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Rose

(Yuffies Version)
von

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State of Grace (Yuffies Version)

Trotz ihrer Erschöpfung fand Yuffie lange keinen Schlaf; sie beobachtete Rufus neben sich, der sich unter der dünnen Decke mal auf seine linke, mal auf seine rechte Seite drehte und mehr oder weniger friedlich vor sich hin schlummerte. Manchmal lief ein Zucken über sein Gesicht oder durch seine Hand, so als ob er im Traum nach etwas greifen würde. Yuffie wunderte sich, dass sie ihn nie nach seinen Träumen fragte, obwohl sie so häufig wach lag, während er schon schlief. Sie sah, wenn sich sein Gesicht im Schmerz verzog und wenn er selig lächelte; und dennoch fragte sie ihn später nie nach dem Grund. Seltsam.

            Just in dieser Nacht gab es hingegen ein paar Gründe, die sie in der Tat interessierten. Und all ihre unausgesprochenen Fragen zentrierten sich um Vincent. Warum hatte er sich mit einer anderen Frau getroffen? Was hieß das überhaupt, mit einer „anderen“ Frau? Hatte sie etwas anderes erwartet? Warum scherte sie sich so darum? Sie warf sich unnötig heftig im Bett herum; von Rufus, nun hinter ihr, hörte sie eine Regung, doch er schien weiterzuschlafen. Sie brummte leise in ihrer Unzufriedenheit.

            Im Grunde ärgerte sie sich über sich selbst; darüber, dass sie die Begegnung mit Vincent für Schicksal und ihre Verbindung – Verbindung, welche Verbindung?! – für etwas Besonderes gehalten hatte. Denn offenbar war nichts von alledem besonders, nicht ihr Aufeinandertreffen, nicht sie und am allerwenigsten er. Und es verärgerte sie, dass sie so lange anders gedacht hatte.

            Die dunklen Wolken in ihrem Geist lichteten sich etwas. Yuffie fühlte sich ruhiger. Sie wollte jetzt wirklich schlafen, aber nachdem sie sich zum wiederholten Mal hin- und hergedreht hatte, musste sie einsehen, dass trotz ihrer geglätteten Gedanken kein Schlaf zu finden war. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und hievte sich hoch; sie nahm ihren versteckten dunklen Mantel aus dem Zimmer nebenan und machte sich auf den Weg in die Nacht, wobei sie sich davon zu überzeugen versuchte, dass sie Vincent nicht begegnen wollte, obwohl sie im Innern sehr genau wusste, dass sie ihm nur zu gerne noch einmal über den Weg gelaufen wäre ...

 

Yuffie saß zwar nicht ganz ausgeschlafen, aber deutlich zufriedener als zuvor am nächsten Tag am Frühstückstisch neben Rufus; ihr Vater, Tseng und ihre Brüder waren ebenfalls zugegen, was bedeutete, dass wieder einmal nur ihre Mutter fehlte. Yuffie brachte ihren morgendlichen Reis in kleinen Bissen herunter, während Rufus sich großzügig an der Teigtaschen-Suppe bediente.

            „Na, haben wir Hunger?“, triezte Yuffie ihn leise.

            „Ja“, sagte Rufus enthusiastisch. „Ich hab heute ‘ne Menge zu tun.“

            Kurz darauf betrat ein Bote den Raum, verneigte sich vor Godo und überbrachte ihm eine Nachricht. Yuffie blickte dem Boten hinterher, als er den Raum wieder verließ. Sie sah ihren Vater fragend an. „Jing aus Fushan ist letzte Nacht verstorben“, informierte er sie mit schwerer Stimme.

            „Oh nein“, sagte Yuffie betroffen. Sie hatte die Dorfälteste gemocht. „Das heißt, wir müssen zur Beisetzung.“

            Godo schaute sie nachdenklich an. „Ich weiß nicht, ich denke, ich könnte auch allein gehen und du kümmerst dich weiterhin um die Angelegenheiten auf dem Markt, denn es sieht schlecht aus, wenn nicht bald jemand auftaucht, und du warst schon das letzte Mal da. Ich müsste mir das aber noch durch den Kopf gehen lassen.“

            Rufus beugte sich vor. „Würdest du direkt heute gehen?“, fragte er.

