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Zwischen Schatten und Licht
von

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Der beste Freund im Geiste - 1

Folge 3

~Teil 1 - Der beste Freund im Geiste ~
 

POV Vikar Damast
 

„Was für eine beschissene Idee… ernsthaft, Damast, was hast du dir dabei gedacht? Verdammt noch mal. WARUM?“, fluche ich aufgebraucht in die Wildnis hinein und japse weitere Schimpfphrasen, als wären diese der letzte Strohhalm zum Überleben, während ich entkräftet durch das Dickicht stolpere. Der Wald schweigt. Natürlich. Ich habe nichts anderes erwartet. Es ist meine eigene Schuld. Ich weiche schwungvoll ein paar Eichenblättern aus, die mir der Wind entgegenträgt, was mich folglich über eine Wurzel stolpern lässt. Ich fange mich im letzten Moment, indem ich nach einem schmalen Ast fasse und prompt in eine verharzte Stelle greife. Damit verliere ich endgültig die Fassung und den letzten Rest Geduld.

„Diese verdammte NATUR!!!“, brülle ich und runde es mit einem knurrenden Laut ab, der jeden Grizzly erschaudern ließe. Verstimmt begutachte ich die durchsichtigen, goldbraunen Rückstände in meiner Handfläche, die neben Moos, Flechten und kleinen Rindenteile auch einen traurigen, längst krepierten Käfer beinhalten. Ich beneide ihn für sein Glück, da er seinen Leidenspfad schon beendete. Meiner steht mir noch bevor, in mehr als einer Weise. Ich versuche, mit dem Daumen der anderen Hand und Spucke die klebrigen Überbleibsel zu entfernen und scheitere. Nachdem ich aufgebracht gegen eine andere Wurzel trete, sehe ich mich verstohlen um, um sich sicherzugehen, dass nicht irgendein Naturwesen aus dem Nichts vor mir auftaucht und erbost dreinschaut. Die, die ich bisher kennenlernte, waren von der weniger netten Sorte. Ich hasse die Natur. Nein, genau genommen hasst sie mich, denn anders ist es nicht zu erklären, dass es jedes Mal in einer Katastrophe endet, wenn ich nichturbane Räume betrete. Wurzeln sind immer da, wo ich hintrete. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe und zurückwende, sind plötzlich Äste mit Blättern oder Spinnenweben vor mir, die vorher nicht da gewesen sind. Ich trage niemals die richtige Kleidung, schwitze, friere oder wünschte, sie wären mir nicht gestohlen worden. Ich trete immer unvermittelt in Pfützen, Löcher und Erdhöhlen. Egal, wie vorsichtig ich mich bewege oder wie achtsam ich mich verhalte.

Es lässt sich wohl im Einverständnis festhalten, dass unsere Abneigung gegenseitig ist. Trotzdem stehe hier, mitten im Wald. Natur und ich sind keine gute Idee, sind es nie gewesen und werden es niemals sein. Also, warum bin ich hier? Ich muss todesmutig sein oder vollkommen schwachsinnig. Ich wünschte, ich würde mich daran erinnern, wann ich falsch abgebogen bin, denn mein Plan sah lauschige, asphaltierte Wege und Straßen vor. Nicht das hier. Ich trete noch einmal gegen die gleiche Wurzel. Schuld ist dieser verflixte Fitnesstest, zu dem mich der Sergeant zwingt. ‚Sie können sich nicht auf ihre Waffe verlassen, Damast‘, sagte er. ‚Sie müssen den Standards des Reviers entsprechen, Damast.‘, meinte er, während er sich klammheimlich Puderzucker von seinen Fingerkuppen rieb. Als ich es wagte, Captain Lamark konsultieren zu wollen, hat er mich angeschrien, als wäre ich Kadett an der Akademie. So ein drillender Nervsack.

Ich bin müde und angepisst. Mein Körper ist absolut dagegen, weiterzumachen und mein Verstand kurz davor, mich vollends meinem Schicksal zu ergeben und dem Bestatter Arbeit zu ersparen. Allerdings ist meine eher ballaststoffarme Ernährung kein Verwesungsbooster im klassischen Sinne. Aufgrund des lehmig-tonhaltigen Boden würde ich nicht als Humus, sondern als Wachsleiche enden. Das wäre kontraproduktiv und keine sehr attraktive Vorstellung. Ich ächze frustriert in die beschauliche Stille des Waldes hinein. Mir antwortet ein Zirpen. Ich schließe die Augen und streiche mir mit der Hand über den klammen Nacken. Trotz voranschreitenden Herbstes ist es immer noch verhältnismäßig warm und hin und wieder blitzen Sonnenstrahlen durch das dichte, verfärbte Laubdach hervor. Es ist eine wunderbare Jahreszeit, selbst in der Stadt.
 

Die Ruhe dringt zu mir durch und verlangsamt meinen pulsierenden Herzschlag, bis er an Normalität anheimelt. Dann sehe ich mich um. Wo bin ich eigentlich? Ich ziehe das Handy hervor und stecke es weg, als ich erwarteterweise kein Netz-Symbol vorfinde. Und nun? Ich habe keine nutzbringende Antwort parat. Doch eine plötzliche Welle des Unbehagens zwingt mich zur Obacht. Sie rollt über meine Haut und brandet im Haaransatz meines Nackens. Nicht einmal. Zweimal. Ich vernehme ein Knacken, gefolgt von einem nahenden Rascheln. Rechts von mir. Nein, links. So laut, dass es durch meine Kopfhörer dringt. Es schwebt um mich herum wie ein tiefes Echo. Ich halte abrupt inne und sehe mich alarmiert um. Nichts. Nur der Wind, der über die Blätter streicht und dabei scheinbar den Rhythmus meines rasenden Pulses annimmt. Im Wald können einem die Sinne Streiche spielen. Das Flüstern. Das Surren. Tanzende Schatten sind überall. Die Natur ist immer in Bewegung und dadurch kann man sich schnell täuschen lassen. Ich reibe mir über den Nacken, beruhige meine feuernden Gedanken, indem ich mir wiederholt sage, dass nicht in jedem Schatten eine Gefahr lauert und setze mich in Bewegung. Wäre mein Herz nicht längst auf Hochtouren, würde es durch das Prickeln vorangetrieben, das sich im selben Moment über meinen Nacken zieht und in beiden Ellenbogen verweilt.

Jetzt bin ich mir sicher. Ich bin nicht mehr allein.
 

Der Wind trägt ein kehliges Knurren an mein Ohr. Ein trockenes Knacken hinter mir. Mein Kiefer kribbelt. Ich mache einen Schritt zur Seite und wende mich um. Ich wünschte alsbald, ich hätte es nicht getan.

