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Solution X

Zwischen Schatten und Licht
von

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Superdupernatural - 3

Folge 2

~Teil 3 - Superdupernatural ~
 

„Übrigens wurde der Kleine nach Hause gebracht“, erwähnt Damast beiläufig, als er mir das Glas Wasser überreicht, zu dem ich ihn quasi vor wenigen Minuten genötigt habe. Ich folgte ihm in die offene Küche und ich begutachte gerade die feine Staubschicht auf dem Ceranfeld.

„Wann? Wie geht es ihm?“, sprudele ich überrascht los und stelle das Glas ohne zu trinken, auf die nächstliegende freie Fläche ab. Das Wasser schwappt über und benässt einige leere Briefumschläge, die unter dem Messerblick liegen. Den Durst vollkommen vergessen, spüre ich die Aufregung, die sich mit dieser Nachricht in mir ausbreitet, wie eine Horde Ameisen, die meine Blutbahnen okkupieren. Das nervöse Flattern wird stärker und es trägt die Signaturen verschiedener Gefühlsregungen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich bis eben nicht mehr an den armen Jungen gedacht und es beschämt mich. „Seit wann?“, frage ich, diesmal eindringlich.

„Gerade eben“, antwortet Damast und deutet mutmaßend auf das Telefon, „Vielleicht vor einer Stunde? Was weiß ich. Auf jeden Fall ist er in einem Stück und lebendig. Ist doch gut, oder nicht?“ Beruhigend, aber nicht ausreichend.

„Gut zu wissen“, grummele ich unglücklich und klinge dabei patziger als beabsichtigt. “Und gut ist es mit Sicherheit nicht. Jedenfalls nicht, wenn er sich an irgendwas von dem Abend erinnern kann.“ Ich weiß, dass auch Damast sein Möglichstes getan hat, aber ich entschuldige mich nicht für meine säuerliche Reaktion über die Verschwiegenheit und Herabwürdigung meiner Besorgnis. Auch nicht, als er mich zweiflerisch mustert.

„Vielleicht erinnert er sich nicht.“

„Vielleicht“, wiederhole ich diesen eher lahmen Versuch, von dem wir beide wissen, dass es bei jenem wagen Wunsch bleiben wird.

„Wieso erfahre ich es eigentlich erst jetzt? Das hätte das erste sein müssen, was du mir an der Tür sagst. Nein! Du hättest mich gleich anrufen müssen“, motze ich nachträglich, nachdem sich der überraschende Schluckauf löst und ein kleines bisschen mehr Ruhe meine Lungen füllt.

„Ich habe die Nachricht gerade erst gelesen. Komm mal runter, du Muttertier!“, kommentiert Damast gelassen und gibt meiner Rage weiteres Feuer. Doch egal, wie ich es drehe und wende, ich darf meinem Unmut nicht nachgeben, also atme ich aus. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, denn ohne seine Hilfe komme ich nicht an die vollständige Untersuchungsakte und kann mir kein komplettes Bild von Manuels Fall machen. Das ist meine aktuelle Mission. Ich brauche ihn auf meiner Seite und ihn anzuschreien, wird meine Chancen auf eine positive Resonanz nicht erhöhen. „Was willst du eigentlich hier? Das ist, wie man merkt, kein Höflichkeitsbesuch. Also, was willst du?“ fragt er hinterher. Ich beiße kurz die Zähne zusammen und richte meinen Blick auf die farbigen Lichtpunkte, die durch das Wohnzimmer schweben. Auf dem entfernt liegenden Schreibtisch stapeln sich Papierberge. Vielleicht auch Akten. Durch die Dunkelheit kann ich kaum etwas erkennen.

„Einen Gefallen erbitten“, gebe ich geradeheraus preis, ohne weitere Wortklauberei. Damast scheint zu ahnen, worauf ich hinauswill, denn er hakt nicht nach.

„Und das konnte nicht bis morgen warten? Ich wollte ausnahmsweise früh schlafen gehen. Schlaf ist so wichtig und mein Stoffwechsel kündigt mir sonst das Abo“, erläutert er stattdessen und ich weiß nicht, wie viel er davon ernst meint. Ich werfe ihm einen argwöhnischen Blick zu, der bei seinen Händen stoppt. Diesmal zieht er sie bewusst aus meinem Blickfeld, schiebt sie sich unter die Achseln. „Also, was ist so wichtig?“, fragt er ruhig und lehnt sich provokativ gegen den Herd und die Dunstabzugshaube, die das einzige Licht in der scheinbar ungenutzten Küche macht.

„Ich brauche eine Kopie von Detective Barres vollständiger Ermittlungsakte Aktenzeichen AKPR89-040019-23/03. Ich meine aber nicht die digitale Fallakte, die ist so löchrig, wie Schweizer Käse.“ Damast starrt mich an, während er leger gegen den Küchentresen lehnt. Seine Hände weiterhin versteckt.

„Nein.“

„Nein?“, hake ich ungläubig nach.

„Nein, denn ich kann dir nicht helfen.“

„Du bist der Einzige, der mir helfen kann, den ich bitten kann“, offenbare ich, wenn auch unwillig.

„Ach, deshalb sind wir schon beim Du? Für das leichtere Einlullen und Gefallen a la `Eine Hand wäscht die andere‘? An diesem Punkt unserer Zusammenkünfte bist du weit im Rückstand“, stellt Damast mit neckendem Ton fest und trifft damit unweigerlich den Kern der Wahrheit.

Ich bin seit mehr als fünf Monaten den Hauptdistrikten und der Mordkommission zugeteilt. Zuvor war ich Mitglied einer strategischen Sondereinheit der Außenbezirke, die der Jugend- und Bandenkriminalität übergeordnet war. Es fällt mir schwer, in dem neuen Revier Anschluss zu finden, das gestehe ich mir ein. Doch es liegt nicht an der Kollegschaft oder an dem neuen Aufgabenfeld. Meine einstige Fähigkeit, mich schnell einzubinden, anzukommen und Kontakte zu knüpfen, ist schlicht und einfach gehemmt. In der letzten Zeit fühle ich mich schrecklich fehl am Platz und das hindert mich daran, mich zu öffnen. Dabei sind es schon Monate, in denen ich versuche, Ordnung in das Chaos meines Lebens zu bringen, was vorangegangene Ereignisse hinterlassen haben. Der Stein des Bedrückens in meiner Brust wird plötzlich schwer. Alles in mir schreit danach, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. Vielleicht suche ich deswegen den Kontakt zu Damast, obwohl er keines der Attribute mitbringt, die ich für gewöhnlich an kollegialen Bekanntschaften schätze. Er hat etwas Unnahbares, Abgeschottetes. Dennoch amüsant Leichtes. Ihn kann ich in meine Nähe lassen, ohne mehr zu erwarten oder befürchten zu müssen. Das ist seltsam beruhigend.

„Du musst mir danach nie wieder einen Gefallen tun. Einigen wir uns darauf?“, schlage ich vor.

„Irrelevant, denn, wenn Barres bei dir unwillig war, ist er es bei mir erst recht“, erklärt er schlicht, „Wir haben da so ein Erzfeinde-bis-auf-den-Tod-Ding, was ich ausgesprochen ernst nehme.“ Er tropft vor Sarkasmus. Natürlich. Jeder braucht einen Erzfeind. Meiner ist die Fastenzeit vor Ostern. „Noch dazu kann ich die Tatsache, dass du schon wieder persönlichen involviert bist, nicht gutheißen.“ Polizisteneinmaleins. Vielleicht auch Selbstschutz. Ich schnaube verächtlich. Den Verweis auf das persönliche Interesse nehme ich durchaus zur Kenntnis und auch mir bereitet es Bauchschmerzen.