            „Aber selbstverständlich!“, rief Godo entrüstet aus.

            „Und das war ... wo?“ 

            Godo zeigte mit einer Hand in eine ungefähre Richtung hinter sich. „Durch den Wald hindurch, nicht weit.“

            „Also könntest du heute Abend schon wieder da sein?“, fragte Rufus.

            „Die Zeremonien werden mindestens bis morgen andauern“, erklärte ihm Godo.

            „Ach so“, sagte Rufus ernüchtert. „Das wusst‘ ich nicht.“

            „Du wieder“, zog Yuffie ihn auf, „von nichts eine Ahnung.“

            „Was? Ich bin nicht von hier“, verteidigte sich Rufus. Yuffie stieß ihm spielerisch gegen den Arm, woraufhin er lächelte und ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn gab.

            „Warum fragst du?“, sagte Godo, als sie fertig waren, aber Rufus winkte ab.

            „Erklär ich dir dann.“

            „Jedenfalls werden wir das also so machen“, entschied Godo schließlich. „Ich werde nach dem Frühstück aufbrechen und du schaust heute auf dem Markt vorbei, sprichst mit den Leuten, fragst, ob sich alle normalisiert hat und ob es noch an irgendwas fehlt – Rufus, dann müssten wir im Zweifelsfall wieder auf deine Hilfe zurückgreifen.“

            „Ist doch kein Problem“, sagte Rufus mit einem Schulterzucken.

            Yuffie lauschte gespannt: Für sie klang gerade alles nach ihrer Freiheit, die nach ihr rief. Wenn ihr Vater ging, würde es im Palast deutlich leerer sein und sie konnte sich umso leichter wegschleichen und Cloud besuchen. Immerhin schuldete sie ihm noch ein Teetreffen, da sie ja am Vortag so überstürzt aufgebrochen war. Ihr Blick traf Tsengs: Sein Gesicht sagte ihr, dass er ganz genau wusste, was in ihr vorging. Sie zuckte die Schultern. Ihr Plan stand fest.

 

Nachdem Yuffie in Anschluss an ihren Besuch auf dem Markt die schrecklich edlen Schuhe, die sie bei solchen Anlässen zu tragen gezwungen war, in eine Ecke gepfeffert und die Schminke aus ihrem Gesicht entfernt hatte, tauschte sie ihre prächtige, golddurchwirkte Robe gegen ihr Lieblingsstück: ein leichtes, grasgrünes Gewand mit sonnengelbem Muster auf dem Rock. Die Schnürung an der Taille konnte sie locker knoten, statt eine große steife Schleife binden zu müssen. Außerdem löste sie ihre Frisur und befestigte ein loses Band um die Längen. Sie fand, in einer derart lockeren Aufmachung konnte sie ruhig zum Tee bei Freunden gehen. Bei Freunden ...

            Geübt schlich Yuffie sich anschließend in den Wald. Sie war mittlerweile an die Strecke gewöhnt, die sie gehen musste, um vom Dorf aus nicht gesehen zu werden. Während sie niedrigen Ästen auswich und um Spinnennetze manövrierte, überlegte sie, ob sie wirklich neue Freunde gefunden oder ob sie das Wort vorschnell benutzt hatte. Cloud war nett zu ihr, das lag auf der Hand. Er war aufmerksam, erkundigte sich nach ihr und nahm sie auf, sei es das Lager, in das er sie geführt hatte, sei es seine Freundesgruppe, die er ihr vorgestellt hatte. Aber sie hatte auch gesehen, dass er zu allen nett war und mit allen gut auskam.

            „Was sind eigentlich Freunde?“, murmelte Yuffie ratlos.

            Noch in der hellen Tagessonne ging sie über den Hügel hinunter ins Lager, vorbei an der Wache, die mittlerweile wusste, dass sie einzulassen war, vorbei an der Essensausgabe, von wo aus ihr ein paar von Clouds Freunden winkten, auch vorbei an Rufus‘ Arbeitszelt und auf das kleine Haus zu, in dem sie Cloud vorzufinden hoffte.

