah aus, wie ein… Mensch? Ha! Da ist wirklich ein Mensch! Er rennt sogar weg! Was zur…?!
 

„Hey!“, rufe ich laut und renne hinterher. „Bleiben Sie stehen!“
 

Plötzlich fällt eine Tür zu. Welche war das? Ich glaube die vom Klo. Eine der wenigen Türen, die nicht elektronisch gesichert ist. Macht Sinn.
 

Ich gehe rein. Niemand ist hier. Anscheinend hat sich die Person in einer der Kabinen versteckt. Hmmm, okay. Soll ich so dreist sein und überall nachgucken? Ne, ich versuche es zunächst auf eine diplomatische Art. Wenn das nicht klappt, dann nachsehen? Ne, keine Lust. Also direkt Polizei rufen? Ja. Das Stockwerk kann von außen abgesperrt werden und jedes Büro sollte schon zu sein. Sprich, der Fremde kann sich nur im Flur und nur auf diesem Stockwerk aufhalten. Zumindest theoretisch. Es gibt noch einen Feueralarm und einige Mitarbeiter könnten verkackt haben. Wenn mir so ein Patzer jetzt auffällt, gibt es am Montag richtig Ärger. Hoffentlich muss heute nichts auffallen. Ich hätte echt keine Lust auf einen Polizeieinsatz. Ich will nach Hause.
 

„Hey, Sie befinden sich auf einem Privatgrundstück“, verkünde ich laut. „Wenn Sie das Gebäude gleich verlassen, dann wird niemand Stress haben. Klingt sinnvoll?“
 

Keine Reaktion.
 

„Ich könnte Sie natürlich hier drin einsperren und die ganze Sache der Polizei überlassen. Das wollen wir beide nicht, oder?“
 

Plötzlich höre ich ein leises Schluchzen. Das kommt anscheinend aus einer der hinteren Kabinen.
 

„Sie müssen nicht gleich weinen.“ Ich bewege mich in die Richtung, in der ich die Person vermute. „Wenn Sie mitmachen, passiert nichts schlimmes. Kommen Sie einfach raus, okay? Dann können wir…“
 

Den Rest des Satzes habe ich automatisch verworfen, denn…
 

„Naruto?! Bist du das?!“
 

Ich höre nochmal hin. Ja, das ist definitiv er. Dieses Schluchzen kann nur ihm gehören. Was zum Teufel macht er hier?! Er ist doch vor langer Zeit nach Hause gegangen! Verstehe ich nicht. Ich klopfe auf die Tür.
 

„Naruto, mach auf!“

„Bitte ruf nicht die Polizei!“ Seine Stimme zittert weinerlich.

„Mach ich doch nicht! Bitte komm einfach raus!“
 

Er sagt nichts. Stille. Nein, das geht gar nicht! Er muss da raus. Ich stecke meine Schlüsselkarte in die Rille am kleinen Plastikschloss und breche die Tür auf. Da sitzt er, zusammengerollt und heulend. Er versteckt sein Gesicht von mir. Ich falle auf die Knien und umschließe ihn fest.
 

„Naruto, was ist los?! Warum weinst du denn auf dem Betriebsklo?! Wolltest du nicht schon vor langem nach Hause?“
 

Keine Rückmeldung. Seine Tränen sind so bitter! Was ist nochmal passiert?! Ich verstehe gar nichts.
 

„Lass uns bitte ins Büro rübergehen. Da ist es nicht so eng.“
 

Nichts. Nur schmerzliche Wehklagen. Gott, sein Heulen ist einfach herzzerreißend! Ich kann es nicht länger aushalten! Ich muss irgendwas für ihn tun. Meine Arme wickeln sich fester um ihm, als müsste ich nur hart genug drücken, um all seinen Leid verpuffen zu lassen. Als ob es helfen könnte… er reagiert null auf meine Präsenz. Ihn interessiert all das überhaupt nicht.
 

„Naruto, bitte hör auf… lass uns bitte rübergehen. Dann reden über alles mögliche, okay? Wir klären das. Nur bitte-bitte-bitte hör auf zu weinen!“ Meine stimme Bricht zusammen und ich flüstere: „Ich kann es nicht ausstehen. Es tut weh.“
 

Er wird lauter und hyperventiliert dabei. Sein Atem ist unruhig und er steigert sich mit jedem Moment noch intensiver ins Heulen rein. Ich kann nicht auf ihn einreden. Ich mache es gefühlt nur noch schlimmer.
 

„Sasuke, ich… ich wollte nicht… so…“ Ich umschließe seinen Kopf und küsse seine sonnigen Locken. „Es war eine superdumme Idee! ES TUT MIR AUFRICHTIG LEID!“
 

Der letzte Satz endete in einem psychotischen Schrei. Es ist kein Heulen mehr. Ich glaube, er erleidet gerade einen Nervenzusammenbruch. Ich drücke ihn noch fester zusammen und senke den Kopf auf seine Schulter. Oh, Naru, seit wann belastet dich das so krass, ha? Ich will nicht, dass es dir so geht. Ich bin körperlich für dich da. Sonst kann ich nichts für dich machen. Komm bitte runter. Bitte…
 

„Kann ich was für dich tun?“, frage ich zögerlich.
 

Keine vernünftige Reaktion. Nur noch mehr Verzweiflung. Okay, dann bin ich jetzt wirklich machtlos. Dann ist es halt so. Er erwidert meine Umarmung. Er krallt sich so fest in mich hinein, dass ich kaum Luft kriege. Er schreit sich die Seele aus dem Leibe und ich höre nur passiv zu. Dabei bricht mein Herz in tausend kleine Stücke. Sein Leid ist unausstehlich. Bloß nicht loslassen. Aushalten. Für ihn da sein. Nur noch ein bisschen. Es ist gleich vorbei.
 

***
 

Es hat fast Dreiviertelstunde gedauert, bis er zum Stillstand kam. Mittlerweile kann er relativ normal atmen. Wir umarmen uns immer noch. Sein Halt ist bis jetzt ziemlich krampfhaft. Als ob ich für immer verschwinden würde, wenn er sich nur für eine halbe Sekunde entspannt. Das würde ich nicht.
 

„Soll ich dich nach Hause bringen?“, frage ich vorsichtig. Er nickt passiv. Ich warte einen Moment ab. Er lässt mich nicht frei. „Dann müsste ich mich aber darum kümmern…“ Ich deute daraufhin, dass ich aufstehen möchte.

„Du kommst mit?“, fragt er erschöpft.

„Ja.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Er lockert seinen Halt. Ich stehe auf und verlasse endlich die beengende Klokabine. Mein Körper beschwert sich über die unangenehme Sitzposition. Ich strecke mich kurz.

„Bleibst du dann bei mir?“
 

Ich seufze. Es ist schon so spät und eigentlich müsste ich schon lange im Zug sitzen.
 

„Ja, ich bleibe bei dir“, rutscht mir plötzlich aus. Ich seufze erneut. Dann ist jetzt so. Ist vielleicht gut. Er scheint mich dringend zu brauchen.
 

Er lächelt müde, geht auf mich zu und fällt erschöpft in meine Arme. Ich fange seinen geschwächten Körper auf und drücke ihn an mich heran. Er atmet schwer. Er ist so kaputt! Er ist meinetwegen so geworden! Meinetwegen! Ich wusste ja gar nicht, dass die ganze Situation ihn so krass belastet! Sein Lächeln ist immer so schön und er wirkt ja so glücklich! Ne, das kann nicht so weitergehen! Es ist so verdammt falsch! Was hab ich nur getan?! Das alles war überhaupt nicht so gewollt! Man, es sollte nur um ein bisschen Spaß gehen! Niemand sollte dabei ernsthaft einen Nervenzusammenbruch erleiden! Niemand, okay?! Niemand! Nein, es reicht jetzt. Heute wird dieser Wahnsinn beendet.
 

Ich muss es endlich in Ordnung bringen.

Wir sind seit einigen Stunden bei ihm zuhause. Ich habe ihn hingelegt und saß solange auf der Bettkante, bis er sich endgültig beruhigt hat. Jetzt schläft er und ich bin mir nicht sicher, was ich machen soll. Es ist noch nicht so spät, dass ich nicht gehen könnte. Die Züge in meinen Vorort fahren immer noch. Aber Naruto jetzt allein zu lassen kommt mir total falsch vor. Ich habe außerdem versprochen, bei ihm zu bleiben. Wenn ich jetzt wirklich abhaue, wäre die Endstation des Hinterhältigseins auf jeden Fall erreicht. Das würde Naruto vermutlich sehr traurig machen und genau das möchte ich nicht. Ich habe natürlich zwischen all dem komplett vergessen, Sakura Bescheid zu sagen, dass ich erst Samstag Vormittag komme. Jetzt sehe ich die zwei Shitmails von ihr. Ach, naja. Mit den Konsequenzen muss ich mich morgen rumschlagen. Heute muss ich mich dringend um Naruto kümmern.
 

Ich sitze in seiner Küche und gerade wird mir bewusst, dass wir die allerletzte Regel gebrochen haben, die wir bis dato zu hundert Prozent eingehalten haben. Keine Hausbesuche. Tja, nicht mehr. Ich wusste schon vorher, wo er wohnt. Jetzt weiß ich auch, wie es hier aussieht. Ich fühle mich hier überhaupt nicht wohl. Irgendeine Ablenkung soll her, denn sonst drehe ich komplett durch. Wie wäre es denn zum Beispiel mit Kochen? Ach ja, gute Idee! Mal sehen, was ich machen kann. Sein Kühlschrank sieht ziemlich trist aus. Ew, da hinten schimmelt der Käse! Da steht eine dreckige Pfanne mit mittlerweile nassen Nudeln drin. Ist das eklig! Okay, dann koche ich halt nicht sofort. Zunächst muss dieser Biohazard beseitigt werden und danach muss ich anscheinend einkaufen. In seinem Kühlschrank könnte sich jemand fast erhängen. Cool. Sowas erinnert mich an mein Studium. Damals konnte man einen schimmeligen Kühlschrank deutlich länger aushalten.
 

Nach zweieinhalb Stunden war ich durch mit allem. Ich musste deutlich mehr putzen, als nur den Kühlschrank. Den Herd zum Beispiel. Er hatte überall alte klebrige Fettablagerungen. Die Arbeitsplatte auch. Die Schneidebretter waren nicht besonders sorgfältig abgewaschen. Teilweise klebten alte Reste vom Gemüse dran. Irgendwie ist seine Küche wie sein aktuelles Leben: oberflächlich in Ordnung, aber eigentlich eine Katastrophe. Wer ist daran wohl schuld, ha? Im spiegelnden Edelstahl des großen Kochtopfs mit dem brodelndem Inhalt sehe ich mein verzerrtes Bild. Ha, wie passend…
 

Die Abendmahlzeit ist schlussendlich Ramen geworden. Ich erinnere mich daran, dass er mal erzählt hat, dass er die Nudelsuppe liebt. Hoffentlich freut er sich darüber. Keine Ahnung, ob sie schmeckt. Ich stand schon seit Ewigkeiten nicht mehr in der Küche und bin ganz schön aus der Übung. Schade eigentlich, weil ich früher richtig gern gekocht habe. Das war meine Aufgabe. Zunächst kleine Mahlzeiten für Sakura und mich. Sie hat immer mein Essen gelobt und jedesmal hat mich das richtig gefreut. Dann größere für Kinder und uns. Ich bekam noch mehr Lob und freute mich noch mehr. Dann wurde ich zum Abteilungsleiter. Plötzlich war die Aufgabe nicht nur meine, weil es zeitlich nicht mehr ganz gepasst hatte. Zunächst konnte ich mich dafür am Wochenende revanchieren. Seitdem ich im Vorstand bin, klappt es nichtmal am Wochenende. Jetzt kann ich nur dann kochen, wenn jemand meinetwegen einen Nervenzusammenbruch erleidet. Irgendwie ist das schon traurig.
 

„Sasuke?“, höre ich aus dem Nachbarzimmer. Naruto ist wach geworden. „Warum riecht es hier so gut?“

„Ich hab gekocht.“

„Ach, wie cool!“ Er kommt rein, lächelt mich müde an und setzt sich mir gegenüber. „Vielen Dank.“

„Kein Ding.“
 

Das Gespräch hat abrupt aufgehört. Narutos Blick ist starr auf einem Punkt fixiert. Seine Augenlider sind angeschwollen. Er wirkt leicht verschlafen und desorientiert.
 

„Willst du was essen?“, frage ich leise.

„Ummm“, murmelt er bestätigend.

„Na dann…“ Ich begebe mich zum Herd und mache ihm einen Teller fertig. „Bitte schön.“

„Iss mit mir zusammen“, rutscht ihm plötzlich aus. Ich habe nicht verstanden, ob es eine Aufforderung war. „Ich möchte das Gefühl kriegen, dass wir ein echtes Paar sind.“

Ich lächele kurz und besorge mir gleich einen Teller. „Besser?“

„Ja. Guten Appetit!“
 

Und nun essen wir. In peinlicher Stille, die durch gelegentliches Suppenschlürfen unterbrochen wird. Wie ein normales Paar wirken wir erstmal nicht.
 

„Geht’s dir wieder einigermaßen gut?“ Ich versuche ein Gespräch einzuleiten.

„Ummm“, murmelt er wieder.

„Was soll denn das bitte heißen?“ Ich werde wieder etwas neckisch.

„Ja heißt es“, spricht er begeisterungslos. Mein Neckisch scheint an dieser Stelle voll unangebracht zu sein. Verständlich.

„Achso. Das freut mich echt“, hauche ich nur leise.
 

Wir versinken wieder in die Stille. Jeder ist für sich. Es ist keine besonders einladende Atmosphäre. Naruto geht es augenscheinlich überhaupt nicht gut, obwohl er gerade eben das Gegenteil behauptet hat. Er wühlt konzentriert in der Suppe und fischt daraus eine einzige Nudel. Dann befördert er sie in den Mund und der Vorgang wiederholt sich. Es sieht richtig anstrengend aus. Jede Bewegung kostet Mühe. Er ist richtig kaputt.
 

„Ich wollt nur sagen, dass es mir super gut schmeckt“, fügt er nach einer Weile hinzu. „Ich hatte schon lange nicht mehr so einen leckeren Ramen gegessen.“

„Wenn du damit zufrieden bist, freue ich mich.“

„Du musst auch essen, sonst klappt das nicht mit dem echten Paar.“
 

Zum ersten Mal seitdem er aufgewacht ist, schaut er mich direkt an. Diese wunderschönen blauen Augen! Sie verhexen mich immer wieder. Diesmal strahlen sie eine hauchdünne sanfte Traurigkeit aus. Er scheint meine Trennungsabsichten ganz intuitiv spüren zu können, denn dieser Blick vermittelt Endzeitstimmung. Es wird nicht besser und es gibt kein Zurück. Es ist vorbei. Ob ihm das völlig bewusst ist? Ich weiß es nicht, aber sein Körper scheint darauf zu reagieren. Sein Kopf hängt tief. Seine Schulter sind eingesackt. Seine Hände zittern. Jedesmal, wenn er weitere Nudel aus der Schüssel rausfischt, produzieren seine Stäbchen ein schrilles unangenehmes Geräusch. Sein Blick ist weiterhin auf einem Punkt strengst gefesselt. Ich nehme ihn bei der Hand — er reagiert gefühlt eine Ewigkeit später mit einem müden Lächeln. Jeder Reiz wird schmerzhaft und teuer in seinem Gehirn verarbeitet. Es sieht so aus, als ob ihn das Denken zu dieser Sekunde unglaublich anstrengt. Keine gute Gelegenheit um über eine Trennung zu reden. Ich muss es trotzdem tun. Aber erstmal soll er seinen Ramen zu Ende essen.
 

Einiger Zeit später sitzen wir umarmt auf der Couch in völliger Stille. Neben uns brennt eine kleine alte Tischlampe als einzige Lichtquelle. Ihr schwaches flimmerndes Licht ändert an der Raumbeleuchtung nicht wirklich was — der Raum ist immer noch ziemlich düster. Trotzdem ist dieses kleine beinahe sterbende Licht unglaublich warm. Es macht den übrigen grimmen Rest dieses dreckigen Wohnzimmers ein wenig gemütlicher. Naruto schmiegt sich an mich an. Sein Körper strahlt eine sanfte Wärme aus. Nur dadurch würde ich die Atmosphäre in seiner sonst so unangenehmen kühlen Wohnung als „kuschelig“ bezeichnen. Dieses stumme Sitzen ist absolut unproduktiv. Normalerweise sitze ich nie solange rum, ohne etwas zu tun. Doch anscheinend hatte ich sowas seit langem extrem nötig. Ich fühle, wie sich die Umgebung um mich herum entschleunigt. Solche Momente sind echt zur Seltenheit geworden, seitdem ich im Vorstand bin. Mich beschäftigt immer irgendwas — Unternehmensstrategie, Förderungsprogramme, Mitarbeitermanagement, zahlreiche millionenschwere Klagen sowohl gegen uns als auch gegen andere — das Nötige bitte unterstreichen. Auf Dauer verursacht das Wirr im Kopf. Gedankenmüll. Anscheinend konnte ich in den letzten fünf Jahren nie richtig klar denken, denn in dieser Sekunde spüre ich einen deutlichen Unterschied. Ich bin wach. Mein Gedankengang ist stringent, schlüssig und sehr ruhig. Plötzlich kann ich mein Leben von ganz oben betrachten.
 

Ich kümmere mich um die Probleme, die im Endeffekt eh keinem wirklich wichtig sind. Und wofür? Für die Firma? Für meine Familie? Für mich? Oder doch fürs Geld? Vermutlich für all das und wahrscheinlich noch für vieles mehr. Aber lohnt sich das? Was habe ich am Ende? Einen bunten Bericht mit beeindruckenden Kennzahlen und eine satte Aufwandsentschädigung. Meine Familie sehe ich effektiv nur noch am Samstag, weil ich Freitag meistens gegen 19 Uhr Schluss mache und am Montag schon wieder um 7 da sein muss. Dabei funktioniert meine Ehe schon seit langem nicht so richtig. Sakura und ich… tja, entweder besprechen wir irgendwelche Probleme — Kinder, Haus, Urlaub, Autowerkstatt — oder wir streiten uns. Wir kommunizieren also entweder fast schon geschäftlich oder absolut ungesund und scheinbar will auch niemand von uns etwas daran ändern. Zumindest habe ich nichts davon mitbekommen. Stattdessen flüchten wir. Entweder verhalten wir uns passiv-aggressiv, so wie Sakura, oder wir zerstören uns selbst, so wie ich. Das Traurigste dabei ist, dass unsere Ehe mir immer noch sehr viel bedeutet. Sakura war schon immer der wichtigster Mensch in meinem Leben. Sie ist eine Frau von unglaublicher Charakterstärke und dafür respektiere ich sie. Ich kenne sie, seitdem sie 13 ist. Seitdem sie 18 ist, ist sie meine Partnerin. Unsere Beziehung ist schon 22 Jahre alt und die meiste Zeit davon waren wir ein echt cooles Team. Wir haben uns unser gemeinsames Leben nach und nach schöner gemacht, zuerst zu zweit, danach zu dritt und dann zu viert. Sie war der primäre Treiber von den wichtigsten Sachen in meinem Leben: meiner Karriere, meiner Familie, meines geistigen Wohlbefindens. Ohne ihre Unterstützung wäre ich einfach nicht ich geworden. Und dafür liebe ich sie noch heute, selbst wenn unsere Ehe in die Brüche geht. Irgendwo auf diesem Weg sind wir katastrophal falsch abgebogen, sodass ich genau hier gelandet bin, in den Armen meines 23-jährigen Assistenten, mit dem ich sie schon seit einem Jahr betrüge. Diese Affäre ist ein absoluter Fehler. Damit habe ich allen Beteiligten einen extremen Schaden zugefügt. Bravo, Sasuke! Gut gemacht! Was kann man noch dazu sagen?
 

Ich seufze. Ist meine Lage miserabel? Ja, ist sie. Bin ich daran schuld. Ja, bin ich. Ist meine Ehe noch zu retten? Keine Ahnung. Vielleicht. Ich hoffe zumindest darauf, denn ich bin jetzt fest entschlossen, es zu versuchen. Sakura und ich, wir dürfen uns noch nicht aufgeben. Dafür muss ich zwingend Naruto loslassen.
 

„Naruto,“ rufe ich ihn leise beim Namen.

„Ja?“, erwidert er, ohne die Augen hochzuheben.

„Es gäbe da eine Sache, die wir besprechen müssten“, fange ich vorsichtig an.

„Welche?“
 

Plötzlich wird mir die Kehle fest zugeschnürt. Nein, nicht schon wieder! Komm, Sasuke, sag es ihm endlich! Los!
 

Meine Arme schließen ihn automatisch fester um und ein Klumpen bildet sich in meinem Rachen. Mein Körper weigert sich, die verhängnisvollen Worte auszusprechen. Ich habe eine tierische Angst, ihn schon wieder zu verletzen. Wahrscheinlich werde ich nicht drum herum kommen und es ist ein mieses Gefühl. Aber eine bittere Wahrheit ist besser als eine süße Lüge. Ich darf ihn nicht weiter hoffen lassen.
 

Ich hole tief Luft, nun leider habe ich zu dieser Sekunde das Sprechen verlernt. Ich mache die Augen zu und versuche ruhiger zu werden. Los, Sasuke! Du musst es tun! JETZT!
 

Mit all mir zustehenden Kraft presse ich die bröckeligen Worte kräftig aus dem Inneren meiner Lunge. Der Klumpen in meinem Rachen bewegt sich schmerzhaft.
 

„Wir müssen das zwischen uns beenden.“
 

Der Satz rollt endlich von meiner Zunge. Und Narutos Herz zersplittert in tausend kleine Scherben.

„Wir müssen das zwischen uns beenden.“
 

So, jetzt habe ich es gesagt. Die Luft um uns ist sofort unglaublich dickflüssig geworden und wir wurden in eine Totenstille eingesaugt.
 

„Du schweigst. Heißt das, dass du damit einverstanden bist?“
 

Meine leisen Worte erklangen gerade wie ein mächtiger Donner. Keine Antwort. Stattdessen werden seine Augen trübe und er verdeckt sein Gesicht mit der Hand. Seine Schultern zucken. Bittere Tränen kullern seiner Wange runter und er wird von einem Weinkrampf überwältigt. Ich seufze. Nein, er ist nicht damit einverstanden. Das war zu erwarten. Er soll sich Zeit lassen. Ich mir aber auch, denn dieser Anblick tut unglaublich weh.
 

Nach einer sehr langen Pause sagt er: „Warum willst das jetzt auf einmal machen?“ Seine Stimme zittert. Er weicht meiner Frage aus. Okay, fair genug. Dann erkläre ich mich.

„Es ist doch eine Drecksbeziehung“, fange ich leise an. „Sie schadet dir und das ist nicht okay. Ich nutze dich richtig unverschämt aus. Das ist absolut inakzeptabel. Es muss stoppen.“
 

Und wieder diese bedrückende Stille. Meine Worte scheinen ihn zu überfordern. Ich höre nur, wie er hilflos schnauft.
 

„Es muss stoppen, sagst du?“ Sein Ton ist spöttisch und abwertend. „Witzig, dass du mir so leichtfertig jegliche Mündigkeit absprichst.“ Aua, dieser Satz hat fest ziemlich gebissen. Deswegen ist die Sprechpause besonders unangenehm. Aber er hat damit recht. Hmmm, irgendwie nimmt er diese Tatsache extrem locker. Obwohl…
 

Nein. Tut er nicht.
 

Im nächsten Moment schüttelt er meine Arme kräftig ab und setzt sich gerade wie ein Pfeilschaft hin. Seine Augen sind rot wie Höllenfeuer. Darin brennt eine dämonische Wut. Er nimmt eine düstere Gestalt eines majestätischen zornigen Feuergottes an. Er ist hier um Vergeltung zu verüben und es ist richtig angsteinflößend. Niemand wird verschont. Ich mache mich instinktiv ganz klein, in einem verzweifelten Versuch mit der Couch zu verschmelzen. Könnte es nur funktionieren! Natürlich ist es überhaupt nicht der Fall. Seine all sehenden Augen lassen mich nicht los. Die Verbitterung strömt explosiv aus ihm nach außen und stürzt über mich wie eine riesige Welle ein. Sie bricht in Form eines Urgeschreis aus.
 