„Wir könnten jemand anderen bitten.“

„Wen denn?“

„Detective Marks womöglich?“, unterbreite ich ihm.

„Wenn der Doktor nicht will, fragen wir den Igor? Wie naiv.“ Ich würde auch Frankensteins Monster fragen, wenn ich könnte und es zum Ergebnis führte. Bislang kenne ich die Protagonisten dieses Spiels zu wenig, um solch eine Einschätzung treffen zu können, daher werfe ich mit Mutmaßungen um mich, wie ein 5-jähriger Konfetti.

„Bitte.“ Ein letzter Versuch, der, genauso wie die Vorigen, an der Mauer der nebulösen Ignoranz strandet.

„Gute Nacht, Detective“, entgegnet Damast stattdessen unaufgeregt und endgültig, ohne weitere Gesten machen zu müssen. Ich seufze schwermutig, werfe einen letzten Blick durch die eher spärlich eingerichteten Räume und gebe mich geschlagen. Fürs erste. Ich erwidere den Gruß, verlasse die Wohnung und brauche mehr als fünf Minuten, bis ich aus dem Haus heraus und zu meinem Auto zurückfinde.
 

Der Rest der Nacht verläuft ernüchternd und schlafdepressiv. Ich döse zwar ein, bin aber nach wenigen Stunden abermals wach, weil ich in meinem Traum von einer gigantischen, grölenden Sanddüne verschluckt werde, während mich Izan schallend auslacht. Das schrille Gelächter verweilt in meinen Gehirnwindungen, als ich mich im Bett umher wälze, aufstehe und wieder hinlege, nachdem ich einschätze, dass es unter der Decke wärmer ist. Aber auch danach kreiseln meine Gedanken weiter, huschen zwischen Izan, Manuel und meinem neugefundenen Kompagnon hin und her, ohne mich an ein Ziel zu bringen. Mein Kopf fühlt sich an, wie eines dieser alten Dia-Brillen, mit denen mein Großvater aufgewachsen ist. Ich weiß weiterhin nicht, was ich von all dem halten soll. Weder von Vikar Damast noch von den fragwürdigen Wesen, die unerwartet auf der Spielbühne aufgetaucht sind. Doch wenn ich ehrlich bin, würde die Existenz von mystischen Wesen und Fantastischem einiges erklären. Vieles, was ich im Laufe meines Lebens mit Gänsehaut wahrgenommen habe, was trotz aller vorhandenen Variablen unerklärlich schien, ergebe nun einen Sinn. Jetzt mit mehr Abstand normalisiert sich mein Herzschlag, wenn ich an die Nacht mit dem Golem zurückdenke. Auch, wenn es zuvor diesen aufgeregten Hüpfer vollführt. Er verebbt langsam und stetig, mit jedem Hauch von weiterem Verständnis. Ich möchte nicht mehr fliehen, sondern ich will vor allem Antworten. Schon als Kind wollte ich selten wissen, warum etwas passiert, sondern ich wollte verstehen, wie es geschehen konnte. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Er existiert vielleicht nicht semantisch, aber für mich ist er wichtig. Was war der Auslöser? Was steckt dahinter? Wie ist es dazugekommen? Welche Variablen verbergen sich hinter den Ereignissen. Zunächst wollte ich einen wissenschaftlichen Beruf antreten und Ursachen ergründen. Dann wurde während der sechsten Klasse in meiner Nachbarschaft ein Kind, ein Schulfreund, tot aufgefunden. Er starb in einem abgegrenzten Hinterhofgarten durch eine Schussverletzung, mitten in der Brust. Niemand hat einen Schuss gehört. Niemand einen Fremden gesehen oder jemanden, der sich vom Tatort entfernte. Es wurden keine Spuren gefunden, die daraufhin deuteten, dass jemand anderes dort gewesen war, als der zwölfjährige Junge. Es lagen Spielzeuge und ein angebissenes Sandwich im Garten. Die drei Gurkenscheiben wurde rausgepuhlt und in einem benutzten Taschentuch verstaut, welches in seiner Hosentasche gefunden wurde. Ein halbleeres Glas mit Organgensaft stand am Boden, daneben drei Stücken Kreide in den Farben gelb, grün und blau. Keiner hat es verstanden. Alle waren entsetzt und verunsichert. Welches Monster würde einen Zwölfjährigen töten? Die Polizei tappte lange im Dunkeln und die vergehenden Wochen lagen schwer und still über der Siedlung, wie ein Leben erschütterndes Leichentuch.

Erst viel später stellte sich heraus, dass nur ein paar Häuser weiter der Besitzer an diesem Tag einen Baum fällte. Eine alte Traubeneiche, in der Jahre zuvor eine intakte Patrone eingewachsen war. Ungesehen und vergessen. Beim Fällen traf die Kettesäge auf die Hülle und sie entzündete sich. Die Kugel flog, erreichte meinen Freund zwei Häuser weiter und tötete ihn. Es gab kein Warum. Es gab nur ein Wie. Sein Tod war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Nicht mehr. Nicht weniger tragisch.

Dieses Ereignis hat mich damals geprägt und mich lange nicht losgelassen. Jahre später nutzte ich die Chance, mit einem der Polizisten zu sprechen, der an dem Fall gearbeitet hatte. Er erklärte mir die Aufgaben, die dazu gehörten und die der Job als Polizist mit sich bringt. Nicht die grausamen Details, nicht die blutigen Effekte, nach denen die Jugend sonst lechzte. Viel mehr sprach er davon, wie wichtig es war, Antworten zu finden und den Hinterbliebenen einen Abschluss zu ermöglichen. Wie und warum. Beides Hand in Hand und doch manchmal vollkommen voneinander getrennt. Er gab mir zu verstehen, dass es hin und wieder an einer hinreichenden Erklärung oder an dem einen Grund, der alles aufklärte, fehlt. Manchmal wird dieser nie gefunden. Oft bleibt uns nur das Wie. Wahrscheinlich hat er mich damals abschrecken wollen, denn wirklich nichts seiner Erzählungen malte das typische Bild der heroisierten Helferfigur, die einem so oft aufgebunden wird. Diese Geschehnisse brachten mich nach dem Abschluss zur Polizei und es begründetet, wieso ich zunächst auch in der Jugendkriminalität landete.
 

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, als ich die Beine aus dem Bett schwinge und letztendlichen die Chance auf geruhsamen Schlaf aufgebe. Ich gönne mir eine lange, wasserverschwendende Dusche und direkt danach einen tiefschwarzen Kaffee. Noch im Handtuch und mit der Tasse in der Hand ziehe ich den Laptop hervor. Nach einer moderaten Recherche zu eventuellen Meldungen zu Manuels Fall und auch Izans, sichte ich erneut die abfotografierten Einträge der Akte. Beides bringt keine nennenswerten Ergebnisse. So oder so, gut und schlecht im selben Augenblick. In Izans Fall beruhigt es den Strudel meiner gedanklichen Wasserbahn, da kein einziger Artikel über irgendwelche merkwürdigen Vorkommnisse aufgetaucht ist. In Manuels lässt es einen tiefen Unmut zurück. Es gibt lediglich ein paar polizeiliche Stellungnahmen zur Tötung des bekannte Drogendealers und zur bestehenden Festnahme eines mutmaßlichen Täters. Hier werden glücklicherweise keine Namen genannt.