            Doch Cloud war nicht da, als sie das Gitter öffnete; stattdessen saß Sephiroth an einem mit Papieren übersäten Tisch vor dem Fenster, ins Gespräch vertieft mit einer Frau in Uniform. „Ach, Yuffie, komm doch rein“, sagte Sephiroth, als er aufgeschaut und sie bemerkt hatte.

            Yuffie zögerte. „Ich wollte eigentlich zu Cloud.“

            „Der ist nicht da“, erklärte ihr Sephiroth, „aber du kannst trotzdem bleiben, ich mach dir gleich einen Tee, wenn du willst.“ Yuffie überlegte: Sie hätte gerne mit Cloud gesprochen, Sephiroth hingegen war ihr noch so gut wie unbekannt. Sie entschied allerdings, da sie schon den weiten Weg auf sich genommen hatte, dass sie immerhin ein wenig bleiben konnte. Schüchtern setzte sie sich Sephiroth gegenüber, der sogleich das Gespräch mit der Soldatin wiederaufnahm: „Sind die Informationen gesichert?“

            „Na ja, nein“, gab die Soldatin zu, „wie gesagt, es sind eher Gesprächsfetzen, die oben im Dorf mitgehört wurden, und genau wissen wir eigentlich nicht, wie zuverlässig die Gerüchteküche hier in der Gegend funktioniert.“ Sie betrachtete ihn in abwartendem Schweigen.

            „Das heißt, es klingt erst mal so, als ob wir schnell handeln müssten“, sagte Sephiroth, das Gesicht angestrengt in eine Hand gestützt, „aber wenn unsere Informationen falsch sind und wir die Sache überstürzen, könnte das übel ausgehen.“

            „Genauso übel, wenn die Informationen stimmen und wir nicht handeln“, warf die Soldatin ein, den Blick weiterhin auf Sephiroth gerichtet.

            „Wir könnten noch heute Späher aussenden“, schlug Sephiroth vor. Er begann, in den Dokumenten auf dem Tisch zu wühlen. „Wo ist noch mal dieses – dieses Dorf?“ 

            Die Soldatin half ihm auf die Sprünge: „Linfen.“ Yuffie horchte auf. „Uns fehlt die genaue Entfernung, aber erfahrungsgemäß sind es ungefähr drei Marschstunden.“

            „Was sind das für Informationen, über die ihr redet?“, fragte Yuffie dazwischen.

            Sephiroth warf ihr einen etwas verärgerten Seitenblick zu. Es dauerte einige Momente, bis er sagte: „In erster Linie vertrauliche.“

            „General“, schaltete sich die Soldatin ein, „sie ist von hier?“ Sephiroth bestätigte mit einem Brummen. „Was sagt dir das dann?“ Sephiroths Blick wanderte zwischen Yuffie und der Soldatin hin und her.

            „Fein“, sagte er schließlich an Yuffie gewandt. „Was weißt du?“

            „Meine Mutter stammt aus Linfen“, sagte Yuffie. „Ich kenne das Dorf, ich war manchmal da.“ Yuffie konnte Sephiroths Gesichtsausdruck nicht deuten; er schien sehr genau nachzudenken, aber sie erkannte nicht, in welche Richtung diese Gedanken gingen. Es überraschte sie daher, als er sich entschied, die Informationen doch mit ihr zu teilen.

            „Das Dorf scheint einen Aufstand zu planen, es gilt also, schnell zu reagieren.“

            „Unmöglich“, sagte Yuffie instinktiv. Sephiroth zog verwundert eine Augenbraue nach oben, sagte aber nichts. Yuffie fühlte sich zu einer Erklärung veranlasst. „Na ja, das Dorf ist sehr alt – also, die Leute dort sind sehr alt. Die meisten jungen Leute, wie meine Mutter ja auch, sind von dort weggezogen. Es sind höchstens Enkel, die ihre Großeltern dort besuchen, und ein paar Leute, die sich um die Kranken kümmern, ansonsten –“

            „Gerade diese Enkel und Kümmerer könnten rebellieren“, wandte Sephiroth ein.