„UND TOLL, DASS DU ÜBERHAUPT NICHT GEFRAGT HAST, WAS ICH BEI ALL DEM WILL! Ja, gut, diese Beziehung existiert eh nur dafür, damit du ohne jegliche Konsequenzen Spaß haben kannst! Es ist an sich okay, du warst ja immer sehr offen darüber! Ich habe dem genau so zugestimmt! Du hättest mich trotzdem fragen können! Es wäre ja nur fair! Aber nein! Du behandelst mich schon wieder wie letztes Dreck! Oh, warum bist du nur so ein starker Magnet für mich, ha?! Keine verdammte Ahnung! Verstehe ich nicht, ist auch egal! Ich dachte mir ernsthaft, ich kann dich für mich gewinnen! Als ob es nur eine Zeitfrage wäre! Was für eine harte Selbstlüge! Dass ich mich dabei so massiv verletzt habe, ist allein meine Schuld! Aber jetzt beendest du diese Beziehung angeblich, weil sie schlecht für mich sei! Das tut richtig weh, Sasuke! ALS OB DU DICH KÜMMERST! Drecksbeziehung, blablabla!!! Du willst damit doch schon wieder nur deinen eigenen Arsch retten! Dann sag das wenigstens so! Sag, dass du keine Freude mehr an deinem Wegwerfspielzeug hast! SAG’S MIR!“

„Naruto, bitte…“ Ich setze mich ebenfalls hin und versuche ihn zu umarmen. Meine Hände berühren seine Schultern, aber er stößt mich grob um. Ich falle wieder hin und pralle gegen das Sofa. Er dreht mich zu sich hin und fährt dabei gewaltsam fort:

„Hör auf, mich so herablassend zu behandeln! NEIN! DU bleibst jetzt still! Du kümmerst dich um mich ja ach so doll! Also Fresse zu und Ohren auf! Ich erzähl dir mal was über dich, Sasuke! Ich bin völlig kaputt an der Liebe zu dir gegangen! Niemand hält die Liebe zu dir auf lange Sicht aus! NIEMAND! Weil man davon einen Dauerschaden kriegt! Du machst es ja einem so schwer! Ich frage mich, warum Sakura noch nicht in einer mentalen Anstalt geendet hat! Vermutlich, weil du eh nie da bist! Es wäre echt ironisch! Oder sie liebt dich nicht genug, um sich ernsthaft zu kümmern! Das wäre auch gut! Aber ich tue es in Echt! Ganze 120 Stunden die Woche! Und die restlichen 48 verbringe ich damit, dass ich über deine Abwesenheit zutiefst betrübt bin! Der Witz an der Sache ist, wir können ja so verdammt gut funktionieren! Du machst deinen Job und ich regele dein restliches Leben! Ich bin ja richtig gut darin! Gefühlt bin ich der Einzige auf der ganzen Welt, der mit deinem komplizierten Charakter intuitiv umgehen kann! Weißt du, wie viele Anfragen ich täglich bekomme, in denen es nur darum geht, etwas von dir zu erfragen oder etwas von dir genehmigen zu lassen, ha?! Weißt du es?!“ Im Nullkommanichts ist der Abstand zwischen uns weg. Er presst seine Stirn gegen meine und plötzlich schaue ich diese rasende Wut aus der nächsten Nähe an. Ein mächtiger Feuersturm, der alles verwüstet. Mir vereist das Blut in den Adern.

„Nein…“, antworte ich zögerlich.

„Mindestens fünf pro Tag jeden Tag! Das sind mindestens 25 pro Arbeitswoche! Du kannst halt nur mit den Überfliegern reden, wie du selbst! Also, mit Senju-san, Orochimaru-san, Hatake-san und Co. kommst du zwar gut klar, ich habe aber das Gefühl, dass du ihnen trotzdem nicht vertraust!“ Er versucht meine Stimme nachzuahmen: „Naruto, checke das hier, das sieht nicht richtig aus! Naruto, was meinst du, wollen sie uns irgendwie abzocken? Naruto, könntest du mir das Protokoll der letzten Sitzung besorgen? Da haben sie doch was ganz anderes erzählt. Und blablabla! Erkennst du dich wieder?“ Ja, das tue ich und plötzlich schäme ich mich für meine gesunde Skepsis, auf die ich eigentlich immer stolz bin. Er hat jetzt keine Zeit auf mein inneres Rangeln zu achten und fährt wütend fort: „Selbst deinen langjährigen Geschäftspartnern und sogar Kollegen unterstellst du erstmal Sachen! Und die Normalsterblichen, die „nur“ 40 Stunden pro Woche arbeiten, schreibst du einfach gleich ab! Die sind für dich eine Null! Ersetzbar! Arbeitsbienen! Graue Maße! Deswegen meiden sie dich wie die Pest! Und bei all dem bist du eine schrecklich unnette Person! Das kannst du dir nicht leisten! Wenn du so weiter machst, verreckst du irgendwann ganz allein! Du lässt ja niemanden an dich ran! GAR NIEMANDEN!“ Plötzlich entweicht die Wut aus seinem Körper und nimmt die dämonische Besessenheit mit sich mit. Er schrumpft. An Stelle des majestätischen Feuergottes verbleibt nur ein zerbrochener Junge, der fast am Ende seiner geistigen Kräfte ist. Seine Stimme wird schwach und er fährt halb flüsternd fort: „Außer mir…“ Er legt eine Pause an und holt tief Luft: „Ich empfinde das als ein Anzeichen einer echten Zuneigung, Sasuke.“
 

Nach diesem Geschrei herrscht eine absolute Stille. Es ist so ruhig, als wären wir plötzlich in ein Vakuum gelandet. Nichts. Völlige Geräuschlosigkeit. Keine Anzeichen des Lebens. Er legt sich zu mir und umarmt mich fest. Seit Atem ist schwer. Dieser Ausbruch hat ihm bestimmt viel Kraft gekostet. Er fährt weiter fort:
 

„Ja, du bist extrem schwierig, aber du bist halt mein Schwierig. Ich liebe mein Schwierig über alles. Ich bin ja auch nicht der Einfachste und du scheinst mich zumindest etwas zu mögen. Ich mag uns so wie wir sind. Obwohl du schwierig bist, ist es trotzdem einfach mit dir. Ich weiß, es klingt verdammt widersprüchlich, aber es ist wirklich so. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll… ich spüre dich, oder sowas ähnliches? Ich merke halt, wenn dich etwas beschäftigt, oder wenn du eine anstrengende Besprechung hattest, oder wenn du einen guten Deal durchdrücken konntest, und dann weiß ich instinktiv, was ich tun muss. Macht das Sinn?“ Ohne meine Antwort abgewartet zu haben, fährt er fort: „Ich habe mich noch nie mit jemanden auf so eine mysteriöse Art verbunden gefühlt, wie mit dir, Sasuke.“
 

Dieser Worte… irgendwo tief in mir drin sind sie auf einen ganz empfindlichen Nerv gestoßen. Ein ganz komisches bittersüßes und gleichzeitig gruseliges etwas füllt mich rasch von innen. Ich drücke ihn näher an mich heran, weil es sich richtig anfühlt. Zugleich lässt mich dieser eine Satz innerlich komplett durchdrehen. Ob ihn das bewusst ist? Ne, er bemerkt jetzt gar nichts. Er möchte nur seine Beichte zu Ende bringen.
 

„Weißt du noch, was du mir am Weihnachten gesagt hast?“, fragt er zärtlich.

Was hat denn das auf einmal mit diesem Gespräch zu tun? Okay… Ich melde mich verwirrt: „Dass du mein Leibeigener bist?“

Er lächelt kurz: „Ne, nicht das. Das andere.“ Und dann schweigt er.

„Was war denn dieses «andere»?“

„Ich hab dich an dem Abend gefragt, ob du mich liebst. Weißt du es noch?“, fragt er leise.

„Nein“, gebe ich offen zu.

„Du meintest, du würdest mir dein Selbst vollständig anvertrauen. Und weil du das ausgerechnet so formulieren hast und weil ich eben diesen komischen Bund zu dir spüre, habe ich diesen Satz ernsthaft als eine Liebeserklärung verstanden.“
 

Mir entweicht ein kräftiger Seufzer. Oh nein! Warum ausgerechnet jener Abend?! Ausgerechnet der, an dem ich mich an vieles nicht erinnern kann! Dass er sowas wie in meine Seele hellsehen kann, ist anscheinend zu wenig Überraschungen für einen Abend. Ach, deswegen hat sich sein Verhalten seit dem Weihnachten Stück für Stück geändert! Das ist der Grund, warum er sich mehr und mehr Sachen erlaubt hat, warum er mutiger wurde und warum ich mich schlussendlich zwischen all dem völlig verirrt habe! Das ist dieses „Zu viele Hoffnungen“! Er kam nicht selbst darauf, sondern durch mich! Und dann kann ich mich nicht mal dran erinnern, ich Idiot! Ich bin so verdammt schrecklich und dumm! Was habe ich nur angestellt?!
 

„Du wolltest es zwar nur einmal gesagt haben, aber weil du davon keine Erinnerung hast, sagen wir mal, es zählt nicht… deswegen, sag mal, Sasuke…“ Mein Name klingt ungewohnt lieblich auf seiner Zunge.
 

Er setzt sich hin, zieht mich hoch und nimmt mich bei der linken Hand. Seine Finger gleiten sanft zwischen meine. Er sucht den Blickkontakt, aber ich flüchte ängstlich davor. Bloß nicht erwidern! Keine Ahnung warum, einfach nicht machen! Diese komische gegenübersitzende Position ist so oder so kaum auszuhalten. Sie hat etwas ganz Heiliges in sich. Es fühlt sich nämlich so an, als würden wir gleich Gelübde austauschen, und, oh mein Gott, könnten wir nicht weiter von dieser Vorstellung sein! Unser Bund ist zutiefst verwerflich. Es verrottet selbst und macht alles um sich herum krank. Wie konnten wir überhaupt so weit gehen? Für solche Fragen ist es viel zu spät. Narutos Fingerspitzen fahren leicht über meine Wange. Er räumt vorsichtig eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Er versucht meinen Blick zu fangen und ich renne davon. Nicht gucken! Nicht gucken! Vorbei… er hat mich. Ich verliere mich in diesen blauen Tiefen. Sein Blick ist klar wie ein nächtlicher Sternenhimmel und ruhig wie ein weites unerforschtes Meer. Das kommt mir extrem bekannt vor. Ich habe das schonmal gesehen! Nur wo?
 

„Liebst du mich?“, wispert er sanft.
 

Meine gesamte Welt wird hart zum Stillstand gebracht. Ich erinnere mich plötzlich an alles.

„Liebst du mich?“
 

Diese sanfte Stimme klingt genauso wie an jenem Abend. Er guckt mich genauso an. Sein Geruch, seine Haare, sein krankhaftes betrunkenes Lachen, seine dummen Antworten auf meine noch dümmeren Fragen, unser besoffenes Rummachen… seine Augen wie ein endloses Meer… und mein Geständnis. Es kam alles wieder und jetzt überlastet es meinen Kopf. Mein Schädel platzt gleich.
 

„Sasuke… bitte…“, fleht er mich leise an. Er ist verzweifelt, aber ich weiß keine Antwort. Außer der vom Weihnachten. Was soll ich jetzt sagen?! Was soll das nur sein?! Ich zögere.

„Es tut mir leid, aber ich weiß nicht genau, was ich zu dir fühle.“
 

Die Worte sind gefallen.
 

„Oh… das hat jetzt mächtig weh getan“, wispert er. Sein Blick wird trübe und sein Kopf fällt passiv auf meine Schulter. Er wird vom nächsten Heulanfall überwältigt. Daraufhin bekomme ich ein dringendes Bedürfnis, mich sofort zu rechtfertigen, und breche in einem Wortschwall aus:

„Du bist auf jeden Fall nicht mein Wegwerfspielzeug! Verdammt, du bist an sich kein Spielzeug, okay! Das warst du für mich nie! Ja, gut, am Anfang warst du tatsächlich jemand, mit dem ich zwischendurch Spaß haben konnte, mehr nicht! Aber selbst dann warst du ein Mensch mit einem gewissen markanten Charakter und nie nur ein Vergnügswerkzeug, verstanden?! Darüber hinaus warst du immer — und ich wiederhole es explizit — IMMER einer der wertvollsten Mitarbeiter, die ich je beschäftigen durfte! Mittlerweile verstehe ich auch, dass du neben all dem ein wunderschöner Mensch bist, und Gott sei Dank ist es so weit! Dafür ich war bis zum bitteren Ende absichtlich blind, damit du mir eben nicht wichtiger wirst, als jemand, mit dem ich gelegentlich Spaß haben kann! Das hat aber sowas von nicht funktioniert und jetzt bist du mir überhaupt nicht egal, Naruto! Ich kümmere mich schon! Auf meine komplizierte Art eben! Nur kann ich dieses Kümmern nicht näher beschreiben! Ich verstehe es nicht wirklich! Es ist rätselhaft und einzigartig! So wie du es für mich bist! Ich weiß nicht, wo ich dich in meinem Kopf einordnen soll! Ich weiß nicht, was wir eigentlich sind oder warum wir immer noch in dieser komischen Beziehung stecken! Ich versteh nicht, warum mir dieser krasse Altersunterschied zwischen uns absolut nichts ausmacht! Ich hab keine Ahnung, was ich zu dir fühlen darf oder soll, und überhaupt meine jetzigen Gefühle dir gegenüber einzuordnen macht mich innerlich kaputt! Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich dich richtig unverschämt belüge! Tag für Tag! Naruto, ich kann dir keine normale Beziehung geben! Gott verdammt, ich bin verheiratet! Und trotzdem nehme ich dich jeden Tag richtig dreist mit aufs Hotel! Ich will ja mit dir Spaß haben!“ Ich hole tief Luft uns fahre fort: „Nur, geht es mittlerweile nicht nur um Spaß, Naruto… ich finde deine Gesellschaft so nett, dass ich lieber mit dir gemeinsam eine vertrocknete Pizza aus der Mikrowelle teile, anstatt alleine ins Büro zu bestellen! Du hast allgemeinen eine coole Art! Ich mag sie! Dass wir uns richtig fies necken können, oder dass du so lustig sein kannst! Deinen witzigen Arbeitsgeschichten höre ich sehr gerne zu! Ja, ich spioniere durch dich ein bisschen rum, wer wie viel arbeitet, wer produktiv ist, wer freitags früher unerlaubt nach Hause geht, wer wen nicht leiden kann und warum und so weiter, aber deine Erzählweise über den sonst so trüben Büroalltag finde ich echt unterhaltsam! Oder ich will manchmal am Ende des Tages einfach nur in deinen Armen liegen! Es ist richtig entspannend! Ich falle tot um und du fängst mich auf! Immer! Und dann machst du dein magisches Hellseher-Gedöns mit dem intuitiven Spüren und Puff! Die meisten Arbeitsprobleme sind dann doch nicht so schlimm, wie ich dachte! Vielleicht deswegen behandle ich dich irgendwie „netter“ oder „wie einen festen Freund“ oder „wie in einer echten Beziehung“ oder was weiß ich, was ich sonst noch mache, um dich mit Hoffnungen zu füttern, aber das ist eine traurige LÜGE! Nochmal, Naruto, ich werde niemals dein Freund sein! Niemals! Ich kann es einfach nicht, okay? Neben der Tatsache, dass ich verheiratet bin, stößt mich dieser Gedanke zutiefst ab und ich flüchte mental woanders! Ich kann mir eine normale Beziehung mit dir nicht einmal vorstellen! Ich hab’s versucht, glaub mir! Sogar mehrfach! Und jedes Mal ist irgendwas an der Konstellation so absolut unverkraftbar, dass ich den Gedanken sofort blutig sterben lassen muss! Ich meine, was soll das, ha?! Willst du so einen Partner haben?! Willst du jemanden, der den Gedanken mit dir fest zusammen zu sein abstoßend findet, hat aber damit kein Problem, dich jede Nacht mit aufs Hotel zu nehmen?! Willst du das wirklich?“ Ich gucke in seine Augen. „Sag mal, willst du mich ernsthaft so nehmen?“

„Ich liebe dich eben so“, spricht er heulend aus.

„Was?! Du willst einen Partner, den nur ein Gedanke an eine feste Beziehung mit dir anwidert?!“

„Nein, um Gottes willen! Das will doch niemand!“

„Und warum willst du mich dann?!“

„Weil ich dich liebe, verdammt noch mal!“, bricht er in einem neurotischen Schrei aus.

„Hast du mir gerade eben überhaupt nicht zugehört?!“, entgegne ich kräftig.

„Doch! Ich will dich trotzdem so! Ja, du kannst dir aktuell keine Beziehung mit mir vorstellen! Das kann ich absolut nachvollziehen! Dein Leben wird dadurch ganz anders! Aber deine Einstellung dem gegenüber wird sich bestimmt ändern!“

„Was labberst du da?!“

„Na, hättest du denn gewusst, dass du dich um mich so ernsthaft kümmern kannst?“

„Nein!“

„Siehst du?! Siehst du! Das mit der Beziehung wird genauso sein! Wir kriegen es bestimmt schrittweise hin! Es wird schon passen!“

„Und du glaubst wirklich daran, oder wie?!“

„Ja, verdammt! Ich liebe dich eben! Ich liebe dich einfach über alles, Sasuke! Was verstehst du denn daran nicht?!“

„Du bist absolut krank, Uzumaki!“ Ich knirsche mit den Zähnen und spucke diese Worte herablassend aus. Er schmeißt sich auf meine Brust und fährt heulend fort:

„Ich weiß! Aber was soll ich denn tun?! Ohne dich werde ich ganz kaputtgehen! Mit dir habe ich wenigstens eine Chance! Ich habe also eh nichts zu verlieren! Bleib doch einfach!“, fleht er mich verzweifelt an. „Und ich meine nicht nur für eine Nacht. Sondern für immer! Bleib bei mir, Sasuke! Bitte!“

„Du hast mich doch vorhin gehört! Ich kann nicht!“ Ich werde langsam wütend. Wir drehen uns im Kreis.

„Warum bist du denn so, ha?! Es ist doch so einfach! BLEIB BEI MIR! BITTE!“
 

Er haut mich auf die Brust, aber es tut überhaupt nicht weh. Er kann nicht mal die Hand zur Faust ballen, geschweige denn ordentlich zuschlagen. Sein Zustand ist mittlerweile ziemlich kritisch. Er bricht buchstäblich zusammen. Das ist sein geistiges Ende. Er prügelt schwach auf mich ein, sein Körper windet sich in einer wahnsinnigen Ekstase und er brüllt krankhaft immer wieder dieselben Worte.
 

Sasuke. Bleib bei mir. Bitte. Sonst gehe ich kaputt.
 

Ich schließe die Augen. Meine Systeme fahren abrupt runter und ich verliere mein Empfinden. Nichts verbleibt, außer dem pochenden Schmerzen irgendwo in meiner Brust. Seine Schreie erreichen mich nicht mehr. Ich bin taub. Er müsste irgendwie zur Ruhe kommen. Schritt 1: umarmen. Meine Arme legen sich reflexartig um ihn herum. Ein loses Programm zur Narutos Beruhigung wird richtig unpassend in Gang gebracht. Ich kann mich dem nicht widersetzen, obwohl ich gern würde. Ihn zu umarmen ist gerade überhaupt keine gute Idee. Und tatsächlich. Er wird dadurch weiter zur Weißglut getrieben. Er drückt sich unerwartet kräftig von mir ab und schreit mir ins Gesicht:
 

„Guck mich verdammt nochmal an!“ Ich befolge die Aufforderung und mache die Augen auf. Er packt mich schwächlich an den Schultern an. Seine Gestalt nimmt wieder diese dämonischen Züge an, jedoch diesmal ist sie weder majestätisch noch angsteinflößend. Diesmal wirkt er komplett verrückt und dadurch ist er äußerst bemitleidenswert. Er mobilisiert die allerletzten Kräfte und wird noch einmal richtig laut:
 

„Du sagst, du findest meine Gesellschaft nett! Du sagst, du magst meine Art! Du sagst, du willst nach einem anstrengenden Tag in meinen Armen liegen! Nicht in den von deiner Frau! IN MEINEN! Du hast gesagt, ich bin einzigartig! Du hast gesagt, du vertraust mir dein Selbst an! Das ist doch Liebe in höchster Form, Sasuke! Warum siehst du denn das nicht ein?! WARUM SIEHST DU DENN DAS NICHT EIN?!“
 

Ich geh noch tiefer in mich hinein. Ich stumpfe noch mehr ab. Meine Augen fallen zu. Ich verstecke mein Gesicht in seinen Locken und hänge mich auf seine Schulter. Das löst in ihm den allerletzten Wutausbruch aus:
 

„NEIN! NICHT ABSCHALTEN!!! SIEH MICH VERDAMMT NOCHMAL AN!“ Er versucht mich von sich wegzubewegen, aber er kann nicht. Er ist viel zu schwach. Seine Bewegungen sind unnötig hastig. Er verzettelt sich. Seine Stimme bricht. Er strapaziert sie trotzdem und sie reißt schmerzhaft: „OH, WARUM BIST DU JETZT SO, HA?! SIEH MICH AN! HÖR MIR ZU! SAG WAS! SPRICH DOCH ENDLICH! SASUKE!!!“
 

Ich kann nicht. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Sein Wortschwall stoppt. Er muss husten und tief Luft holen. Sein Atem ist schwer. Er will aus meinen Armen flüchten und windet sich wie eine sterbende Schlange. Nach einem mühseligen Kampf ist er aus dem Zwinger ausgebrochen. Und ich verbleibe ganz allein.
 

„VERSCHWINDE EINFACH! GEH! HAU AB!!! ICH WILL DICH NIE WIEDER SEHEN!!! NIE WIEDER!!!“
 

Das war’s für heute. Ein dumpfes Plumpsen ertönt. Er ist vor Erschöpfung umgefallen. Wie ein ausgebrannter Stern. Ich vergrabe mein Gesicht in die Knie und atme schwer. Seine Wohnung ist wirklich kalt. Die Chills gehen direkt unter meine Haut und mein Körper reagiert — ich zittere. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier so sitze. Ich hebe den Kopf hoch. Die Schlacht ist vorbei. Die Erde ist verbrannt. Es gibt keine Gewinner. Nur Zerstörung, Verzweiflung und einen endlosen schwarzen Leid. Naruto ist bewusstlos. Ich taste maschinell den Puls auf seinem Hals ab — er lebt noch. Wenigstens eine positive Nachricht. Nächste Sache: Ich hebe ihn mühsam hoch und trage ihn ins Bett rüber. Danach decke ich ihn zu. Keine Ahnung wieso. Mein Körper hat sich von alleine bewegt. Und jetzt ist der Plan alle. Was soll ich tun? Soll ich mir jetzt Sorgen machen, weil er so selten atmet? Keine Ahnung… soll ich einen Krankenwagen rufen? Keine Ahnung… soll ich gehen? Keine Ahnung. Soll ich noch ein wenig hier bleiben? Keine Ahnung! Ich weiß es nicht! Ich bin katastrophal überfordert! Hör auf! Hör bitte auf…
 

Ich sickere langsam auf den Boden. Mein Kopf pulsiert vom ganzen unverständlichen Wirr, der darin steckt.
 

Naruto. Sakura. Kinder. Betrug. Überstunden. Hotel. Weihnachten. Arbeit. Vorstand. Menmas Aufnahmeprüfung. Bleiben. Einzigartig. Bund. Mysteriös. Assistent. Meer. Augen. Liebesgeständnis. Vollständig. Vertrauen.
 

Naruto vollständig mein Selbst anvertrauen.
 

