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Vogelfrei

von

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Das Zuhause

Es war so ein unvergleichlich gutes Gefühl, seine Flügel wieder ausstrecken zu können. Nicht mehr zusammengeschnürt auf dem kalten Stein zu sitzen, unfähig, sich richtig bewegen zu können. Die frische Nachtluft war um einiges besser als die Luft im muffigen, feuchten Kerker. Am liebsten hätte er die Klauen noch tiefer in die Erde gegraben, sich abgestoßen und wäre mit lauten Flügelschlägen in den dunklen Himmel verschwunden, um-

„Zieh gefälligst die Dinger wieder ein und duck dich, verdammt!“, wurde er von der Seite angezischt, ehe ihm ein brauner Umhang übergeworfen wurde.

Hawks raschelte verärgert mit den Flügeln, auch wenn das unter dem Stoff weniger bedrohlich wirkte. Er funkelte Enji böse aus seinen bernsteinfarbenen Augen an, sodass dieser ihn gereizt ansah.

„Was hast du nicht daran verstanden, dass wir unauffällig losziehen, um niemanden zu verstören?“, knurrte er weiter, schubste Hawks dabei nach vorn. „Geh!“

„Schubs mich nicht!“, zischte er zurück.

Er musste sich zusammenreißen, ihm nicht in die Hand zu beißen. Er war endlich wieder frei – da durfte man doch wohl wenigstens ein bisschen Erleichterung zeigen! Brummend ging er weiter in Richtung Tor, wo Toshinori mit Aizawa wartete und die Wachen abgelenkt haben sollte. Einem König widersprach bestimmt niemand – und tatsächlich stand nur Aizawa am Tor, welches bereits geöffnet worden war. Das war doch Aizawa? Was war mit dessen Bart passiert? So rasiert sah dieser um einiges jünger aus, wenn auch nicht unbedingt freundlicher, aber das war eben Aizawa.

Er wirkte mit den beiden Pferden, die er an den Zügeln hielt, auch nicht glücklicher und zumindest Feuersturm schnappte gerade nach seinen Haaren.

Verärgert drückte Aizawa die Schnauze des Tieres weg, ehe er zu Enji sah und diesem mit funkelnden Augen die Zügel in die Hand drückte.

„…es hat alles geklappt?“

„Ja. Wir sollen vorgehen.“

„Gut.“

Trotz des miesepetrigen Gesichts hatte sich Hawks nie mehr gefreut, Aizawa zu sehen. Am liebsten hätte er ihn angesprungen und die Schwingen um ihn geschlungen. Jedoch nahm er sich zusammen und schlich sich mit den beiden samt der Huftiere nach draußen. Sie liefen ein Stück, bis sie die Brücke passiert und hinter sich gelassen hatten, erst dann warteten sie auf den Blondschopf.
 

„Es geht dir gut?“, fragte Aizawa neben ihm und die Harpyie grinste ihn unter der Kapuze an.

„Unkraut vergeht nicht!“, meinte er gut gelaunt, woraufhin Enji schnaubte.

„Jetzt bist du vorlaut“, brummte er sarkastisch. „Als du noch im Kerker gesessen hast, warst du nicht so locker.“

„Sitz du mal angebunden wie ein Hund in so einem Loch, umgeben von Menschen, die entweder Mordlust oder Todesangst für dich empfinden – dann sprechen wir weiter“, erwiderte er angefressen.

Allerdings war es nett vom Rotschopf gewesen, ihm beizustehen. Dieser hatte ihn in den letzten zwei Tagen nie lange allein gelassen, war immer sicher gegangen, dass den Umständen entsprechend alles in Ordnung war und ihn keiner verletzt hatte.

„Beruhig dich. Du bist unverletzt, oder nicht?“

„Zum Glück für euer Volk…“

„Hmpf.“

Wobei sie alle drei wohl wussten, dass er das Schloss nicht angegriffen hätte. Er war kein rachsüchtiger Dämon, der alles zerstörte, nur weil ein, zwei Menschen aus der Reihe tanzten. Dennoch war er erleichtert, ihnen nicht mehr ausgeliefert sein zu müssen. Man wusste nie, zu was Angst die Menschen trieb. Sie waren in der Hinsicht oft wie tollwütige Hunde.

