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Champ Stories

Band 1: Endynalos
von
Koautor:  Flordelis

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Das wird sicher eine schöne Abwechslung

Das kleine, friedliche Dorf Furlongham, das im Grunde nur Wollys, einen mysteriösen Wald und Champs von Galar kannte – schließlich kamen ganze zwei von hier – war an diesem Tag vom Geruch gegrillten Fleisches und dem Geräusch von Gelächter erfüllt. Wie die Mutter von Delion schon oft angekündigt hatte, waren die Nachbarn zu einer Grillparty eingeladen worden, diesmal zur Feier, dass sowohl ihr ältester Sohn - der alte Champ - als auch Raelene - der neue Champ - gerade Zeit fanden, in aller Ruhe mit der Familie zu essen. Und jeder wusste: Das kam nur selten vor.

Sogar Hop hatte sich von seiner Forschungsarbeit loseisen können. Vielleicht war das zum Teil Sania zu verdanken, die sich solche Gelegenheiten zum Entspannen nicht entgehen ließ. Laut ihr sollte man nämlich stets darauf achten ab und zu mal den Kopf frei zu bekommen, statt nur ohne Ende Bücher zu wälzen. Auch die Zwillinge, Gloria und Victor, waren der Einladung zum Grillfest gefolgt, um mal wieder, wie in alten Zeiten, einen schönen Tag mit ihren Freunden verbringen zu können, wobei das gute Essen natürlich als ein willkommenes Plus galt.

Zu ihrem Glück war dieser Tag gesegnet mit einem strahlend blauen Himmel und einer warmen, sanften Brise. Fast als hätte das Universum selbst gewollt, dass nicht mal das Wetter diesem Treffen einen Strich durch die Rechnung machen sollte. Alles war perfekt. Jedenfalls könnte es das sein, wenn Raelene nicht so angespannt wäre.

Inzwischen war es schon mehrere Jahre her, seit Delion seinen Titel an Raelene verloren hatte. Nun war sie bereits 18 Jahre alt, aber wirklich erwachsen fühlte sie sich deswegen nicht. Im Vergleich zu früher hatte sie sich auch nicht allzu sehr verändert, abgesehen von ihrer Körpergröße. Ihr glattes, dunkelblaues Haar trug sie immer noch lang und offen. Beim Kleidungsstil griff sie bis heute bevorzugt zu sportlichen Sachen, falls sie mal nicht ihre Champ-Uniform trug, wie auch an diesem Tag. Diesen Anblick hatte sie Delion ersparen wollen.

Seit Raelene Champ geworden war, hatte er den Posten als Liga-Präsident übernommen. Die Beziehung zu ihm war irgendwie … kompliziert geworden. Immer, wenn sie sich trafen, kam es ihr so vor, als fände auch er es seltsam, Zeit mit ihr zu verbringen. Dennoch war er zur Grillparty gekommen, jedoch nicht so redselig, wie Raelene ihn in Erinnerung hatte. Er antwortete, wenn er angesprochen wurde, oder gab bei bestimmten Themen einen kurzen Kommentar ab, doch ansonsten schwieg er eher und blickte auf seinen Teller hinab.

Es musste an Raelene liegen. An ihrer Anwesenheit. Deshalb stocherte sie gerade unbeholfen in ihrem Salat herum und beteiligte sich auch nur wenig an den Gesprächen. Außerdem vermied sie es, Delion anzuschauen, obwohl sie genau das liebend gerne tun würde. Raelene befürchtete aber, dass ihr Gesicht sofort wieder knallrot werden und dadurch jeder erahnen könnte, was das zu bedeuten hatte.

Vor etwa fünf Jahren hatte sie realisiert, dass sie hoffnungslos in Delion verliebt war. Sehr sogar. So sehr, dass es ihr nun unglaublich schwerfiel, einfach normal mit ihm zu reden. In ihren Augen war sie nun mal nichts weiter als ein Störenfried, eben diejenige, die ihm den Titel gestohlen hatte. Trotz seiner bewegenden Ansprache damals, kurz nach ihrem Sieg im Champ-Cup, wurde sie nie das ungute Gefühl los, ihm etwas Kostbares weggenommen zu haben. Etwas, wofür er voll und ganz gelebt hatte.

„Woll, woll, woll~!“, rief ihr Wolly fröhlich.

Als sie den Blick zu ihrem Pokémon lenkte, stellte sie fest, dass es munter auf der Stelle hüpfte und dabei das eigene Spiegelbild in dem kleinen Teich im Garten betrachtete. Es fand den Anblick wohl lustig, genau wie Raelene, die lächeln musste. Pokémon in der Nähe zu wissen beruhigte sie zumindest etwas. Schön, dass ihr Wolly Spaß hatte, genau wie Delions Glurak. Grillen schien seinem Partner ziemlich zu gefallen.

„Du bist ganz schön still“, bemerkte Sania amüsiert.