Ich breche leise zusammen. Sehr leise. Ich bin so abgestumpft, dass ich nichtmal ordentlich heulen kann. Als rudimentäres Empfinden verbleibt mir nur der akut stechende Schmerz in der Brust. Himmel, bitte lass es aufhören. Ich kann nicht mehr… ich möchte einfach nur etwas Ruhe…
 

Nach einer Weile verlasse ich sein Apartment. Keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, aber ich kann wieder einigermaßen klar denken. Zumindest gehorcht mir mein Körper und ich kriege einfache Abläufe wieder hin. Naruto und ich sind endgültig durch. Eigentlich sollte es befreiend sein, aber keine Ahnung. Keine Spur davon. Gar nichts. Nur dieser pochend glühender Schmerz. Ich gucke auf mein Handy. Fünf Uhr morgens und zu viele verpasste Anrufe von meiner Frau. Egal. Ich kläre das später. Jetzt sollte ich nach Hause. Ein großes nervig summendes Schild einer Bar springt mir aufdringlich ins Auge. Reingehen? Ne, keine gute Idee. Einfach weiter gehen und dann nach Hause fahren.
 

Plötzlich ploppt noch eine wütende Nachricht von Sakura auf. Ich lese sie mir durch und verspüre absolut null kümmern. Dann lass es halt brennen. Zur Hölle mit allem. Ich drehe mich um und gehe auf das nervig summende Schild zu. Na los, Sasuke, ertränke dich einfach im Alkohol! Sink noch tiefer! Ist doch egal! Es macht ja eh keinen Unterschied mehr. Na also…

Montag. 7 Uhr. Ich bin schon wieder im Büro. Und man, es geht mir überhaupt nicht gut. Das war ein echt heftiges Wochenende. Samstag früh habe ich eindeutig viel zu viel getrunken. Es war so viel, dass ich mehr als die Hälfte des Tages in einer Ausnüchterungszelle verbringen musste. Anscheinend wurde ich beklaut und in eine Schlägerei verwickelt. Deswegen musste die Polizei meine Personalien feststellen, aber das ging in meinem Zustand wohl gar nicht. Ich musste erst durchschlafen und dafür hat die liebe Polizeiwache sehr freundlich gesorgt. Anscheinend ist es alles halb so wild gewesen — ich bin als Außenstehender nur dazwischen geraten. Die Vernehmung war sehr kurz, da ich aufgrund von Alkoholvergiftung überhaupt keine Erinnerungen hatte. Als Zeuge war ich also unbrauchbar. Genau so wurde es auch aufgenommen. Schande. Ich wurde trotzdem gefragt, ob ich eine Anzeige erstatten möchte. So etwas steht einem unbrauchbaren Zeugen im Alkoholrausch tatsächlich zu, aber ich habe freundlich abgelegt. Es bringt gar nichts und ich habe kein Bock in eine solche Ermittlung verwickelt zu sein. Abends wurde ich endgültig entlassen. Dreckig, müde, ganz ohne Geld und Telefon ging ich an den einzigen Ort, der mir in diesem Zustand einfiel — das Hotel neben dem Büro. Die Dame am Empfang hat mich nicht sofort erkannt. Als sie soweit war, zeichnete sich auf ihrem sonst so gleichgültig freundlichen Gesicht abrupt ein unverfälschter Schrecken. Sie hat mir trotzdem kommentarlos ein Zimmer auf Rechnung vermietet. Für solch ein unfassbares Professionalismus bin ich ihr immer noch dankbar. Dann habe ich notdürftig geduscht und mich erstmal um die gestohlenen Kreditkarten, den verlorenen Firmenausweis und das weggekommene Betriebshandy gekümmert. Dafür habe ich leider Hashirama belästigen müssen. Er hat mein gesamtes fehlendes Firmenzeug an einem späten Samstagabend irgendwie in Auftrag geben können. Sonntag Mittag war auch tatsächlich alles zugestellt. Keine Ahnung, warum er sowas kann. Er ist immer erreichbar, gut gelaunt und findet sogar Zeit für dumme selbstverschuldete Probleme wie meine. Dabei schafft er trotzdem rund um die Uhr zu hundert Prozent zu liefern. Es ist irgendeine krasse schwarze Magie. Oder er hat's einfach drauf. Parallel dazu habe ich den Wäscheservice beauftragt. Gott sei Dank gab es sowas direkt vor Ort. Ich musste alles abgeben, was ich an mir hatte. Jedes Kleidungsstück war äußerst eklig. Übrigens, in diesem Hotel kann man sogar Ersatzwäsche kaufen. Davon habe ich ebenfalls Gebrauch gemacht. Keine Ahnung, warum sie diesen göttlichen Service anbieten. Auch dafür war ich den Hoteliers sehr dankbar. Eventuell schlafen hier viele Firmenchefs direkt nach einer Ausnüchterungszelle. Das Hotel ist ja nicht so weit von der Polizeiwache. Vielleicht war das die Inspirationsquelle, wer weiß. Zum Abschluss von diesem schrecklichen Tag fiel ich in die Badewanne und verbrachte dort eine gute Stunde. Es tat so gut! Mein Körper hat nach diesem Schlamassel nach Entspannung verlangt. Am Sonntag kamen mein Firmenbadge und ein neues Smartphone an. Ich durfte sogar meine alte Rufnummer behalten. Somit ist es offiziell: Hashirama Senju ist ein dunkler Magier. Mit dem neuen Telefon konnte ich mich erstmals seit Freitag bei meiner mittlerweile sehr wütenden Frau melden. Wir haben einen langen dreistündigen Telefonat geführt. Kurz zusammengefasst: Sie findet mich unausstehlich und will eine Scheidung. Nach der Freitag-Samstag Aktion war das keine große Überraschung. Aber hey! Ich konnte sie doch noch überzeugen, mir die allerletzte Chance zu geben. Dabei bin ich furchtbar zusammengebrochen — mein Empfinden kam kurzzeitig wieder. Aber: sobald sie mich nur ein bisschen Kacke findet, war’s das mit uns wirklich. Fair genug. Wir haben uns also sowas wie vertragen. Wenn ein Vertragen in diesem Zustand überhaupt noch möglich ist. Daraufhin hatte ich den nächsten langen Telefonat geführt. Schon wieder musste ich Hashirama belästigen, denn ich habe Sakura heulend ins Telefon versprochen, meine Pflichten als Abteilungsleiter der IT-Sicherheit abzugeben. Ich kann leider keine 70 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten und dabei wie ein ausgeglichener Mensch funktionieren. Das Verzichten auf diese Aufgabe würde mir wöchentlich 10 bis 15 Stunden Arbeitsaufwand ersparen. Hashirama war darüber nicht besonders begeistert, aber ich glaube, er hat mitbekommen, dass mein Leben still den Bach runtergeht. Deswegen hat er mir den Wunsch dennoch gegönnt. Heute Nachmittag wird es dazu eine formale Abwicklung geben. Das rechtliche Wochenende verbrachte ich in absoluter Stille und liegend auf dem Bett. Ich war körperlich völlig am Ende und geistig absolut nicht beisammen. Ich bin es eigentlich immer noch. Mein Empfinden ist seit dem Gespräch mit Sakura nicht erneut zurückgekehrt. Nur dieser stechende Schmerz irgendwo in der Brust. Am Samstag und Sonntag Nachmittag ließ er sich ganz gut ausblenden. Jedoch abends, als ich allein in völliger Stille die Decke anstarrte, kam er ums hundertfache verstärkt zurück. Etwas ist in mir furchtbar kaputtgegangen und ich durfte mir zwischen den lautlosen Krampfanfällen darüber Gedanken machen. Ich habe es nicht rausfinden können. Jetzt schleppe ich all das ins Büro mit. Narutos Worte echoen lautstark in meinem Kopf und entführen jeden Gedanken, den ich sonst hätte.
 

Ich bin dein Wegwerfspielzeug. Du behandelst mich wie Dreck. Als ob du dich kümmerst. Niemand kann die Liebe zu dir auf lange Sicht aushalten. Sakura hätte längst in einer mentalen Anstalt landen müssen. Du bist unnett. Du lässt niemanden an dich ran. Du verreckst allein. Du bist schwierig. Ich liebe dich trotzdem so.
 

Ich habe mich noch nie mit jemanden auf so eine mysteriöse Art verbunden gefühlt.
 

Mir entweicht ein schwerer Seufzer und ich starre teilnahmslos meinen Terminkalender an. Drei anstrengende Besprechungen, zwei lange Ratssitzungen und vier langweilige Telefonkonferenzen… dann muss ich noch zum HR wegen „kein Abteilungsleiter mehr“. Dann gibt es noch zwischendurch ein Haufen dummer Emails, kurze unpassend zwischengeschobene Telefonate und nerviges „Uchiha-san, könnten Sie bitte dringend blablabla“. Und dann fahre ich nach Hause. Ganze zwei Stunden und zwanzig Minuten im Zug verschwenden. Ich hasse es, zu pendeln. Besonders unter der Woche. Die Züge sind voll. Alle sind gestresst. Man kriegt kaum Luft. Aber ich habe es Sakura versprochen. Ich muss da sein. Für sie, für mich und für unsere Ehe. Es ist verdammt wichtig. Mir ist es verdammt wichtig. Wir werden bestimmt nochmal übers vergangene Wochenende reden müssen. Und morgen muss ich schon wieder um 4:40 im Zug sitzen. Keine Lust einfach. Der Tag hat nicht mal richtig begonnen, aber ich fühle mich schon jetzt ausgebrannt, erschöpft und überfordert. Und der vergangene Freitag lässt grüßen… ich senke meinen Kopf auf die Tischplatte und merke, wie der Himmel über mich einstürzt. Ich seufze.
 

In den vergangenen Jahren verlor langsam Kontrolle über mein Leben. Das wollte ich partout nicht zugeben. Und nun ist es passiert: Letzten Freitag war das letzte Bisschen davon weg. Himmel, kann das bitte wieder wie früher werden?
 

Ich gucke hoffnungsvoll die Decke an. Keine Antwort. Natürlich.
 

Wenn man die Situation realistisch betrachtet, dann ist es eher unwahrscheinlich. Wenn man so dumm ist, wie ich, dann hofft man auf das Beste. Mein Blick schweift auf die Uhr. 7:20. In zehn Minuten fängt die erste Besprechung an. Es geht um einen Unternehmenskauf und ich muss alle über deren IT-Infrastruktur aufklären. Basierend darauf werden wichtige Entscheidungen getroffen. Und ich liege seit 20 Minuten auf dem Tisch und philosophiere über mein zerbrochenes Leben.
 

Ich bin ein peinlicher Versager.
 

Ach, komm, Sasuke, hör auf zu jammern! Steh auf! Mach dir erstmal einen doppelten Espresso. Es hilft doch immer, oder?
 

Ich bewege mich wie eine alte schwere Maschine zum Kaffeeautomaten. Die Kapsel stopfe ich so fest, dass sie praktisch luftdicht ist. Ich drücke den Knopf — der Automat knurrt und überall breitet sich intensives bitteres Kaffeegeruch. Ich atme tief ein. Angenehm… der Automat stoppt — mein Kaffee ist fertig. Ich exe diese bittere dickflüssige teerähnliche Substanz in einem Zug. Heiß. Ich habe mich verbrannt, aber es tut gut. Wenigstens nehme ich physischen Schmerz wahr und das ist erfreulich. Meine Zunge kribbelt. 7:25. Ich müsste rüber. Okay. Und die Unterlagen? Hier. Na dann los. Im Vorbeigehen grinse ich kurz mein Spiegelbild an. Dumme Angewohnheit!
 

Und bei all dem bist du eine schrecklich unnette Person…
 

Bei diesem Gedanken muss ich automatisch wieder grinsen. Diesmal wirkt das Lächeln etwas echter. Bin ich wirklich so schrecklich unnett? Keine Ahnung, darüber kann ich später nachdenken. Jetzt muss ich los.
 

***
 

Es waren anstrengende drei Stunden. Obwohl ich nur Brei im Kopf habe, verlief die Besprechung trotzdem insgesamt gut. Mein Auftritt war nicht so ganz daneben, die übrigen Vorträge waren sehr interessant, es wurde lebhaft diskutiert, aber nicht zu lebhaft. Die schöne Arbeitsatmosphäre hätte mich fast mitgerissen. Jetzt bin ich raus und der vergangene Freitag lässt nun wieder grüßen.
 

Ich vertraue Naruto mein Selbst vollständig an.
 

Man, ich habe es ernsthaft so formuliert, obwohl es technisch gesehen nicht einmal stimmt. Es gibt Teile meiner Biografie, die ich Naruto eben nie anvertraut habe. Wenn man danach geht, dann sollte Sakura mit diesem Titel gekrönt werden. Sie kennt nämlich meine gesamte Geschichte. Dass meine Eltern und mein älterer Bruder praktisch vor meinen Augen geköpft wurden, als ich fünf war; dass ich danach bei meinen Großeltern unterkam, und dass mich deren Tod im Alter von zwölf sehr hart getroffen hat; dass mein Onkel, bei dem ich im Anschluss gewohnt habe, mich ziemlich schlimm misshandelt hat. Sakura weiß das alles. Tatsächlich hat sie mich damals aus diesem Verhältnis sowas wie gerettet. Ihre Eltern haben mich als Pflegekind aufgenommen und erst dann habe ich verstanden, dass alles davor ein übelst verrücktes Irrenhaus war. Bei den Harunos konnte ich endlich wie ein normaler Jugendlicher existieren und dafür würde ich bis zum heutigen Tage für sie sterben. Sie haben mir zurück ins geregelte Leben verholfen. Vieles davon war Sakuras ganz persönliche Leistung. Eigentlich ist sie der Hauptgrund für meine halbwegs intakte geistige Gesundheit. Sie hat mir die Wichtigkeit von Freundschaft, guten Beziehungen und Kümmern vermittelt. Und dann ist sie zu meiner Freundin geworden. Die Anfangszeit unserer Beziehung war sehr aufregend. Wir waren ja sowas wie Bruder und Schwester und trotzdem haben wir heimlich unter einer Decke geschlafen. Als ich nachts in ihr Zimmer schlich, fühlte ich mich permanent wie Protagonist eines sehr kitschigen Liebesdramas. Wir dachten, unsere Beziehung wäre übelst verboten. Aber das war nicht so. Wir mussten im Grunde nur ein ernsthaftes Gespräch mit ihren Eltern führen. Am Ende haben sie uns gesegnet. Die Auflösung des Dramas war also doch ziemlich unspannend. Ab da an entstand in meinem Kopf ein Wir. Es mag vielleicht viel zu klischeehaft klingen, aber dieses Gefühl irgendwo dazuzugehören und einen Anschluss zu finden hat sich fest in mein Gehirn eingebrannt. Und genau das ist für mich Liebe. Mit Naruto ist es schon anders. Zu ihm empfinde ich nicht dasse…
 

„Uchiha-san, darf ich Sie bitte kurz stören?“ Ich werde gewaltsam aus meiner Tagträumerei ausgerissen. Das ist Yamanaka-san aus HR. Stimmt, ich müsste ja eh noch dahin. Gut, dass sie gleich selbst vorbeikommt. Was für ein Service!

„Ja?“ Ich hebe den Kopf hoch und bemerke, dass sie mich leicht ängstlich anschaut.
 

Die Normalsterblichen schreibst du einfach gleich ab. Die sind für dich eine Null.
 

Stimmt das wirklich? Ich gucke nochmal in Yamanakas dunkelgrüne Augen. Ja, sie ist sehr angespannt und ich vermute, es liegt an meiner Gegenwart. Hmmm, sie ist hier seit gut zwei Jahren beschäftigt und dieser Blick ist mir noch nie aufgefallen. Muss ich Naruto etwa doch zustimmen?
 

„Kommen Sie rein“, bitte ich sie verpeilt und sie geht ein paar Schritte auf meinen Tisch zu. Ein kurzes Bling ertönt. Oh, endlich ist die Einladung zur nächsten Telefonkonferenz da! Ich muss kurz… so, akzeptiert! Sehr schön! Ich nehme den Blick vom Bildschirm weg. Yamanaka steht immer noch hilflos vor meinem Schreibtisch. Man, irritiert mich sowas! Ino, du bist eigentlich erwachsen und du kannst dich auch selbst hinsetzten! Aber ne, wir brauchen ja eine Extraeinladung… ich versuche trotz meiner Anspannung freundlich zu klingen: „Bitte setzen Sie sich. Also, worum geht‘s?“

„Ähm…“, fangt sie unsicher an. „Ich habe die Unterlagen für die Beendigung gebracht…“ Hn, Beendigung? Ino, dieser Vorgang heißt nicht so. Anscheinend habe ich sie instinktiv mit einem sehr bösen Blick beworfen, denn sie lacht rechtfertigend: „Ich meinte die Befreiung von Pflichten… also… Pflichten eines Abteilungsleiters.“

Ich rolle innerlich die Augen. Wir sollten die Unterhaltung möglichst kurz halten: „Geben Sie mir bitte die Papiere.“

Sie reicht mir einen dünnen Stapel. Ich überfliege das Dokument. Hmmm, wenn sie es vorbereitet hat, dann ist es ziemlich okay. Sie hat sich kein einziges Mal verschrieben, es ist die richtige Form und es gibt zwei Kopien. Kein Scherz, solche Fehler passieren hier wirklich viel zu oft. Vielleicht ist sie doch nicht so unfähig, wie sie rüberkommt? Wer weiß das schon? Sie fangt wieder an: „Unterschreiben Sie…“

„Ich weiß“, unterbreche ich und es wird still. Mein Kugelschreiber kritzelt über das Blatt. So, fertig.

„Sie kriegen das zweite Exemplar per Hauspost und dann…“ Ihr Blick geht nach unten und sie verstummt. Diese Frau hat tatsächlich die Hälfte des Satzes verloren. Irgendjemand hat gesagt, dass sich die Gehirnzellen nach dem fünften Bleaching langsam absterben. Ob das stimmt? Wenn man Yamanaka anguckt… hmmm… ich will darüber keinen Urteil fällen. „Ähm… vielleicht wollen Sie auch wissen, dass sich Uzumaki-kun für die ganze Woche krankgemeldet hat.“
 

Jetzt werde ich regelrecht wütend. Vielleicht wollen Sie es wissen. Ey, kommt sie etwa selbst nicht drauf?! Mein Assistent fällt für eine ganze Woche aus und sie erwähnt es so nebenbei. Nein, Ino, es interessiert mich überhaupt nicht! Die Verwaltung regelt sich ja von alleine! Ich atme sehr tief durch. Komm, Sasuke, nicht sauer werden. Sie hat überhaupt nicht verdient, dass du an ihr deinen ganzen Frust auslässt. Entspann dich… Ich schließe kurz die Augen und versuche meinen Frust unter Kontrolle zu halten.
 

„Hat er schon eine Krankschreibung nachgereicht?“, frage ich mit etwas weniger Nachdruck.

„Nein, er hat sich kurz vom Dienstbeginn gemeldet… also, erst vor einer Stunde.“

„Gut, dann passen Sie auf, dass er eine nachreicht, okay?“ Ich gucke sie direkt an und sie zuckt leicht:

„Ja, Uchiha-san.“

„Würden Sie mir bitte Bescheid geben, wenn es soweit ist?“

„Kann ich machen, ja.“

„Vielen Dank.“ Ich schiebe die unterschriebene Papiere zu ihr zurück.

„Ich danke Ihnen.“
 

Sie schnappt sich die Papiere und verlässt hastig mein Büro. Naruto hatte wirklich recht. Ich bin schrecklich unnet. Diese Tatsache wird durch meinen jetzigen körperlichen Zustand nur verschlimmert. Oh man… dieses Thema hatte ich schon tausend mal mit Sakura durch. Als sie mich kennengelernt hat, war ich ihrer Meinung nach absolut unausstehlich und jetzt kommt diese Ansage zurück. Ich werde anscheinend rückfällig. Verdammt, das ist gar nicht gut… ich seufze. Na gut, darüber werde ich später nachdenken. Ich muss ins nächste Meeting.

Seit dem Trennungsfreitag sind ganze vier Wochen vergangen. Mein Dasein hat sich seitdem stark verändert. Ich betreibe einen ausdauernden Balanceakt zwischen dem Job, der Familie, dem täglichen Pendeln und der neuen Assistentin und es macht mich richtig fertig. Ich versage auf allen vier Fronten. Es liegt größtenteils daran, dass ich aktuell sowohl geistig als auch körperlich in einer sehr üblen Verfassung bin. Letzter Zeit belastet mich der Alltag auf einmal ungewöhnlich stark. Einfache Dinge sind ganz plötzlich fast untragbar. Der berufliche Pendelverkehr — Überlebenskampf. Geschäftliche Kommunikation — Daueraufreger. Ich kann nicht mal vernünftig die Dokumentation lesen. Jeder Satz ist eine Schlacht. Jeder Paragraph kostet enorm viel Überwindung. Jede Seite überfordert. Mein Blick schweift eine halbe Stunde lang über die schwarzen Buchstaben auf dem weißen Hintergrund und im Nachhinein bleibt davon Null hängen. Dann lese ich den Text nochmal. Mit dem Schreiben ist es genauso. Meine Gedanken sind ein Glibber aus Selbsthass, juristischen Texten, Spezifikationsdokumenten, Ärgernissen über meine Angestellten und Naruto. Nur sehr wenig davon kann ernsthaft auf Papier gebracht werden. Meine produktive Leistung hat ihr historisches Tief erreicht. Obwohl ich weniger Aufgaben habe, muss ich mehr arbeiten als sonst, weil ich so verdammt unproduktiv bin. So hat sich die Stundenreduktion auf die Anzahl meiner Arbeitsstunden überhaupt nicht ausgewirkt. Nebenbei muss ich mich um meine blutende kranke Verwaltung kümmern. Hinata, die Vertretung von Naruto, schafft es einfach nicht, also muss man zwischendurch jemanden anlernen. Das kann mein Nervensystem gerade noch so verkraften. Tagsüber mache ich Hinata richtig fertig und abends plagen mich deswegen schmerzhafte Gewissensbisse. Das ist nicht okay. Hinata kann nichts dafür, dass mein Leben gerade unaufhaltsam entgleist. Allgemein ist das alles überhaupt nicht okay. Den Arbeitsstress schleppe ich in seinem schlimmsten Ausmaße mit nach Hause und lasse es manchmal an meinen Lieben aus. Jeder solche Ausrutscher spornt meinen Selbsthass an. In diesem nicht funktionierenden Zustand möchte ich mich meiner Familie am liebsten nicht stellen. Da ich letzter Zeit eh sehr unproduktiv bin, lädt mich diese ganze Situation ein, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen und damit ins Arbeitszimmer zu verkriechen. Die einzige Sache, die zuverlässig klappt. Keine Ahnung, wie lange all das noch gut geht. Aktuell läuft es irgendwie und in diesen chaotischen Umständen ist es das einzige, was zählt. Dabei müsste ich eigentlich rausfinden, was jetzt konkret zu tun ist, um diese wackelige Situation zu verbessern. Leider bin ich überhaupt nicht in Verfassung, mich mit sowas Grundlegendem zu beschäftigen. Zurzeit bin ich froh, wenn ich einen weiteren Tag heil überstanden habe. Nicht gerade eine Glanzleistung.
 