„Oi Aizawa…hab gehört, man darf gratulieren?“

„Huh?“

„Zur Verlobung. Deswegen die Rasur? Zur Feier des Tages? Hätte dich fast nicht erkannt, haha.“

Hawks warf ihm einen Seitenblick zu, wackelte mit den buschigen Brauen, woraufhin der Einsiedler merklich erstarrte. Vermutlich wurde er sogar ein wenig rot, auch wenn man das schlecht in dem spärlichen Licht erkennen konnte.

„…von allen Dingen musstet Ihr ihm das erzählen“, knurrte Aizawa ungehalten, während er Feuersturm auswich, der schon wieder nach seiner schwarzen Mähne schnappte.

Enji zuckte mit den Schultern, blickte zum Tor, wo Toshinoris blonder Schopf endlich zu erkennen war.

„Wir hatten Zeit. Was hätte ich ihm, abgesehen von unserem Auftrag, noch erzählen sollen?“

„Nicht das.“

„Komm schon, Aizawa, nicht so schüchtern“, zwitscherte Hawks, der erstaunlich schnell zu seinem alten Selbst zurückgefunden hatte. „Ich möchte Einzelheiten hören.“

„Da gibt es keine, außer denen, dass es unangenehm war.“

„Aber nein gesagt hast du ja nicht, stimmt’s?“

„…“

„Hätte mich auch gewundert. Ihr seid echt offensichtlich, wie ihr euch anseht und na ja…Toshi ist ja nicht so der Typ, der mit seinen Gefühlen hinterm Berg hält, nicht wahr?“

„Ich will darüber nicht reden.“
 

„Worüber willst du nicht reden?“

Toshinori hatte sie mittlerweile erreicht, warf einen fragenden Blick in die Runde.

„Unwichtig.“

„Sooo unwichtig nun auch nicht“, meinte Hawks mit einem breiten Grinsen, woraufhin Toshinori zu ihm sah und ehrlich lächelte.

„Es ist schön, dich wieder bei uns zu haben, Hawks. Verzeih uns die lange Warterei im Kerker, aber die Menschen fürchten Dämonen verständlicherweise sehr, daher konnten wir dich nicht eher befreien.“

„Ach, schon in Ordnung! Ich mach euch keinen Vorwurf! Wirklich nicht!“

„Das steht dir auch kaum zu, da du dich selbst in diese Lage gebracht hast“, knurrte Enji ungehalten, woraufhin Hawks ihm die Zunge herausstreckte.

Auch wenn dieser Recht hatte, musste er ja nicht darauf herumreiten. Aber sei es drum, Hawks war über alle Maßen froh, dass sein Rudel wieder beisammen war.

„Also, was zuerst? Feiern wir ordentlich eure Verlobung oder gehen wir auf Dämonenjagd?“

„Hawks!!“, kam es zeitgleich von Enji und Aizawa, welche sich gleich darauf finster ansahen.

Nun, wenigstens Toshinori schien es amüsant zu finden, denn er schmunzelte.

„Enji hat dir davon erzählt, ja?“, fragte er, während er Aizawa die Zügel von Morgenstern abnahm, worüber dieser erleichtert wirkte.

Feuersturm befand sich bereits wieder bei Enji, wobei beide Pferde mit gefüllten Provianttaschen und Decken ausgerüstet waren. Das war wohl auch das Mindeste, wenn sie direkt für eine neue Mission losziehen mussten.

„Er hat sich so sehr für euch gefreut, da musste er es einfach-“

„Erzähl keinen Mist!“, unterbrach Enji ihn ruppig. „Du warst so angespannt, ich habe gehofft, wenn ich dich ablenke, beißt du mir nicht ins Gesicht.“

Hawks funkelte ihn belustigt an, ehe er mit den Schultern zuckte.