Teile der Handybilder sind durch meine schlechten Fotokünste kaum lesbar und damit nicht nutzbar. Meine zusammengestellte Faktenliste erhält keine neuen Erkenntnisse. Ich ziehe mir frustriert etwas über, trinken einen zweiten Kaffee und ich ärgere mich ein weiteres Mal über die offensichtlichen Lücken der Akte, obwohl es weder produktiv noch hilfreich ist. Mein Termin in der Haftanstalt ist erst in ein paar Stunden. Die halbgeleerte Tasse Kaffee bleibt auf dem Küchentresen zurück, während ich die wichtigsten Hilfsmittel zusammenklaube und die Wohnung verlasse.
 

Zunächst fahre ich zu dem Wohnblock, in dem Izan gemeldet ist. Er lebt mit seiner Mutter und einer älteren Schwester in einem verlebten Mietkomplex im Geiger-Distrikt. Es ist der größte Distrikt der Stadt und der, mit der höchsten sozialen Armut. Seine Schwester ist es, die nach mehrmaligem Klopfen und Klingeln die Tür öffnet, das aber nur einen nervösen Spaltbreit. Ihre unruhigen großen Pupillen offenbaren ein furchtvolles Hadern des Misstrauens, als sie mich mustert. Sie ist high und das Unbehagen um den Zustand des jungen Hispano wächst. Ihre zurückhaltende Reaktion auf mich als Fremden kann ich ihr nicht verübeln. Die Polizeimarke spare ich mir bewusst. Ich frage sie nach ihrem Bruder und dessen Befinden. Sie schweigt, schüttelt lediglich den Kopf. Ich strecke ihr meine Visitenkarte entgegen und bitte darum, ihm zu sagen, dass er sich bei mir melden soll, wenn er sich in der Lage fühlt. Sie nickt und sekundenspäter ist die Tür geschlossen.

Beklommen mache ich mich auf den Weg ins Bezirksgefängnis. Trotz der Polizeimarke und meines zugegebenermaßen eingerosteten Charmes dauert es lange, bis ich im Gesprächsraum Platz nehmen kann. Es braucht weitere fünfzehn Minuten, bis Manuel endlich vor mir sitzt. Was ich sehe, ist erschreckend. Nur noch ein Hauch erinnert an den bulligen, selbstsicheren Kerl, den ich in Erinnerung habe. Die Augen meines Schulfreunds sind unruhig, bläulich unterlaufen und er ist sichtbar angespannt. Uns trennt eine mittelhohe Scheibe voneinander, in der mehrere Löcher sind.

„Luis, es ist schön, dich zu sehen“, beginnt Manuel aufgeregt, tippt mit den Fingerbeeren gegen die verschmierte Scheibe, „Die machen mich hier fertig. Niemand glaubt mir. Bitte, du musst mir helfen.“ Manuels Stimme überschlägt sich im Eifer und Hast. Er erzwingt ein Lächeln, welches den flehenden Unterton nur noch unterstreicht.

„Hey, hör zu, es tut mir leid, aber ich kann nicht sehr viel tun. Der Fall liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, daher kriege ich schon Ärger, wenn ich mir nur die Akte ansehe. Ich dürfte eigentlich nicht mal mit dir sprechen, ohne, dass dein Anwalt dabei ist.“

„Ich weiß. Fuck, das ist ein Albtraum.“ Manuel reibt sich mit beiden Händen fest das Gesicht und das Metall der Handschellen klappert. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass alles gut wird.

„Beruhige dich und bitte erzähle mir von Anfang an, was an dem Abend passiert ist. So detailliert, wie möglich“, bitte ich meinen alten Freund.

„Ich weiß nicht, wie oft ich es noch erzählen soll. Okay. Okay. Ich bin spät nach Hause gekommen. Erst gegen 19:30 Uhr. Es stehen gerade die Einschätzungen der 10. Klassen an und das hat mich die Tage beschäftigt. Ewa hat ihren wirklich gewöhnungsbedürftigen Hackbraten gemacht, den ich so sehr liebe und… und… wir haben zusammen gegessen. Sie hat danach mit ihrem Vater telefoniert und ich habe im Esszimmer ein paar Arbeiten korrigiert. Wir sind ins Bett gegangen…“

„Wann?“

„Gegen halb 11. Ich habe noch den Wecker geprüft und die Aufstehzeit korrigiert. Aber ich konnte einfach nicht einschlafen. Erst habe ich etwas Warmes getrunken, doch das hat nicht geholfen. Ich fühlte mich rastlos, also habe ich mich angezogen und bin spazieren gegangen.“ Es ist zu merken, dass er diesen Ablauf schon mehr als einmal wiedergeben musste. Seine Stimme ist erstaunlich fest und doch huschen seine Augen angestrengt hin und her. Allerdings ist es kein Zeichen für eine Lüge. Auch sonst sehe ich keine der klassischen Hinweise auf Ausflüchte. Keine nervösen Ticks. Kein fantasievolles Ausschmücken bei den Erzählungen. Allerdings hatte er schon viel Zeit, die Details zu festigen. Ich ändere die Taktik.

„Wann genau hast du das Haus verlassen?“

„Kurz nach 12:30 Uhr.“

„Warum gerade in dieses Viertel?“

„Ich bin oft wegen der Schule da unterwegs. Das ist mir vertraut und ganz ehrlich, - es ist total bescheuert-, aber ich wollte nicht auf Nachbarn treffen, weil ich in der letzten Zeit häufiger nicht schlafen konnte. Und du kennst das doch und weißt, wie es ist. Das Getuschel und Gelaber.“

„Ich weiß. Es ist ziemlich weit von eurer Wohnung entfernt“, merke ich an.

„Ja, aber ich dachte, je mehr Strecke ich zurücklege, umso mehr würde es mich ermüden. Außerdem, woher hätte ich wissen sollen, dass dieser Kerl dort ist? Luis, ich war es nicht. Ich war gar nicht dort. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber sie sagen, sie haben meine DNA dort gefunden. Aber welchen Grund hätte ich denn, ihn zu töten?“, ertönt es energisch von der anderen Seite. Ich schiele zu dem Sicherheitsposten, der offensichtlich zuckt und die Hand an den Teaser legt.

„Bitte, beruhige dich“, mahne ich ihn an, damit er wieder runterkommt.

„Beruhigen? Verdammt Luis, die lassen mich hier nie wieder raus. Ich bin doch unschuldig. Wieso glaubt mir niemand?“, wimmert er verzweifelt und presst sein Gesicht in die Handflächen.

„Deine DNA wurde zwar am Tatort gefunden, aber der Tatort ist einer der Ballplätze, die du mit einer deiner Gruppen nutzt, oder?“, erfrage ich mit ruhiger Stimme, versuche ihn weiterhin zu besänftigen.

„Ja.“

„Wann das letzte Mal?

„Zwei Tage vorher.“

„Ist dir in der letzten Zeit irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was willst du hören?“, entgegnet Manuel mit rauer Stimme und schaut mich fragend an. Ich weiß es selbst nicht. Was versuche ich hier zu tun?