            „Aber wieso?“, fragte Yuffie.

            „Wir sitzen auf ihrem Land“, sagte Sephiroth. „Aber darüber hatten wir ja schon gesprochen.“

            „Allerdings“, sagte Yuffie, und ihre Augen blitzten. Sephiroth hielt das nicht davon ab, sie weiterhin zu beobachten. Er schien wieder intensiv nachzudenken.

            „Solange nicht genügend Informationen vorliegen, werde ich keine Entscheidung treffen“, verkündete er schlussendlich. „Amanda, sei so nett, bring Rufus auf den aktuellen Stand und sag ihm, dass ich später noch mal mit ihm darüber sprechen werde.“ Amanda nickte, sammelte ihre Dokumente zusammen, verabschiedete sich und verließ das Haus. Sephiroth seufzte und erhob sich ebenfalls. „Magst du eigentlich lieber grünen oder schwarzen Tee?“

            Yuffie blinzelte kurz ob es abrupten Themenwechsels. „Grünen“, sagte sie. Sephiroth nickte. Sie konnte nicht sehen, dass er irgendetwas tat, aber irgendwann kam aus dem Gefäß vor ihm Dampf und er goss heißes Wasser in zwei Tassen, aus denen je ein seltsamer dünner Faden ragte. Er stellte die Tassen und einen Teller auf den Tisch. Yuffie schaute ihn fragend an.

            „Ich schätze, ihr benutzt eher Blätter als Beutel“, sagte Sephiroth entschuldigend.

            „‚Beutel‘?“, fragte Yuffie und warf einen genaueren Blick in die Tasse. Tatsächlich, am Ende des Fadens befand sich ein unförmiger Klumpen, der wohl ein Beutel voll Tee war.

            „Es ist ganz praktisch, wenn man nur kleine Mengen Tee macht“, sagte Sephiroth.

            „Ja, ich schätze schon“, stimmte Yuffie zu. Sie war noch nie in die Verlegenheit gekommen, kleine Mengen Tee zuzubereiten. Dann fiel ihr etwas ein. „Wo ist Cloud?“

            „Zu Hause“, sagte Sephiroth knapp. Auf Yuffie wirkte er müde. Sie überlegte kurz.

            „Bei seiner Frau?“

            Sephiroth nickte. „Und den Kindern.“

            „Kennst du die Kinder?“, fragte Yuffie interessiert. Es gab also doch welche.

            „Nur von Bildern und Erzählungen.“ Sephiroths Blick war auf die Tischplatte gerichtet. „Kannst du mir mehr von diesem Dorf erzählen?“

            „Ich könnte dir von den Geistergeschichten erzählen, die es dort gibt, aber ich schätze, das meinst du nicht.“ Er schaute sie verwundert an. „Es gibt wirklich nicht viel zu wissen. Die Dorfälteste ist Xiran, aber wie das mit Dorfältesten so ist, könnte sich das schon wieder geändert haben ...“ Sie dachte an Jing.

            „Und deine Mutter kommt von dort“, sagte Sephiroth, wobei er wieder eine Augenbraue leicht erhoben hatte. Yuffie brauchte nicht lange zu überlegen, was er meinte.

            „Du willst sagen, meine persönliche Bindung trübt meine Einschätzung.“

            „Na ja“, sagte Sephiroth, und zog die Schultern hoch, „wenn du nicht gerade ein ganz schreckliches Verhältnis zu deiner Mutter hast – oh. Das tut mir leid, ich wollte nicht ...“ Yuffie hatte nicht verhindern können, dass bei der Erwähnung ihres Verhältnisses zu ihrer Mutter ihr Gesicht und ihr gesamter Körper etwas zusammensackten. Sie seufzte.