Dadurch, dass ich seit vier Wochen Hinata anlernen muss, habe ich mich oft an Narutos Anfang erinnert. Ich kann allgemein nicht aufhören, Hinata mit Naruto zu vergleichen. Oberflächlich sind sie sich sehr ähnlich: beide 23, beide auf ihre Art unerfahren, beide nicht weit von der Uni entfernt. Hinata hat erst dieses Jahr ihr Abschluss gemacht und bei Naruto steht es noch aus. Aber eigentlich sind sie sehr verschieden. Sie ticken ganz anders. Hinata ist ruhig und besonnen, Naruto ist turbulent und energisch. Hinata hat etwas Erfahrung, dadurch ist es nicht so schmerzhaft, ihr beim Arbeiten zuzugucken. Bei Naruto war es richtig schmerzhaft. Als er hier angefangen hat, hatte er überhaupt keine Ahnung. Nichts. Null. Er hat nichts auf die Reihe gekriegt. Dabei war er unverschämt von sich überzeugt. Ich weiß nicht genau, was mich davon abgehalten hat, ihn gleich am Anfang loszuwerden. Vielleicht lag es daran, dass Naruto mich nie ernsthaft genervt hat. Im Gegensatz zu meinen anderen Angestellten fand ich den Typen und seine dämliche Ahnungslosigkeit eher belustigend. Nichtmal dann konnte er mich ernsthaft zur Weißglut bringen, als er mir in seiner ersten Arbeitswoche beweisen wollte, dass er tatsächlich besser wüsste, wie man bestimmte Unterlagen vorbereitet. Ich habe ihn da ziemlich hart zurechtgewiesen. Manche würden es sogar „fertig gemacht“ nennen. Seitdem passierten solche Zurechtweisungen ziemlich oft. Da kam seine Einzigartigkeit ins Spiel. Er ist ganz anders damit umgegangen, als alle Assistenten zuvor. Obwohl er schmerzhaft auf die Nase fiel, hat er währenddessen nie vergessen, für sich zu denken. Er lernte dabei sogar rasch dazu und nahm es nie persönlich. Deswegen wurden seine Antworten immer schlagfertiger. In den letzten Jahren ist mir sowas sehr selten begegnet, erst recht nicht unter meinen unzähligen Assistenten. Sie gingen streng nach dem Lehrbuch vor. Bloß keine Fehler machen. Naruto handelte vom Tag eins eher umgekehrt. Nichts mit Lehrbuch. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war es etwas unverantwortlich von mir, ihn einfach machen zu lassen. Aber es war genau das richtige. Ich weiß nicht, warum ich da keine Bedenken hatte. Dafür gab es eigentlich keinen Grund. Das habe ich einfach so aus dem Bauch heraus entschieden. Außerdem war es eine echte Freude, einen jungen Kollegen anzulernen, der so einen lebhaften Intellekt und so eine unverfälschte Leidenschaft so authentisch in sich vereinte. Darüber hinaus ist er unglaublich frech. Er traut sich Sachen, aber er macht es sehr elegant. Dafür besitzt er ein unglaublich starkes inneres Gespür. Auch ganz am Anfang war er provokant, aber er wusste exakt, wann es zu viel wurde. Deswegen kann er zum Beispiel meine Geschäftspartner spielerisch in meinem Terminkalender herumschieben. Die Beherrschung dieser Kunst steht seinem Charakter unglaublich gut. Vielleicht ein bisschen zu gut. Diese Frechheit hat mich von Anfang an extrem gereizt. Es war unglaublich spannend seinem unaufhaltsamen Fortschritt zuzugucken. Ich wollte immer wissen, was er sich als Nächstes traut, und ob es Probleme macht. Kein einziges Mal wurde er dabei aufgehalten. Er kann eben sehr geschickt ums extrem trübe Geschäftliche herumtänzeln. Und so verwandelte es sich in ein Spiel: ich stellte ihm eine unmögliche Aufgabe und er lieferte eine brillante Lösung. Es war erfrischend, fluffig und intellektuell sehr stimulierend. Mit so einer Assistenz brachte die Arbeit auf einmal deutlich mehr Freude. Es führte schlussendlich dazu, dass er sich eines Abends getraut hat, seinen verheirateten Chef zu küssen. Wie gesagt, er wurde kein einziges Mal aufgrund seiner Frechheit aufgehalten. Dann wurde es zwischen uns etwas verzwickter. Tja… was anfangs als ein belangloses fluffiges Spiel anfing, endete so bitter, dass er seit vier Wochen wegen einer akuten Belastungsstörung krankgeschrieben ist. Jedes Mal, wenn ich daran denke, verspüre ich diesen stechenden Schmerz in der Brust. Jetzt auch.
 

Naruto, ich hoffe, dir geht es entsprechend den Umständen gut. Hoffentlich sieht dein Kühlschrank nicht so trist aus, wie ich ihn vor vier Wochen vorgefunden habe, und hoffentlich ist deine Wohnung nicht mehr so unangenehm chillig. Bitte erhole dich gut. Es ist wichtig, dass du gesund wirst.
 

„Uchiha-san, entschuldigen Sie… ich habe ein paar Fragen…“ Hinata steht in meiner Tür. Und schon wieder versteht sie irgendwas nicht. Sasuke, nicht verzweifeln! Sie lernt ja dazu, nur eben sehr langsam. Dass Naruto nach vier Wochen fast alle Aufgaben allein erledigen konnte, ist kein Maßstab für alle.

„Na dann zeig mal her“, lasse ich begeisterungslos ab. Sie reicht mir die Papiere. Oh ne, nicht schon wieder das! Dieses Prozedere erkläre ich ihr schon zum dritten Mal und zum dritten Mal wirkt sie so, als wäre diese Info ganz neu. Ja, sie ist eindeutig verwirrt. Mal wieder. Ich seufze.

„Hinata, wenn du es dir nicht merken kannst, schreib es bitte auf“, lasse ich besiegt aus. „Du hast mir schon drei Mal fast dieselben Fragen zum einen Vorgang gestellt und so langsam müsstest du es rauskriegen. Komm, setz dich hin. Hier, nimm den Bleistift und schreib die Erklärungen direkt hier am Rand, okay?“ Ich zeige im Text auf eine entsprechende Stelle aber sie zögert. Man, Hinata! Beschmiere endlich das blöde Blatt! Ich halte einmal inne. Bloß nicht genervt klingen. Es ist nicht ihre Schuld. Ich lasse nach einer kurzen Pause hoffnungslos aus: „Warum schreibst du denn nichts auf?“

„Dies ist die einzige Kopie…“, wendet sie zögerlich ein.

„Na dann machst du dir halt ne neue!“ Mein Gott, warum stellt sie sich so dumm an, ha?! Sasuke, entspannt bleiben! Ich atme durch. „Diese kannst du gerne als Muster behalten.“ Okay, ich habe den Satz nicht allzu abwertend ausgesprochen. Gut.

„Stimmt… Sie haben natürlich völlig recht…“, lässt sie beschämt ab.

„Gut, dann lass uns das Dokument noch ein letztes Mal durchgehen. Du fragst bitte gleich alles nach, was du nicht verstehst. Ich hätte gerne, dass du nach diesem Gespräch so eine Art von Verträgen selbstständig vorbeireiten kannst, okay?“
 

Sie hat nur kurz genickt und jetzt gehen wir die 32-seitige Form zusammen Stück für Stück durch. Ich fühle mich wie ein Babysitter und es ist extrem belastend. Ich habe nichts gegen Unerfahrene, aber sie müssen schon mitdenken können. Und Hinata ist… naja… sie ist eben kein Überflieger. Eher das Gegenteil. Ich werde furchtbar ungeduldig, wenn jemand etwas nicht versteht. Wenn die Person dieselben Fehler nach dreifachem Erklären macht, bildet sich in meinem Inneren ein riesiges Geschwür, das in jeder Sekunde platzen kann. Naruto hatte diesbezüglich schon irgendwo recht. Ich komme hauptsächlich mit Leuten klar, die genauso schnell denken, wie ich selbst.
 

Nun sind wir fertig und sie ist weg. Sie hat behauptet, alles verstanden zu haben. Sie hat gemeint, sie könne sich ab jetzt um diese Art Verträge alleine kümmern. Ich muss nachher trotzdem unbedingt drüber gucken. Keine Ahnung, was sie da wirklich anstellt. Aber es ist schon okay, dass sie dreimal nachfragt. Sie hat es ja nötig. Es ist eigentlich sehr vernünftig sogar hundertmal dieselbe Frage zu stellen, falls sie etwas nicht versteht. In diesen Dokumenten werden millionenschwere Geldsummen freigegeben. Da können wir uns keinen Fehler leisten. Mich nervt es trotzdem tierisch. Noch schlimmer nervt mich, dass Hinata überhaupt nicht Naruto ist. Ich wünsche es so gern…
 

Naru, ohne dich geht es meiner Verwaltung überhaupt nicht gut. Sie ist verkrüppelt und sie verblutet innerlich. Sie wird von dieser Neuen auf eine grausame Art zerpflückt, verunstaltet und kaputtgemacht. Niemand kann mit ihr so gut umgehen, wie du. Du fehlst ihr jeden Tag. Ohne dich kann sie nicht vernünftig funktionieren. Aber ich muss mich gefälligst damit abfinden. Du wirst sicherlich schon sehr bald gehen. Nur dummerweise bin ich darauf überhaupt nicht vorbereitet.
 

***
 

„Komm ins Bett“
 

Eine Kurznachricht erscheint auf meinem Handy. Es ist schon 12:18. Es ist schon wieder morgen. Ich muss in knapp vier Stunden im Zug sitzen. Sakura hat recht, ich muss ins Bett.
 

Ich sammle meine Unterlagen zusammen und packte sie in die Tasche. Bloß nicht diesen unfertigen Müll vergessen. Es ist wichtig oder so. Morgen muss ich daran basteln — vorzugsweise im Zug — und dann gebe ich den fertigen Müll ab. Letzter Zeit ist alles, was ich produziere, zutiefst abschreckend. Egal. Wenn Kakashi es mir so abnimmt, dann ist er damit wohl einverstanden. Wenn nicht, dass mach ich es nochmal. Was soll’s…
 

„Sorry, dass ich mich schon wieder im Arbeitszimmer einschließe“, werfe ich begeisterungslos meiner Frau zu und lege mich zu ihr.

„Hör auf damit. Du arbeitest dich kaputt und ich weiß, dass es dir bewusst ist.“ Ich sage nichts dazu und sie fährt fort: „Du warst schonmal an diesem Punkt. Willst du wieder ein halbes Jahr im Krankenhaus verbringen?“

„Nicht wirklich…“

„Dann hör auf damit.“
 

Wir schweigen einander an und diese Stille ist zutiefst peinlich. Ich ergreife die Initiative und mache das Licht aus. So lässt sich die erdrückende Atmosphäre in diesem Raum fast verkraften. Ihre Arme legen sich um mich herum und sie lässt einen schweren Seufzer ab. Somit hat sie alles gesagt, was ich wissen muss.
 

Sie ist sich nicht sicher, ob ich sie überhaupt liebe. Wenn ich so viel arbeite, zweifelt sie daran, dass ich unsere Lage ernsthaft ändern möchte, und es treibt sie in Verzweiflung. Ich verletze sie und sie weiß nicht, wie lange sie es noch aushalten kann. Sie schmiegt sich schutzbedürftig an mich heran und ich verspüre dabei nichts. Es macht mir Angst. Es soll nicht so! Ich erwidere ihre Umarmung und drücke sie fester an mich heran in der Hoffnung, dass mein Empfinden zurückkommt, aber nein. Ich bin für ihren Schmerz absolut taub. Scheiße, was ist das?! Warum spüre ich nichts?! Sie ist doch meine Frau und es geht ihr nicht gut! Warum kann ich es nicht nachempfinden?! Warum kümmere ich mich nicht endlich darum, was wirklich wichtig sein sollte?! Was ist los mit mir?! Warum kann ich wieder nicht normal sein?!
 

„Sakura, ich kann nicht mehr“, entweicht mir schwach. Sie sieht zu mir auf. In ihren großen smaragdgrünen Augen sehe ich ein schreckliches Leid. „Bitte mache, dass es weggeht. Bitte hilf mir… bitte fix mich irgendwie… ich bin völlig kaputt.“
 

Sie lächelt mich schwach an. In ihren großen Augen geht ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. Und dann gibt sie mir einen „Gute Nacht“ Kuss und ich vergesse mich völlig in einem hohlen narkotisierenden Schlaf.

Am darauffolgenden Tag haben Sakura und ich uns seit langem so richtig ernst über unsere Ehe unterhalten. Dabei kam nichts neues raus: Wir sind schrecklich kaputt. Mittlerweile sieht es so aus, als würden wir mit den momentanen Problemen nicht allein fertig. Deswegen machen wir seit knapp vier Wochen eine Paartherapie. Ich hatte bereits acht Sitzungen. Wir werden getrennt beraten, weil es in unserem Fall angeblich besser sein soll. Allerdings ist nicht klar für wen genau. Die Abrechnung folgt natürlich pro Sitzung, also schön doppelt. Allgemein verwirrt mich dieses ganze Konstrukt. Anscheinend ist das ultimative Ziel, dass Sakura und ich wieder verstehen, was wir von unserer Ehe wollen. Das klingt an sich sehr sinnvoll. Nur merke ich überhaupt nichts davon, dass die vergangenen Sitzungen mich tatsächlich zu diesem Ziel näher bringen. Ich sehe da kein logisches Fortschreiten. Wir springen von einem Thema zum nächsten. Eins davon war zum Beispiel meine Kindheit. Ich habe mich geweigert, darüber zu sprechen. Warum soll das, was vor 38 Jahren geschah, für meine momentanen Eheprobleme relevant sein? Außerdem sind meine Sitzungen nicht so ganz vertraulich, denn Sakura hat mich eines Abends gebeten, meine Familiengeschichte der Therapeutin doch noch offenzulegen. Das fand ich ehrlicherweise nicht so berauschend. Sakura zu liebe ging ich der Bitte nach. Danach wurde das mit meiner Kindheit sehr schnell uninteressant. Bis jetzt kam es nicht erneut auf. Ich warte immer noch darauf, ja? Wie gesagt, ich verstehe es nicht. Allerdings wurde mir durch die Therapie eine Sache klar: Ich kann nicht über meine Gefühle sprechen. Nicht, weil es mir besonders peinlich ist — wobei das auch eine gewisse Rolle spielt — sondern weil es mir unglaublich schwerfällt, meinen seelischen Zustand korrekt zu beurteilen, den Urteil präzise in Worte zu fassen und die Zusammenfassung einer anderen Person vorzutragen. Diese Tatsache fand ich irgendwie interessant.
 

In der Zwischenzeit ist Naruto zurück ins Büro. Seit drei Wochen schon. An seinem ersten Tag erwartete eine kleine Überraschung auf mich. Zwischen der übrigen Post lag eine unscheinbare Kündigung. Ich habe sie umgehend unterschrieben und dann wanderte sie genauso unscheinbar dorthin zurück, wo sie herkam, und dann wurde sie relativ schnell von HR genehmigt. Er verbringt also die letzten anderthalb Monate hier. Drei Monate Kündigungsfrist minus Überstunden und Urlaub. Danach gehen wir endgültig getrennte Wege. Ich kann diesen Tag kaum erwarten, denn die Stimmung zwischen uns ist wie erwartet absolut giftig. Seitdem er zurück ist, betreibt er eine unverschämte Arbeitsverweigerung. Wegen jeder Kleinigkeit wird erstmal heftig diskutiert, ganz egal, ob eine Diskussion angebracht ist. Manchmal bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn mit verbaler Gewalt zu zwingen, seine vertraglichen Pflichten einzuhalten. Solche Streite kosten mir sehr viel Kraft. Danach bin ich mehrere Stunden mental ausgeknockt und extrem reizbar. Jeder winzige Murks kann das Fass zum Überlaufen bringen. Zwar ist bis jetzt nichts Schlimmes passiert, aber ich kann definitiv nicht noch einen ganzen Monat so existieren. Keine Ahnung, wie ich die verbleibende Zeit überleben soll. Naruto wird es nicht lassen, besonders nicht meinetwegen. Wir sind ja jetzt bittere Feinde. Deswegen ist es kaum zu glauben, dass er mich jemals verzweifelt angefleht hat, bei ihm zu bleiben. Jetzt hasst er mich über alles und das spüre ich so richtig. Sein Hass mir gegenüber ist unglaublich zerstörerisch. Er will alles, was mich nur ansatzweise betrifft, in Flammen aufgehen sehen. Nur vor wenigen Wochen war es ganz anders. Dadurch, dass es Naruto gut ging, ging es allen anderen Sachen auch gut. Meine Verwaltung, mein Arbeitsalltag und das allgemeine Wohlbefinden im Büro liefen wie ein sicheres Uhrwerk und das nahm ich als selbstverständlich wahr. Mittlerweile sind zwischen uns alle Brücken verbrannt. Es wird nie wieder so sein, wie früher. Und in anderthalb Monaten ist er aus meinem Leben ganz verschwunden.
 

Ist es nicht das, was ich eigentlich bezwecken wollte?
 

Ja, ich wollte unbedingt unser komisches Miteinander beenden. Es war ein riesengroßer Fehler. Damit habe ich meiner Frau, meinen Kindern und vor allem Naruto unrecht getan. Jetzt ist dieser Fehler behoben und das ist gut so. Eigentlich sollte dadurch alles besser werden. Nur warum läuft es zurzeit gefühlt genau umgekehrt? Wo bleibt denn meine lang ersehnte Erlösung? Wo ist dieses Gefühl, dass ich alles richtig gemacht habe? Wo bleibt das alles, ha?
 

Ich seufze. Tja, witzigerweise weiß ich darauf spontan keine Antworten.
 

***
 

Naruto, der Idiot! Seitdem er wieder zurück ist, treibt er mich jeden Tag mit einem unmenschlich hingebungsvollen Fanatismus in den Wahnsinn! Tja, nach fünf Wochen akuter Belastungsstörung findet sich plötzlich ein neuer Lebenssinn! Super! Einfach nur Klasse! Gestern wollte er mir krampfhaft beweisen, dass ich ein Sklaventreiber bin. Heute soll angeblich seine Kaffeepause um 16:30 wichtiger sein, als die Abwicklung eines eiligen Sicherheitskonzepts, der schon seit drei Tagen bei ihm rumliegt, und den ich zufälligerweise bis morgen früh brauche. Als wäre es nicht selbstverständlich! Es ist selbstverständlich und das weiß er! Er weiß auch, dass ich auf eine unkomplizierte Abwicklung angewiesen bin! Dafür sind Assistenten doch da! Um Sachen unkomplizierter zu machen! Mittlerweile glaube ich ernsthaft daran, dass er mich einfach nur leiden sehen will! AAA! Ich kann mich nicht genug über die Situation aufregen!
 

Vorhin meinte ich, dass bei unseren Streiten nichts Schlimmes passiert ist. Nun gilt die Aussage so nicht mehr. Dieser Streit eskalierte so extrem, dass das gesamte Gebäude diese Auseinandersetzung ohne besondere Mühe mitbekam. Leute, die eigentlich auf anderen Stockwerken arbeiten, streiften auffällig unauffällig an meinen Empfang vorbei, um heiße Infos über Uchihas Ausraster zu ergattern. Die Neuigkeit verbreitete sich wie die Pest und nur dreißig Minuten später wurde an jeder Ecke darüber geredet. Ich habe mich zunächst zusammen mit meiner brodelnden Wut in meinem Büro eingeschlossen. Aber mein Büro war noch nie ein guter Rückzugsort. Emails, Anrufe, Chatnachrichten, Stapel von Papieren wollten alle meine unmittelbare Aufmerksamkeit und bitte SOFORT. Das war zu dem Zeitpunkt zu viel verlangt, denn ich mutierte kurzerhand zu einem traurigen emotionalen Wrack, der gelähmt in der Ecke saß und mit der Welt nicht fertig werden konnte. Aber das war allen zutiefst egal. Mehr Emails, mehr Anrufe, mehr Chatnachrichten… ich hab die Informationsflut nicht ausgehalten und ergriff eine panische Flucht aufs Dach. Dabei war mir egal, dass die Kernarbeitszeit noch nicht vorbei war, und dass ich damit eigentlich die Hausordnung breche. Ich musste einfach nur weg. Vierzig Minuten und zwei Schachtel Zigaretten später kann ich immer noch nicht zur Ruhe kommen. Ich bin rastlos und bekomme den wütenden Gedankenstrom in meinem Kopf nicht unter Kontrolle. Wenn sowas passiert, laufe ich stur im Kreis. Heute rauche ich dabei wie ein Dampfschiff. Das heißt, ich bin rastlos, kriege meine Gedanken nicht unter Kontrolle und bin ausgesprochen nervös. Der eiserne Himmel mit den tief hängenden Wolken wirkt erdrückend. Das passt perfekt zu meinem seelischen Zustand. Hey! Immerhin passt heute überhaupt etwas perfekt! Denn bis jetzt war der Tag echt deprimierend.
 

Plötzlich färbt sich der Himmel um. Er wird leicht bläulich — es hat geblitzt. Ich erstarre. Jetzt donnert es. Anscheinend fängt es gleich an, zu regnen. Ich müsste eventuell…
 

Kaum bringe ich den einen Gedanken zu Ende, bricht ein starker Platzregen aus. Binnen Sekunden schüttet es wie aus dem Eimer. Meine Zigarette wird nass und es ist unmöglich, sie fertig zu rauchen. Ich schmeiße den Stummel wütend weg. Na toll! Einfach toll! Dieser Tag wird mit jeder durchlebten Sekunde besser! Es reicht wohl nicht mit der Therapeutin, einem Geschäftspartner und dem Assistenten zu zerstreiten, eine panische Flucht zu ergreifen und die Arbeitspflichten zu vernachlässigen! Nein, ein Platzregen muss mich an meinem einzigen sicheren Ort natürlich auch erwischen! Es ist alles Scheiße! EINFACH NUR SCHEISSE!!!
 

Ich haue kräftig gegen die Betonwand — meine Knöchel fangen an, zu bluten, aber das stoppt mich nicht. Meine Hand zittert und tut weh. Ich ramme meine Faust trotzdem wütend in die Mauer ein. Jeder Schlag hinterlässt blutige Flecken, die sofort vom Regen weggewischt werden. Ich kreische mit den Zähnen und breche in einem lauten tierischen Urgebrüll aus. Dabei prügele ich immer noch rasend auf die Wand ein. Ich hasse es! Ich hasse es. Ich hasse es… aua! Scheiße! Ach ja, ich habe meine Hände zermatscht und jetzt lassen sie sich nicht mehr zur Faust ballen. Super… ich sickere auf den Boden und stütze mich auf der Wand ab. Ich versuche die Wut unter Kontrolle zu kriegen.
 

Komm, Sasuke… ruhig atmen… schließlich gibt es keinen Grund sauer zu sein. Auf wen denn? Die meisten Umstände, die dich hierhin geführt haben, sind eh selbstverschuldet.
 

Selbstverschuldet…
 

Plötzlich ergreift mich eine mächtige Verzweiflung. Ich umschließe die Knie und atme schwer aus. Mittlerweile bin ich patschnass. Die teure Anzughose ist mit dem kalten Regenwasser vollgesogen. Die schicken Schuhe aus Wildleder sind von innen überschwemmt. Wenn man mein Hemd auswringt, kriegt man bestimmt einen großen Topf mit Wasser voll. Es klebt eklig an meinem Oberkörper. Und so muss ich zurück ins Büro. Ne, auf keinen Fall. Fehlanzeige. Niemand darf mich so sehen. Ein instabiler emotionaler Wrack, der sich mit seinem Ex zerstritt, vor Überforderung seine Pflichten liegen ließ, und jetzt nass wie ein Straßenhund ist. Nein, ich darf mich unter keinen Umständen so zeigen.
 

Ich seufze.
 

Wem will ich eigentlich was beweisen? Warum ist mir mein Image so wichtig? Ich meine, ja, ich bin im Vorstand und da muss man schon darauf achten, wie man rüberkommt, besonders weil ich mich tatsächlich am Tagesgeschäft aktiv beteilige. Sonst ist man als Vorstandsmitglied für die Angestellten praktisch unsichtbar. Ja, aber trotzdem… warum muss ich um jeden Preis die blitzblanke Fassade aufrechterhalten? Warum will ich meine Angestellten um jeden Preis überzeugen, dass ich perfekt bin? Das bin ich doch gar nicht! Letzter Zeit habe ich absolut nichts im Griff. Ich habe absolut keinen Plan, was ich mache.
 

Es donnert noch einmal kräftig. Die nächste Wasserwelle stürzt über meinen Kopf ein. Diesmal ergebe ich mich. Ich schließe die Augen und höre dem Regen zu. Beruhigendes Rauschen… mein Atem wird gleichmäßig. Meine Gedanken rasen nicht mehr so wild. Die Tatsache, dass ich so aussehe, als wäre ich angezogen unter der Dusche gestanden, rückt in den Hintergrund. Und dann passiert genau dasselbe, wie am Trennungsfreitag: Die Umgebung entschleunigt sich; die Unmengen an Gedankenabfall der letzten Wochen werden endlich aus meinem System ausgeschüttet; plötzlich fühlt sich mein Körper leicht an, obwohl ich tierisch müde bin; auf einmal betrachte ich mein Leben ganz von oben.
 