„Ich meine, sowas wie…hat euch da jemand beobachtet? Gab es sonderbare Vorkommnisse in der Schule? Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt Drohungen bekommen oder komische Anrufe?“

„Ich bin Lehrer in einer Mittelschule. Mir wird ständig damit gedroht, dass man mein Auto abfackelt oder meine Katze ertränkt, wenn ich nicht dafür sorge, dass man durch den Kurs kommt oder sich die Note verbessert. Himmel, ich war mit einer Horde überdrehter 13-Jähriger unterwegs. Natürlich wurden wir beobachtet. Da war nichts komisch.“

„Hat es mit deiner Arbeit als Drogenbeauftragter zu tun? Das Opfer war ein bekannter Drogendealer.“

„Opfer“, spottet er und knirscht mit den Zähnen.

„Will es dir jemand in die Schuhe schieben? Fällt dir jemand ein?“, fahre ich fort.

„Luis, ernsthaft. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist und wie das alles hierherführen konnte. Schiebt es mir jemand in die Schuhe? Ja, möglich. Aber ich weiß nicht, wer und ich verstehe nicht, warum. Ich weiß nur, dass ich nicht dort gewesen bin.“ Nichts an ihm und seinen Reaktionen spricht für mich dafür, dass er lügt. Das Einzige; die Furcht in seinen Augen ist deutlich zu erkennen.

„Aber du hast kein stabiles Alibi“, spreche ich das Problem an. Laut Akte erklärte Manuel, dass er nicht schlafen konnte und einen Spaziergang machte. Seine Frau konnte nur bestätigen, dass sie ihn nicht im Bett vorfand als sie in der Nacht kurz erwachte und er nach Hause kam. Doch das sei nichts Ungewöhnliches gewesen. Allerdings bestätigte sie damit, dass er kein Alibi hatte, aber auch, dass es normal war, dass er nicht schlafen konnte und unterwegs war. Für mich ist das der Grundsatz des berechtigten Zweifelns im Zusammenhang mit der Vorsätzlichkeit der Tat. In dubio pro reo.

„Ich weiß das. Aber ich war nicht dort. Ich war in der Bachstraße, Ecke Austin. Dort ist eine Konditorei, in der bereits gearbeitet wurde. Bäckers Beste. Sie verkaufen dort diese herrlichen kleinen, weichen Milchbrötchen, die wir schon damals immer gegessen haben. Erinnerst du dich?“ Ich erinnere mich an den zuckrigen Duft frischen Teiges und wie die fluffige Konsistenz auf der Zunge schmilzt. Zum Frühstück gab es sie mit gesalzener Butter und Erdbeermarmelade. Göttlich. „Kaufen konnte ich zu der Zeit noch keine, also bin ich in eine der Gassen eingebogen, weil ich vor ein paar Wochen dort ein sehr künstlerisches Graffiti entdeckt hatte und prüfen wollte, ob es noch da ist. Ich konnte Tauben hören, obwohl es dunkel war. Was noch? Aus einer der Wohnungen kam laute Musik. Es roch nach fauligen Tomaten“, beschreibt er energisch. Mit jedem Wort wächst seine Verzweiflung. „Gott, Luis, wie kann das sein? Diese ganze verfickte Stadt ist voller Kameras und genau die beiden, die beim Tatort sind, funktionieren nicht? Und auch auf meinem Weg dorthin hat mich keine erfasst? Genau an diesem Abend?“ Sein Kehlkopf flattert angespannt auf und ab, so sehr, dass seine Stimme zittert, als er spricht. Technik ist gut und schön, aber sie ist kein Allheilmittel. „Ich war es nicht! Ich war nicht dort“, wiederholt er, als wäre es das Einzige, was den Wahnsinn fernhält. Ich verstehe seine Verzweiflung.
 

„Beschreib es mir. Das Graffiti. War es noch da?“, frage ich, um die wuchernde Spannung zu negieren. Ich brauche Manuel mit klarem Kopf.

„Ja“, antwortet er schwach, „Ein schwarzes Einhorn.“

„Wie hattest du es entdeckt?“

„Bei einem Rundgang mit den Kids. Neue Perspektiven der Kunst. Graffitis als sozialkritischer Ausdruck“, erklärt er und lacht bitter auf, „Himmel, sie waren so begeistert. Sie sollten Bilder machen und dann eines auswählen, beschreiben und interpretieren.“

„Seit wann bist du an Kunst interessiert?“, hake ich nach. Manuel lacht fade auf.

„Ich bin tiefsinniger als die meisten denken.“

„Ohne Zweifel.“ Wir lachen beide, trotz zurückhaltender Bitternis.

„Ewa hat mich vorletzte Woche in so eine freakige Spiegel-Kunst-Ausstellung geschleppt. Es war beängstigend, sehr intensiv, aber irgendwie auch ganz cool.“ Ewa, seine Frau, war schon immer der Stein des Anstoßes. „Leider ist der Kunstunterricht oft das, worauf am ehesten verzichtet wird, wenn das Budget sinkt und ich dürfte mit den Schülern keinen Ausflug mehr dorthin machen. Ich brauchte eine Alternative und fand einen Artikel in einer der kleinen Bezirkszeitungen. ‚Kunst vs. Vandalismus‘“, fährt er fort.

„Ja, die Statistiken sind seit Jahren schlecht und unserer Präventionsbeauftragten kommen auf keinen strategischen Zweig, was den Vandalismus angeht“, schweife ich ab, mit einem anklagenden Ausruf über die vortrefflichen Fehlleistungen dieses partiellen administrativen Apparats.

„Luis.“ Ich presse schuldbewusst die Lippen aufeinander.

„Entschuldige.“ Sein ernster Blick weicht einem gemischten Ausdruck und ich meine, ein kurzes Grinsen auf seinen Lippen erahnen zu können. Es ist zu schnell verschwunden, um es zu verifizieren.

„Ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passieren wird“, entgegnet er mit einem Flüstern, was kaum zu mir vordringt. „Das ich selbst getötet werde… ja… aber das? Ich meine… komm schon. Ich bin doch einer der Guten.“ Nichts als Trübsal schwimmt in seinen Worten mit. Es ist erdrückend und wahr.

„Ich tue, was ich kann, aber ist verzwickt“, berichte ich lasch.

„Ich weiß. Ich danke dir.“ Danach lasse ich ihn alles wiederholen, hake an anderen Stellen nach und stelle weitere Fragen. Am Ende habe ich ein gutes Bild von den Geschehnissen des Abends von Manuels Seite.
 

Als ich aus der Bezirkshaftanstalt zurückkehre, werde ich durch eine uniformierte Kollegin am Empfang zurückgehalten, die mir ein in ein buntes Tuch mit mäandrischen Mustern eingewickeltes, flaches Päckchen überreicht. Officer Nancy MacCord. Sie lächelt aufgeregt und ihr linkes Auge wird dabei etwas schmaler.

„Luis, hier, das hat jemand für dich abgegeben“, sagt sie und zwinkert spielerisch. Ich nehme es entgegen. Der Inhalt fühlt sich flexibel an, nicht starr.

„Jemand? Wer?“, frage ich verwundert nach. Ich starre irritiert zwischen ihr und dem bunten Stoffpaket hin und her.