Er steht direkt vor mir. Groß, zerzaust und wild. Ein gigantisches, hundeähnliches Tier. Seine Zähne sind gefletscht und bräunlich-schwarz verfärbt. In meinem Kopf wird es dämmerig. Alles fährt runter und nur das feine Knistern des Fluchtreflexes zündet stetig Funken. Unbeabsichtigt reduziere ich meine Atmung auf ein Minimum, versuche die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Ich darf nicht kopflos reagieren. Jedenfalls nicht mehr als ohnehin schon. Denk nach! Komm schon. Die Angst ist eine Illusion. Was auch immer das ist, es existiert nicht. Es ist ein Trugbild. Nicht mehr als Stoßgebete durchfahren meinen Verstand und ich singe sie vor mir her, wie einen Taylor Swift-Song im Supermarkt.

Ich versuche mich daran zu erinnern, was zu tun ist, wenn man auf tollwütige Wildtiere trifft. Doch ich weiß, dass mir das beim besten Willen nicht helfen wird, denn die Augen des Tieres sind tiefschwarz, leer. Unnatürlich. Sie scheinen jeden Funken Licht zu schlucken, ohne, dass sich etwas in ihnen erhellt oder spiegelt. Ich weiß, dass das kein gewöhnliches Tier ist. Kein Hund oder Wolf.

Doch als wäre das nicht genug, beginnt es um ihn herum zu flimmern, sodass trotz Windstille lauter dunkelgraue Fäden um ihn herum wabern. Schwarze Hunde sind ein schlechtes Omen. So viel weiß ich. Ich mache langsam und bedacht einen Schritt zurück, spüre den unebenen Waldboden unter den Sohlen meiner Turnschuhe. Der Vierbeiner bleibt regungslos, also wiederhole ich es, atme dabei flach durch den Mund. Schritt für Schritt bringe ich Abstand zwischen uns. Zweige und trockene Blätter knacken leise unter meinen Schuhen und jedes noch so kleine Geräusch stellt meine Nackenhaare auf. Ich versuche, ihn nicht direkt anzusehen. Irgendwas sagt mir, dass ich vermeiden sollte.

Plötzlich wetzt er ruckartig mehrere Schritte auf mich zu, bewegt sich dabei schnell und aus welchem Grund auch immer bleibe ich stehen. Das schwelende Wabern um ihn herum bewegt sich verzögert und bettet sich nur träge zurück an seinen angedachten Platz, als er vor mir verharrt. Das Tier bewegt seinen Kopf von links nach rechts und wieder wirkt es, als würden mich meine Sinne täuschen und ein blasses Abbild des Kopfes seitlich zurückbleiben. Nur einen Moment lang, dann verschwimmt es im flirrenden Schein und es ist nur noch ein Kopf zu sehen.

„Was willst du?“, frage ich mit gedämpfter Stimme. Er wiederholt die Bewegung, links, rechts und fletscht die Zähne. Kein Laut ist zu hören, während das Flimmern um ihn herum präsenter wird und das dunkle Nichts seiner Augen rot aufleuchtet.

„Oh fuck“, murmele ich, ehe er ein ähnliches Manöver startet wie zuvor. Er springt auf mich zu und kommt nur einen halben Meter vor mir zum Stehen. Es ist so ruckartig, dass ich das Gleichgewicht verliere, nach hinten stolpere und zu Boden stürze. Mir entflieht ein Uff und trotz des kurzen stechenden Schmerzes in fast allen Bereichen meines Körpers erstarre ich nicht, sondern rutsche langsam rückwärts. Bis mich ein lautes, aggressives Grölen des Tieres stoppt. Es ist wie ein schriller Warnlaut, der mir in den Ohren nachhallt. Die schwarzen Iriden mit dem leuchtenden roten Ring des Hundes hängen an jedem meiner Atemzüge und allein das lässt jede Faser meines Körpers tingeln und schwingen. Hinter mir geht es wegen einer Böschung leicht abwärts. Ich bemerke es, als meine Hände in den Boden greifen und das lose Material wegrutscht. Hätte ich nicht gestoppt, wäre ich gefallen. Doch, dessen abhängig, ist die größte Gefahr direkt vor mir. Und das furchteinflößende Ding kommt immer näher.
 

Ich ziehe vorsichtshalber die Schultern hoch, um meine Kehle zu schützen, presse die Augen zusammen und versuche den rasenden Muskel in meiner Brust zu kontrollieren.

„Es sind nur Schatten. Nur Schatten“, murmele ich vor mir her. Das tue ich schon seit meiner Kindheit. Immer dann, wenn mich die Furcht übermannte und ich nicht mehr wusste, was real ist oder aus dem Dunkel kam. Schwefeliger Dunst breitet sich um mich herum aus und das nächste Knurren klingt, als wäre es direkt an meinem Ohr. Ich neige meinen Kopf automatisch zur anderen Seite und drehe mein Gesicht weg. ‚Wenn ich lange genug nicht hinsehe, verschwindet er von selbst‘, sage ich mir. Wenn ich es mir lange genug einrede, dann wird es vielleicht wahr. Das nächste Knurren ist eine Nuance tiefer und die Bedrohlichkeit wirft Blasen in meinem Blut. Ich beiße die Zähne fest zusammen und höre dennoch das unterdrückte Fiepen, was mir entflieht, als das Ausatmen des Wesens eine Ladung Speichel in meine Richtung schleudert. Ich muss irgendwas tun.

Ein Rascheln und schwere Schritte dringen zu mir vor, hallen durch das Dickicht. Ein Räuspern. Menschlich! Das Knirschen von Steinen. Das Rollen eines Kiesels über größeres Gestein. Es ist ganz in der Nähe! Diese winzigen Geräusche sind ein lautes Echo in meinen Ohren und vielleicht meine einzige die Chance.
 

Ich schiele durch das Dickicht hinter mir und erkenne eine Silhouette durch das lose Blattwerk. Der Hund raunt mehrfach auf und sein stinkender Atem kitzelt mir übers Ohr. Er schnuppert an meinem Hals und ich lasse mich, ohne nachzudenken, nach hinten kippen. Ich stürze ungeschmeidig aus dem Gebüsch, kullere ein paar Meter abwärts den Abhang hinab und stolpere, als ich unten ankomme, auf allen Vieren auf den Feldweg zu. Alles, ohne mich umzusehen. Alles, ohne zu zögern. Nur weg. Die Silhouette dreht sich alarmiert um. Fast sofort greift die Hand der Person zur Waffe in seinem Schulterhalfter, während ich aufspringe und ein japsendes Geräusch von mir gebe. Detective Luis Pastor starrt mich mit großen honigbraunen Augen an.

„Was um Himmelswillen!“, entflieht es ihm, nachdem die Situation in seiner Vortrefflichkeit stagniert und er herausfiltert, dass keine Gefahr von mir ausgeht, „Damast?“ Ich vernehme meinen Namen, doch er geht im lauten Rauschen in meinem Kopf fast vollständig unter.

„Hund! Da… Hund“, stammele ich atemlos, hebe meinen Arm und deute hinter mich, „Hast du den Hund gesehen? Hast du? Nein?" Ich antworte mir quasi direkt selbst, als ich Pastors verständnislosen Blick sehe. Um mich selbst zu versichern, dass er da gewesen ist, sehe ich mich hektisch um. Alles ist ruhig. Kein Lüftchen weht. Kein einziges Blatt raschelt. Auch seltsam. Nur das leise Zirpen einer Zikade, die letztendlich klingt, als würde sie mich auslachen, ist zu hören. Ich richte mich mit weichen Knien auf, trete beim Umdrehen auf einen Ast und schrecke sofort wieder zusammen. Ich bin nicht stolz drauf.