            „Nein, nein, so ist es nicht“, sagte sie, und sie hörte selbst, dass ihre Stimme plötzlich klang, als wäre sie sehr erschöpft. „Es ist nur so ... Meine Beziehung zu meiner Mutter ist im Grunde nicht vorhanden, wenn du so willst.“ Sie hatte Mitleid in Sephiroths Miene erwartet, doch stattdessen las sie Verständnis.

            „Hör mal, ich will nicht zu sentimental werden, aber ich kann das nachvollziehen, ich hab meine Mutter nie kennengelernt“, sagte Sephiroth, wobei er ein Stück an Yuffie vorbei schaute. „Sie ist kurz nach der Geburt verstorben, weißt du.“

            Yuffie nickte. Ihr Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. „Meine Mutter ist krank“, sagte sie unwillkürlich. Sephiroth erwiderte nichts. Sie wusste nicht, warum sie redete. „Sie ist sehr schwach und kommt nicht aus dem Bett. Wir haben bestimmte Bedienstete, die nur dafür da sind und sich darum kümmern, dass sie zumindest etwas isst und trinkt, aber sie steht nie richtig auf oder so. Ich kenn sie ja eigentlich nicht anders, es war immer Teil von ihr, aber eben nur ein Teil, verstehst du, solange ich mich erinnern kann, wusste ich immer, dass es eben den einen oder anderen Tag geben wird, an dem Mama nicht aus ihrem Zimmer kommt, und eigentlich war ich ihr fast immer zu viel, deswegen hat mich in Wahrheit auch mein Onkel großgezogen, also, er ist nicht wirklich mein Onkel, meine Großmutter hat ihn aufgenommen und er und mein Vater sind wie Brüder aufgewachsen.“ Yuffie wusste nicht, warum sie Sephiroth das alles erzählte, immerhin hatte er nicht darum gebeten, doch sie konnte nicht mehr aufhören.

            „Als meine Brüder kamen, wurde es mit unserer Mutter noch schlimmer, seitdem hab ich sie fast nicht mehr zu Gesicht bekommen, und, ich mein, die Zwillinge werden acht. Eigentlich sollte ich auch gar keine Brüder haben, meinem Vater ist es eigentlich nur erlaubt, ein Kind als Erbe zu haben, aber die beiden sind auch nur meine Halbbrüder, ich weiß gar nicht, wer der Vater ist – ich weiß nicht mal, ob mein Vater weiß, wer der Vater ist, damals hat mich so was nicht interessiert, und heute möchte ich nicht mehr fragen, weil, na ja – weil es Mutter seitdem so schlecht geht.

            Aber es muss auch mal ganz anders gewesen sein, immer wenn ich Geschichten über sie höre, bevor sie Kinder hatte, krieg ich den Eindruck, dass sie ein außergewöhnlich fröhlicher Mensch gewesen sein muss, und – ich weiß nicht – dann ... kamen wir ...“ Ihre Stimme verlor sich. Sie warf einen unsicheren Blick auf Sephiroth, der sie aufmerksam betrachtete und bisher nicht ein einziges Mal versucht hatte, sie zu unterbrechen. Sie hatte nicht das Gefühl, sich gut erklärt zu haben. „Weißt du, mein Onkel kannte sie recht lange, er hat sie meinem Vater vorgestellt.“

            „Yuffie.“ Sephiroth sprach sehr ruhig, doch mit einer Autorität, die sie sofort zuhören ließ. „Ich kenn mich ein bisschen mit komplizierten Familiengeschichten aus. Und ich weiß, es steckt noch viel mehr dahinter, als ich eben gehört hab. Aber ich glaube, es gibt eine Sache, die du hören solltest. Schau mich mal an.“ Yuffie hob zögernd den Blick und begegnete Sephiroths klugen grünen Augen. Er ließ ein paar Momente verstreichen, in denen Yuffie sich ihres Herzschlags und ihrer Atmung schmerzlich bewusst wurde. Sephiroth beugte sich ihr über den Tisch fast unmerklich zu und sagte sehr deutlich: „Es ist nicht deine Schuld.“

            Yuffie wandte augenblicklich den Blick ab. Sie wollte nicht antworten, ihre Kehle war zugeschnürt. In ihren Augen standen Tränen. Sie blinzelte.