„Keine Ahnung, ich habe es nicht entgegengenommen. Liegt nichts dabei?“, fragt sie neugierig, „Egal, wenn du mich fragst, ist es allemal einfallsreicher als Blumen.“ Und nicht gerade nach Vorschrift. Ich bedanke mich und weiß nicht, was ich von ihrem Kommentar halten soll. Bevor ich zu meinem Schreibtisch gehe, besorge ich mir eine Tasse Kaffee, lege das Paket zur Seite und schalte den Rechner ein. Die drei Klebezettel, die auf den unteren Teil meine Tastatur geklebt sind, sagen mir, dass ich mindestens vier Leute zurückrufen soll und eine Akte einsehen muss. Ich verteile sie um und schlürfe den schwarzen Lebenssaft bis zur Hälfte auf. Er ist stark und flattert bitter über meine Zungenwurzel. Genau das, was ich brauche, denn ich habe nicht das Gefühl, auch nur einen Millimeter voranzukommen. Izan meldet sich nicht. Ich weiß nicht, ob er nicht will oder nicht kann. Die psychologischen Auswirkungen bei solchen Geschehnissen sind endlos und schwerwiegend. Möglicherweise sollte ich noch einmal bei ihm vorbeischauen oder einen Sozialarbeiter kontaktieren. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich dafür keine Zeit habe, da mein Captain ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen ist. Es hindert mich nicht daran. Ich durchsuche das Intranet nach den Nummern und Mailadressen des Sozialdienstes. Da ich bisher mit keiner der Kontaktpersonen zu tun hatte, wähle ich nach Bauchgefühl, tippe eine kurze Mail mit der Bitte um Prüfung und hinterlege meine Handynummer. Mehr kann ich gerade nicht tun, also schweift mein Blick automatisch zu dem farbenfroh verschnürten Paket. Bevor ich mich dem bunten Rätselpäckchen widmen kann, dringt ein hastiger, quer durch den Raum geschleuderter Zuruf zu mir durch. Ein Kollege bittet mich darum, ihn zu einem Tatort zu begleiten und ich willige ohne Widerworte ein. Da ich selbst noch keinen Partner zugewiesen bekommen habe, ist mein aktives Aufgabenfeld stark eingeschränkt. Mordfälle dürfen nicht allein bearbeitet werden, also leiste ich im Moment vor allem Zuarbeiten, Recherchen und Laufarbeit.
 

Uns erwartet ein Toter in der Badewanne. Er wurde erst Tage nach seinem Ableben durch seine Cousine aufgefunden. Sie steht weinend und zitternd im Flur und spricht mit einem Officer, als wir eintreffen. Der süßlich faule Geruch, der uns in der Wohnung empfängt, wird beißend, je näher wir dem Badezimmer kommen. Mein Körper reagiert von ganz allein und es ist, als würde der Geruch des Todes auf meiner Haut vibrieren und langsam in mich eindringen. Es heißt, man soll durch den Mund atmen. Ich würde am liebsten gar nicht atmen. Ein Kollege der Spurensicherung dokumentiert jedes Detail im Bad mit der Kamera. Der intensive Blitz, der wieder und wieder den kleinen Raum erhellt, blendet mich und lässt meine Sicht für Augenblicke farbig tanzen. Ich suche einen abgeschiedenen Fleck und fixiere ihn. Erst, nachdem er geht, schaffe ich es, mich auf die Leiche zu konzentrieren. Es ist kein schöner Anblick. Ein Teil des Körpers, darunter Schulter, Hals und weite Stellen des Kopfes ragen aus dem rötlich verfärbten Wasser heraus, sind aufgedunsen und verfärbt. Die eingetauchten Bereiche des Körpers sind bleich und wächsern, jedoch in Form geblieben. Auf der Hüfte erkenne ich eine bläulich und grün verfärbte Stelle. Ein Sturz womöglich. Bei näherer Betrachtung sehe ich eine deutliche Delle im seitlichen Bereich der linken Schädelseite und Blut am Wannenrand. Ein Aufschlagpunkt. Nirgendwo sonst sind Spritzer zu sehen oder Flecken, was dafürspricht, dass es eine einzige ausschlaggebende Verletzung gab und keine weitere Einwirkung durch wiederholten Waffengebrauch. Es sind keine Spuren eines Kampfes zu erkennen. Demnach sprechen die offensichtlichen Faktoren mehr für einen Unfall, aber das kann uns nur der Gerichtsmediziner nach der Autopsie bestätigen. Ich vermute, dass er stürzte und infolgedessen ertrank. Vom Pförtner des Wohnhauses erhalten wir die Überwachungsaufnahmen der letzten zwei Wochen des Foyers und auf dem Rückweg fahre ich im Videolabor vorbei. Der Entschluss bildet sich erst auf der Fahrt dorthin. Ich gebe die Bände des Badewannenvorfalls bei dem Verwahrungskollegen ab. Er notiert sich, dass sie erst relevant werden, falls die Autopsie ein Fremdverschulden feststellt. Ich lasse meinen Charme spielen. Hernandez, der Officer, der uns bereits beim Bakow Video geholfen hat, ist mit der Einladung auf einen Kaffee und einem Snack schnell zufriedengestellt und ich kriege die vorhandenen Aufnahmen von Manuels Fall zur Verfügung gestellt. Ich unterschreibe die Entgegenahme brav und bin mir sicher, dafür später weiteren Ärger zu kassieren. Während er geruhsam den Raum verlässt, starte ich die ersten drei Aufnahmen der benachbarten Geschäfte von Manuels angeblichen Aufenthaltsort. Er ist nicht zu sehen. Als letztes nehme ich mir die Aufnahme des Tatorts vor. Es ist nur ein Teilabschnitt des Ballfeldes zu erkennen. Eine Straße im Hintergrund und ein paar parkende Autos. Am linken Rand bewegt sich eindeutig eine dunkelgekleidete Person durch das Bild. Er raucht und das Glimmen der Glut leuchtet leicht auf, jedes Mal, wenn er an seiner Zigarette zieht. Dann verschwindet er aus dem Bild, taucht wieder auf und greift nach etwas im Gebüsch hinter sich. Die Aufnahmen sind nicht die besten, aber es könnten Zigaretten oder Drogen sein. Der Bildschirm wird plötzlich schwarz.

„Was zum…“

„Verrückt, oder?“ Officer Hernandez steht mit einem angebissenen Double Chocolate Cookie und einem Kaffee hinter mir. Ich nicke. Doch er schaut gebannt auf den leichtflimmernden Bildschirm., also bekommt er mein Nicken gar nicht mit.

„Wie wahrscheinlich ist das?“, fragt er weiter und ich bin mir sicher, dass er keine statistische Annäherung von mir hören will, „Mein Cousin arbeitet für die Stadtwerke im Bereich der Stromversorgung. Er sagt, dass in einem Radius von 50 Meter alle Kameras ausgegangen sind. Kurzschluss in den optischen Modulen. Im exakt selben Moment.“

„Wirklich?“, erkundige ich mich erstaunt. Hernandez nickt frenetisch und ein paar der Kekskrümel rieseln von seiner Lippe. Einer der größeren bleibt am Saum der Brusttasche seines Hemdes hängen. Ein anderer kullert über die Wölbung seines Bauches zu Boden.

„Ja, alle visuellen, angeschalteten Geräte. Auch das Handy des Opfers ist elektronisch gesehen komplett im Eimer, habe ich gehört. Ein Kurzschluss. Wie bei den Kameras.“ Hernandez steckt sich einen Teil des Kekses in den Mund, kaut und schüttelt den Kopf. „Zum Glück haben sie die DNA von dem Typen.“

„DNA ist nicht alles.“, merke ich sofort an.