„Hund?", wiederholt Pastor zweifelnd und beobachtet mich aufmerksam dabei, wie ich mit zittrigen Fingern Dreck von meiner Kleidung patsche. Meine Brust brennt vor Anstrengung und ich hole beklommen Luft, ehe ich mich weiter verteidigen kann.

„Ja, groß. Schwarz. Fletschende Zähne?", beschreibe ich das Tier, welches sich eben noch vor mir im Gebüsch aufbäumte. Ich kann nach wie vor dessen übelriechenden Atem auf meinem Gesicht spüren. Es roch wie faulige Eier und das verursacht mir anhaltende Gänsehaut. Als ich zu dem anderen Detective blicke, sieht auch dieser sich um und mich danach hilflos an. Wieder kräuseln sich seine Augenbrauen wie kleine, gefräßige Raupen.

„Ein großer, schwarzer, zähnefletschender Hund?“, zweifelt er meine Worte ein weiteres Mal deutlich an, „Hat er dich durch den Wald gejagt? Stolperst du deshalb wie ein Waldschrat aus dem Dickicht?“ Pastor zeigt auf meinen Kopf und deutet die Frage, ob ich ihn mir bei alldem gestoßen habe.

„Ich war joggen. Glaubst du, ich habe mit ihm Räuber und Gendarm gespielt? Ja, natürlich hat er mich gejagt“, erkläre ich säuerlich und puhle mir Stöckchen und Laub aus dem Haar.

„Etwa über Nacht?“, hakt er nach und mustert mich von oben bis unten, „Im Ernst, wie lange bist du gelaufen? Du bist sicher nur dehydriert und halluzinierst deswegen." Simpel. Sachlich. Normalerweise ist das mein Ansatz. Er schenkt mir einen weiteren tiefragenden Blick, der weitreichendes Unbehagen in mir auslöst. „Sag mal, wann hast du das letzte Mal der Gebrüder Grimm´s Märchen gelesen?“

„Was soll diese Frage?“, entgegne ich verstimmt. Pastor deutet mit dem Finger auf und ab. Ich sehe an mir runter und auf meinen verschmutzten, aber knallroten Hoodie. Ich schenke ihm einen ungläubigen Blick.

„Ich meine ja nur.“ Pastor hebt abwehrend die Hände in die Luft.

„Fuck you!“, entgegne ich mit einem trockenen Räuspern. Pastor lacht euphorisch.

„Der Wald. Rotes Jäckchen. Böser, zähnefletschender…Wolf“, spinnt er amüsiert weiter. Sein beschriebenes Bild ist klar und deutlich. Nicht, dass ich erwartet habe, dass er mir glaubt, aber das ist die Höhe. Eine Signalfarbe wie Rot oder Orange im Wald kann einem in der Jagdsession das Leben retten. Nicht, dass es hier irgendwas gäbe, was man jagen könnte, aber man weiß ja nie.

„Es war ein Hund, kein Wolf“, stelle ich klar. Ich erkenne den Unterschied, auch wenn dieses Wesen genaugenommen kein normaler Hund gewesen sein kann. Dessen Aura war sonderbar. Kühl und dunkel. Mal davon abgesehen, dass er flimmerte, wie eine Erscheinung und es dabei wirkte, als hätte er mehrere Köpfe.

„Okay, wenn du das sagst, Rotkäppchen." Der Polizist zieht das Okay etwas zu lang, um es als normale Erwiderung gelten zu lassen. Empört sehe ich ihn an und dann zurück zu dem Busch, aus dem ich gekullert bin. Pastor folgt meinem Blick in den Wald, der keinerlei Regung von sich gibt. Alles ist so, wie es sein sollte. Ruhig. Idyllisch. Perfekt. „Ich finde ja positiv, dass du auf den Hund gekommen bist, aber findest du nicht, dass du übertreibst?", fährt Pastor unaufgeregt, aber stichelnd fort und zieht mir ein größeres Stöckchen aus der Kapuze. Ich sehe ihn nur verständnislos an, als er es wegwirft und ich streife mir die schmutzigen Hände an der Hose ab, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Pastor grinst einnehmend.
 

„Und wieso bist du hier? Mitten im Nirgendwo", schließe ich die Fopperei ab. Nun mustere ich meinen Kollegen eingehend. Pastor ist eindeutig in Dienstkleidung. Die Bügelfalte seiner schwarzen Hose ist akkurater als alles, was ich in meinem Kleiderschrank habe und trotzdem passt es nicht zu den abgelaufenen Schuhen, die er trägt.

„Am Boscop-Pfad wurden menschliche Überreste gefunden und ich war der Einzige mit der entsprechenden Erfahrung, der im Revier verfügbar war, um das zu übernehmen. Ich leite übergangsweise die Bergung und Überwachung des Fundortes, bis die zuständigen Kollegen zurückgekehrt sind", erklärt der Detective unaufgeregt und wendet sich dem Wagen zu, der am Seitenrand abgestellt ist.

„Schon wieder?“ Es sind nicht die ersten Überreste, die gefunden wurden. “In welchem Zustand sind sie?“, erfrage ich interessiert. Ich schließe zu ihm auf und stolpere fast über einen harmlos daliegenden Stein, nachdem ich einen letzten Blick zurück in den Wald werfe. Ich habe das Gefühl, dass die Aura des Hundes nicht verschwunden ist. Auch das stetige Knacken und Knistern der Bäume negiert es nicht. Den Stein kicke ich aus Ermangelung anderer beruhigender Alternativen angestachelt zur Seite und er kommt mit einem leisen Platsch in einer Pfütze zum Liegen.

„Die Verwesung ist weit fortgeschritten, so wie bei den anderen auch.“ Pastor nimmt Bezug auf den medienträchtigen Fall, der seit ein paar Wochen der gesamten Kriminalbehörde Kopfzerbrechen verursacht. Bisher wurden die Leichen von zwei männlichen Erwachsenen im Wald gefunden, beide in unterschiedlichen Zersetzungsstadien. Der zweite Tote war bereits skelettiert. Sie waren unbekleidet und lagen in einem Umkreis von nur hunderten Metern voneinander entfernt. Möglicherweise sind es nun drei. „Konkrete Angaben habe ich noch nicht. Ich habe Reifenspuren entdeckt und bin ihnen gefolgt, bis ich in dieser Zufahrstraße gelandet bin.“ Es ist mehr ein breiter Trampelpfad mit Betoneinlassungen als eine Zufahrtsstraße. Es zu korrigieren, erspare ich mir. Unsere Blicke richten sich stattdessen auf das unscheinbare Kleinfahrzeug, welches ein paar Meter von uns entfernt abgestellt ist.

„Kann vom gleichen Täter ausgegangen werden?“, werfe ich spekulierend in den Raum.