„Wenn du meinst…“

Gut, ganz an den Haaren herbeigezogen war das natürlich nicht. Die Gefangenschaft hatte ihn mitgenommen. Aber er wollte nicht mehr darüber reden, jetzt, da er frei und sie wieder beisammen waren.

„Also erst Dämonenjagd?“, nahm er seine Frage wieder auf.

Toshinori nickte, wurde sofort ernster. Nun gut, sie befanden sich hier in seinem Revier, sicher musste ihm das näher gehen als sonst. Wobei Toshinori ja generell schnell mitfühlend war.

„Ja“, erwiderte er fest, während sie nebeneinanderher liefen. „Ganze Dörfer sind ausgerottet worden. Wir werden in den südlichen Bereich von Musutafu reisen. Dort waren sie wohl zuletzt.“

„Ich kann ja auch versuchen, sie für euch ausfindig zu machen?“, schlug Hawks gut gelaunt vor, woraufhin Enji schnaubte.

„Wurdest du nicht gerade erst gefangen genommen?“

„Deine Sorge ist ja wirklich süß, aber einer der Nutzen, den ich euch bringe, ist nun mal der, dass ich fliegen kann. Ist sonst ja auch gut gegangen, hm?“

„Du machst ja sowieso, was du willst.“

„Richtig!“, strahlte Hawks diesen an.

„Wir sollten nicht streiten. Nicht jetzt, da wir endlich wieder beisammen sind.“

Und das sagte Toshinori mit solch einer Wärme in der Stimme, dass keiner widersprach. Hawks sowieso nicht. Diese Drei waren schließlich alles, was er hatte.
 

Sie schlugen ihr Lager erst einige Stunden später auf, als sie weit genug vom Schloss weg waren. Schließlich wollte keiner von ihnen erneut in eine ungünstige Situation geraten, indem man sie zusammen sah. Fast beneidete Hawks Aizawa darum, dass man diesem äußerlich nicht ansah, dass er nicht nur menschlich war. Zwar war er gegen Selbstverleugnung, doch es hätte einiges einfacher gemacht. Auch bezüglich seiner Partnerwahl, denn es stand wohl außer Frage, dass jemals irgendein Mensch Interesse an ihm zeigen würde. Davon abgesehen, dass er sich mit seinem Blut ohnehin an Enji gebunden hatte. Gut, immerhin durfte er in dessen Nähe sein. War als Kamerad und Teil des Rudels akzeptiert worden – das war so viel mehr, als er bisher hatte erwarten können. Er durfte nicht so gierig sein, wie es eigentlich in seiner Natur lag.

„Träum nicht rum. Geh was jagen oder kümmere dich ums Holz sammeln.“

Er blickte müde auf, seufzte leise.

„Dann meckerst du doch nur wieder rum, dass wir keinen ganzen Hirsch brauchen.“

Er erhob sich jedoch, streifte den Umhang dabei ab und spreizte die roten Schwingen, wobei Enji schnaubte.

„Dann jagst du eben etwas Kleineres.“

„Auf gar keinen Fall!“, widersprach Hawks grinsend. „Ich bin richtig ausgehungert…was ihr nicht esst, schlinge ich herunter. Also dann – bis gleich!“

Er stieß sich mit den Klauen vom Boden ab, wühlte dabei die Erde auf, als er sich in die Lüfte erhob. Geäst und Blätter streiften ihn, doch es spielte keine Rolle. Das Gefühl war mit nichts zu vergleichen, als er den Wind in Federn und Haaren spürte. Einfach nur Freiheit. Das war es, was er brauchte. Frei sein. Wild sein. Zumindest für diesen Moment, in dem er einfach ein Jäger war, der Ausschau nach seiner Beute hielt. Es dauerte nicht lange, bis er die Fährte aufgenommen hatte und im Sturzflug nach unten preschte, um seine Klauen im Rücken des Hirsches zu versenken, welcher einen letzten schmerzerfüllten Aufschrei von sich gab. Es weckte die Bestie in Hawks, ließ sein Maul vor Freude weit aufklaffen…ehe er die scharfen Zähne im Fleisch seiner Beute versenkte. Der Blutgeschmack ließ ihn aufstöhnen und gieriger werden. Nun, Menschen aßen nicht sonderlich viel und er wollte Enji keinen Grund geben, sich zu beschweren…
 