Die Therapeutin hat recht bezüglich Sakura und mich… ich werde sie für immer lieben. Sie wird für immer ein wichtiger Teil meiner Familie sein. Trotzdem ist unsere Ehe so mordsunglücklich, dass es sich nicht wieder biegen kann. Ich glaube, diese Tatsache ist uns beiden schon lange unterbewusst klar. Wir klammern an unserer Vergangenheit fest. An der Vergangenheit, in der wir füreinander die wichtigsten Menschen im Leben waren. Es war sehr schön. Wir haben zwei wunderbare Kinder großgezogen und haben uns stets um einander gekümmert. Diese Geschichte gehört uns und niemand kann sie uns wegnehmen. Nur leider hat sie vor langer Zeit ihr Ende erreicht. Jetzt müssen wir einander loslassen.
 

Mein Gott, ich will immer noch nicht wahrhaben, dass Sakura und ich nicht mehr zu retten sind. Es macht mich verdammt traurig.
 

Ich werde im nächsten kräftigen Ansturm des Regens gefangen. Ich öffne die Augen und sehe in den mittlerweile indigoblau gewordenen mürrischen Himmel. Der Donner brüllt, der Wind heult und es blitzt kräftig. Mittlerweile bin ich so durchnässt, dass kleine Bächlein von meiner Kleidung runterlaufen. Mir ist arschkalt und meine Hände tun immer noch tierisch weh. Die Haut an den Knöchel wird von den großen Regentropfen getroffen und dann ziept es unangenehm. Ich zittere. Meine Zähne klappern. In meinem Schuhwerk gluckst eine eklige Suppe, in der meine Füße ungewollt baden. Ich nehme die Schuhe ab und schütte die Brühe weg. Meine nackten Sohlen berühren den kalten rauen Betonboden und es fühlt sich aus irgendeinem Grund richtig gut an. In diesem Augenblick bin ich weder Chef, noch Vorstandsmitglied, noch Geschäftspartner, noch Ehemann, noch Vater. In dieser Sekunde spiele ich keine Rolle. Ich bin nur ein unbedeutender Bestandteil der Umgebung. Ich bin einfach nur Sasuke und das gefällt mir ausgesprochen gut. Ja, so langsam werde ich mit der Welt tatsächlich fertig. Oder sie mit mir eben. Keine Ahnung, wie rum es richtig ist. Obwohl ich tierisch müde, patschnass, mit kaputten Knöcheln und ohne Schuhe bin, mich auf dem verbotenen Dach meinen Pflichten entziehe und es unglaublich kalt ist, geht es mir seit langem ein kleines bisschen besser. Und dabei gehen meine Mundwinkel leicht nach oben.

Ich vertraue dir mein Selbst vollständig an.
 

Das habe ich ihm an jeden Abend ängstlich ins Ohr geflüstert. Dazu musste ich echt viel Mut aufbringen.
 

„MACH GEFÄLLIGST DEINEN VERDAMMTEN JOB!!!“
 

Und das schreie ich jetzt in sein Gesicht ohne jegliche Hemmungen.
 

Sasuke, ich liebe dich.
 

Das hat er oft zu mir gesagt. Dabei war er stets furchtlos und absolut ehrlich. Er hatte nie Angst davor, wie zerbrochen ich bin. Wenn diese Worte fielen, hat er mich immer so besonders angeguckt. So, als hätte ich diese wundervollen Gefühle tatsächlich verdient.
 

„ICH WILL DIESEN DRECKSJOB NICHT!!! DU BEHÄLTST MICH HIER WIE EINEN SKLAVEN!“
 

Auch in dieser Sekunde ist er furchtlos. Er hat immer noch keine Angst davor, wie zerbrochen ich bin. Bloß jetzt strömt Hass aus ihm. Der Junge, der einst alles von sich zu meinen Knien gelegt hat, will mittlerweile nur noch meinen Untergang sehen.
 

„ES NENNT SICH ARBEITSVERTRAG!!! DU HAST DEN KONDITIONEN MIT EINER KÜNDIGUNGSFRIST ZUGESTIMMT, ALSO HANDLE ENTSPRECHEND!!! BLEIB ZUR HÖLLE PROFESSIONELL!!!“

„SCHEISS DRAUF!!! DU HÄTTEST MICH AUCH EHER GEHEN LASSEN KÖNNEN, ABER NEIN! DU MUSSTEST MIR NATÜRLICH EINS ZUM ABSCHLUSS REINWÜRGEN! DANN MACH ICH EBEN DASSELBE MIT DIR!!! GLEICHES MIT GLEICHEM!!!“
 

Eine kurze Pause. Endlich. Die Luft zwischen uns ist geladen und sie knistert explosiv. Nur ein kleiner Funken und dann geht hier alles in Flammen auf. Zwischen uns kann es jederzeit zu einer Katastrophe kommen. Und dabei hatten wir einander eigentlich wirklich gern. Warum sind wir an diesem Punkt angelangt? Der nächste wütende Satz will aus mir ausbrechen, aber ich halte diesen Impuls auf. Dieser Streit ist ermüdend und äußerst unproduktiv. Komm, Sasuke, beende es einigermaßen friedlich. Du musst auch halbwegs professionell bleiben.
 

„Naruto, mach die verdammten Unterlagen einfach fertig… bitte… ich hab kein Bock mehr mit dir darüber zu streiten“, atme ich besiegt aus.

„Ich mache nie wieder etwas extra für dich“, spuckt er bockig zurück.

„Okay.“ Ich gebe einfach auf. Dann mach ich’s selber. Egal. Wozu habe ich sonst einen Assistenten? Richtig, für gar nichts. Einfach toll…
 

Ich gehe zum Empfang und hole mir seine nicht mal angefangene Arbeit. Die Unterlagen sind schon seit vier Tagen überfällig und das juckt ihn null. Ich verstehe, dass er schon lange innerlich gekündigt hat, aber so Anstands wegen hätte er wenigstens ein Minimum an Aufgaben erledigen können. Seitdem er wieder zurück ist, ist es einfach unmöglich mit ihm. Vielleicht ist es wirklich für alle besser, wenn er ab Montag nicht mehr kommen muss. Er kann sich bestimmt fixe irgendwo für die zwei Wochen krankschreiben lassen und dann ist die Sache gegessen. Das sag ich ihm morgen so. Er geht jetzt ja oder sowas. Keine Ahnung. Ist auch egal. Ich muss immer noch der Inkompetenz meiner Angestellten hinterherräumen. Kotzt mich das alles an, ey…
 

Nach einer Stunde ist der eilige und mittlerweile katastrophal überfällige Antrag fertig. Jetzt muss ich nur noch ein wenig betteln, ein wenig Honig um die Ohren schmieren, ein wenig öffentliches Selbstauspeitschen betreiben und dann darf ich mit hoher Wahrscheinlichkeit meinen Shit trotzdem haben, wenn auch katastrophal verspätet. Klingt gut, oder? Ja, so ziemlich. Und wenn das durch ist, muss ich den aktuellen Zeitplan komplett überarbeiten. Damit werde ich mich morgen Vormittag beschäftigen. Jetzt muss ich ein wenig runterkommen, sonst klinge ich leicht aggressiv und dann wird es schwierig mit dem Honig schmieren. So, Sasuke, Kaffee holen und kurz frische Luft schnappen.
 

Ich habe die Fenster in meinem Büro weit aufgerissen und atme die kühle von außen strömende Luft tief ein. Ich entspanne mich ein wenig. Gut so, denn die Verhandlungen mit Tsunade sind immer etwas schwierig. Okay, jetzt nur noch den Kaffee holen, den Kopf freikriegen und dann geht’s gleich weiter.
 

Kurz bevor ich den Empfang betrete, spüre ich, dass mein Herz schon wieder wie verrückt rast. Ich werde dieses nagende Gefühl anscheinend nicht so einfach los. Die Tür öffnet sich und… niemand ist hier.
 

Und mein Herz setzt für einen Moment schmerzhaft aus.
 

Ich gucke mich kurz um. Narutos Arbeitsbereich sieht ungewohnt clean aus. Die großen Lichter sind aus. Das kalte türkise Licht des Firmenlogos erhellt geisterhaft die Umgebung. Es ist so unbewohnt hier. Der Empfang fühlt sich verlassen an. Ich verspüre schon wieder dieses Stechen in der Brust. Ich glaube, ich habe insgeheim gehofft, dass er doch noch hier geblieben ist. Selbst wenn wir nicht miteinander sprechen und aufeinander furchtbar sauer sind, ist es einfach schön zu wissen, dass man nicht allein ist. Und nun weiß ich das Gegenteil.
 

Ein schwerer Seufzer entweicht aus meiner Brust. Ich mache verhext den Kaffeeautomat an. Das angenehme Aroma regt diesmal nichts in mir an. Ich exe maschinell den frischen doppelten Espresso und mache mir gleich einen neuen.
 

Sasuke, ich liebe dich. Und was fühlst du zu mir?
 

Bei diesem Gedanken muss ich schon wieder seufzen. Dabei konsumiere ich die zweite Tasse Kaffee und gehe zurück in mein Büro. So, jetzt zusammenreißen. Auf-auf zum Gespräch mit Tsunade.
 

***
 

Der heutige Tag ist endlich zu Ende. Ich bin zurück in die Projektwohnung. Seit zwei Wochen hause ich hier, denn Sakura und ich sind zum Schluss gekommen, dass wir Abstand voneinander brauchen. Obwohl nichts darüber hinaus festgelegt wurde, vermute ich, dass dieser Auszug unser endgültiges Ende war. Wir machen trotzdem diese komische getrennte Paartherapie. Einmal pro Woche telefonieren wir und tauschen uns ausgiebig darüber aus. Sie hat schon lange die Hoffnung auf eine nachhaltige Besserung aufgegeben und ich bin auch sehr kurz davor. Mit dem Auszug bin ich dem natürlich sehr viel näher gekommen. Eigentlich ist klar, dass es aus ist. Trotzdem traut sich keiner diese Tatsache laut auszusprechen. Bei all dem tut mir Sarada am meisten leid. Sie war schon immer ein Papa-Kind und ich fühle mich furchtbar. Deswegen habe ich in diesen zwei Wochen mit ihr täglich entweder geschrieben oder sie angerufen. Anscheinend hat sie zurzeit ihre ersten Herzensprobleme. Sie hat es nur einmal kurz erwähnt, weil sie sich zurzeit ziemlich allein fühlt und mit niemandem sonst darüber sprechen kann. Da wurde mir klar, dass mein kleines Kind jetzt ganz erwachsen ist. Da habe ich sehr mit ihr mitgefühlt. Sowas ist ziemlich beschissen und es gibt keinen schnellen Fix dafür. Niemand weiß so richtig, warum manche Beziehungen funktionieren und warum andere es nicht tun. Es gibt keine Standardanleitung. Man macht Fehler und es tut weh. Trotzdem ist Liebe eine der schönsten menschlichen Erfahrungen. Gebraucht zu werden, erwartet zu werden, zu wissen, dass man sich aufeinander verlassen kann… all das tut furchtbar gut. Aber es ist viel zu flüchtig. Deswegen sind diese Momente so unglaublich kostbar.
 

Die Mikrowelle piept. Mein Essen ist fertig. Die Therapeutin hat gesagt, dass Routinen zu einem geregelten Leben verhelfen, und gerade ist mein Leben ziemlich chaotisch. Das mit den Routinen habe ich auch ohne sie gewusst. Deswegen versuche ich neuerdings weniger zu arbeiten, zu gesunden Zeiten ins Bett zu gehen, weniger zu bestellen und mehr selbst zu kochen. Das klappt nicht so richtig, weil ich überhaupt nicht die festgesetzten Bürozeiten einhalten kann. Ich werde irgendwie wahnsinnig, was das angeht. Ab irgendeinem Punkt macht noch eine Stunde im Büro keinen Unterschied mehr. Man merkt nicht so richtig, dass man müde ist, und kann stundenlang ohne Probleme übelst hyperfokussiert gewaltige Mengen von Aufgaben erledigen. Es ist wie ein Läuferhigh, man kann immer weitermachen, solange man noch nicht stillsteht. Denn dann kommt die Müdigkeit hoch und es ist sehr unschön. So wie jetzt. Die Kraft reicht nur noch, um ein Mikrowellenessen zu konsumieren und tot ist Bett zu fallen. Ich bin wie eine abhängige Laborratte. Obwohl man sich mit Strom schlägt, tut man es sich immer wieder an. Ich frage mich, was der Uzumaki jetzt macht, wo er nicht mehr so viel arbeitet. Er ist doch auch ein Workaholic. Vielleicht schreibt er endlich seine Abschlussarbeit weiter? Vielleicht trifft er sich mit Freunden? Vielleicht datet er ja jemanden? Oder vielleicht ruht er sich einfach aus? Warum interessiert mich das überhaupt? Vielleicht, weil er mir furchtbar fehlt?
 

Vielleicht.
 

Jedenfalls sage ich ihm morgen, dass er sich einfach krankmelden soll. Ich denke, er wird sich darüber freuen. Wenn ja, dann freue ich mich auch. Denn eigentlich will ich ja seit langem, dass es ihm gut geht. Nur konnte ich das nie gut rüberbringen. Naruto, wenn es diesmal auch schiefgeht, bitte verzeih es mir. Du kennst doch deinen alten Streber am besten. Wenn etwas wichtiges gesagt werden muss, vermassele ich es gern.

„Ich liebe dich.“

„Das ist schön.“

„Und was fühlst du zu mir?“

„Dasselbe, glaub ich.”

“Glaubst du?”

“Ja. Ich glaube, dasselbe zu dir zu fühlen.“

„Achso.“
 

***
 

Heute ist Narutos letzter Arbeitstag. Mein Angebot mit dem Krankschreiben hat er komischerweise abgelehnt. Ich dachte, eine frühere faktische Entlassung würde ihm Freude bereiten, aber irgendwie doch nicht. Seitdem haben wir uns deutlich weniger gestritten. In den letzten zwei Wochen hat er sich zusammengerissen und seine unmittelbaren Aufgaben gut erledigt. Es war fast genauso gut, wie ich es von ihm sonst gewöhnt bin. Die Verwaltung lief mal wieder wie ein sicheres Uhrwerk und die Zusammenarbeit mit ihm war wie immer sehr zufriedenstellend. Es war natürlich nicht so ganz wie früher. Die persönlichen Gespräche wurden durch Emails ausgetauscht. Für ihn gab es keine langen Abende mehr. Punkt 18 Uhr ist er nach Hause gegangen. Dementsprechend gab es auch keine gemeinsamen Übernachtungen im Hotel. Und ich bin so unfassbar dumm. Obwohl sein Fortgehen schon lange angekündigt war, hat es mich trotzdem ziemlich kalt erwischt. Die Zeit rennt katastrophal davon. Mit heutigem Tag soll die allerletzte Spur der Existenz meines besten Assistenten verschwinden. Es macht mich schon irgendwie traurig. Schlussendlich haben wir uns zum größten Teil gut verstanden. Er hat mich mit seiner Überflieger-Leistungen richtig schlimm verwöhnt und es wird mir definitiv fehlen. Allgemein wird er hier im Büro fehlen. Sein Wesen hat den Büroalltag unaufdringlich versüßt. Außerdem war er eine antreibende Kraft für viele kleinen aber wichtigen Dinge. Ja, die Verbleibenden werden sich erstmal an seine Abwesenheit gewöhnen müssen. Andererseits ist keiner Mitarbeiter unersetzlich. Der Firma wird’s auch ohne ihn gut gehen, daran habe ich keine Zweifel.
 

Ob es ihm dabei auch gut gehen wird?
 

Das weiß ich nicht. Was er ab jetzt macht, sollte eigentlich nicht meine Sorge sein. Ich hoffe nur, dass das, war er vorhat, ihm guttut, was auch immer es ist. Das wünsche ich ihm sehr. Da bin ich zuversichtlich, dass das auch so kommt. Er macht letzter Zeit den üblichen munteren Eindruck und das freut mich echt. Das ist doch was Gutes, oder?
 

Und was ist mit mir?
 

Was soll schon mit mir sein? Ich werd’s überleben. Auf was für komische Gedanken komm ich denn auf einmal?
 

Oh, die sehnsüchtig erwartete Email! Sehr gut, dann klingele ich Tsunade mal schnell an.
 

***
 

„So!“ Er legt demonstrativ einen Stick vor mich hin und grinst dabei breit. „Meine letzten Amtshandlungen als Sasuke Uchihas Assistent: Die Unterlagen, auf die du gewartet hast, sind hier drauf. Orochimaru-san habe ich auf Mittwoch geschoben. Die Einladungen zum Firmenjubiläum habe ich in Auftrag gegeben. Wenn alles gut läuft, sollen sie schon nächste Woche verschickt werden. Und deinen Anzug konnte ich doch noch abholen. Hängt jetzt im Schrank.“

„Vielen lieben Dank.“

„Kein Ding…“

„Uzumaki, weißt du, dass du mich für alle anderen Assistenten so richtig schlimm verdorben hast?“

„Pfff, ist doch nicht mein Problem.“

Ich grinse leicht: „Da hast du recht.“
 

Mein Blick streift unabsichtlich über sein Gesicht und wir bauen für eine Millisekunde einen direkten Blickkontakt auf. Er bricht ihn sofort ab und ich bleibe für noch eine weitere schmerzhafte halbe Sekunde darin hängen. Seine Augen wandern planlos durch den Raum und er wirkt verlegen. Die Luft um uns verklumpt sich. Ja, neuerdings wenn wir allein sind, wird es viel zu schnell viel zu peinlich.
 

„Hast du noch irgendwas? Ich könnte noch eine letzte kleine Bitte erledigen.“ Seine Stimme klingt unpassend locker und es macht mich neugierig. Ich würde so gerne in sein Gesicht hineingucken, aber dafür fehlt mir jeglicher Mut. Und abgesehen davon… ist es jetzt ein echtes Angebot oder irgendeine mysteriöse Falle? Was erwartet er denn? „Na?“, drückt er unaufdringlich nach.

„Ja, da gäbe es tatsächlich was“, reagiere ich reflexartig. „Wie viel Zeit hast du noch?“

„So, fünfzehn Minuten?“

„Okay, passt. Dann…“ Ich lege eine kurze Pause an und hole tief Luft.
 

Einundzwanzig, zweiundzwanzig…
 

„…würde ich mich gern bei dir entschuldigen.“ So, der Satz ist zu Ende.

„Oh, okay“, erwidert er unsicher. „Dann höre ich gerne zu.“
 

Obwohl wir uns nicht angucken, weiß ich ganz genau, dass er gerade auch innerlich durchdreht. Ich stehe auf, hole aus der Jackentasche eine Schachtel Zigaretten, stelle mich ans offene Fenster und zünde eine Kippe an. Der warme Rauch dringt in mein Inneres ein und ich habe das Gefühl, dass er beruhigend wirkt. Das ist es nämlich gar nicht. Ich habe nur schlechte Angewohnheiten. Er stellt sich neben mir und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Also habe ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Jetzt bin ich aber mit dem Reden dran.
 

„Es tut mir aufrichtig leid.“ Ich zwinge mich dabei, ihn direkt anzugucken. „Und zwar alles.“
 

Statt einer Reaktion zieht er an seiner Zigarette. Mein Blick macht ihn leicht nervös. Das kann ich von seiner nachdenklichen Miene ablesen.
 

„Danke. Ich weiß deine Mühe zu schätzen, aber denkst du nicht, dass es ein wenig… zu wenig ist?“ Nach einer peinlichen Pause führt er seinen Gedanken zu Ende: „Also für eine anständige Entschuldigung zumindest.“

„Okay, ich versuch’s nochmal. Also… das mit uns… es tut mir leid. Das mit der Trennung… das auch. Dass es dir so schlecht ging… auch das. Unsere Streite…“

„Das auch noch?“, beendet er meinen Satz und ich bemerkte ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Ja…“

„Gottverdammt bist du schlecht in sowas!“

„Ich weiß. Das tut mir übrigens auch leid…“ Er lächelt weiterhin und ich füge hinzu: „Du weißt es doch auch.“

„Natürlich, du alter Streber.“

Ich überhöre seine Bemerkung: „Und ich möchte mich bei dir für alles bedanken. Du bist bis dato mein bester Assistent. Wir konnten eigentlich sehr gut arbeiten. Also danke dafür.“

„Sag mal, haben dir die außerberuflichen Dinge überhaupt nichts bedeutet? Ich höre immer nur das mit dem besten Assistenten. War ich wirklich nur das für dich?“

„Nein, du warst mir wichtig. Sehr wichtig sogar. Es ist nur so, dass ich deinen Stellenwert in meiner Welt bis heute nicht ganz begreifen kann.“

„Bist du so dermaßen verwirrt?“

„Ja. Jetzt gehe ich sogar zum Therapeuten und sie kann auch nicht genau sagen, was mit mir falsch ist.“

„Oh, diese Liste ist viel zu lang“, lässt er verträumt ab.
 

Es wird stumm. Den letzten Satz hat er so lieblich ausgesprochen, dass ich davon Schmetterlinge im Bauch kriege. Es ist so verdammt peinlich! Ich nehme mir nächste Zigarette. Heute bin ich ausgesprochen nervös.
 

„Das lässt mich jetzt nicht los. Wenn ich dir sehr wichtig war, warum hast du dann trotzdem nein gesagt?“

„Ich war verheiratet“, erwidere ich nachdenklich.

„Okay. Und warum hast du dich nicht scheiden lassen?“

„Keine Ahnung, Naruto. Was denkst denn du darüber?“

„Soll ich wirklich meine ehrliche Meinung äußern? Vorwarnung: Sie wird dir vermutlich nicht gefallen.“

„Nur zu.“

„Du belügst dich und bist zu dem eine Drama Queen. Deswegen hast du nein gesagt.“

„Wie ist denn das bitte gemeint?“

„Du hast kein Plan, was dich glücklich macht, und du leidest gern, so ist das gemeint.“

„Quatsch.“

„Na doch! Warum sonst würdest du mich abgewiesen haben?“

„Das macht überhaupt keinen Sinn.“

„Doch-doch. Ich hab’s mir gut überlegt. Guck mal, du hattest mich so gern, dass du gegen alle deine Prinzipien verstoßen hast. Du hast sogar deine geliebte Frau betrogen. Das würdest du nicht einfach so tun. Erstens liebst du sie wirklich und zweitens kannst du dich ausgesprochen gut beherrschen. Außerdem passt eine niedere Affäre mit einem Sekretär überhaupt nicht zu dir. Und trotzdem war all das irrelevant. Jetzt frag dich selbst wieso. Ich denke, weil du endlich das bekommen hast, was dich glücklich machen könnte. Deswegen hast du überhaupt mitgemacht. Du bist kein Musterfamilienvater aus der Vorstadt, Sasuke! Wenn du das ernsthaft denkst, dann belügst du dich.“ Ich verziehe skeptisch das Gesicht. Naruto bemerkt es, fährt aber seinen Gedanken fort: „Du bist ein leicht misanthropischer, aber zugleich brillanter Vorstandschef…“ Jetzt werfe ich ihm einen misstrauischen Blick zu, den er nicht ignorieren kann: „Doch-doch, guck nicht so! Die Leute hier denken so über dich. Du hast furchtbar viel Ahnung und lieferst immer nur absolute Spitzenergebnisse. Das weiß hier jeder. Dafür wirst du auch respektiert. Andererseits schreckst du damit die meisten ab. Sie haben kein Verständnis dafür, dass man sich so kaputt schuftet. Und dann ist dein Charakter… ähm… sehr speziell. Deswegen halten fast alle Abstand von dir. Viele hier denken, dass du sonderbar bist. So ne Art verrücktes Genie…“

„Waaaaas?“, lasse ich etwas dumm ab.

„Ja. Das ist so. Du bist extrem intelligent, kühl und bissig, da ist es doch nicht verwunderlich. Rede doch mit deinen Angestellten auch mal privat. Nicht immer nur Probleme abklappern. Interessiere dich ein bisschen für sie. Leute mögen generell sowas.“
 

Er legt eine kurze Pause an. In dieser Sekunde rasen tausend Gedanken durch meinen Kopf. Ich bin überhaupt nicht damit einverstanden, was er sagt. Trotzdem verspüre ich eine gewisse Klarheit im Kopf. Er könnte eventuell mit allem recht haben. Selbst wenn es mir absolut zuwider ist.
 