„Sagen Sie das mal den Geschworenen. Seit CSI sind sie ganz wild darauf. Meine Tante arbeitet für die Bezirksstaatsanwaltschaft und sie sagt, dass ein Fall ohne DNA-Beweise von vornherein ein verlorener Fall ist. Ja, das sagt sie…verrückt, oder?“, plaudert er drauflos. Zur Bekräftigung verschwindet das letzte Viertel des Mürbeteiggebäcks in seinem Mund. Er leckt sich über die braunbeschmierte Fingerbeere, sieht sich um und greift nach dem nächsten der Kekse. „Warum…“, setzt er an.

„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, schreite ich ein, ehe er nachhaken kann, warum ich mir das Video aus diesem Fall anschaue. „Sie sind doch vom Fach, können Sie mir die Hintergrundinfos der Aufnahme auslesen? Es ist leider nicht genau zu erkennen, ab wann das Bild einbricht. Sie kriegen doch bestimmt super fix die genaue Uhrzeit heraus, oder?“

„Die Metadaten", fragt er kauend.

„Richtig. Kommen sie daran?"

„Sicher, aber wozu brauchen Sie das?“

„Ich benötige die Informationen für eine genaue Rekonstruktion der Abläufe. Geschworene lieben Animationen des Tathergangs, deswegen brauchen wir die exakten Angaben“, sauge ich mir blitzschnell aus den Fingern. Mein Kollege in Uniform scheint überzeugt, denn er nickt verstehend, streicht sich die fettigen Hände an der Unterseite des Hemdes ab und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen. Er zieht die Tastatur zu sich heran und seine Finger beginnen zu fliegen. So schnell, dass ich mich vor Schreck fast an meiner eigenen Spucke verschlucke. Auf dem Bildschirm öffnen sich schnell mehrere Fenster, schließen sich wieder und das Klackern der verwendeten Tasten ertönt im dazu passenden Takt. Ich sehe fasziniert dabei zu, bis es ebenso plötzlich stoppt.

„Ich denke, …hier könnte…“, setzt er langsam an, „Hier sind die entsprechenden Informationen gelistet, sehen Sie, Detective? 01:17 Uhr. Zu der Zeit ging das System aus. Danach hören die Aufzeichnungen auf.“ Ich beuge mich vor, als er mit dem Finger gegen ein paar der abgebildeten Zeilen tippt. Die Schüsse wurden 01:28 Uhr gemeldet. Demnach liegen zwischen dem Ausfall und den Schüssen nur elf Minuten. Das ist nicht viel Zeit für eine derartige Eskalationsspirale. Ich bitte den Kollegen um eine Kopie der Daten und verlasse das Hauptgebäude, um in mein Revier zurückzukehren.
 

Am Schreibtisch erliege ich einen Moment lang der Lethargie. Die Gedanken in meinem Schädel überschlagen sich und der entstehende Druck äußert sich in Kopfschmerzen. Ich lasse langsam die Luft aus meiner Lunge entweichen, ziehe mehr Luft wieder hinein und schließe dabei die Augen. So lange, bis ich mehrere Türen höre, die sich energisch öffnen und schließen und ich mich gezwungen aufrichte. Mein Blick fällt sofort auf den bunten Stoff des geheimnisvollen Päckchens. Augenblicklich kehrt die Spannung in meinem Körper zurück und ich greife nach dem flachen Päckchen. Ich löse die Knoten und entblättere den Stoff. Darin befindet sich eine blaugraue Dokumentenmappe. Sie ist alt und leicht vergilbt. Stirnrunzelt schlage ich sie auf und sitze schon bei den ersten Zeilen senkrecht. Es ist Manuels Ermittlungsakte und sie hat meine sofortige Aufmerksamkeit. Ich blättere sie zügig durch, um einen Überblick zu bekommen und weiß schon nach der Hälfte, dass sie diesmal vollständig ist. Sie enthält sogar die toxikologischen Berichte, die ballistische Auswertung der Waffe und die Tatortfotos.

Dieser Schwindler, Damast. Er hat es doch geschafft. Jetzt schulde ich ihm wirklich etwas. Doch vorerst gehe ich dem dringenden Bedürfnis nach, die Akte gründlich zu analysieren. Die Spuren. Die Fotos. Die Zeugenaussagen. Ich studiere alles bis ins kleinste Detail und komme zu den gleichen Schlüssen. Vieles deutet auf Manuel hin. Doch nicht alles. Die Fingerabdrücke an der Waffe können nicht Manuel zugeordnet werden. Am Rand der Analyse sehe ich die Worte ‚seltsam‘ und ‚konkav‘, versehen mit einem Fragezeichen. Beides ist kaum zu lesen, da es vermutlich im Original nur mit Bleistift vermerkt ist. Zwei der Abdrücke sind vom Opfer C-Dots selbst, die anderen sind auch nach dem Abgleich mit der Datenbank nicht zuordbar. Einige der Abdrücke sind stark verwischt, sodass kein klarer Linienverlauf, keine Furchen, keine Falten zu erkennen sind. Ich wundere mich sehr über die Seitenanmerkung. Für gewöhnlich sind die Papillarleisten der zentralen Fingerbeeren konvex. Je weiter ich mich mit den Inhalten beschäftige, umso mehr kristallisiert sich heraus, dass sie trotz aller Unstimmigkeiten nie einen anderen Verdächtigen in Betracht gezogen haben. Wie kann das sein? Wie kann ein Drogendealer mit Ganghintergrund keine anderen Feinde haben als einen engagierten Mittelschul-Sportlehrer? Das ergibt keinen Sinn. Normalerweise verliefen solche Geschichten eher den gegenteiligen Weg und man hätte Manuel erschossen in seinem Schlafzimmer aufgefunden oder in der Eingangstür seines Wohnhauses. Es ist nicht wasserdicht. Ganz und gar nicht.
 

Mit einem langgezogenen Seufzer schließe ich die Fallakte AKPR89-040019-23/10. André C. Dotton. Manuel wird Ende der Woche angeklagt. Was dann? Sollte ich meinem Vorgesetzten auf die Ungereimtheiten hinweisen? Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas bringt. Er würde mir nicht zuhören. Ich greife frustriert nach dem oberen Formular des Stapels mit den abzuarbeitenden Akten, sichte die Anzeige und beginne, die Daten sorgfältig digital zu hinterlegen. Sie richtet sich gegen Unbekannt. Die Tat wurde durch ein Krankenhaus zur Anzeige gebracht. Ein junger Mann liegt nach einer Attacke mit schwerwiegenden Kopfverletzungen im Koma. Es gibt keine Zeugen, aber es konnte genetisches Spurenmaterial gefunden werden, deren Abgleich mit den Strafdatenbanken jedoch keine Ergebnisse brachte. Der Abschlussbericht steht noch aus.