Vielleicht, so dachte er ein paar Minuten später, hatte er sich etwas zu sehr gehen lassen. Er schleifte die hintere Hälfte des Hirsches über den Boden, während er die letzten paar Meter zurück zum Lager lief. Er roch bereits das Feuer, das sie entfacht haben mussten. Ah. Ja. Da waren sie.

Hawks bemühte sich darum, sein Gesicht zu kontrollieren, aber irgendwie fiel es ihm schwerer als sonst. Es rauschte in seinen Ohren und sein Herzschlag war immer noch in Aufruhr – Schuld war vermutlich seine Gefangenschaft. Es erinnerte ihn daran, wie er kurz davor gewesen war, nach Enji zu schnappen. Warum reichte der Gedanke nicht, um ruhiger zu werden? Sein Körper fühlte sich ganz heiß an.

„Hawks?“

Er blinzelte, hatte gar nicht bemerkt, dass er bereits vor dem Feuer stand. Die anderen drei sahen ihn so komisch an – und die Pferde wieherten schrill. Dabei waren sie ihn doch mittlerweile gewöhnt. Morgenstern schmiegte sogar manchmal die Schnute in sein Gefieder. Er blickte sie einen nach dem anderen an, wobei er bemerkte, wie sein Puls raste. Einatmen, ausatmen.

„…du bist voller Blut“, kam es trocken von Aizawa.

Er ließ den Hirsch fallen, entspannte die Klauen ein wenig und schloss kurz die Augen, um klarer zu werden. Dabei kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht genauso aussah, wie er sich fühlte – und dass er den anderen möglicherweise Angst einjagte. Hoffentlich nicht. Das wollte er nicht. Diese waren sein Rudel.

„In der Nähe ist ein See. Ich geh mich waschen“, murmelte er und schaute wieder auf.

Toshinori lächelte schief.

„Ja, tu das. Wir warten hier auf dich.“

„…und mach was mit deinem Gesicht. Du verschreckst die Pferde.“

Hawks blickte Enji bei den Worten irritiert an; was war denn mit seinem Gesicht? Irgendwie fehlte ihm der Elan für eine spöttische Erwiderung, weswegen er nickte und sich umdrehte. Hinter sich hörte er noch das Geflüster der anderen, doch er wollte es gar nicht verstehen.

Vorhin war noch alles gut gewesen. Was war also jetzt das Problem? Warum fühlte er sich immer noch wie im Rausch? Er fuhr sich über das Gesicht und stockte, als er seinen Mund spannen fühlte. Ohne stehen zu bleiben, tastete er seine Wangen ab und bemerkte, dass er immer noch seine Fänge zeigte. Vermutlich hatten die Pferde es für eine Drohung gehalten. Vermutlich signalisierte sein ganzer Körper Gefahr. Aber…auch für Enji und die anderen? Die Annahme war niederschmetternd – aber vielleicht reichte das ja, um den Rausch abschwächen zu lassen.
 

Als er den See erreicht hatte, streifte er seine Kleidung ab und watete in das kühle Wasser. Er tauchte bis zu den Schultern ein, spürte, wie sich sein hitziges Gemüt langsam abkühlte. Wie sich sein Gesicht entspannte und sich die Fänge wieder zurückzogen. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er einem wilden Tier eben ähnlicher gewesen war als einem Menschen. Nun, die anderen wussten, wer er war, oder? Er tauchte bis zur Nase unter, schaute missmutig vor sich hin. Es hatte nicht so gewirkt und das machte ihn betroffen…und erneut neidisch auf Aizawa, der so viel menschlicher war.