„Der Ablageort passt. Zustand der Überreste passt auch. Ansonsten nicht mehr als Vermutungen und Spekulationen“, erklärt Pastor. Ich nicke verstehend. Anfangs sind es immer nur Annahmen, die durch Polizeiarbeit und Recherche bestätigt oder verworfen werden.

„Der Täter könnte die Leiche dort abgeladen und dann den Wagen hier abgestellt haben“, mutmaße ich offen. Wobei es umständlich und unlogisch klingt, so zu verfahren. “Aber wie ist er zurück in die Stadt gekommen?“ Pastor nickt kommentarlos, aber ich bin mir sicher, dass seine Lippen kurz das Wort Joggen formen.
 

Der silberfarbene Wagen ist über und über mit Blättern, Kiefernnadeln und feinem Staub bedeckt, sodass der Glanz der metallischen Lackierung fast gänzlich verschwindet. Er steht hier schon länger, was zu einer fortgeschrittenen Verwesung des gefundenen Toten passen könnte. Für fünf Tage hat es stark geregnet. Der sichtbare abgesetzte Schmutz muss demnach in diesem Zeitraum entstanden sein. Es ist ein Kleinwagen, dessen Marke ich nicht ohne Weiteres bestimmen kann. Pastor reicht mir ein paar violette Gummihandschuhe, die er aus der Jackentasche zieht und ich nehme sie dankend entgegen. Wir umkreisen das Auto in entgegengesetzten Ellipsen, suchen auffallende Kratzer, Dellen oder sonstige Spuren, von denen Hinweise abgelesen werden könnten. Nichts Offensichtliches. Ich versuche, durch die beschmierten Scheiben in den Innenraum zu schmulen. Es ist kaum etwas zu erkennen außer Umrisse und Schatten. Ich blicke auf, als ich höre, wie Pastor versucht, die Fahrertür zu öffnen. Es klickt nur, rastet wieder ein. Ansonsten passiert nichts. Der Wagen ist verschlossen. Ich mache das Gleiche auf meiner Seite bei beiden Türen. Keine Regung. Pastor bleibt am Heck stehen und hockt sich hin.

„Hey, Pastor hier, kannst du bitte ein Kennzeichen für mich überprüfen“, höre ich ihn sagen. Er gibt ihm das Nummernschild durch. Inzwischen wische ich vorsichtig etwas Dreck vom Beifahrerfenster und linse hinein. „Okay, danke. Also, das Auto ist auf Willem Pannek zugelassen. 32 Jahre alt. Laut gemeldeter Adresse wohnt er in der Gartenstadt. Es existiert keine Verlustmeldung für den Wagen.“

„Vielleicht nur eine schlampig ausgeführte, illegale Schrottentsorgung?“, werfe ich ein und beuge mich zu einem schmalen Kratzer auf der Beifahrerseite nahe dem Türgriff.

„Gut möglich. Aber fährt man dafür wirklich so weit raus? Der Lenné-Distrikt hat genug Beseitigungsorte, die genauso unbehelligt wären.“ Der nach dem Stadtplaner und Gartenarchitekten Peter-Joseph Lenné inspirierte Distrikt ist das grüne Aushängestück der Stadt. Dort wurden in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend der Natur angelehnte Projekte mit hochökologischem Mehrwert verwirklicht. Alles ist organisch und nachhaltig. Sauteuer. Auch der Botanischen Garten befindet sich dort. „Und wäre man wirklich so dämlich, die Nummernschilder dran zu lassen?“, gibt Pastor zu bedenken.

„Es könnte verschiedene Gründe dafür geben, dass sein Wagen hier ist.“ Diebstahl oder er hat ihn selbst abgestellt. Es ist ein bitterer Nachgeschmack, der mit der zweiten Variante einhergeht. Pastors Telefon klingelt und er geht erneut ran. Ich begutachte gerade eine Schramme mit Einkerbung am Heck des Autos, in der Holzpartikel zu erkennen sind.

„Verstehe. Danke. Für Willem Pannek gibt es eine Vermisstenmeldung. Sie wurde vor drei Monaten aufgegeben durch seine Schwester.“, fasst er den zweiten Anruf für mich zusammen, „Es könnte derselbe Täter sein.“

„Das Boscop-Areal ist lediglich der Ablageort, nicht aber der Tatort. Wenn Pannek tatsächlich ein weiteres Opfer ist, sind es drei von sechs“, murmele ich vor mir her, „Immerhin hätten wir gleich einen Namen.“ Die vorigen Opfer mussten erst identifiziert werden, was ohne Vergleichs- und Hinweismaterial erschwert wurde.

„Wie meinst du das? Drei von sechs, was?“, höre ich Pastor verwirrt fragen, also sehe ich auf. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Pastor es gehört hat.

„Angenommen, Pannek ist ein weiteres Opfer, dann sind die Tote aus drei von sechs Distrikten.“

„Woran machst du das fest?“

„Ihren Wohnanschriften. Das erste Opfer hatte eine Adresse im Geiger-Distrikt, das zweite im Elias-Distrikt. Pannek im Lenné-Distrikt.“ Pastors Stirn kräuselt sich im Unglauben, doch erkenne ich, wie sich die Möglichkeit ihren Weg durch seine Gehirnwindungen bahnt. Der Täter würde sich seine Opfer nicht im selben Distrikt suchen, in dem er lebt.

„Der Täter würde damit aus dem Hobrecht-, Harrow- oder Geiger-Distrikt stammen, da Serienmörder selten in ihrem direktem Wohnumfeld agieren. Was nichts wirklich eingrenzt. Das ist echt weit hergeholt und es erklärt immer noch nicht, warum er sie gerade hier ablegt.“, steuert der andere Detective kritisch bei.

„Tja, das kann alle erdenklichen Gründe haben. Vielleicht mag der Täter einfach die Apfelsorte.“

„Oder hasst sie“, gibt Pastor retour. Ich summe zustimmend. Ich mag auch die Sorte Braeburn lieber. Pastors Funkgerät knackt und rauscht. Ich verstehe nicht, was durchgesagt wird, doch Pastor ordnet an, dass zwei uniformierte Kollegen den Wagen absichern und dass ein weiteres Forensikteam angefordert wird.

Es dauert etwas, bis die uniformierten Kollegen eintreffen. Pastor macht währenddessen ein paar Fotos und notiert sich die Eindrücke in ein Notizheft. Ich versuche, nichts anzufassen, um weitere Irritationen zu vermeiden und stelle mich abseits. Nach einer kurzen Rücksprache beendet Detective Pastor seine ersten Beobachtungen und schaut mich auffordernd an.
 

„Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit oder wartest du lieber auf einen Servicewauwau, der dich durch den Wald nach Hause begleitet?“

„Urkomisch. Ich belle vor Lachen. Die heißen übrigens Assistenzhunde“, gebe ich trocken von mir, verschränke die Arme vor der Brust und rege sonst keinen sichtbaren Muskel.