„Aber zurück zum Thema: Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie sich das anfühlt, wenn einem etwas wirklich-wirklich wichtig ist. Man ist wie besessen davon und man kann es nicht lassen. Für diese eine Sache ist es dann auch überhaupt nicht schwer, das eigene Wohlbefinden zurückzustellen, sogar wenn es einem selbst schadet. Ich glaube, da sind wir uns sehr ähnlich. Vermutlich deswegen hat es zwischen uns gegen jegliche Vernunft sofort gefunkt. Jetzt gibt es einen Haken an der Sache: Du bist eine Drama Queen. Du kannst nicht einfach das Glück annehmen. Es gibt ja kein Drama mehr. Deswegen war unser Scheitern irgendwie vorprogrammiert. Aber das war vielleicht wirklich zum Besten. Dadurch ist mir klar geworden, dass ich sowas überhaupt nicht ausstehen kann.“
 

Es wird wieder schmerzhaft stumm. Er bedient sich erneut an der Schachtel.
 

„Wow… da könnte eventuell was dran sein. Jedenfalls hast du deine Gedanken echt gekonnt auf den Punkt gebracht“, lasse ich leise ab.

„Tja, ich hab fünf lange einsame Wochen in der Psychiatrie verbracht. Da hat man alle Zeit der Welt um aufs eigene Leben zurückzublicken.“

„Hmmm, klingt furchtbar. Aber dir geht’s jetzt einigermaßen gut, oder?“
 

Er löscht seine kaum angefangene Zigarette und wirft die Überreste aus dem Fenster. Krass ist es hoch! Wenn man aus dieser Höhe abstürzt, hat man überhaupt eine Chance aufs Überleben? Keine Ahnung. Plötzlich spüre ich seine Nähe. Seine Schulter berührt meine und er guckt mich intensiv an. Er ist eine Aufforderung. Ich füge mich, drehe den Kopf und schon bin ich sein Gefangener. Sein furchtloser und leicht feindseliger Blick fesselt mich. Wenn er mich so anguckt, erinnert es mich an die Feuergottheit, in die er sich am Trennungsfreitag verwandelt hat. Er zischt giftig direkt in mein Gesicht:
 

„Mir geht’s überhaupt nicht gut. Du hast mir das Herz gebrochen. Deinetwegen bin ich immer noch innerlich kaputt. Aber das ist okay. Früher oder später komm ich damit klar. Also…“
 

Plötzlich passiert etwas unerklärliches. Seine Gesichtszüge werden weicher und er legt vorsichtig seine Lippen auf meine. Diese Berührung ist so zärtlich! Ich ergebe mich und schließe die Augen. Er soll mich dorthin treiben, wohin er in dieser Sekunde nur möchte. Ich würde ihm überall folgen. Egal wohin. Seine Entscheidung.
 

Und er führt uns an unser endgültiges Ende. Seine Lippen trennen sich von meinen. Er stellt einen akzeptablen Abstand zwischen uns wieder her und wispert:
 

„Leb wohl, Sasuke.“
 

In nächster Sekunde bin ich allein, als wäre überhaupt nichts passiert. Er ist so schnell aus meinem Büro verschwunden, dass ich irgendwie an der Echtheit dieses Gesprächs zweifle. Ist es nur eine Einbildung gewesen? Nein, kann nicht sein. In der Schachtel fehlen vier Zigaretten, auf dem Tisch liegt der Stick mit den Unterlagen, Orochimaru steht am Mittwoch in meinem Terminkalender und meine Lippen prickeln immer noch leicht. Ich gehe in den Empfang rüber. Der Tisch ist abgeräumt. Auf der Garderobe hängt keine Kleidung. Im Schrank stehen keine Wechselschuhe. Keine Spur von meinem besten Assistenten. Jetzt bleiben mir nur noch die Erinnerungen. Der Rest von seiner Existenz in meiner Welt hat sich bereits komplett verflüchtigt.

Ein Jahr ist vergangen, seitdem Naruto aus meinem Leben komplett verschwunden ist. In diesem Zeitraum ist sehr viel passiert. Mein Leben ändert sich turbulent und ich glaube, die Transformation ist noch lange nicht abgeschlossen. Körperlich geht es mir seitdem irgendwie komisch. Ich habe erhebliche Schlafprobleme und kaum Hunger. Dadurch vergesse ich viel zu häufig zu essen und davon wird mir davon am Ende des Tages unfassbar schlecht. Einmal bin ich deswegen sogar umgekippt. Deswegen muss ich neuerdings relativ strenge Essenszeiten einhalten. Früher war es nicht nötig, jetzt hängt daran mehr oder weniger mein gesamtes Wohlbefinden. Tja, man wird mit der Zeit nur kaputter. Ansonsten kriege neuerdings ich ab und zu schon bei leichten Anstrengungen wie Treppensteigen plötzlich keine Luft. Alles, was darüber hinaus geht, ist dementsprechend noch schlimmer. Wenn das mit dem Essen relativ leicht nachzuvollziehen ist, beunruhigt mich das mit der Atemnot schon ein wenig. Die Arztuntersuchungen ergaben nichts. „Alles gut“, sagen sie immer. Sie loben mich für meinen Essensplan, verschreiben mir fleißig die Schlaftabletten gegen die Schlafstörung und sicherheitshalber einen Asthmaspray gegen die Atemnot. Der hilft übrigens gar nicht. Die Attacken stoppen genauso plötzlich, wie sie entstehen. Und die Schlaftabletten hauen richtig rein. Am nächsten Tag aufzustehen ist echt schwer. Man schmeißt sich aus dem Bett wie nasse Wäsche aus der Waschmaschine. Anschließend ist man den restlichen Tag wie betäubt und auf eine sehr unangenehme Art träge. Man hat das Gefühl, dass sich das Denken dadurch verlangsamt. Man nimmt alles wie durch ein milchiges Glas wahr. Sehr unangenehm. Aber ich muss sie nehmen, sonst komme ich nicht zur Ruhe. Aber mit Tabletten bin ich betäubt. Aber ohne die Tabletten…! Und so weiter. Man kann sich nur falsch entscheiden, was das angeht. Ein Teufelskreis.
 

Ansonsten wendete sich meine Wohnsituation wieder zum positiven. Ich konnte die kleine Projektwohnung Gott sei Dank relativ schnell aufgeben. Jetzt beziehe ich seit ungefähr einem halben Jahr eine wunderschöne 5-Zimmer Maisonette in den letzten Stockwerken eines Hochhauses. Der fantastische Panoramablick fesselt einen wahrlich. Die warmen sommerlichen Abende auf der Dachterrasse sind dadurch besonders angenehm. Daran anknüpft meine neue Familiensituation. Meine Kinder und ich wohnen jetzt endgültig getrennt voneinander, denn zwischen Sakura und mir ist es nun endgültig aus ohne jegliche Aussichten auf ein erneutes Zusammenkommen. Trotzdem sind wir immer noch formell verheiratet. Eine Scheidung ziehen wir erst, nachdem Sarada aus der Schule raus ist. So können wir sicher sein, dass unsere Kinder das gewohnte Umfeld nicht von jetzt auf gleich aufgeben müssen. Menma konnte wie geplant auf die Uni wechseln und Sarada kann wie gehabt ihren Schulabschluss machen. Hoffentlich passt es so für sie. Zumindest bleibt finanziell alles gleich. Wir behalten das gemeinsame Konto und so weiter. Außerdem war ich in den letzten Jahren allgemein nicht mehr so oft da. Deswegen hoffe ich, dass sich für die Kinder so gut wie nichts ändert. Trotzdem fühle ich mich sehr schuldig. Ich will nicht, dass meine Kinder unter der Konsequenzen von dieser Entscheidung leiden. Es war schon richtig so. Unsere Ehe war schon seit Jahren innerlich tot. Sakura hat es genauso empfunden. Dieses Auseinandergehen hat uns gegenseitig erlöst. Uns beiden ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Blöd ist nur, dass sich das auf unsere Kinder auswirken kann. Leider kann ich es nicht komplett verhindern. Dafür ist es jetzt leider viel zu spät.
 

Was die Beziehung zu meinen Kindern angeht, änderte sie sich auch. Da ich ja jetzt nicht mehr mit ihnen unter einem Dach wohne, ist es mir noch wichtiger geworden, dass wir uns gegenseitig füreinander Zeit nehmen. Ich will unbedingt, dass sie weiterhin ein fester Bestandteil meines Lebens sind. Sarada sieht es genauso. Komischerweise ist unser Verhältnis seit der Scheidung besser denn je. Sie besucht mich sehr oft in der neuen Wohnung. Ihr Zimmer in der zweiten Etage hat sie sehr enthusiastisch eingerichtet und jetzt ist es wirklich ihre Ecke. Jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrete, spüre ich es. Über den Sommer hat sie sogar ein zweimonatiges Praktikum in meiner Firma gemacht, weil sie sich plötzlich für meine Arbeit interessierte. Sie kam in der Abteilung unter, in der ich früher die Leitung hatte. Sie hat dort allen ziemlich gut gefallen. „Uchiha Gene, aber sehr nett“ habe ich einmal bei einem Kaffeeklatsch überhört. Ließ mich schmunzeln. Während des Praktikums wohnte sie bei mir. Es war echt-echt cool. Unser Zusammenleben ähnelte eher einem von zwei Mitbewohnern, als einem vom Eltern und Kind. Morgens würden wir zusammen zur Arbeit fahren, abends würden zusammen rumhängen: kochen, Filme gucken, auf der Terrasse sitzen und dumme Spiele mit den vorbeifahrenden Autos spielen, über Gott und die Welt quatschen, sie würde mich was arbeitsrelevantes fragen und ich würde es ihr sehr gern erklären. Am Wochenende würden wir Sakura besuchen oder sie uns. Sarada hat sogar zwischendurch mit dem Gedanken gespielt, dauerhaft bei mir zu wohnen. Wenn sie möchte, dann fände ich es sehr schön. Ihre ständige Präsenz tat mir eindeutig gut. In diesem Zeitraum verbesserte sich sogar meine Schlafstörung. Wahrscheinlich lag es daran, dass mein Leben mit ihr deutlich ausgeglichener war. Für die eigene Tochter schmeißt man sich gern eine halbe Stunde früher aus dem Bett, um gemeinsam zu frühstücken, oder man macht gern früher Schluss, man kocht mit Freude was Gesundes oder geht sogar abends zusammen noch kurz spazieren. Für sich selbst macht man sowas meistens nicht. Da ist man zu faul für.
 

Mit Menma ist es leider überhaupt nicht so rosig. Seit der Scheidung er will er nichts von mir wissen. Anfangs würde er mit mir nicht mal ein Wort wechseln, wenn wir nebeneinander stünden. Immerhin redet er mit mir jetzt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass meine Wohnung doch verlockend zentral liegt. So kann er nämlich nach einer heftigen Feier bei seinem alten Pops pennen, anstatt ins Studentenwohnheim am Stadtrand zu fahren. Meine Kids dürfen ja unangekündigt hier auftauchen und haben dementsprechend einen Ersatzschlüssel. Bis jetzt erscheint mein Sohn hier nur kurz und ausschließlich betrunken. Sobald er durchschläft, geht er einfach ohne sich groß mit mir auszutauschen. Trotzdem freue ich mich, ihn persönlich zu sehen. Seine Updates erfahre ich durch Sakura, wobei er letzter Zeit auch mit ihr nicht wirklich oft redet. Ich mache mir Sorgen um ihn. Sein Feiern empfinde ich mittlerweile als ein Ticken zu häufig. Ich habe aufgegeben, es anzusprechen, denn sonst sinke ich auf seiner Ignorierskala noch tiefer und das würde ich gern vermeiden. Ich bin mittlerweile keine Autorität für ihn. Ihn zivil zu etwas zwingen kann ich nicht. Ich habe lediglich finanzielle Druckmittel. Wenn ich diese einsetze, wird unserer Beziehung dadurch definitiv nicht geholfen. Da habe ich leider keine Kontrolle mehr. Alles, was ich tun kann, ist auf seine Vernunft zu hoffen. Wenn Sakura und ich alles richtig gemacht haben, dann sollte er welche besitzen.
 

Auf noch eine Sache bin ich besonders stolz. Ich habe endlich Narutos Stellenwert in meiner Welt verstanden. Ich habe ausgiebig über seine letzten Worte nachgedacht. Er hatte teilweise recht, was die Drama-Queen betrifft. Teilweise, weil ich nur manchmal so bin. Eigentlich werde ich äußerst selten so. Genauer gesagt, passierte sowas nur zweimal in meinem Leben. Das erste Mal flippte ich vergleichbar dramatisch aus, als ich überhört habe, dass die Harunos mich adoptieren wollten. Ich war damals 16, aber kann mich noch sehr gut an diesen Abend erinnern. Mir wurde so schlecht, dass ich mich übergeben musste. Danach habe ich mich in meinem Zimmer eingesperrt und starrte nur noch einen Punkt an. Meine Schläfen pulsierten schmerzhaft und die ganzen Monster aus meinem Kopf brachen frei. Sie sagten mir sehr viel an dem Abend. Dass ich ein gewaltfreies Zuhause nicht verdienen würde. Dass mein Dasein allen Mitmenschen nur Probleme bereiten würde. Dass ich allen nur zur Last fallen würde. Dass alles um mich herum kaputt ginge. Und dass das vielen Leuten ein unnötiges Leid zufügen würde. Und dass ich deswegen lieber für immer verschwinden sollte. Und was habe ich gemacht? Ich bin nachts abgehauen und zu einem Hochhaus gefahren. Dort hingen wir damals oft mit den Schulfreunden auf dem Dach rum. Ich wollte mir in der Nacht dort ernsthaft das Leben nehmen. Denn die Welt wäre ohne mich besser, wurde mir gesagt. Sakura hat für sowas einen sechsten Sinn. Wenn etwas brennt, spürt sie es. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie zum Henker sie mich finden konnte. Jedenfalls konnte sie es mir erfolgreich ausreden. Nachdem die akute Gefahr vorüber war, ist sie selbst richtig schlimm zusammengebrochen. Da hat sie mir heulend erklärt, was für eine dumme Idee es war. Und dass mich umzubringen komplett egoistisch wäre, denn die verbleibenden müssten zwangsläufig mit dem Verlust klarkommen. Und abgesehen davon würden sich alle auf mich freuen und alle würden es gern machen und ich wäre keine Last und so weiter… dieser Moment und die Entwicklung danach haben mein Leben in eine komplett andere Richtung gedreht. Ähnliches passierte mit Naruto. Er tauchte in meinem Leben auf und jetzt ist es nicht mehr dasselbe. Glück, Liebe, Vergnügen, Geborgenheit… all das fällt mir bis heute ziemlich schwer. Ich selbst kann damit relativ schlecht umgehen. Noch komplizierter wird es, wenn jemand anders mir gegenüber solche Gefühle offen zeigt. Meine sichere Umgebung für sowas war immer Sakura. Sie kannte alle meine Macken und sie konnte sie gut handeln. Für eine ganze Weile fand sie diese Macken irgendwie süß. Sie hat oft betont, wie sehr sie meinen klaren Verstand schätzt. Und dadurch, dass sie selbst eher pragmatisch gestrickt ist, haben wir eine ganze Weile ziemlich gut funktioniert. Naruto war da ganz anders. Er hat seine Gefühle mir gegenüber sehr offen gezeigt und das hat mich ein Stück weit überfordert. Und dann kam noch diese peinliche Tatsache hinzu…
 

Ich habe mich halt zum ersten Mal ernsthaft in jemanden verliebt und es überhaupt nicht gecheckt.
 

Ich habe ihm am Trennungsfreitag sogar gesagt, dass ich diese Gefühle überhaupt nicht einordnen kann. Das war ja auch nicht gelogen. Denn das, was wir hatten, war irgendwie einzigartig. Es war rau, eckig und überhaupt nicht nachvollziehbar. Und es hätte mich bestimmt glücklich gemacht. Er hätte mein Ein und Alles werden können. Aber es war so krass überwältigend, dass ich damit nicht fertig werden konnte. Vermutlich weil ich immer noch irgendwo tief drin mich genauso minderwertig fühle, wie damals mit 16. Keine Ahnung, ob sich das jemals ändert. Vermutlich nicht. Manchmal passieren Dinge im Leben, die einen für immer brandmarken, und es lässt sich nicht rückgängig machen. Man trägt es für das restliche Leben mit sich rum. Aber es ist okay. Das macht eben einen aus und das gehört einem genauso, wie die guten Erfahrungen. Man muss damit nur einen geeigneten Umgang lernen. Dann passt es doch, oder?
 

Apropos, Umgang…
 

Ich habe letztens den Uzumaki angerufen. Das war eine dieser langen schlaflosen Nächte, weil ich schon wieder den Schlafmittelentzug durchziehen wollte. Danach habe ich übrigens aufgegeben, es immer wieder zu versuchen. In der Nacht habe ich viel über ihn, uns, unser komisches Miteinander und unsere Trennung nachgedacht. Da hatte ich nochmal dieses ätzende Stechen in der Brust verspürt. In der Nacht waren meine Schuldgefühle ihm gegenüber so extrem, dass ich mich am nächsten Morgen zu einer sehr frühen Stunde bei ihm meldete. Er dachte zunächst, ich wäre betrunken. Im Nachhinein hat mich gewundert, warum er überhaupt ranging und sogar zuhörte. Er ist nach wie vor ein bisschen komisch. Ich habe ihm gesagt, dass ich den Abschluss unserer Geschichte zutiefst unwürdig finde, und dass diese Tatsache mich so extrem plagt, dass ich mich zwangsweise in den Schlaf betäuben muss. Und wenn es ihm nichts ausmachen würde, würde ich mich bei ihm entschuldigen, diesmal aber anständig und nicht „ein wenig zu wenig“. Keine Ahnung, warum er sich dazu überreden lassen hat, aber er kommt in einigen Stunden vorbei und dann wird er mir ein letztes Mal zuhören. Ich bin richtig aufgeregt deswegen. Ich neige dazu, solche Dinge zu vermasseln. Diesmal kann ich es mir überhaupt nicht leisten, denn das Wichtigste muss endlich ordentlich gesagt werden.

Er ist wirklich gekommen. Wir sitzen seit einigen Minuten in der Küche und es ist bedrückend. Vielleicht wäre es besser, wenn er es sich doch anders überlegt hätte. Seitdem er da ist, haben wir kein einiges Wort gewechselt und ich habe keine Ahnung, wie ich das Gespräch einleiten soll. Okay, Sasuke, aller Anfang ist schwer. Fange einfach an zu sprechen, es wird schon.
 

„Ich wollte über unser Miteinander sprechen. Ja, es ist sehr viel Zeit vergangen und wahrscheinlich wird sich mein jetziges Empfinden von damals unterscheiden, dennoch ist es trotzdem nicht sinnfrei, denke ich. Passt das aus deiner Sicht?”

„Ist okay.”
 

Siehst du, war doch kein Todesurteil, oder? Oh man, mein Herz schlägt trotzdem wie verrückt. Komm schon, du weißt eigentlich, was du sagen musst.
 

„Also… du hast meine Aufmerksamkeit schon beim initialen Screening erweckt. Dein CV war richtig dämlich. Es fühlte sich beinahe wie ein Witz an. Vorne und hinten hat nichts zueinander gepasst, purer Chaos. Normalerweise sortiere ich solche Kandidaten weg, aber in deinem Fall war irgendwas grundlegend anders, denn dein Werdegang hat mich extrem neugierig gemacht… neugierig ist vielleicht kein richtiges Wort dafür. Es war sowas wie schaulustig, so nach dem Motto: "was ist das für ein Nichtskönner, muss mir unbedingt anschauen." Ich war sehr-sehr voreingenommen. Noch bevor du die Gelegenheit hattest, mit mir die ersten Worte zu wechseln, hatte ich schon ein ziemlich genaues Bild von dir. Deine Vergangenheit habe ich Tatsache relativ gut erraten, aber dein Charakter dagegen überhaupt nicht. Du hast alle meine anfänglichen Vorstellungen zerbrochen. Du hast meine Erwartungen so maßlos übertroffen, dass ich dir später eigentlich viel zu viel Verantwortung für dein Level übergeben habe. Wenn die Personalabteilung das alles wüsste, hätte ich bestimmt Probleme bekommen. Aber das war für unsere Konstellation genau richtig. Du wolltest coole Aufgaben und ich hatte die Hilfe extrem nötig. Du bist an genau dem Punkt aufgetaucht, an dem mein Leben schon relativ weit entgleist war. Privat hat nichts so richtig funktioniert und beruflich brannte ich langsam aber sicher aus. Zu viel landete auf meinem Tisch, ich kam kaum hinterher. Die neuen Aufgaben kamen, ohne dass ich mit den alten fertig wurde. Also musste ich im ständigen Chaos irgendwie Sachen fertig stellen und es zerrte jeden Tag an meinen Nerven. Das musste teilweise so sein, denn ich war ja der große Chef. Meine Verantwortung in der Firma war zu der Zeit enorm und ich durfte mir absolut keinen Fehler leisten. Das hat mir jeden Tag sehr viel geistige und körperliche Kraft geraubt. Deswegen habe ich sehr gerne den ganzen Vertragsabwicklungskramm an dich übergeben. Und das Beste daran war, dass es mir unglaublich viel Spaß machte. Du hast das Wissen wie ein Schwamm aufgesaugt. Ich habe noch nie jemanden so schnell entwickeln sehen. Dafür habe ich dich ein bisschen bewundert. Als ich dich eingearbeitet habe, erinnerte ich mich oft an meine eigenen Anfänge, und es war immer sehr schön. Schon bald warst du fachlich einfach top. Zu dem kam ich mit dir als Person sehr gut klar. Ich konnte dich eben sehr gut leiden. Das passiert generell nicht oft und schon gar nicht in der Firma. Leute, mit denen ich zusammenarbeite, nerven mich um einiges mehr, als diejenige, zu denen ich keinen Arbeitsbezug habe. Es war eine sehr nette Abwechslung. Deswegen ließ ich dir sehr viel mehr durchgehen, als jemandem sonst. Du hast mir oft sinnlos widersprochen, über mich Witze gemacht, mir Streiche gespielt und so. Normalerweiese erlebe ich sowas auf Arbeit eher selten, und meistens empfinde ich sowas als unverschämt. Aber in deinem Fall waren diese Spielchen extrem reizend. Genau auf den Part habe ich mich jeden Tag sehr gefreut. Und ich würde lügen, wenn ich jetzt behaupten würde, dass es keinen sexuellen Beigeschmack hätte. Manchmal, wenn ich abends ins Hotel kam…. naja…“ Ich beiße mir automatisch auf die Zunge. Der Teil der Geschichte ist mir tatsächlich sehr unangenehm. Aber es wird alles erzählt, auch dieser zutiefst peinlicher Bit. Ich atme tief ein. „Also, ich war manchmal so aufgeregt, dass ich mich eben… ähm… von diesen Gedanken manuell erleichtern musste.“
 

Ich lege eine kurze Pause ein und schaue ihn unauffällig an. Beim letzten Satz grinste er. Das Lächeln blieb ein paar Sekunden auf seinen Lippen, bevor er wieder nachdenklich wurde. Konterst du etwa nichts, Uzumaki? Nein? Okay, dann kann ich wohl fortfahren.
 

„Du merkst vielleicht, dass ich von Anfang an von dir sehr angetan war und es war schon extrem für meine Verhältnisse, besonders dieses Körperliche. Ein Verlangen nach jemandem war mir bis dahin völlig fremd. Ich hatte nur eine Partnerin und überhaupt habe ich noch nie jemanden außer Sakura aktiv gewollt. Und bei Sakura kam dieses Bedürfnis erst auf, nachdem wir zusammenkamen, und ich muss zugeben, es war bei weitem nicht so stark, wie in deinem Fall. Ich musste mich da aktiv zurückhalten. Es war tatsächlich gut so. Es war ein gewisser Realitätscheck, denn meine Realität sah damals so aus: ich war dein Chef, ich wollte dich, aber du warst eine hilflose studentische Hilfskraft und eigentlich hättest du vom Alter her mein Sohn sein können. Deswegen, Stand damals: niemand durfte wissen, dass ich dich wollte und insbesondere durfte zwischen uns absolut nichs passieren. Das war ich in der echten Welt. Aber im Kopf konnte mir nichts eine Grenze setzen. Es fing mit Träumen an, dann wurden diese Träume zu Tagträumen. Anfangs schämte ich mich dafür, doch irgendwann akzeptierte ich es und später fand ich daran sehr viel Vergnügen. Es wurde zu meiner kleinen Sünde, die mir den Tag versüßte, mehr nicht. Und ich war so dermaßen bilnd. Rückblickend verstehe ich, warum du Tag für Tag länger im Büro bliebst, warum ausgerechnet der Besprechungstisch in meinem Arbeitszimmer mehr Platz für deinen Kram hatte, warum du den Umweg zum Hotel doch fast jedes Mal in Kauf genommen hast und so weiter. Damals hab ich es nur als nette Gesten gedeutet, weil du generell eine nette Person bist. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass da mehr dahinter steckte. Ich glaube, du wusstest aber sehr wohl, wie es mir geht, und ich wage zu behaupten, dass die Situation dich belastet hat. Hab ich recht?“

„Ja, und ich habe mich sehr doll über dich geärgert.“

„War das so offensichtlich?”