Aber sie waren darüber hinaus, dass sie einander misstrauten, nicht wahr? Sie hatten einander in so vielen Situationen geholfen, waren zusammengewachsen. Enji würde nicht vergessen, wie er ihn damals vor der Sirene gerettet hatte, nur weil er im Kerker ihm gegenüber ein bisschen aggressiv gewesen war, oder?

Hawks schloss die Augen und tauchte nun komplett unter Wasser, in der Hoffnung, es würde die Gedanken vertreiben. Es waren unsinnige Befürchtungen. Wenn er gleich zurückkommen würde, waren die anderen sicher wieder normal zu ihm. Sie würden ihn nicht mit diesen Blicken ansehen. Mit diesen Blicken, die er nicht ertragen konnte und die er zu fürchten gelernt hatte.

Er war wirklich viel zu lange einsam gewesen…

Als er wieder auftauchte, bemerkte er den Geruch direkt. Verwirrt blinzelte er, während ihm das Wasser vom Kinn tropfte – nein, er hatte sich nicht geirrt. Enji stand am Ufer, die Arme verschränkt und grimmig in seine Richtung schauend. War das jetzt ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Anhand des Ausdrucks schwer zu sagen – dieser war nicht wirklich ein Ausbund von Fröhlichkeit.

Hawks seufzte innerlich, ehe er aus dem Wasser in Richtung Ufer ging. Eigentlich wäre die Situation perfekt für einen zweideutigen Spruch gewesen, doch ihm war nicht danach. Die Summe an allem machte ihn zusammen mit Enjis plötzlichem Auftauchen nervös. Er schüttelte die Flügel aus, ehe er diese wieder auf dem Rücken anlegte, den anderen mit geneigtem Kopf anschaute.

„Ist was passiert oder hast du mich nur vermisst?“, versuchte er zu scherzen, doch Enjis Miene blieb unbewegt.

Nicht, dass dieser sonst ein Spaßvogel gewesen war.

„Zieh dir was an.“

Hawks blies sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.

„Wenn ich trockener bin. Wird sonst eklig.“

Er wischte sich das Wasser vom Körper, sich wohl bewusst, dass seine Schwingen sowieso länger feucht bleiben würden. Er schlackerte diese noch einmal aus, ignorierte, dass Enji dabei ein paar Tropfen abbekam. Dieser wirkte wenig erfreut darüber, aber nun, wie gesagt…kein Spaßvogel.

„Mit dir stimmt was nicht.“

Die Harpyie hielt inne, als sie die Worte hörte.

„…was?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Hawks‘ bernsteinfarbene Augen verengten sich etwas.

„Was stimmt denn mit mir nicht? Zu viel Gefieder? Zu viel Dämon? Sag schon.“

Er wusste selbst nicht, warum es ihn gerade so sehr reizte. Warum er es nicht einfach abtun konnte; immerhin konnte das auch heißen, Enji machte sich Sorgen um ihn. Stattdessen klang er selbst herausfordernd, so als würde er Streit wollen. Wollte er Streit? Zuvor war er so glücklich gewesen, wieder mit seinem Rudel vereint zu sein, und nun…?

„Das habe ich doch gar nicht gemeint“, knurrte Enji zurück. „Du weißt, dass wir dich akzeptiert haben.“

„Warum habt ihr mich dann angesehen, wie mich alle im Kerker angesehen haben?“

Enji brauchte ein paar Sekunden, um darauf reagieren zu können. Dann aber funkelte er Hawks finster an.

„Vielleicht, weil du uns wie Beute angesehen hast!“

„Habe ich nicht.“

„Doch. Hast du. Schon letztens. Im Kerker.“

Hawks schluckte bei den Worten. Was dieser sagte, traf ihn. Er hatte nicht…oder doch? Er wollte sich verteidigen. Sagen, dass er niemals…aber würde das etwas bringen? Wenn sie nach allem an ihm zweifelten – was brachte es dann? Dieses Rudel.
 