„Vorbildlich, dafür hast du dir ein offenes Fenster bei der Fahrt verdient.“

„Wie großmütig und um das klarzustellen, ich habe ihn mir nicht eingebildet“, verteidige ich mich, nachdem mein verächtlicher Blick an ihm abperlt wie Wasser an Lotosblättern. Ich kann das Tier quasi noch an mir riechen. Das pfeffrige Brennen schwelender Glut, getüncht in fauligen Eiern. Ich schmecke die kalte Asche auf meiner Zunge und würde für etwas Wasser töten.

„Sicher doch.“

„Er hätte mich beinahe gefressen“, spitze ich die Dramatik zu. Vermutlich hätte mich das Tier nur gebissen. So oft gebissen, dass ich elendig verblute.

„Du reichst allemal als Kauknochen“, kontert Pastor und checkt mich von oben nach unten ab. Dieser wertende Blick ist offensichtlich und offenkundig beleidigend gemeint.

„Musst du gerade sagen, du Ein-Happen, du“, gebe ich bissig zurück und muss gestehen, dass ich mich selten auf so niedrigem Niveau bewege, aber Pastor fordert es geradezu heraus.

„Tze! Quietschespielzeug“, patzt er zurück, „Genug davon, komm einfach mit.“ Pastor murmelt ein paar unverständliche Phrasen, als er sich von mir entfernt. Ich ignoriere die Blicke der beiden Uniformierten und ich trotte ihm mit einem gewissen Kitzel der Genugtuung hinterher.
 

Nach wenigen Minuten treffen wir am abgesperrten Fundort ein, der über und über mit uniformierten Beamten in hübschen orangefarbenen Warnweste und wissenschaftlichen Kollegen in den weißen Ganzkörperoveralls übersät ist. Ich höre schon von Weitem das gelbe Absperrband im Rhythmus des Windes knistern. Man sagt, dass man den Geruch des Todes niemals wieder vergisst, wenn man ihn einmal gerochen hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Geräusch dieses Plastikbandes. Es hat eine bestimmte Frequenz, die sich mit dem Jaulen des Unheils verbindet und das ich auch im Schlaf erkennen würde. Eine Kollegin der Spurensicherung kommt auf uns zu. Ihre blonden Haare sind zu einem festen Knoten zusammengebunden und doch kringeln sich ein paar ihrer Locken an ihrer Stirn und den Ohren entlang. Sie mustert meine ramponierte Erscheinung, hinterfragt aber meine Anwesenheit nicht.

„Könnt ihr schon mehr sagen?“, fragt Pastor und der ernste, konzentrierte Blick kehrt zurück. Er stellt uns einander nicht vor und ich sehe keinen Nutzen darin, es nachzuholen oder mich darüber zu beschweren.

„Bisher nur Mutmaßungen. Das Becken sagt eindeutig, dass es sich um einen Mann handelt. Wir haben den Schädel freigelegt und sieben nun…. HATSCHE!... huch, …“

„Gesundheit“, sagen Pastor und ich gleichzeitig. Sie kichert beschämt.

„Danke, Entschuldigung. Wir sieben aktuell das umgebende Erdreich nach den fehlenden Zähnen durch, damit wir etwas für die Identifikation haben. Wir haben zwei dritte Molare mit Abnutzungs… hatschieee…“ Sie bläst erneut durch die Nase Luft aus. Diesmal etwas leiser, dann streicht sie sich irritiert über das Gesicht und holt ein verknülltes Taschentuch hervor, ehe sie fortfährt, „Herrje. Wir haben zwei dritte Molare mit Abnutzungsspuren gefunden, diese deuten darauf hin, dass der Tote mindestens Mitte oder Ende zwanzig sein muss oder älter. Genaueres erfahren wir erst, wenn wir ihn komplett freigelegt haben.“ Wieder ein geräuschvolles Schnauben. Diesmal dämpft sie den Geräuschpegel mit dem Papiertuch.

„Alles okay bei Ihnen?“, fragt Pastor sichtlich besorgt. Sie lächelt und nickt.

„Ja, ist etwas seltsam, sonst passiert mir das nur in der Gegenwart von Hunden“, begründet sie lachend und niest. Ich spüre kurz Pastors Blick auf mir, dann reicht ihm die Spurentechnikerin ein paar Beweismitteltütchen und kehrt zum Grab zurück.

„Hund. Ich habe es dir gesagt“, kommentiere ich lapidar, ehe er den Mund aufmacht und hebe verdeutlichend beide Hände in die Luft.

„Pablo“, pfeffert er unbeeindruckt zurück und deutet auf seine eigene Hose. Es dauert beschämend lange, bis mir einfällt, dass er mit Pablo den Hund meint, den der besessene Junge verletzt hatte und der seit dieser Zeit bei meinem Kollegen lebt.

„Ich dachte, es geht ihm wieder besser?“, bemerke ich und lasse die Hände sinken. Pastor hätte ihn längst wieder auf die Straßen setzen können.

„So ist es auch. Letzte Woche konnten wir endlich die Antibiotika absetzen und die Wunde an seiner Pfote scheint ihn nicht mehr zu jucken“, berichtet der Kollege mit zurückhaltender Begeisterung. Pastor ignoriert meinen wunderlichen Blick absichtlich und verschränkt die Arme vor der Brust, während er seinen Blick über den abgesperrten Bereich wandern lässt.

„Also behältst du ihn?“

„Nein, natürlich nicht. Was soll ich mit einem Hund? Ich bin ja kaum zu Hause. Es klappt gerade auch nur, weil meine Nachbarin regelmäßig nach ihm schaut. Ich habe nur noch kein geeignetes Zuhause für ihn gefunden.“

„Wieso nimmt sie ihn nicht?“

„Sie ist fast achtzig Jahre alt und hinkt.“

„Hält doch fit, oder?“

„Oder bringt dich um. Sie bleibt lieber auf der Couch.“

„Okay, dann ist sie wohl eher ein Katzenmensch“, mutmaße ich.

„Sie hat einen Papagei, also keine Katzen.“

„Dann eben Capybaras. Die verstehen sich mit allen.“

„Das sind keine Haustiere.“

„Keine regulären, aber mit den richtigen Nachweisen und offiziellen Scheinen…“

„Ernsthaft? Erst Tauben, dann schwarze Witwen. Nun Wasserschweine? Hast du keine Hobbies? Und es sind trotzdem keine Tiere, die man als Haustier halten sollte.“ Ich würde die Frage zu den Hobbies gern zurückgeben.

„Ich bin eben gut informiert, Mister Detective. Solltest du auch sein, denn das ist Grundlagenwissen.“

„Ich präferiere hilfreiches Wissen, nicht dieses Kuscheltier-Geschwätz“, gibt er bissig zurück. Pastor klingt dabei angefressener, als er es bei diesem lapidaren Thema sollte.

„Was ist dein Problem?“, frage ich nun geradeheraus, weil ich die Anspannung nicht mehr ignorieren kann und starre meinen Kollegen furchtlos an. Ein umfangreiches Wissen ist lebensrettend. Ich musst das in der Vergangenheit schon häufiger feststellen.