            Sephiroth ergriff wieder das Wort. Er sprach monoton. „Ich könnte dir meine Geschichte erzählen, aber ich fürchte, dann würden wir morgen noch hier sitzen“, sagte er ruhig und unbeeindruckt. „Lass es mich darauf abkürzen, dass ich zwanzig Jahre in dem Glauben gelebt habe, ein Mann wäre mein Vater, der am Ende versucht hat, mich umzubringen.“ Als Yuffie schockiert aufblickte, bohrten sich Sephiroths Augen in ihre. Dennoch kamen sie ihr vor wie geschlossene Fenster. „Das ist jetzt acht Jahre her und ich knabber immer noch daran, aber wie dem auch sei, es hat dieses Ereignis gebraucht, damit ich verstanden habe, dass alles, was vorgefallen ist, nicht meine Schuld war, dass ich nichts davon provoziert habe und vor allem, dass ich eine solche Behandlung genauso wenig verdiene wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Rauszufinden, wer wirklich mein Vater ist“ – Er zuckte mit dem Kopf in Richtung der unteren Zimmertür – „war zwar nicht unbedingt das größte Glück, aber seitdem fühl ich mich etwas besser.“

            Yuffie versuchte, ihre Stimme wiederzufinden. „Und jetzt spielt ihr zusammen Schach“, sagte sie leise und mit einem schwachen Lächeln.

            Sephiroth grinste. „Manchmal. Wenn ich ihn grad ertrage. Oder wenn er hier ist.“

            Yuffie schaute sich um. „Das ist er wohl nicht häufig.“

            „Mein Vater ist mal hier, mal da“, sagte Sephiroth nur. „Ich kann ihn nicht empfehlen.“

            „Du scheinst was gegen ihn zu haben“, sagte Yuffie vorsichtig.

            Sephiroth antwortete darauf nicht, sondern wich aus. „Weißt du, was, ich werd mit Rufus reden müssen, vielleicht weiß er auch was über ...“

            „Linfen.“

            „Richtig, Linfen.“ Es war das erste Mal, dass er ihr ein verschmitztes Lächeln zuwarf. „Normalerweise bin ich besser darin, mir Namen zu merken.“

            „Warum ‚normalerweise‘?“ Yuffie versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln.

            „Weil ich nicht weiß, was heute mit mir los ist“, sagte Sephiroth düster und erhob sich. „Linfen. Hoffentlich kann ich mir das die paar Meter merken. Ist nicht so kompliziert, zwei Silben.“ Er schaute auf sie hinunter. „Trink du noch deinen Tee und bleib oder geh, wie es dir beliebt. Vielleicht kommt auch Genesis bald noch zurück.“

            „Wer ist das?“

            Sephiroth setzte an zu sprechen, unterbrach sich aber, dann sagte er: „Darüber reden wir dann, wenn es so weit ist, Genesis ist ... etwas schwierig zu erklären.“ Yuffie gluckste über Sephiroths Hilflosigkeit. Der erwiderte ihr Lachen und verabschiedete sich. „Genieß deinen Tee.“

            Gerade als er durch die Tür treten wollte, ging das Gitter von der anderen Seite auf, und wer immer Genesis war, er war es nicht, der hereinkam. Es war Vincent. Yuffie fühlte die Raumtemperatur sinken. „Du gehst gerade?“, fragte er Sephiroth.

            „Es gibt Dinge zu besprechen“, sagte er knapp und drückte sich an Vincent vorbei nach draußen. Der schaute ihm kurz nach, dann richtete er das Wort an Yuffie.

            „Was immer er dir über mich erzählt hat, du solltest nicht alles glauben.“

            „Es ist interessant, dass du glaubst, er hätte schlechte Dinge über dich gesagt. Du scheinst davon auszugehen, dass es Schlechtes über dich zu erzählen gibt.“

            Vincent seufzte. „Ich habe Fehler gemacht, das gebe ich zu.“ Er setzte sich an die ihr gegenüberliegende Ecke des Tisches, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genau anzuschauen.