„Na klar! Meinst du, ich bekam nicht mit, wie du mich gedanklich ausgezogen hast? Immer diese hungrigen Blicke in meine Richtung! Immer dieses "nein-leg-du-auf"- oder "du hast mich gerettet"-Ding! Immer dieses sinnlose in der Leitung Gehänge!” Unsere Blicke treffen sich für eine Sekunde. Oh mein Gott, in diesem kurzen Moment ist er genau derselbe Naruto wie damals am Trennungsfreitag. Eine kalte Schauer läuft entlang meiner Wirbelsäule. Wenn er so ist, macht mich das irgendwie nervös.
 

Seine flammende Rede ist zu Ende. Er legt eine Pause an, blinzelt einen Sekundenbruchteil länger und reißt sich aktiv zusammen:
 

„All das hat mir schon ziemlich viel Kummer bereitet.” Jetzt klingt er deutlich gelasseer. Wahrscheinlich könnte man seine Art sogar als distanziert bezeichnen. „Ich wollte eigentlich nichts mit einem verheirateten Mann zu tun haben. Deswegen wollte ich dir deinen Freiraum lassen. Ich dachte, du brauchtest Zeit, um ein paar Dinge zu klären. Deswegen habe ich den ersten Schritt von dir erwartet. Der Punkt kam aber nie und es machte mich wahnsinnig. Irgendwann war meine Geduld alle. Du hast mich schon wieder so angeguckt und dann habe ich dich geküsst.”

„Wie "so"”?

„Na, du hattest diesen Blick drauf… ich bekam in diesen Momenten immer das Gefühl, dass du etwas ganz besonderes anguckst. Mein Herz setzte da immer aus… aber es war so trügerisch.”
 

Sein Monolog endet. Wir atmen zeitgleich aus und ich spüre eine hauchdünne Melancholie in der Luft. Trügerisch, ha? Irgendwie verletzt mich das, wenn ich ganz-ganz ehrlich bin.
 

„Ja… ähn… wo waren wir nochmal?” Ich habe tatsächlich den roten Faden verloren.

„Dass mich das belastet hat…”, wirft er vorsichtig ein.

„Ach ja, stimmt… erster Schritt und so… also, der Kuss hat mich tatsächlich zutiefst überrascht. Ich hab ja nie vermutet, dass du dasselbe empfinden könntest. Diesen Abend werde ich vermutlich nie vergessen. Unser erstes Mal ist bis heute eins der stärksten Erlebnissen in meinem Leben überhaupt. Es war so, als hätte ich eine verbotene Frucht gekostet, und danach war etwas in mir ganz anders, als vorher. So ganz genau kann ich es bis heute nicht einordnen. Was ich auf jeden Fall weiß, ist, dass sich meine Realität komplett geshiftet ist. Es hat sich ja rausgestellt, dass du genauso empfunden hast, wie ich. Plötzlich war alles, was ich mir mit dir vorstellte, völlig okay oder sogar erwünscht. Ich konnte seitdem nicht genug von dir kriegen. Allgemein wusste ich nicht, dass man einander so vielseitig lieben kann, wie wir es gemacht haben. Wir waren in jeder Hinsicht absolut kompatibel. Charakterlich, temperamentmäßig, gewohnheitsmäßig und eben im Bett. Ab da blähte sich meine kleine geheime Sünde ganz schön auf und ich schmiss mich liebend gern kopfüber darein, denn es war berauschend und verdammt wunderschön. Und nun musste ich mich zwischen meinem vertrauten Leben, in dem mir so vieles unglaublich teuer ist, und meinen innersten Wünschen entscheiden. Es war viel zu schwer. Ich müsste dann zwangsweise einen Teil meines Selbst aufgeben und das hätte ich damals nicht verkraften können. Deswegen habe ich mich für ein Doppelleben voller Lügen entschieden. Ich Idiot habe ernsthaft gedacht, es könnte für immer so funktionieren. Es war eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt und das ist gut so. Ich habe über zweieinhalb Jahre aus zutiefst selbstsüchtigen Gründen die Menschen verletzt, die mir am nächsten standen. Du warst ein Teil von dieser Gruppe, Naruto. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Eine Sache müsstest du über meinen damaligen Zustand noch verstehen. Du warst die Verkörperung meiner innersten Wünsche, Naruto. Jedesmal, wenn wir miteinander waren, fühlte es sich wie ein Traum an, war also quasi nicht real für mich. Alles, was dich sozusagen in die Realität holen würde, habe ich unbewusst gemieden. Deswegen wollte ich keine Hausbesuche, keinen körperlichen Kontakt am Arbeitsplatz, keine Gespräche über Privates und keinen Sex ohne Kondom. Nichts machen, was einen kümmern ließ, nicht zu persönlich werden, nicht zu nahe kommen, die Grenzen nicht verletzten. Ich habe dir damit sehr viel Schmerz hinzugefügt. Dafür möchte ich mich bei dir von allem Herzen entschuldigen.“
 

So, jetzt ist die Rede des Jahrzehnten vorbei. Mein Brustkorb verengt sich. Was denkt er wohl darüber? Hat es für ihn Sinn gemacht? Ich werfe einen Blick zu ihm. Er ist in sich und wirkt nach außen komplett abwesend. Wahrscheinlich versucht er das gerade gesagte zu verarbeiten.
 

„Das war deutlich besser als "ein wenig zu wenig"”, sagt er nachdenklich.

„Ich habe mich tatsächlich auf dieses Gespräch vorbereitet. Habe heute morgen eine Rede geschrieben.”

„Ernsrhaft?”

„Ja.”

„Und? Hast du viel Zeit dafür aufgewendet?”

„Nein, nicht besonders, aber es liegt daran, dass ich letzter Zeit eine Angewohnheit entwickelt habe, mir mir selbst zu sprechen. So habe ich diese Situation tatsächlich sehr häufig geübt, also wusste ich, was ich aufschreiben möchte.”

„Habe ich also den schrecklichen Uchiha fiebern lassen?”

„Ja, das hast du.”

„Ich fühl mich geehrt. Wenn das nur mein jetziger Chef wüsste…”

„Was ist denn mit deinem jetzigen Chef?” Ich habe schleunigst den nächsten Gesprächseröffner geschnappt. Kein Bock in der Stille auf blöde Gedanken zu kommen.

„Er hat auch Angst vor dir. So wie fast alle damals.”

„Hä? Kenn ich den?”

„Omoi.”

„Achso, der… ja, Omoi ist ein wenig dümmlich…”

„Ich glaube, ich habe die Stelle nur deinetwegen bekommen. Im Vorstellungsgespräch habe ich kurz erwähnt, dass bei dir gearbeitet habe, und da waren sie gleich viel interessierter. Am gleichen Abend hatte ich eine Zusage von denen. So genau weiß ich nicht, warum sie mich wollten, aber die Vermutung liegt nahe.”

„Warum arbeitest du bei Omoi? Seine Firma hat noch nie was spannendes gemacht, oder hast sich das etwa geändert?”

„Ne, es ist immer noch nichts spannendes. Obwohl ich jetzt Manager heiße, mache ich auch hauptsächlich Vertragsabwicklung und Mitarbeitermanagement.”

„Hmmm, bei den ist also eine Senior Stelle dasselbe wie bei uns eine Aushilfsstelle. Interessant.”

„Na, so komplett eins zu eins ist es auch nicht. Ich habe schon mehr Verantwortung und auch mehr Aufgaben, die so anfallen.”

„Ist schon klar, es wäre ja sonst komplett oll. Wieso bist du überhaupt noch dort?”

„Keine Ahnung, es ist bequem. Damals brauchte ich dringend Geld und die haben mich sofort genommen.”

„Hmmm… und du bist trotzdem zufrieden so?”

„Nein, aber was soll's? Am Ende lohnt sich der Einsatz eh nicht. Für die Firma ist man eh nur eine Nummer in der Akte. Dafür muss ich meine Gesundheit nicht kaputt machen. Ich erfülle meine vertraglichen Pflichten und gehe dann. So einfach.”

„Bist jetzt komplett anders drauf.”

„Hab ich auch dir zu verdanken.”

„Verstehe.“
 

Und wieder dieses Schweigen. Ich werde mal wieder nervöser. Er ergreift die Initiative und ich bin ihm so dankbar! Er sagt leise:
 

„Bevor ich deine Entschuldigung annehme, hätte ich noch eine letzte Frage.”

„Ja, welche?”

„Du hast mich also doch geliebt?”

„Keine Ahnung, Naruto. Wenn es dir damit besser geht, dann sage ich einfach ja. Ich habe aufgehört zu versuchen, unserem Miteinander unbedingt einen Label zu geben. Für mich ist immer noch die klassische Liebesbeziehung die mit Sakura. Das, was wir hatten, war komplett anders. Deswegen würde ich persönlich das nicht so bezeichnen.”

„Ich verstehe nicht, warum du es mir immer noch sagen kannst. Uchiha, was zum Teufel war ich für dich, ha?”

„Du willst unbedingt eine Bezeichnung?”

„Ja, verdammt! Bitte gib mir eine. Ich brauche das für meinen inneren Frieden.”

„Okay, lass mich Mal überlegen… du warst… ähm…” Ich grinse ihn kurz an: „Mein bester Assistent.”

Er erwidert das Lächeln: „Oh, komm schon! Ich mein's ernst! Ich will einen Label für mich in deinem Leben! Bitte!”
 

Ich gehe kurz in mich hinein. Hmmm, welches Wort passt am besten?
 

„Du warst mein Seelenverwandter.” Das Wort rollt von meiner Zunge runter. Er starrt mich überrascht an und wird dann ganz schnell nachdenklich.

„Das ist ein sehr schönes Wort”, wispert er nach einer Weile und dann schweigen wir wieder. Ich muss sofort die Unterhaltung fortsetzen! Na los!

„Jetzt hab ich so viel geredet, also bist du dran. Wie geht's dir? Was machst du aktuell?” Guter Aufhänger! Gut gemacht, Uchiha-san!

„Nicht viel.”

„Gab's außer dem neuen Job gar keine Updates?”

„Doch. Ich hab jetzt 'ne neue Wohnung.”

„Nice! Bist du zufrieden?”

„Ja, die ist ziemlich gut. Hat mir übrigens mein Arbeitgeber besorgt.”

„Ach, so läuft das bei Omoi…”

„Ja, mehr oder weniger.”

„Das ist eigentlich sehr schön! Was noch?”

„Ich bin jetzt verlobt.”

„Herzlichen Glückwunsch! Wann ist die Hochzeit?”

„Keine Ahnung…” Plötzlich bricht seine Stimme: „Ich möchte nicht darüber reden.”

„Oh… entschuldige die Nachfrage.”

„Ist okay, das hättest du nicht wissen können.”
 

Jetzt ist Atmosphäre so richtig unangenehm geworden.
 

„Weißt du, was richtig witzig ist, meine Verlobte ist übrigens Hinata.”

„Ja, das ist wirklich witzig.”

„Als ich sie eingearbeitet habe, haben wir uns kennengelernt. Dann führte das eine zum anderen und puff! Plötzlich waren wir ein Pärchen und kurz darauf sogar verlobt.”

„Ja, manchmal geht's eben schnell. Man muss ja nicht immer tausend Jahre warten, oder?”

„Nö, manchmal muss man mit dem Flow gehen.”

„Richtig.”
 

Oh nein! Das Gespräch stirbt! Sasuke, sprich irgendwas an! Schnell!
 

„Weiß sie eigentlich, was zwischen uns war?” Toll! Doch nicht das!

„Nein.”

„Oh…”

„Tja…” Er grinst sarkastisch: „Jetzt weißt du, dass dein ehemaliger Assistent mit deiner jetzigen Assistentin verlobt ist, und dass deine jetzige Assistentin nicht weiß, dass ihr Vorgänger mit ihrem Boss geschlafen hat.”

„Kacke…”

Er kichert: „Tja, viel Spaß, ne?”

„Du Arsch”, lasse ich teils frech, teils schockiert ab. „Und? Fragt sie dich immer noch zu allem, so wie damals?”

„Ab und zu.”

„Und du kannst es noch?”

„Natürlich. Das meiste jedenfalls.”

„Was?! Du bist doch seit über einem Jahr raus!”

„Ich bin halt kompetent, okay! Und ich will meine Verlobte nicht im Stich lassen!”

„Hey, sag mal, verstehe ich es richtig: deinen jetzigen Job hast du meinetwegen, deine Wohnung auch, deine Verlobte auch, und sie arbeitet noch bei mir und du hilfst ihr immer noch, was indirekt bedeutet, dass du immer noch was für meine Verwaltung machst?”

„Ja-ja! Halt die Fresse!” Er verdreht die Augen.

„Was für ein Opfer bist du, Uzumaki!” Ich grinse ihn schadenfroh an.

„Tja und du? Keine Familie, keinen Partner, nichtmal Haustiere hast du! Du bist völlig einsam! Und hängst immer noch an deinem besten Assistenten dran! So sehr, dass du ihn um 4:38 anrufst und ihn anbettelst, dass er gleich heute vorbeikommt, weil du dich ach so dringend entschuldigen willst! Wie peinlich ist das denn?!”
 

Wir gucken einander zum ersten Mal unbeklemmt an. Mein Herz schlägt kräftig. Ich spüre, wie das Blut durch meine adern fließt. Seine Augen leuchten schelmisch auf. Er möchte mich herausfordern und ich freue mich drauf. Ich lächle ihn an und er erwidert. Dabei lehnt er sich ein bisschen näher zu mir. Seine Wangen sind leicht rötlich. Er wirkt durcheinander. Seine Lippen sind trocken und leicht geöffnet. Er beleckt sie nur ganz kurz und ich gebe dem natürlich zu viel Bedeutung. Er atmet hörbar durch den Mund. Er will eindeutig was sagen, doch die Worte kommen nicht. Naruto, was hältst du zurück? Was ist das?
 

„Also, sind wir einander nicht komplett los, oder?” Den Satz habe ich sehr unüberlegt ausgesprochen. Natürlich war er teilweise als ein schlechter Witz gemeint, aber eben nur teilweise. Shit, ich bereue es schon.

Sein Blick wandert in den Boden. Er seufzt schwer: „Scheint wohl so zu sein.”
 

Oh, wenn ich dachte, dass das andere unangenehm ist, habe ich mich komplett geirrt. Jetzt werden die vergehenden Sekunden richtig unerträglich. Ihm geht's genauso. Okay, das Gespräch ist definitiv an dieser Stelle beendet. Er steht wortlos auf und bewegt sich in Richtung Flur. Ich folge ihm, nur Gott weiß wieso. Weder er noch ich wollen das. Trotzdem muss es so. Die nächsten Minuten beobachte ich, wie er sich anzieht. Es ist für alle Beteiligten unangenehm. Trotzdem muss es so. Jetzt verweilt er wortlos vor der Tür. Seine Hand hebt sich. Er legt sie langsam auf die Türklinke. Gleich geht er! Nein! Naruto! Warte!
 

Im nächsten Moment stehen wir umarmt. Es gibt nichts mehr außer uns und dieser verdammten verschlossenen Tür. Ich halte ihn regelrecht fest. Er wehrt sich nicht. Ganz im Gegenteil. Er hält mich auch fest. Ich schließe die Augen und vergrabe mein Gesicht in seinen weizenfarbenen Locken. Keine Sorge, Naruto, ich lasse dich gleich gehen. Bleib nur ein kleines bisschen länger. Nur noch ein bisschen. Danach werden wir einander los.
 

Versprochen.

Es gibt nichts mehr außer uns.
 

Wir halten einander fest. Ich schließe die Augen und vergrabe mein Gesicht in seine weizenfarbenen Locken. Mir steckt ein Klumpen im Rachen und die Tränen kullern mir unkontrolliert die Wangen runter. Er schmiegt sich an meine Brust. Seine Schultern zucken. Es wirkt so, als möchte er vor der ganzen Welt flüchten und sich in meinen Armen verstecken. Ich spüre seine sanfte Wärme. Nichtmal seine dicken Klamotten können sie verbergen. Er drückt mich kräftig zusammen. Ich tue dasselbe, denn mir wird gerade bewusst, dass ich es zum allerletzten Mal machen darf.
 

„Du bist ungefähr anderthalb Jahre zu spät damit, Uchiha”, wispert er schnaubend.

„Ich weiß”, halle ich nach.

„Das werde ich dir niemals verzeihen.”

„Verständlich.”

„Weißt du, warum ich dem heutigen Treffen zugesagt habe?”

„Nein.”

„Ich wollte dich leiden sehen.”

Ich grinse mit den Tränen im Gesicht: „Und? Hat dich der Anblick meiner miserablen Existenz glücklich gemacht?”

„Ja, für ein paar Augenblicke ging's mir richtig göttlich heute.”

„Dann hat sich das Treffen doch gelohnt, oder?”

„Nein.”

„Wieso denn?”

„Weil dich so zu sehen…” Seine Stimme bricht, aber er bringt den Satz zu Ende: ”…unerwartet richtig doll weh tut.” Mein Herz verkrampft schmerzhaft. Ich reiße mich zusammen, um nicht in einem schlimmen Weinkrampf auszubrechen, und drücke ihn noch näher zu mir. Er fährt fort: „Dafür hasse ich dich, Sasuke. Ich hasse dich dafür, dass du immer noch diesen besonderen Platz in meinem Herzen besetzt. Ich verabscheue dich aus dem tiefsten Herzen. Mit aller Hingabe. Du bist ungelogen das Schlechteste, was mir je passiert ist.”
 

Ich kneife die Augen kräftig zusammen. Das trifft richtig hart. Es fühlt sich so an, als würde er direkt in mein Herz hineinstechen. Ich kann mich kaum zurückhalten. Wenn er noch so etwas parat hat, platze ich wahrscheinlich.
 

„Also, ist alles zwischen uns nur schlecht gewesen?” Ich weiß nicht, warum ich überhaupt diese Frage stelle. Es ist im Grunde egal, ob es was Gutes gab, die gesamte Bilanz ist negativ und das ist mir viel zu gut bewusst.

„Ja, weil jeder kleinste Glücksmoment mit dir dazu geführt hat, dass wir jetzt hier sind. Und das ist nicht gerade gut, weißt du?”

„Verstehe. Warum gehst du dann nicht einfach?”

„Keine Ahnung. Es ist genauso, wie du mir nicht sagen kannst, ob du mich wirklich jemals geliebt hast.”
 

Ich schnaube laut und schlucke, in der Hoffnung den Klumpen im Rachen loszuwerden. Natürlich bringt es nichts. Die Kehle wird gefühlt nur noch fester zugeschnürt.
 

„Du bist so richtig verbittert geworden, oder?”, wispere ich. Er sagt nichts. „Mir war überhaupt nicht bewusst, wie hart dich das getroffen hat.”

„Jetzt weißt du es.”

„Scheiße… ich habe dich ja richtig zerbrochen.” Mein Herz verkrampft sich noch einmal… oh, es ist nicht nur so ein Moment-Ding… es lässt nicht los. Aua!

„Ummm, hast du”, spricht er heulend aus.
 

Okay, das war's. Ich breche zusammen. Der Schmerz in meinem Brustkorb wird intensiver und breitet sich wie ein bösartiger Geschwür in die anderen Regionen meines Körpers aus. Ich verbrenne von Innen. Es sind die Flammen der Hölle. Sie zerfressen mich. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Es geht mir so dreckig. Trotzdem lasse ich nicht los. Ich spüre seine Präsenz und es ist mein Anker im Hier und jetzt. Gleich ist es vorbei. Nicht mehr lange…
 

Nach einigen Minuten beherrsche ich mich wieder genug, um die groben Umrisse meines Flurs bewusst wahrzunehmen. Er ist immer noch hier. Einerseits bin ich tierisch glücklich darüber, andererseits will ich, dass er aus meinem Leben für immer verschwindet.
 

„Hast du dich genug an meinem Leid ergötzen können?”, flüsterte ich kraftlos.

„Ja.”

„War das schön?”

„Oh ja.”

„Gut. Und geht's dir jetzt besser?”

„Nein.”

„Hmmm, schade. Hilft's dir, wenn ich sage, dass ich dich jeden Tag vermisse?”

„Nein.”

„Wie wäre es mit einer Liebeserklärung?”

„Nein.”

„Willst du nochmal deinen Frust an mir loswerden?”

„Nein.”

„Kann ich dich irgendwie aufmuntern?”

„Erfinde eine Zeitmaschine, reise in die Vergangenheit zurück und mach genau das, was du jetzt machst. Damit würdest du mich für immer aufmuntern.”

„Das kann ich nicht. Tröstet dich ein wenig, dass es ein Paralleluniversum gibt, wo genau das passiert ist?”

„Nicht sonderlich, nein.”

„Also, gibt's nichts, was ich für dich tun kann?”

„Lösch dich aus meinen Erinnerungen”, zischt er giftig. Dabei schmiegt er sich näher an meine Brust.

„Das liegt leider überhaupt nicht in meiner Hand.” Ich küsse unauffällig seinen Kopfwirbel und er zuckt leicht zusammen.

„Was kannst du eigentlich?!”, lässt er frustriert ab. Dabei klingt er passiv-aggressiv und absolut verzweifelt. Er haut mich ziemlich kräftig, aber der physische Schmerz ist in diesem Moment völlig egal. Er bricht zusammen. Ich auch. Wir verletzen einander schon wieder. Trotzdem halten wir einander ganz-ganz fest.

„Vielleicht muntert dich das hier auf. Dich gehen zu lassen war der größte Fehler meines Lebens. Ich möchte, dass du es mal gehört hast.”
 

Er sagt nichts. Ich höre nur Schluchzen. Ich wünsche, ich könnte ihm seinen Schmerz nehmen. Ich will, dass er für immer bei mir bleibt. Dann könnte ich es vielleicht irgendwann wiedergutmachen. Dann wäre er vielleicht ein wenig glücklicher.
 

Und so standen wir keine Ahnung für wie lange. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und er augenscheinlich auch. Seine Schulter haben ab und zu spastisch gezuckt. Ich habe mich mittlerweile so weit beruhigt, dass ich jetzt ganz leise für mich heulen kann.
 

„Ich sollte jetzt wirklich gehen.”

„Mach das. Es wird ja nur noch später.”
 

Endlich haben wir den krampfhaften Halt aufgelöst. Er setzt das Verlassen meiner Wohnung fort, indem er die Hand wieder langsam auf die Türklinke legt. Diesmal stoppe ich ihn nicht und er kann erfolgreich die Tür aufmachen. Er bewegt sich in den Vorraum, wo der Fahrstuhl ist. Ich folge ihm bis dahin. Er betätigt den Knopf und nach einer Weile kommt der Fahrstuhl tatsächlich an. Er steigt ein, drückt auf die Null und dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich und wir schauen einander bewusst an. Ich möchte die allerletzten Augenblicke mit ihm schnappen. Plötzlich geht die Tür zu. Kurz bevor er aus meinem Sichtfeld verschwindet, wisepre ich:
 

„Naruto, ich liebe dich.”

„Naruto, ich liebe dich.”
 

Er ist verschwunden.
 