„Was ist mit den Akten von de Lucia und Bakow geschehen?“, prustet er hervor. Ich erwarte die Rechte und kriegen eine Linke. Es braucht länger, bis ich den Themensprung begreife und letztendlich entlockt es mir ein genervtes Murren. Ich trete einen Schritt zurück, um Abstand zu ihm zu gewinnen.

„Fängst du schon wieder damit an?“

„Ja, denn obwohl ich dich schon mehrfach darauf angesprochen habe, antwortest du mir nicht.“ Pastors Stimme wird etwas lauter und sein Mund spannt sich an.

„Es spricht von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten.“

„Eh, einsteine mich gefälligst nicht!“, gibt Pastor warnend von sich, „Sag mir einfach, was mit den Fällen passiert ist.“

„Kannst du nicht wie jeder andere Kollege Euphorie darüber empfinden, dass du keinen langatmigen Aktenabschluss vornehmen musst?“ Mein kleinerer Kollege gibt ein kehliges Geräusch von sich. Leise und nur wahrnehmbar, weil wir uns dicht gegenüberstehen. Ich wünschte, er würde es einfach vergessen, denn ich werde nicht verhindern können, dass er in diesen Sog gerät, der schon vielen den ein oder anderen Aufenthalt beim Psychiater beschert hat. Manchmal ist es schwer, nicht den Bezug zur Realität zu verlieren. Ich weiß es besser als jeder andere.

„Du weichst schon wieder aus.“ Die Worte begleitet ein unterschwelliges Knurren. Er stößt mir die Faust langsam gegen die Brust, sodass ich leicht zurücktaumele, aber nur aus Überraschung, nicht aus Furcht. Mittlerweile weiß ich bereits, dass es ihn, im Gegensatz zu den zuvor gescholtenen Kollegen, wahnsinnig machen muss, nicht zu wissen, was mit den Fällen passiert ist. Allerdings bin ich nicht in der Position, es ihm zusagen. Noch weiß ich, welche Entscheidungen im Hintergrund getroffen werden, um zu verhindern, dass die Umstände solcher speziellen Fälle ans Licht kommen.

„Du begreifst nicht, dass es Dinge gibt, die du nicht wissen musst.“

„Und du bist es, der das entscheidet?“, bohrt er weiter. Ein weiterer Stoß. Diesmal spürbar. Es bleibt ein dumpfer Schmerz unter der Haut zurück. Er möchte eine Reaktion aus mir herauskitzeln, die ihm ein Teil der Wahrheit offenbart. Es wäre nicht mehr als das erste Korn in einer Sanduhr.

„Ich bin niemand“, gebe ich schlicht zurück, weiche seinem forschen Blick nicht aus und bemerke dadurch, dass er kurz innehält. Jedes Mal, wenn ich solche Dinge sage, sehe ich die Wut in ihm aufsteigen wie ein Papierdrachen im Wind.

„Damast.“ Diesmal packt er mich am Kragen und zieht mich automatisch etwas nach unten. Er meint es ernst. Ich erkenne es auch an der Anspannung in seiner Stirn, die seine Augenbrauen dichter zusammenführt. An dem wutgefüllten Funkeln in dem hellen Samtbraun, welches sich abhebt wie ein Komet am Nachthimmel. Ich spüre es. Sehe es, denn die feinen Schemen um ihn herum werden etwas dunkler. Ich löse meinen Widerstand erst, als ich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung links hinter meinem Kollegen wahrnehme. Pastor festigt seinen Griff als er merkt, dass ich mich nicht mehr auf ihn konzentriere.

„Psch!“; harsche ich ihn an, ehe er den Mund auf macht, „Wie weit um den Tatort habt ihr die Absperrungen gesetzt?“

„Auf 150 Meter im Umkreis. 300 Meter auf die Zufahrten. Die Uniformierten patrouillieren. Warum?“ Seine Hand schraubt sich weiterhin in mein Oberteil. Er zieht mich damit minimal dichter und macht keine Anstalten loszulassen.

„Ein unautorisiertes Subjekt. Bei sieben Uhr, etwa 50 Meter im Wald. Beige Jacke. Dunkelgrüne Shorts. Mittellanges dunkles Haar.“

„Mein sieben Uhr?“, fragt er spaßig und grinst mich an. Ich spare mir eine Antwort, da ich offensichtlich keine Augen im Hinterkopf habe. „Du links, ich rechts.“ Wir nicken uns zu. Der kleinere Mann löst langsam seine Hand aus meinem Hoodie und stampft mit schweren Schritten an mir vorüber.
 

Ich biege bewusst für einen kurzen Abstecher zum abgestellten Transporter der Gerichtsmedizin ab, ziehe den auffälligen Pullover aus und behalte das schlichte weiße Shirt an, welches ich drunter trage. Unauffällig umrunde ich den Wagen und verschwinde zwischen den Bäumen und dem Dickicht. Die Sonne gräbt sich langsam aus der Wolkendecke hervor, die Schatten der Bäume werden dunkler. Ich versuche, durch das Geäst etwas zu erkennen. Ich lausche. Doch neben den stetigen Geräuschen der Grabungsmannschaft und des forensischen Teams ist es einfach zu laut. Viele Nebengeräusch. Knacken. Rauschen. Es macht es fast unmöglich, irgendwas zu bemerken, was nicht in unmittelbarer Nähe passiert. Dann höre ein Rascheln direkt hinter mir und erneut ergießt sich ein knisternder Schauer über mich. Er sinkt tief ein, lässt die Sehnen und Muskeln meines Leibes singen wie ein verstimmtes Streichinstrument. Diesmal zucke ich instinktiv zurück, husche stolpernd hinter eine Eiche und pralle auf der gegenüberliegenden Seite gegen etwas Instabiles, in grüner Hose und beiger Jacke, was, ebenso wie ich, unschicklich zu Boden geht.

Ich hänge wie eine umgekippte Schildkröte über einer Wurzel und wir starren uns an. Ihre grünen Haare verschwimmen mit den Nadeln einer tiefhängenden Zeder und zu meiner Schande ist ihre Reaktionszeit wesentlich besser als meine. Sie hievt sich blitzschnell auf die Beine, macht auf dem Absatz kehrt und rennt los.

„Ach komm schon“, ächze ich, als ich mich endlich in Gang setze und gleichzeitig die schwere meiner Muskeln verfluche, die heute schon mehr als genug benutzt wurden. Sie hat einen geringfügigen Vorsprung, allerdings kann ich sie durch das dichte Laub und die vielen Bäume kaum ausmachen. Hektisch sehe ich mich nach Pastor um, doch auch ihn kann ich nicht entdecken. Ich bleibe stehen.

„Shit“, fluche ich leise, drehe mich zu jedem einzelnen Knacken und Knistern, während mich derselbe furchterfüllte Wahn beschleicht wie eine Stunde zuvor bei dem plötzlich aufgetauchten Wesen. Ich sollte nicht anhalten, also laufe ich einfach weiter und sehe mich nach Hinweisen am Boden um. Purer Wahnsinn. Selbst bei Tageslicht ist es schwierig, sich zurechtzufinden. Unerfahrene Menschen verirren sich nicht ohne Grund im Wald. Dann streift sie unerwartet meinen Weg erneut und diesmal reagiere ich schneller.