Kein Ende. Keine Bewegung. Das Alles hinterlässt unendliche Ruhelosigkeit in mir. Ich fühle, wie es juckt. Überall. In Manuels Fall kann ich nichts tun. Auch die Fälle von Bakow und de Lucia kann ich zu keinem wirklichen Ende bringen, da mir beim besten Willen nicht einfällt, wie ich es erklären soll. Es bleibt nur einer dieser schwammigen, psychologischen Gründe übrig. Alles andere, wie Izans Anwesenheit, der Totengeist und das Ungetüm, blieben unerwähnt. Kein Warum. Nur ein Wie. Der Sinn dahinter ist kaum zu verstehen, auch wenn ich den Grund begreife. Zwei Tote. Zwei trauernde Familien. Auch Izans Leben wird nie wieder sein, wie früher und ich kann nichts für ihn tun. Vor allem dann nicht, wenn er mich nicht sprechen will. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich in der Lage wäre, alles zu erklären, ihm den Halt zu geben, den er bräuchte. Ich lehne mich im Stuhl zurück und versuche mir vorzustellen, was Izan im Moment durchmacht. Es erfüllt mich mit Schauder. Allein die Vorstellung, Pablo etwas angetan zu haben, hat ihm an dem Abend ungeheure Angst gemacht. Pablo. Der Gedanke an das zutrauliche Viertelmaskottchen versetzt mir einen neuen Schub. Ich strecke meinen Rücken und die Schultern, suche nach einem Stift und ziehe einen Blankblock unter der Tastatur hervor. Wo könnte der Hund sein? Wo war er Izan am wahrscheinlichsten begegnet? Das Blut an ihm war noch frisch gewesen. Es muss daher in der Nähe des Friedhofs gewesen sein. Ich schreibe die wichtigsten Fakten auf das Blatt. Das Erstellen eines Bewegungsprofils ist das Einzige, was mir einfällt. Es bedeutet, dass ich Izans mutmaßliche Schritte zurückverfolge, auch wenn ich keinen Zugriff auf die entsprechenden Handydaten oder Videoaufnahmen habe, um es zu verifizieren oder das Suchgebiet einzugrenzen. Ich weiß, wo er wohnt, wo das Jugendzentrum ist und in etwa, wo wir aufeinandergetroffen sind. Drei Punkte. Mehr als man bei manchen Serienmördern hat. Ganz unten im Rollcontainer meines Schreibtisches finde ich einen Stadtplan. Die Gebrauchsspuren sind unübersehbar, denn er ist nicht mehr nach den ursprünglichen Falzungen zusammengelegt und ein Teil des Harrow-Distriktes fehlt komplett. Zum Glück ist der Bereich, den ich benötige, halbwegs unangetastet. Ich markiere den ungefähren Wohnblock des jungen Hispano, das Jugendzentrum und die Stelle, an der Izan uns vor das Auto gelaufen ist. Es ist eine Strecke von mehreren Kilometern, verschachtelt und durchdrungen von unzähligen Gassen, Durchquerungen und Gebäuden. Je mehr ich mir den Ausschnitt ansehe, umso klarer wird die Auffassung in mir, dass es ein ineffektiver Versuch ist. Pablo könnte überall sein. Wie jedes verwundete Tier wird er sich eine Stelle gesucht haben, in die er sich verkriechen kann, um zu verenden. Obwohl es unmöglich scheint, ihn zu finden, sprudelt in mir dieses dringende Verlangen, es dennoch zu versuchen, irgendwas zu tun. Es ist Hoffnung. Normalität, was auch immer es bedeutet. Es kitzelt mir förmlich in den Zehen. Stillsitzen und Papierkram erledigen waren noch nie meine Stärken, auch wenn ich eine ordentliche Aktenführung durchaus präferiere. Mit dem Handy schieße ich ein Foto der Karte und der Skizze. Ich murmele Pablos Namen, sperre den PC und besorge mir aus der Küche ein paar Handschuhe und einen Müllsack. Ich finde auch eine kleine Schaufel, die aus unerfindlichen Gründen unter der Spüle liegt und fahre los.
 

Es dauert eine Weile, bis ich die exakte Stelle ausmache und ich erkenne sie allein dadurch, weil der Müllcontainer, der an dem Abend mit mir kuscheln wollte, kopfüber auf dem Bordstein liegt. Er hat die Seriennummer, die ich mir aus unerfindlichen Gründen gemerkt habe. Vielleicht weil es nicht täglich passiert, dass einen ein Container beinahe zerquetscht. Mittlerweile ist er mit Tags übersäht und wesentlich ramponierter. Er hat einen Riss in der Front und stark eingedellte Bereiche. Ich parke mein Auto am Straßenrand, nehme die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und hole aus dem Kofferraum die kleine Klappschaufel. Der schwarze Müllsack ist bereits in meiner Jackentasche. Während ich versuche, irgendetwas vom Gelände wiederzuerkennen, knistert er bei jeder meiner Bewegungen.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich in der Schwärze der Nacht das scheinbar Vertraute ins Unbekannte verwandelt. So, wie an diesem Abend. Eine ganz andere Welt. Ich atme tief durch, ehe ich das verwüstete Gelände betrete und stelle fest, dass es bei Tageslicht völlig normal wirkt. Nicht mehr als ein baufälliges Gelände voller Schrott. Nichts Furchterregendes. Kein Schreck. Nur Verfall. Trotzdem vibriert meine Haut, kitzelt und kribbelt, so intensiv, dass ich mehrfach hart durch den Mund ausatme und durch die Nase ein. Es soll mich beruhigen und dennoch fühlt es sich an, als würde jeder Atemzug mehr Adrenalin produzieren. Auch meine Eingeweide scheinen zu simmern und sich nach und nach zu verflüssigen. Es ist kein gutes Gefühl und ich befürchte, dass es mich noch eine Weile lang heimsuchen wird. Zugegebenermaßen ist es mir nicht fremd. Als Polizist gerät man in unaussprechliche Situationen. Für Gefahrenlagen sind wir ausgebildet. Es gibt ein Handbuch für alles. Richtlinien und Vorschriften, die alle Eventualitäten betrachten, analysieren und zerlegen. Doch im Grunde kann einen nichts auf die Realität vorbereiten und nichts verläuft nach üblichen Schemata. Das lernt und erlebt man sehr früh in diesem Job.

„Also gut, Pablo, wo bist du?“, entsinne ich mich meiner eigentlichen Mission, kremple die Ärmel hoch und schaue mich um, „Wo seid ihr euch über den Weg gelaufen?“ Ich hoffe inständig, dass Pablo noch lebt und ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die verhöhnend lacht, weil ich mit einem möglicherweise toten Hund spreche.

An und um unseren Schlachtschauplatz herum finde ich ihn nicht. Immer wieder werfe ich einen Blick auf die Karte und wechsele letztendlich doch auf die digitale Darstellung im Handy, da das Gebiet laut meiner Uraltkarte noch vollständig bebaut ist. Jenes Durcheinander an Straßen, Gassen und undefinierten Quadraten wird beim Licht der untergehenden Sonne zu einem Strudel an Unzulänglichkeiten. Nirgendwo gibt es einen nutzbringenden Hinweis. Kein Blut ist zu sehen oder ein Kadaver. Ein eindringliches Poltern entpuppt sich als eine Horde hungriger Raben, die auf einem geöffneten Müllcontainer hinter einem Restaurant sitzen. Die Tiere sind ziemlich furchteinflößend. Ein lautes Rascheln identifiziert sich als Katze, deren Augen beim kurzen Aufleuchten von Scheinwerfen regelrecht glühen und mich zurückschrecken lassen. Überall huschen Ratten. Mäuse. Aber kein Pablo. Als es dämmert, beginne ich, Pablos Namen zu rufen und in den grauen Schatten zu stöbern.

Ich suche in jeder Gasse, in jedem Winkel. Von Zeit zu Zeit frage ich bei Passanten nach und ernte Kopfschütteln und Ignoranz. Was mache ich hier? Was erwarte ich von dieser Aktion? Pablo ist ein Straßenhund ohne Besitzer. Aber er wird von den ansässigen Kindern sehr geliebt. Nenne ich es Hoffnung? Ist es das, was ich hier suche?
 