Ich gehe zum Fenster hin. Naruto ist gerade aus dem Haus herausgelaufen. Sein blonder Schopf bewegt sich zielstrebig in Richtung U-Bahn. Die Menschenmasse macht es nicht einfach, ihn im Blick zu behalten, aber noch sehe ich seine immer kleiner werdende Gestalt. Tja, Naruto, so stolz wie du deinen Kopf hältst, würde man niemals vermuten, dass du vor fünf Minuten heulend in meinen Armen lagst. Generell bist du heute komisch gewesen. Wenn ich das Schlechteste bin, was dir passiert ist, wieso bist du überhaupt gekommen? Warum hast du einen Schmerz empfunden, als du mich leiden gesehen hast, wenn du mich wirklich aus dem tiefsten Herzen verabscheust? Allgemein hat dein jetziges Leben sehr viele Berührungspunkte mit mir. Dein Job, deine Wohnung, deine Verlobte… ach, und darüber möchtest du nichtmal reden… ich hoffe, dass du sie trotzdem heiraten willst. Das wäre ihr gegenüber ziemlich unfair. Ich weiß, ich bin der Letzte, der darüber eine Moralpredigt halten sollte. Trotzdem hätte ich gerne, dass du nicht dieselben Fehler machst, wie ich. Wenn man nicht ehrlich ist, dann richtet man zwangsläufig irgendwann massiven Schaden an. Wenn du diese Ehe von vornherein mit Zweifel beginnst, denke ich nicht, dass es eine besonders gute Konstellation ist. Also passt da bitte-bitte auf, okay? Aber du bist schon ein helles Köpfchen. Du weißt wahrscheinlich, was du da machst, ganz unabhängig davon, wie ich es empfinde.
 

Was mir deutlich mehr Sorge bereitet, ist dein Vibe, Naruto. Ich kann es leider mit keinem anderen Wort beschrieben. Ich habe dich ungefähr ein Jahr nicht gesehen und es scheint, als wärest du im Grunde eine andere Person geworden. Eine Sache, die dich ausgezeichnet hat, war dein inneres Feuer. Es war eine unaufhaltsame Kraft. Du warst begeisterungsfähig, lebensfroh, leidenschaftlich und das hast du an alle um dich herum weitergegeben. Du warst eine kleine Sonne. Leider hast du es komplett verloren. Jetzt wirkst du ausgebrannt, verbittert und sehr zynisch. Genau das hat mir am meisten weh getan. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, aber vermutlich bin ich der Hauptgrund dafür, warum du heute so bist.
 

Naru, sag mir, habe ich dich ernsthaft zu einem anderen Menschen gemacht? Das fühlt sich surreal an… kann ein Mensch wirklich einen anderen Menschen so stark beeinflussen?
 

Eigentlich schon… ja, es kann definitiv passieren. Schließlich bin ich auch nicht mehr derselbe. Komischerweise würde ich meine eigene Änderung eher als positiv betrachten. Das ist ziemlich unfair.
 

Der kleine Punkt ist um die Ecke verschwunden. So, das war's jetzt wirklich. Naruto, was auch immer du im Leben machst, ich wünsche dir vom ganzen Herzen alles Gute. Ich geh dann man rein.
 

Ich betrete die Küche. Der Raum fühlt sich verlassen an. Ich mach den Wasserkocher an und lege einen Teebeutel in die Tasse. Was habe ich denn hier geschnappt? Grüntee? Ja, ist gut… also, wenn ich ganz ehrlich sein müsste, was habe ich eigentlich vom heutigen Treffen erwartet? Keine Ahnung? Dass er mir alles verziehen hat und jetzt gerne da weitermachen würde, wo wir aufgehört haben? Das wäre natürlich das Beste. Na, zumindest habe ich erwartet, dass er immer noch er selbst ist und keine absolut andere Person. Und wenn doch, dass die Person nicht so destruktiv erscheint. Hmmm, jetzt, wo ich so darüber nachdenke, war das womöglich ein Hilfeschrei? Wollte er etwa gerettet werden? Warum sonst würde er hier auftauchen, ein Label für sich einfordern und danach in meinen Armen zusammenbrechen? Tatsache, vielleicht will er immer noch, dass ich ihm hinterherlaufe und mich vor ihm zum absoluten Deppen mache?! Oh Gott, das sind super schwierige Fragen! Ich will ihm unter keinen Umständen zu nahe treten, überhaupt nicht. Zumal habe ich null Anrecht darauf. Es ist allein seine Entscheidung. Wenn er sein Verlobungsplan will, dann sollte er ihn durchziehen. Aber wenn er eigentlich gehofft hat, dass ich ihn heute stoppe… oooh, wie soll man denn sowas alleine rausfinden, ha?! Gott, oder wer auch immer da oben sitzt, bitte sende mir ein deutliches Zeichen, falls er möchte, dass ich was mache! Bitte! Ich will es wissen! Jetzt sofort!
 

Mein ganzer Körper spannt sich an. Ich halte sogar instinktiv den Atem an. Mein Herz schlägt kräftig. Ich schließe die Augen und halte inne…
 

Nichts passiert.
 

Die Spannung verlässt meinen Körper und ein riesiges schwarzes Loch öffnet sich in meinem Inneren. Ich spüre, wie meine Systeme runtergefahren werden. Alles wird in dieses Loch eingesaugt und ich merke es einfach. Verzweiflung. Scheiße, wieso ist denn nichts passiert?! Warum habe ich… Moment mal… ich will doch ihn aufhalten! Wieso mache ich das einfach nicht?! Oh, ich bin so verdammt dumm!!!
 

Ich flüchte panisch aus meiner Wohnung und renne zur U-Bahn so, als würde mein Leben davon abhängen. Tatsächlich hängt mein Leben davon ab. Alles oder nichts. Ein kräftiger Platzregen bricht aus. Ich werde binnen Sekunden komplett nass. Endlich erreiche ich den Bahnhof. Ich stürme wie verrückt auf die Plattform. Dabei schlägt mein Herz kräftig. Wenn ich jetzt Naruto vorfinde, springt es bestimmt aus dem Brustkorb heraus und ich versterbe am Blutverlust. Ich bin unten. Für diese Uhrzeit ist die Plattform ungewöhnlich leer. Die Menschenmasse ist relativ überschaubar. Ich scanne jeden hungrig ab. Mein Blick krallt sich intensiv in einen Fahrgast nach dem nächsten. Nein… nein… nein… nein… ebenfalls nein… scheiße, er ist nicht mehr hier. Oh nein…
 

Eine Bahn fährt ein und wenige Sekunden später noch eine auf der gegenüberliegenden Seite. Die Türen gehen auf. Die Menschen verteilen sich auf die Waggons. Ein lautes Signal und eine rote Lampe zeigen das Ende des Stopps an. Die Türen schließen. Sie fahren weg. Niemand sonst bleibt auf dem riesigen Bahnsteig übrig.
 

Wenn du so weiter machst, verreckst du irgendwann ganz allein.
 

Die Worte vom Trennungsfreitag erklangen in meinem Kopf wie ein mächtiger Donner. Das riesige schwarze Loch in meinem Inneren öffnet sich wieder und verschlingt die kleine Hoffnung, an der sich mein gesamtes Wesen festgeklammert hat. Jetzt ist auch das weg. Ich verspüre eine unangenehme Schwere in der Brust. Mir geht's das überhaupt nicht gut. Ich muss mich erstmal hinsetzen.
 

Nach ein paar Minuten habe ich mich wieder eingekriegt. Der Bahnsteig inzwischen etwas voller geworden und das half mir tatsächlich. Es ist gut zu wissen, dass es noch jemanden hier gibt außer mir. Es ist irgendwie lächerlich, aber was soll's… im Moment brauche ich einfach irgendeine menschliche Präsenz, denn sonst hätte der Uzumaki komplett Recht.
 

***
 

Einige Monate sind seit dem Treffen vergangen. Seit einigen Monaten ist mir also bewusst, dass ich völlig allein bin. Ich versuchte diese Lücke zu schließen, indem ich mich öfter mit meiner Tochter treffe. Uns beiden hat es sehr gut getan. Ich glaube, Sakura ist auch sehr froh darüber. Doch seit einigen Tagen weiß ich, dass Sarada ins Ausland zieht wird. Es gibt da so eine Internatsschule für begabte Kinder und da wurde sie zufälligerweise aufgenommen. Die Situation hat mich schon echt hart getroffen. Nicht, dass sie so spontan gehen möchte – das begrüße ich wiederum sehr – sondern dass sie mir nichts von diesem Vorhaben erzählt hat. Naja… Kinder werden irgendwann auch erwachsen, dann möchten sie ihren Alten nicht unbedingt alles erzählen. Kann ich schon nachvollziehen.
 

Heute habe ich noch einen kleinen Schicksalsschlag erlebt. Naruto hat am Samstag geheiratet. Das habe ich unauffällig bei den Buchhaltern überhört, als ich Akimichi auf einen groben Fehler in einer sehr wichtigen Rechnung hingewiesen habe. Die Hochzeit wäre voll toll gewesen, zumindest wenn man Nara glaubt. Außerdem hat er gesagt, dass Naruto echt glücklich wirkte. Das hätte ich gern gesehen. Ich habe das Gefühl, dass ich genau diesen Anblick für meinen persönlichen Seelenfrieden brauche. Genau so wie Naruto unbedingt eine Bezeichnung für seinen Platz in meiner Welt wollte.
 

Innerer Seelenfrieden, ha?
 

Existiert sowas überhaupt? Ich dachte schon viel zu oft, dass wenn etwas bestimmtes passiert, bin ich glücklicher, zufriedener, ausgeglichener… dann ist dieses bestimmte Etwas passiert, aber es gab keine nachhaltige Änderung. Kann man denn also den inneren Seelenfrieden jemals finden? Beziehungsweise kann ich das?
 

„Uchiha-san, entschuldigen Sie bitte…”

Ich hebe meinen Kopf hoch und sehe Yamanaka vor mir. „Ja?”

„Feedback für die Beförderungsrunde… Sie haben noch kein einziges eingereicht und so langsam ist es sehr dringend.”

Achso, scheiße, da war ja was, was ich seit drei Wochen konsequent ignoriere… „Ja, natürlich, bis heute Abend EOB kriegen Sie alles.”

„Danke.”

„Bis wann ist denn die Frist eigentlich?”

„Gestern wäre der letzte Tag gewesen.”

„Oh… okay, dann erledige ich es gleich im Anschluss.”

„Alles klar, dann war's das schon. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.”

„Yamanaka-san, warten Sie bitte…”

„Ja, was denn?”

„Sie kennen mich schon länger. Sagen Sie… bin ich in den letzten zwei Jahren irgendwie netter geworden?”

Ihre Augen werden plötzlich wie riesige Teller. Ja, die Frage hat sie komplett umgehauen… hmmm, vielleicht hätte ich lieber die Klappe halten sollten. „Keine Angst, es ist keine Fangfrage oder so. Ich möchte nur Ihre ehrliche Meinung hören.” Oh, jetzt guckt sie mich nicht nur perplext an, sondern auch ängstlich. Ach man, ich hätte wirklich-wirklich die Klappe halten müssen. Soft Skills, Sasuke, soft Skills! „Okay, ich sehe, Ihnen ist die Frage unangenehm. Es tut mir leid und Sie können sie gerne ignorieren. Entschuldigen Sie mich bitte.”

„Nein, bitte entschuldigen Sie mich. Ich… ähm…”

„Ach, Ino, kommen Sie, wir wissen beide, dass ich eine schrecklich unnette Person bin. Ich wollte nur wissen, ob sich das wenigstens etwas gebessert hat.” Jetzt schaut sie mich richtig erstaunt an. Gott, ich habe nicht so viele Gesichtswechsel innerhalb von einer Minute erwartet. Ich füge hinzu: „Ich gebe mir tatsächlich seit zwei Jahren Mühe, nicht mehr so unausstehlich zu sein.”

„Oh…”, lässt sie nur verwundert ab.

„Ja, anscheinend klappt es nicht so gut. Zugegebenermaßen ist es mit meiner beinahe nicht existenten Geduld überhaupt nicht einfach.”

„Naja, reden Sie sich nicht so schlecht. Viele haben eine hohe Meinung von Ihnen.”

„Wahrscheinlich eher aus fachlichen Gründen.”

„Das haben Sie jetzt gesagt…”, wirft sie leise ein.

„Naja, ich kenn doch meine Mitarbeiter und sie kennen mich. Niemand von ihnen kann mich wirklich privat leiden. Leider beruht das auf Gegenseitigkeit.”

Ich fange ihren verwirrten Blick. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.

Ich breche das Schweigen: „Es ist eigentlich schlecht. Deswegen versuche ich seit zwei Jahren aktiv dagegen zu wirken.”

„Macht es Ihnen so viel aus?”

„Letzter Zeit schon. Man wird nicht jünger, da ändern sich die Prioritäten. Es ist schon traurig, dass man mich hier nach zwanzig Jahren kaum leiden kann.”

„Wow… Sie haben jetzt mein Bild von Ihnen irgendwie komplett zerstört”, lächelt sie mich weiterhin etwas gehemmt an.

„Kein Problem, sowas mache ich gerne.” Ich erwidere.

Jetzt lächelt sie aufrichtig: „Wo ich Sie jetzt so sehe… ich glaube, ich habe Sie in den sechs Jahren, in denen ich hier bin, noch nie lächeln sehen. Ach, ne, Quatsch…” Ihr Blick geht zur Decke und sie versucht sich an irgendwas zu erinnern. „Ja, so ungefähr vor drei-vier Jahren… ja, Naruto war noch hier. Stimmt! Ich glaube, es war irgendeine firmeninterne Veranstaltung und da habe ich Sie ausnahmsweise sehr aufgeschlossen erlebt.”

„Achso.” Ich schmunzle leicht.

„Na dann…” Ino signalisiert mir, dass sie gehen möchte.

„Ich reiche die Feedbacks noch heute ein.”

„Vielen Dank.” Sie geht sich zur Tür.

„Bis dann!”
 

Sie verlässt mein Büro und ich seufze. Mir kommen die Erinnerungen hoch. Das war nicht irgendeine firmeninterne Veranstaltung, sondern die, die meiner Abteilung in allerletzten Minute aufgedrückt wurde. Damals musste Naruto die gesamte Orga schmeissen. Trotz Zeitdruck ist sie echt klasse geworden. Die Woche davor war ich super gestresst, genervt und ausgelutscht und unter keinen Umständen wollte ich dahin. Naruto hat mich nichtsdestotrotz mitgeschleppt. Für meine eigene geistige Gesundheit, meine er. Ich bin natürlich sehr voreingenommen hineingegangen. Aber Naruto hat mich sehr geschickt entspannt gemacht und irgendwann im Laufe des Abends habe ich festgestellt, dass ich da überhaupt nicht weg möchte. Nach der Party fuhren wir ins Hotel und verbrachten fast die ganze Nacht draußen auf dem Balkon. Er hat mir noch mehr Details von seiner Vergangenheit verraten. Es ging um seine Zeit an der Mittelschule und wie schrecklich sie war. Und danach führten wir ein langes tiefsinniges Gespräch über Fairness und Chancengleichheit. Bei diesem Gespräch entdeckte ich, dass er sehr viele Vorurteile über mich hatte. Ich sei ja privilegiert aufgewachsen. Ich würde ja nur die Eliteschulen besuchen. Ich hätte ja eine reiche Verwandtschaft mit Connectios. Ich fand es einfach lustig, was er alles über mich so angenommen hat. Schlussendlich bin ich in seinen Armen eingeschlafen. Dieser Abend ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben, denn da hatte ich seit langem dieses Gefühl, dass ich genau am richtigen Ort, zur genau richtigen Zeit und mit der genau richtigen Person bin.
 

***
 

Ich schwänze heute meine Therapie schon wieder. Meistens mache ich das, weil ich wirklich viel zu tun habe. Das ist für mich ein legitimer Grund. Heutiger Grund ist nicht legitim. Seit einigen Wochen verfalle ich in eine sehr starke Sehnsucht nach menschlichen Kontakt. Ich kotze mich zwar bei meiner Therapeutin darüber aus, aber irgendwie ist das nicht so effektiv. Ich weiß nicht wieso, aber die Gespräche bringen keinen Seelenfrieden. Deswegen greife ich neuerdings öfter zum Alkohol. Ich weiß, dass das dumm ist, aber ich kann diesen Zustand sonst nicht adäquat managen. Diese Woche war extrem schlimm. Nichtmal Alkohol half. Die ganze Woche ging's mir richtig unterirdisch. Gestern erreichte die Sehnsucht ihren Höhepunkt. Was habe ich also gemacht? Richtig, ich bin ausgerastet und mir verbindlich einen Callboy gebucht. Jetzt muss ich mich mit ihm treffen und es fühlt sich einfach falsch an, in diesem Hotel zu sitzen und…
 

Oh, jemand hat an der Tür geklopft. Ich öffne. An der Türschwelle steht ein rothaariger braunäugiger Typ. Sein Gesicht ähnelt erstaunlich Naruto Uzumaki. Bei diesem Anblick verziehe ich unkontrolliert mein Gesicht zu einem Grinsen und mein Herz füllt sich mit einer angenehmen Wärme. Er bewirft mich erstmal mit einem skeptischen Blick.
 

„Bist du Sasuke?”

„Ja.”

„Dann bin ich richtig hier.” Er lässt sich hinein und fährt direkt fort: „Ich habe zwar Pauschalpreise, aber kein Blasen, kein Sex ohne Kondom, kein Küssen…”
 

Plötzlich bricht dieser Junge in einem langen Vortrag über seine Dienstleistungen aus. Währenddessen verflüchtigt sich meine Sekundeneuphorie komplett. An ihrer Statt kommt eine unangenehme Nervosität. Ich unterbreche ihn:
 

„Mal ganz kurz, vielleicht können wir erstmal quatschen, bevor es zur Sache geht?”

„Was?”

„Steht das nicht auf deiner Preisliste?”

„Nein, ich habe für sowas keine Zeit.”

„Achso? Warum denn? Ich bezahle doch für deine Zeit, darf ich mir da nicht aussuchen, was wir machen?”

„Hör auf, so auf nett zu machen!!!”
 

Er bricht erneut in einem Vortrag aus. Dieser hier ist aber ziemlich wütend. Ich habe darauf auch null Bock. Die Nervosität vergeht vollständig und ich empfinde jetzt nur Ekel. So ein komischer Typ. Plötzlich fasst er mich an. Hey, das geht überhaupt nicht! Ich stoße ihn weg.
 

„Weißt du, ich habe einen Fehler gemacht. Bitte geh jetzt.”

„Und was ist mir Geld?!”

„Du hast doch deine Voranzahlung, was willst du noch von mir?”

„Hä? Du hast mich für zwei Stunden gebucht und schmeißt mich hier so raus! Bezahl mich dann wenigstens!”

Ich seufze: „Hier.” Ich drücke ihm ein paar Scheine in die Hand. „Hier noch ein bisschen Trinkgeld.” Ich gebe ihm einen Haufen Münzen. „Schönen Abend noch.”
 

Er stürmt aus der Tür heraus. Es knallt kurz und danach kehrt Ruhe ein. Sehr gut. Scheiße, wieso dachte ich, dass es eine gute Idee ist, einen Naruto-Ersatz zu holen?! Erstens war er viel zu jung, vielleicht zwanzig? Es wirkte schon abschreckend. Auf den Bildern kam das nicht so rüber. Und zweitens ja, er sieht aus wie Naruto, aber er ist überhaupt kein bisschen wie Naruto. Nur Gesicht passt, der Rest ist verfehlt. Vor allem haben wir null Verbindung und ich kann nicht gut mit Fremden. Besonders dann nicht, wenn sie mir gleich erzählen, was bei ihnen Rimming kostet. Gott, ich brauche so dringend eine qualitative menschliche Nähe! Ich will Verbindung spüren! Ich möchte mit jemandem lange tiefsinne Gespräche über Gott und Welt führen! Ich möchte mit jemandem regelmäßig Mahlzeiten teilen! Ich möchte wieder mit jemandem lachen! Ich möchte mich mit jemandem über irgendwas ärgern! Ich will Zärtlichkeit und Wärme und Geborgenheit und Gemeinschaft! Ich will jemandem gehören. Ich will, dass jemand mir gehört…
 

Ach, wen belüge ich hier? Es geht immer noch um ihn. Es ist eigentlich komplett lächerlich. Wir waren nur zweieinhalb Jahre zusammen und seit ungefähr anderthalb Jahren sind wir getrennt. Unsere Zeit war also sehr kurzweilig. Hinzu kommt, dass es jetzt eh alles anders ist. Er hasst mich. Er hat gesagt, ich bin das Schlechteste, was ihm je passiert ist, und da würde ich ihm wahrscheinlich recht geben. Außerdem ist er jetzt verheiratet und allgemein ist er eine ganz andere Person geworden. Dieser Naruto, der eine Sonne war, der meine Termine managte, meinen Geschäftspartner Honig um die Ohren schmierte, sich mit mir verbal anlegte, mit mir gerne ins Hotel ging und mich bis zum Nervenzusammenbruch angebettelt hat, bei ihm zu bleiben, ist ein Relikt aus Vergangenheit. Es ist eigentlich absolut sinnlos, dem nachzutrauern, aber hier bin ich und mache genau das und es bricht mir mal wieder das Herz. Ich jage innerlich diesem bittersüßen Gefühl hinterher, dass ich genau am richtigen Platz zur genau richtigen Zeit mit der genau richtigen Person bin, und ich will, dass er nur noch ein Mal diese Person ist. Ich will ihn nur noch ein Mal an meiner Seite spüren. Ich will nur noch einmal von Naruto geliebt werden.
 

Denn so geliebt wie von diesem Jungen wurde ich von niemandem. Und ich habe noch nie jemanden so geliebt wie ihn.



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Kommentare zu dieser Fanfic (42)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Onlyknow3
2022-12-02T18:52:27+00:00 02.12.2022 19:52
Sasuke du Idiot, das kommt knapp zwei Jahre zu spät.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2022-12-02T17:50:24+00:00 02.12.2022 18:50
Das wollte er sicher nicht mehr hören nach diesem Gespräch, er hat genug von Sasuke.
Weiter so freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2022-12-02T17:24:37+00:00 02.12.2022 18:24
Klasse Kapitel, kam nur lange nicht mehr zum lesen hier.
Weiter so, freue mich auf das nächste.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2021-05-30T12:19:21+00:00 30.05.2021 14:19
Warum schreibt er sich nicht auf was er Naruto sagen möchte, aus reiner vorsicht. Doch das würde ihm Naruto dann wohl nicht abnehmen, was er ihm sagt. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Scorbion1984
2021-05-29T20:03:28+00:00 29.05.2021 22:03
Bin gespanntxwas bei Ihrem Gespräch rauskommt.
Hoffentlich vermasselt er es nicht wieder.
Von:  Onlyknow3
2021-05-23T13:57:44+00:00 23.05.2021 15:57
Hier kam die Einsicht zu spät, Sasuke Uchiha. Leide, leide so wie Naruto gelitten hat, und noch immer leidet.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Scorbion1984
2021-05-22T20:20:58+00:00 22.05.2021 22:20
So nun ist er wieder einsam ,ist es das was er wirklich will oder braucht?
Ich denke nicht, schade ich hatte gehofft das es sich mit den Beiden wieder einrenkt.
Von:  Onlyknow3
2021-05-15T11:25:52+00:00 15.05.2021 13:25
Sasuke du Armleuchter, echt der kapiert gar nichts. Er sollte sich mal seine Gefühlen stellen, dann würde er spüren warum ihm Naruto so fehlt. Der kommt erst drauf wenn es Naruto nicht mehr gibt, wenn der wirklich verschwunden ist aus seinem Leben, vielleicht erzählt Naruto es ja Sakura.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Scorbion1984
2021-05-13T19:15:58+00:00 13.05.2021 21:15
Super ,es geht weiter .
Aber wie ich sehe schaffen die Zwei es immer noch nicht ,das zu tun was sie gerne wollen .
Anscheinend wissen sie im Moment auch keinen Ausweg,als sich anzuschreien.
Schade um die Beiden .
Antwort von:  suugakusan
14.05.2021 22:51
Ja, irgendwie wollen sie nur einander fertig machen und schaden sich dabei selbst
Von:  Onlyknow3
2021-03-02T11:51:57+00:00 02.03.2021 12:51
Sasuke wird erst merken was er verloren hat, wenn Naruto nicht mehr da ist, und er keinen zum Streiten mehr hat.
Was die Therapie betrifft, denke ich das es darauf hinaus laufen wird das sich die beiden Trennen.
Sasuke wird seinen Job als Vorstandsmitglied wohl nicht aufgeben, doch er wird damit auch nicht Glücklich.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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