„Polizei, bleiben Sie stehen“, brülle ich ihr zu und greife nach einem Gurt, der von einem kleinen Rucksack schwingt. Ich schaffe es, ihn zu packen. Sie strauchelt durch den unerwarteten Ruck und der Backpack rutscht ihr von den Schultern. Er fällt nicht zu Boden, weil ein weiterer Gurt um ihren Bauch gebunden ist. Mein Schwerpunkt schwankt wegen der heftigen gegensätzlichen Bewegung und ich brauche einen Augenblick, um mich zu stabilisieren. „Stillhalten!“, fordere ich mit Nachdruck und klinge wie ein herbes Gummibärchen. Während sie angestrengt quietscht und sich mühsam auf die Knie kämpft, packe ich sie am Fußgelenk und ziehe ihr Bein zurück. Sie fällt mit einem hörbaren Uff zurück in die Waagerechte. Mittlerweile bin ich auf ihrer Höhe, merke Feuchtigkeit, die sich durch meine Hosenbeine drückt und erkenne riesige braune Flecke auf meinen Knien. Die Erde um uns herum ist aufgewühlt und feucht. Ihren Rucksack halte ich eisern weiter fest und drücke eines ihrer Beine runter, indem ich mich über sie lehne. Sie zappelt.

„Liegen bleiben! LIEGEN BLEIBEN!“, fordere ich sie auf, bemerke aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor, der nur wenige Meter entfernt ist, auf uns zukommt. Er hält seine Waffe auf Anschlag und ich signalisiere ihm, dass er sie sinken lassen kann. „Langsam umdrehen.“ Wäre sie bewaffnet, hätte sie bereits die Gelegenheit gehabt, mich anzugreifen.

„Ich muss erst den Verschluss vom Rucksack lösen“, teilt sie ächzend mit, löst mit einem Klick den Rucksack, sodass dieser zur Seite fällt. Danach dreht sie sich wie befohlen achtsam und bedacht auf den Rücken. Ihre Hände hebt sie mit der Handfläche nach oben vor der Brust, in einer abwehrenden Haltung. Aus der Nähe ist zu erkennen, dass sie kaum älter als Anfang zwanzig ist. Sie blickt uns mit großen blauen Augen entgegen. Erst forschend, dann forsch.

„Hi“, entflieht es ihr mit bebendem Atem und einem koketten Lächeln. Es zeigt keinerlei Furcht.

„Stillhalten und Hände auf den Rücken“, befiehlt Pastor.

„Schönes Wetter heute, oder?“, fährt sie unbeirrt fort. Verwegen schielt sie zu Pastor und danach auf meine eingesauten Hosen.

„Perfekt, um einzufahren!“, erwidere ich knapp und sehe zu dem anderen Polizisten, der bereits seine Handschellen hervorholt. Wir ziehen sie an den Armen in eine aufrechte Position und nehmen sie in Gewahrsam. Die Führung überlasse ich Pastor. Ich brauche dringend eine Dusche und ein Nickerchen.

Pastor verfrachtet die Verdächtige auf den Rücksitz seines Dienstwagens, ignoriert ihre unfreundlichen Kommentare über die Bequemlichkeit der Ausstattung und drückt mir die Autoschlüssel in die Hand. Ich nicke verstehend und umrunde das Auto, während mein Kollege hinten neben der jungen Frau Platz nimmt. Vorher holt er eine alte Polizeitrainingsjacke aus dem Kofferraum, die ich überziehen kann.
 

Die harmlosen Fragen, die wir unserer Verdächtigen während der Fahrt stellen, bleiben erwartungsgemäß unbeantwortet. Es ist zu ihrem Besten, jeder halbwegs schlaue Verdächtige weiß das. Dennoch ist es immer ein Versuch wert, denn so mancher in Gewahrsam Genommene beginnt zu reden. Aber die taffe Frau mit den grünen Haaren schweigt eisern, während ich Blicke in den Rückspiegel werfe und dabei zusehe, wie sie an den kleinen Hautfetzen ihrer trockenen Lippen nibbelt. Ihr ovales Gesicht ist verdreckt durch den Sturz und trägt tiefe Gedankenwolken vor sich her. Sie hat ein Septum-Nasenpiercing und mehrere schwarze Ringe auf ihren Ohren verteilt, die ihrem Äußeren eine gewisse Härte verleihen. Doch da ist auch noch etwas anderes. Ich erkenne den Dunst eines Schattens um sie herum. Doch erst nicht permanent, er löst sich stetig wieder auf. Sonderbar.

„Ich lasse ihre Personalien aufnehme und melde sie an. Danach fahre ich dich nach Hause oder wo auch immer du Klamotten zum Wechseln hast.“, kündigt Pastor an, als wir das 12. Revier über die Zufahrt betreten. Ich nicke zur Bestätigung und deutet ihm an, dass ich bei seinem Schreibtisch warte. Damit führt Pastor die Verdächtige mit sanfter Härte zur Aufnahmestelle und ich spaziere ruhigen Schrittes durch die Tischreihen, bis ich am richtigen Tisch ankomme. Der Stapel unbearbeiteter Fälle ist angewachsen und Pastors Bildschirm ist über und über mit gelben Klebezetteln dekoriert. Telefonnummern von Kollegen anderer Reviere. Ich sehe meine Nummer und die des Staatsgefängnisses für Frauen. Der Rest seines Schreibtisches ist an sich gut strukturiert. Ich greife nach einem hölzernen Sternknoten, der neben dem Bildschirm steht und der prompt auseinanderfällt. Irgendwo ertönt ein dumpfes Kichern, gefolgt von einem blechernen Lachen. Doch ich kann niemanden sehen, von dem es gekommen ist. Ich sammele die Einzelteile ein und drehe die Stücke mehrmals in alle Richtungen. Es sind sechs Teile insgesamt. Jedes Teil ist ein längliches Doppeldreieck, welches eine einheitliche zusammenhängende Seite hat, während die gegenüberliegende Seite auf der gleichen Länge in drei Dreiecke aufgegliedert ist. Der mittlere Teil bildet eine vierseitige Pyramide. Ich nehme zwei Stücke und teste die Möglichkeiten durch, um sie zusammenzusetzen und nehme, nachdem ich einen plausiblen Weg gefunden habe, ein drittes Stück hinzu. Beim fünften wird es knifflig und doch schaffe ich es, das sechste Teil so einzupassen, dass erneut der kugelige Stern entsteht. Einfacher als gedacht.
 