Hawks presste die Fänge aufeinander; er konnte weder sagen, dass sie dann am besten getrennte Wege gingen, noch dass Enji keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Er fühlte sich plötzlich wieder gefangen. Er gehörte weder zu den Dämonen noch zu den Menschen. Er hing dazwischen.

Und er wollte sich nicht so einsam fühlen, wie es gerade der Fall war.

Als Enji sich rührte, wich er reflexartig einen Schritt zurück. Es erinnerte ihn unweigerlich an die vielen Male, bei denen er vertraut hatte. Wann immer er geglaubt hatte, dass er vielleicht Freunde gefunden hatte, war er am Ende nur knapp dem Tode entkommen.

Hawks wurde ganz steif, als Enji noch näherkam und ihn fest an der Schulter packte, um ihn mit einem Ruck…in seine Arme zu ziehen? Verwirrt und stocksteif lehnte er an der Brust des anderen, sank nur langsam dagegen.

„…du ziehst nicht gleich ein Messer und stichst mich ab?“, murmelte er, woraufhin Enji schnaubte.

„Nicht, wenn du mir keinen Grund gibst.“

„Gleichfalls.“

Hawks zögerte, dann drückte er sich gegen den anderen, inhalierte dessen vertrauten Geruch ganz tief. Er schloss die Augen, wissend, dass er gerade völlig schutzlos war, wenn es sich um einen Hinterhalt handelte. Aber das hier war anders. Sie hatten so oft nebeneinander geschlafen, sich gegenseitig das Leben gerettet…woher kam diese plötzliche Befürchtung? Nein. Er wusste es.

Ein paar Sekunden lang standen sie nur so da und Hawks wollte eigentlich gar nicht, dass es aufhörte. Enji sollte bei ihm bleiben, ihn so halten.

„Toshinori und Aizawa haben sich Sorgen gemacht. Du hast dich seltsam verhalten. Das hat mich an den Kerker erinnert.“

Hawks erwiderte nichts darauf, blieb an den anderen gelehnt. Die Umarmung ließ ihn sich behütet fühlen und das war einfach nur schön.

„Warum grinst du uns blöd ins Gesicht und spielst uns vor, alles wäre gut, wenn für dich nichts gut ist?“, fuhr Enji fort.

Hawks wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es war alles so schwer.

„Weil ihr es nicht verstehen würdet“, murmelte er gegen dessen Brust. „Ich…bin, wie ich bin. Das ist keine Fassade. Nicht nur. Aber diese andere Seite von mir…die ist erschreckend für Menschen. Ich sehe eure Blicke, wenn ich etwas in Stücke reiße. Wenn ich zur Bestie werde. In dem Kerker kamen Erinnerungen hoch und ich glaube…das hat mich einfach aus der Bahn geworfen. Ich hätte nie einen von euch angegriffen, aber…ich kann meine Emotionen dann nur schwer kontrollieren.“

Er hob den Kopf, suchte dessen Blick nun, während er schief lächelte.

„Ist manchmal hart, ich zu sein.“
 

Enjis Blick war schwer zu deuten; vermutlich wusste er nicht, was er sagen sollte. Es wunderte Hawks, dass der Rothaarige es nicht einfach abwiegelte. Immer noch hielt dieser ihn an sich gedrückt – und das, obwohl Hawks nackt war. Gut, sie badeten mittlerweile öfter zusammen und hatten auch schon in einem Bett geschlafen, aber irgendwie war das hier noch mal etwas anderes.

„Du solltest uns mehr vertrauen, Hawks“, meinte Enji schließlich. „Wir ziehen jetzt lang genug mit dir herum…und wir haben alle diese andere Seite. Vielleicht mit weniger Zähnen und Klauen, aber…du weißt, was ich meine.“

Hawks ahnte, dass er von seiner Familie sprach, die er kaum sah, weil er keinen Draht zu ihr hatte. Weil er seine Frau verängstigt und eins seiner Kinder verloren hatte. Ja, vermutlich hatte er Recht.