            „Es stimmt sogar, ihr seht euch wirklich ähnlich.“

            „Das hoffe ich doch“, sagte Vincent entrüstet. Es war das Gesicht, das sie vor sich sah und das sie eindeutig in Sephiroths Gesicht wiedererkannte: Schmal, länglich und hell, das eine mit roten, das andere mit grünen Augen, intelligent, tiefsinnig, die in ihr immer den Eindruck auslösten, dass in den beiden Köpfen mehr vorging, als herauskam.

            „Eigentlich wollte er nicht über dich reden“, sagte Yuffie schließlich. „Er sagte allerdings, dass du nicht häufig hier bist. Aber offenbar häufig genug, um mich ständig abzupassen.“ Vincent wirkte überrascht.

            „Ich kann mich nicht erinnern, dich seit unserer glorreichen Schachpartie hier gesehen zu haben.“

            „Ich war gestern hier, aber du warst wohl beschäftigt. Ich wollte nicht stören.“

            Sie sah Erkenntnis in Vincents Gesicht. Es verging ein Moment. „Ich bin ein erwachsener Mann und ich verbringe Zeit mit erwachsenen Frauen, das ist nicht verboten“, sagte er schließlich ruhig, doch nicht so unberührt wie sein Sohn. Seine roten Augen öffneten sich ihr wie die Flammen eines Festtagsfeuers.

            „Ich schätze, ich hab dich einfach für eine bessere [andere?] Person gehalten, als du bist.“

            „Das kommt vor.“

            „Dabei kennen wir uns gar nicht.“

            Vincent gluckste. „Das können wir ändern. Was willst du wissen?“

            „Wo soll ich anfangen?“, fragte Yuffie, nun ebenfalls belustigt. Ihr fiel allerdings doch etwas ein. „Wo bist du, wenn du nicht hier bist?“

            „Mal hier, mal da“, sagte Vincent ausweichend. Yuffie war enttäuscht. Sie hatte gedacht, nun endlich ehrlich Antworten zu bekommen. Sie wandte den Blick ab.

            „Und sind wir nur zufällig aufeinandergetroffen?“ Als Yuffie zunächst keine Antwort erhielt, schaute sie über den Tisch zu Vincent. Der sah überrascht drein.

            „Ja“, sagte er verwundert. „Ich bin häufig nachts unterwegs – selten im Dorf vielleicht, aber es ist schon vorgekommen.“

            Yuffie nickte. „Ich bin auch häufig nachts draußen. Ich dachte, vielleicht sieht man sich ja mal wieder – zufällig.“

            Vincent schmunzelte. „Wie ich es verstehe, wirst du hier jetzt öfter Zeit verbringen, ist das nicht so?“

            Yuffie hätte nichts lieber getan, als diese Frage zu bejahen. „Das werden wir sehen“, musste sie stattdessen sagen.

            „So oder so“, sagte Vincent und er schaute sie dabei sehr genau an, „wir müssen es ja nicht auf den Zufall ankommen lassen.“

            Es entstand eine Pause, in der Yuffie sich Vincents Angebot durch den Kopf gehen ließ. Wenn er gerade dabei war, ihr entgegenzukommen, überlegte sie, konnte sie ja noch etwas fragen, was ihr schon lange durch den Kopf ging: „Eins musst du mir erklären – wie kann es sein, dass ihr Vater und Sohn seid?“

            Vincent antwortete nicht sofort. Dann seufzte er erst nur. Schließlich räumte er ein: „Ich schätze, wir müssen ganz von vorne anfangen ...“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Blick ins nächste Kapitel:

"Beinahe lautlos schlich sich Yuffie zurück in ihr Schlafzimmer. Im Mondschein, der zum offenen Fenster hereinfiel, erahnte sie Rufus‘ friedvoll schlummernde Silhouette unter der Decke. Nachdem sie sich unter leisem Rascheln ebenfalls wieder ins Bett gestohlen hatte, betrachtete sie Rufus sehr lange; zwar glücklich, aber auch mit einem sehr schlechten Gewissen." Komplett anzeigen

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