Ein Kollege in Uniform bleibt an Pastors Schreibtisch stehen, unangenehm dicht vor mir und ich stelle das hölzerne Knobelpuzzle unauffällig zurück. Das Gesicht bleibt ausdruckslos, als er von seinen blanken, schwarzen Schuhen aufblicke. Hinter ihm taucht ein mir bekanntes Gesicht auf. Der junge Mann mit den sanften Gesichtszügen ist Vincent de Laar, Techniker im forensischen Labor. Er ist mit seiner attraktiven Erscheinung ein wahrer Augenaufreißer und nun weiß ich, dass ich mir das Kichern nicht eingebildet habe. Überall blitzen Tattoos hinter der Kleidung hervor. Sein Blick wandert von meinem Gesicht zu den verdreckten Schuhen. Ich warte ab, bis seine Augen wieder mein Gesicht treffen und denke währenddessen darüber nach, ob die Socken, die ich trage, die gleiche Farbe haben. Ich denke, sie sind grün oder mintfarben. Oder beides. Ich habe nicht wirklich darauf geachtet, als ich heute Morgen leise schimpfend losgelaufen bin.

„Doktor de Laar ist auf der Suche nach Detective Pastor“, erklärt der uniformierte Kollege deren Auftauchen und sieht sich um.

„Kollege Pastor ist gerade nicht am Platz. Er kann hier warten, der Detective wird gleich zurück sein“, versichere ich und zeige dem Uniformierten meinen eigenen Ausweis, sodass er erkennt, dass ich kein Außenstehender oder ein freiumherlaufender Verbrecher bin. Er nickt uns beiden zu und Vincent rollt sich den Stuhl des Nachbarschreibtischs heran.

„Doktor?“, erkundige ich mich mit hochgezogener Augenbraue. Mein Gegenüber formt einen theatralischen Gesichtsausdruck und rollt dann gekonnt mit den Augen. Ich weiß aus sicherer Quelle von ihm selbst, dass seine Doktorarbeit seit längerem vor sich hinvegetiert. Die Arbeit im Labor ist einnehmend und einige gönnen sich Hobbies. Vincent gehört dazu.

„Frag nicht und nein, ich bin noch mittendrin… Die Leute sehen Kriminallabor und ziehen voreilige Schlüsse.“

„Du solltest ihn auch längst haben, oder nicht?“, frage ich mit einem schnippischen Grinsen auf den Lippen, wohl wissend, dass es schwer verdauliches Thema für den jungen Mann ist. „Was führt dich ins 12. Revier?“

„Ich habe Informationen zum Malus-Fall“, erklärt er extra mysteriös und fächert mit einer Akte in seiner Hand Luft in meine Richtung. Malus ist der lateinische Name für Apfel, das ist mir auch ohne größere Botanikkenntnisse bekannt. Latein ist mir nicht unbekannt. „Wurdest du versetzt, das ist doch nicht dein herkömmliches Revier?“

„Nein, nein, ich bin immer noch Herr meines Schuhkartons im 17.. Ich war nur zufällig in der Nähe eines Tatorts der Nachbarn.“

„Zufällig?“ Alles an seiner Haltung schreit Skepsis und Amüsement. „Also haben sie dich als Täter aufgegriffen, überwältigt und festgenommen?“ Erneut mustert er mein ramponiertes Sportoutfit, dessen waldige Spuren im kühlen Bürolicht hervorstechen.

„Könnte man vermuten, aber nein…“ Als Beweis hebe ich meine Hände und verdeutliche die Abwesenheit von jedweden Handgelenksmetallen.

„Damast!“, ruft es hinter uns, ich wende mich um und sehe, wie Pastor angewetzt kommt. Er schaut verwundert zu dem Neuankömmling und verlangsamt seinen Schritt. Vincent richtet sich vom Stuhl auf und schubst diesen dorthin zurück, wo er ihn hergeholt hat.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen? Detective Luis Pastor.“ Die beiden scheinen sich noch nicht begegnet zu sein. Ich beobachte, wie Pastor den Forensikkollegen unauffällig mustert.

„Ah, Sie sind Pastor. Ich suche Detective Bell und McArthur. Hi, Vincent de Laar, aus dem forensischen Labor. Schön Sie kennenzulernen, Detective.“ Er fischt seinen Ausweis hervor, der an einer ausziehbaren Kordel befestigt ist und von seinem Gürtel baumelt.

„Freut mich ebenfalls. Ist das den Boscop-Fall betreffend?“, fragt er, „Die zuständigen Kollegen sind aktuell nicht zugegen.“

„Bei wem kann ich das dann lassen? Das sind Ergebnisse forensischer Untersuchungen vom zweiten Fundort. Bodenproben und anthropologische Gutachten.“

„Bei mir. Ich habe übergangsweise die Aufsicht über die dritte Fundstelle. Ich sorge dafür, dass sie es schnellstmöglich erhalten.“ Pastor langt in seinen Schreibtisch und holt einen Block aus der oberen Schublade. Es ist ein Übergabeprotokoll, in das er den Inhalt der Akte notiert, so wie seinen und Vincents Name. Zum Schluss lässt er ihn unterschreiben und sich selbst. Den Durchschlag reicht er dem Techniker. Ich schaue stillschweigend bei dem überbürokratischen Akt zu und bin mir nicht sicher, ob ich so etwas jemals ausgefüllt habe. Als würde Pastor meine Gedanken lesen, stiert er mich danach eindringlich an. Ich habe Bakows und de Lucias Akte nicht verschwinden lassen, aber das kann ich ihm nicht sagen, also lasse ich mir nichts anmerken. Ich sehe stattdessen zu dem Forensiker und ignoriere das verräterische Knirschen der Unzufriedenheit, welches Pastor entflieht.

„So, ihr arbeitet auch an dem Boscop-Fall?“, frage ich unangemessen fröhlich und wohlwissend, dass sie als zentrale kriminalistische Abteilung ohne Frage an dem Fall arbeiten.

„Wer nicht? Seit gestern ist das ganze Labor involviert. Prio 1“, erklärt er und wirkt unversehens sichtbar erschöpft, „Wusstet ihr, dass bisher nicht publik gemacht wurde, dass an den geborgenen Knochen Zahnspuren gefunden wurden? Es wird noch geprüft, aber wow…“

„Und?“, fragt Pastor daraufhin, während es mir einen Schauer versetzt, „Die Opfer wurden im Wald gefunden, nicht sehr tief vergraben. Ich sehe daran nichts Ungewöhnliches.“ Solche lichten Gräber sind ein gefundenes Fressen für jegliches Waldgetier. Ich kann Pastor nur zustimmen und doch weckt das bloße Ansprechen der Bissspuren ein Kitzeln in meiner Magengrube. Es pulsiert unter der Haut, als der Kriminaltechniker kopfschüttelnd fortfährt.

„Bei den meisten der gefundenen Spuren gebe ich Ihnen recht. Es gab Hinweise auf verschiedene Nagetiere, Felis catus, einem Canis lupus… Wirklich nicht ungewöhnlich. Aber!“, berichtet Vincent weiter, sieht sich während der Ausführung mehrmals um und wird bei dem letzten Teil leiser, bis er nur noch flüstert. „Es waren auch die Gebissspuren eines Omnivoren mit parabolischen Zahnbogen zu finden.“
 

~Fortsetzung folgt~



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