„Wenn es dir schlecht geht und du darüber reden willst, dann kannst du zu uns kommen. Verstanden?“

Das war ungewohnt feinfühlig. Dabei redete Enji doch selbst nicht über seine Probleme. Jedenfalls nicht freiwillig, da musste man bohren. Dennoch war es nett, dass dieser es anbot. Er schmiegte sich in dessen Umarmung, musste dabei lächeln.

„Aber ich bin doch der Spaßvogel der Truppe“, nuschelte er und konnte Enjis Augenverdrehen spüren.

„Hawks…“

„Schon gut. Ich habe verstanden, was du mir sagen willst“, lenkte er rasch ein und seufzte leise. „Danke. Also…dass ihr so zu mir seid. Ich sag ja, ich bin ein gebranntes Kind, was Vertrauen zu Menschen angeht, und…die Zeit im Kerker hat mich daran erinnert. Auch daran, was ich bin. Dass ich anders bin als ihr. Und wie schwer es bisher gewesen ist. Sowas halt.“

„Aizawa ist auch anders.“

„Jaaah, aber man sieht es ihm nicht an. Er kann mit euch rumlaufen und muss sich nicht verstecken. Das…macht mich neidisch. Außerdem wird Toshi ihn heiraten und…ich weiß einfach, dass das bei mir nicht so einfach ist. Die meisten Menschen rennen schreiend vor mir weg oder wollen mich umbringen. Ganz schlechte Resonanz, wenn man einen Partner sucht. Aber hey, wenigstens altere ich langsamer, also hab ich noch ein paar Jahrzehnte oder so, nicht wahr?“

Vielleicht war das eine Spur zu mitleiderregend gewesen, weswegen er schon wieder grinste. Einfach ein bisschen überspielen, wie ernst ihm das Gesagte war. Darin war er ziemlich gut.

Enji ließ ihn plötzlich los, was Hawks ahnen ließ, dass das eine Spur zu viel gewesen war.

„Zieh dich wieder an.“

Die Harpyie behielt das Grinsen bei; nicht zeigen, wie sehr ihn die Reaktion traf. Er schüttelte sich noch einmal, spreizte kurz die Flügel, ehe er zu seiner Kleidung griff.

„…du siehst viel besser aus als der miesepetrige Einsiedler und bist auch leichter zu ertragen. Wenn der jemanden findet, kannst du das auch. Klauen und Flügel hin oder her.“

Hawks verharrte in seiner Bewegung; hatte er sich soeben verhört oder hatte Enji das wirklich gesagt? Moment mal…fand Enji ihn attraktiv? Augenblicklich bauschte sich sein Gefieder auf und auch, wenn er wusste, dass es nichts zu bedeuten hatte, fühlte er sich geschmeichelt.

„Aww, Enji! Du weißt gar nicht, wie gut es tut, das zu hören!“

Er ließ sein Oberteil fallen und schmiegte sich von hinten an den breiten Rücken des anderen, schlang seine plüschigen Flügel um diesen.

„Lass mich los, verdammt!!“

„Niemals! Nicht, wenn du sowas Liebes zu mir sagst!“

„Pfoten weg!!“

„Nein!“

„Ich meinte nicht mich damit!!“

„Das weiß ich doch – auch wenn du mein Blut getrunken hast und das für immer etwas ganz Besonderes sein wird~“

„Hawks!!“

Er lachte auf, rieb den Kopf noch einmal an dessen Schulter, ehe er sich löste. Er griff nach seiner Kleidung, zog sich diese wieder an, während er sich zunehmend leichter fühlte. Als wäre diese schwere Last, die er seit dem Kerker umso stärker gefühlt hatte, von ihm abgefallen. Es stimmte. Er hatte nun Freunde. Richtige Freunde. Diese akzeptierten ihn, wie er war. Es gab keinen Grund zur Furcht. Dies war sein Rudel und hier konnte er er selbst sein.

Hawks musste lächeln, als er dem grummelnden Enji zurück zum Lager folgte, wo die anderen schon auf sie warteten. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte es sich an, wie nach Hause zu kommen…und das Gefühl wollte er nie wieder missen.



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