In der Zwischenzeit erreiche ich das Jugendzentrum. Es ist seit Wochen geschlossen und nur ein paar der älteren Teenager lungern neben den Fahrradständern unter einer Bedachung herum. Ich erkenne keinen der Jungs, sehe trotzdem einen Moment lang dabei zu, wie sie die Lautstärke einer Bluetooth-Box justieren, wie sie Limoflaschen klirren lassen. Sicher sind auch Bierflaschen dabei. Sie hören Rap und Hip-Hop. Laut und dröhnend. Nichts, was ich identifizieren kann. Ich bin schon lange nicht mehr up-to-date. Ich bin kurz davor, rüberzugehen und sie nach ihren Ausweisen und Pablo zu fragen, da lässt mich etwas vor einer Gasse innehalten. Es fühlt sich an, wie ein tiefes Zwicken im Nacken, welches langsam die Wirbelsäule entlang krabbelt und sich über meinem Steißbein sammelt, wie ein bunter Haufen Konfetti. Eigenartig. Unangenehm. Ich spüre es nicht zum erste Mal. Sofort richte ich meine Aufmerksamkeit auf die vor mir liegende Gasse. Sie ist kaum einladender, als die letzten drei davor. Dieses Viertel wird mehr und mehr zum Territorium von Zerfall und Unordnung. Aber niemand scheint etwas dagegen zu unternehmen. Alle Maßnahmen sind reaktiv, ohne die Probleme präventiv zu betrachten. Es sind die klassischen Risikofaktoren urbaner Räume, deren Populationen steigen, obwohl wirtschaftliche und ökonomische Faktoren stagnieren.

Die Mülltonnen im erkennbaren Bereich der Gasse scheinen unangetastet. Sie sind ordentlich aufgestellt und aneinandergereiht. Lediglich durchweichte Pappe ist auf der rechten Seite zu einem Haufen gestapelt. Langsam spüre ich die Kälte des Abends bis in die Knochen vordringen und eine plötzliche Müdigkeit erfasst mich, wie der Schlag mit einem Paddel. Mit der Ermattung kommt auch ein Teil der Resignation zurück. Das Tier könnte überall sein. Vielleicht wurde er längst gefunden? Vielleicht wird er niemals gefunden. Was habe ich mir nur mit diesem Vorhaben gedacht? Dass ich Pablo lebend finde und sich damit alles zum Besseren wendet, dass es somit niemals passiert ist? Dass meine gewohnte Welt gerade nicht bröckelt? Kein Wunder, dass Damast glaubt, ich wäre nicht so weit, um das alles zu verstehen. Ich höre ein Winseln und bleibe abrupt stehen. Lauschend wende ich meinen Kopf zur Seite.

„Pablo?“, versuche ich es optimistisch und das leidende Geräusch wird lauter. Es dauert einen Moment, bis ich das verschmutzte Tier unter einem der Kartons entdecke. Sein dunkles Fell ist verklebt und an den meisten Stellen mit einem grauen Schmutzfilm belegt. Er sieht fürchterlich aus.

„Pablo?“, frage ich erneut und höre ein deutliches Wimmern, „Hey, kleiner Freund. Da bist du ja … pssscht… keine Angst. Es ist alles gut.“ Keine Ahnung, warum ich mit ihm spreche, wie mit einem kleinen Kind, aber das verletzte Kerlchen scheint darauf zu reagieren. Ich greife vorsichtig nach dem Mischlingsrüden und hole ihn sachte näher heran. Das Knurren ist nur noch Makulatur. Dennoch hoffe ich, dass er nicht merkt, dass ich im tiefsten Inneren meines Herzens maximal ein Hamstertyp bin. Meine Sorge ist unbegründet. Pablo ist so geschwächt, dass er kaum Widerstand leistet, als ich ihn langsam gegen meine Brust bette. Erst im Licht der Straße sehe ich das gesamte Ausmaß seiner Verletzungen. Sein Fell ist voller Blut und Schmutz. Es deckt sich mit den Spuren, die Izan an seiner Kleidung hatte. Mit dem Hund auf dem Arm suche ich im Internet nach einer Tierklinik und kehre zum Auto zurück. Es dauert mehr als zwei Stunden, bis ich in meine Wohnung zurückkehre. Die Klinik meldet sich, sobald sie genaueres über den Zustand des Tieres sagen können, aber sie gaben mir positive Zeichen. Ich verspüre eine horrende Erleichterung darüber, dass wir Pablo von Izans Liste der schlechten Erinnerungen streichen können. Vorerst jedenfalls.
 

Meine Wohnung begrüßt mich mit Dunkelheit und einer herausgeflogenen Sicherung. Schon wieder. Irgendwas überlastet regelmäßig den Stromkreis zum Wohnzimmer, selbst wenn ich nicht anwesend bin. Der Hausverwalter hüllt sich in Unwissenheit. Ich wandere seufzend zum Schaltkasten, öffne die Abdeckung und suche nach dem Schalter, der nach oben geklappt ist. Diesmal sind es sogar zwei. Ich rücke sie in Position und sofort geht das Licht an.

Während ich am Schreibtisch platznehme, stoße ich angestrengt, aber ruhig die Luft aus. Meine Beine pochen. Meine Fußsohlen sind wund und es schmerzen Stellen, von denen ich sicher war, dort keine Muskeln zu haben. Vielleicht sind es auch nur meine Knochen. Ich halte danach für 30 Sekunden den Atem an. Ab der Sekunde Achtundzwanzig hört das Rauschen in meinen Ohren auf. Auch das Zittern meiner Hände nimmt ab. Meine Sinne werden klarer. Der Zweck dahinter ist ganz einfach. Das Fehlen sauerstoffgesättigter Luft in meinen Lungen sorgt dafür, dass sich mein Herzschlag stabilisiert und das krude Drama in meinem Kopf langsamer rotiert. Hin und wieder brauche ich das.

Nach einem Mitternachtssnack, der aus einen vor Tagen abgelaufenen Joghurt besteht und Kräcker, die vermutlich älter sind als ich, gehe ich ins Bett. Der Wecker klingelt in vier Stunden und ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich aufwachen will.
 

~Fortsetzung folgt~



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2024-02-02T17:10:05+00:00 02.02.2024 18:10
Wie wunderbar, dass hoffentlich zumindest Pablo gerettet werden kann. Dass er noch lebt und es Hoffnung für ihn gibt. <3 Es ist schön, dass ihm der Hund nicht egal ist. Hab selbst zwei ehemalige Straßenhündinnen aus Rumänien. Da berührt mich so ein Akt der Tierliebe sehr. Verenden ja täglich viele Straßenhunde weltweit an Hunger und Verletzungen. Ein Schicksal, das Pablo hoffentlich erspart bleibt.

Ansonsten ist das alles sehr verzwickt. Ich bin ja sehr gespannt wie Damast an die Akte gekommen ist. Er war sich ja sehr sicher, dass das nicht möglich sei.
Antwort von:  Karo_del_Green
09.02.2024 08:13
Armer kleiner Pablo. :( Straßenhund zu sein ist eh schon ein wirklich schweres Schicksal, was kein Tier verdient hat und ihn zurückzulassen, hätte Luis nicht mit sich ausmachen können. Es gab ihm ja selbst ein klein wenig Hoffnung, dass sich die Dinge in gute wenden können, als er ihn fand. Pablo ist ein kleiner Kämpfer.

Alles sehr undurchsichtig für Luis.😎 Viele Fragezeichen.


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