An einem langen Holztisch, der zu diesem Anlass zusätzlich im Garten aufgestellt worden war, saß Raelene zusammen mit Delion, Hop, Gloria, Victor – der vorhin aufgestanden und irgendwo hingegangen war – und eben Sania. Letztere hatte sich ebenfalls kaum verändert, nur dass sie, genau wie Hop, mittlerweile öfter eine Brille trug. Auch als Professorin stach ihr Sinn für Mode noch sichtlich hervor.

Iva war leider als einzige nicht bei diesem Fest anwesend, was Raelene äußerst schade fand. Mit Sicherheit war es ihrer Verpeiltheit zu verschulden, dass sie nicht mehr an dieses Treffen gedacht hatte und es nun nicht mehr rechtzeitig nach Furlongham schaffen würde.

„Drückt dir Delion etwa zu viel Arbeit auf?“, fragte Sania, aus heiterem Himmel.

Die Erwähnung seines Namens sorgte dafür, dass Raelene sich sofort auf die junge Professorin konzentrierte und rasch mit dem Kopf schüttelte. Warum machte Sania sie so plötzlich zu einem Thema?

„Nein!“, stieß sie hervor, sprach danach aber wesentlich leiser weiter. „Das ... würde er nie tun.“

Zudem hatten sie, leider, nur dann mehr miteinander zu tun, wenn der Champ-Cup geplant und organisiert werden musste, was im Moment nicht der Fall war. Alles weitere, wie Werbe-Deals, Interviews und solche Sachen, regelten meistens andere Leute. Oft musste Raelene dann nur noch zustimmen oder ablehnen.

„So?“ Mit einem unbekümmerten Lächeln wandte Sania sich an Delion. „Stimmt das auch?“

Delion zuckte zusammen, als er auf einmal so direkt darauf angesprochen wurde. Anscheinend hatte er über etwas nachgedacht. Irritiert tippte er mit dem Daumen gegen den Schirm seiner Kappe und schob sie dadurch ein Stück nach oben. Dieses Detail war optisch die einzige Erinnerung an seine damalige Champ-Time, denn mit der Eröffnung des Kampfturms trug er fast nur noch einen roten Frack.

Nicht, dass es Raelene störte, denn es stand ihm außerordentlich gut. Etwas in ihr fand es nur schade, Delion nicht mal zum heutigen Grillfest in anderer Kleidung sehen zu dürfen. Als wollte er dadurch einen gewissen Abstand zu ihr wahren und nicht zu privat werden. Vielleicht interpretierte sie da aber nur zu viel hinein und er machte sich schlicht nicht viele Gedanken darüber.

„Du gibst Hop mehr Arbeit als ich dem Champ“, erwiderte er, auf Sanias Frage.

Es traf Raelene ein wenig, dass er sie nicht einmal bei ihrem Namen nannte.

„So viel ist das gar nicht“, meldete Hop sich dazwischen, während er an einem Maiskolben knabberte.

Seine Brille verrutschte ein wenig, so dass er sie direkt wieder an ihren Platz schob. Es war immer noch ungewohnt, ihn so zu sehen. Als Kinder hatten sie beide ununterbrochen davon geredet, die stärksten Trainer zu werden, so wie Delion. Solange Hop aber wirklich zufrieden mit dem Weg war, den er für sich gewählt hatte, freute Raelene sich für ihn. Er hatte es verdient glücklich zu werden.

„Siehst du?“, sagte Delion in Sanias Richtung. „Ich gebe ihr nicht zu viel Arbeit.“

„Absolut nicht“, stimmte Raelene nachdrücklich zu. „Delion ist ein wunderbarer Liga-Präsident.“

Kaum hatte sie das ausgesprochen, hätte sie sich am liebsten selbst geohrfeigt. Was, wenn sie damit nur unnötig Salz in die Wunde streute? Sicher wollte Delion viel lieber wieder Champ sein, statt sich um die Bürokratie kümmern zu müssen. Schnell, sie musste sich irgendwie retten.

„Alles, was er macht, ist wunderbar.“

Was? Nein, zu viel des Guten. Ihr Gesicht lief schlagartig rot an, obwohl sie das hatte vermeiden wollen. Ob es komisch wäre, sich mit dem Kopf in der Salatschüssel zu verstecken, bis sie sich beruhigt hatte?

Beschwichtigend hob Sania die Hände. „Okay, okay~. Ich weiß doch selbst sehr gut, wie fleißig Delion sein kann, wenn er sich nicht gerade verläuft. Wollte nur auf Nummer sicher gehen.“

Es kam Raelene so vor, als würde Sania ihr entschuldigend zulächeln. Das änderte trotzdem nichts daran, dass ihr Gesicht nun glühte wie eine Tomato-, nein, Tamotbeere.

Delion sagte nichts, sondern wirkte wieder nachdenklich. Besser, Raelene versuchte gar nicht erst, zu erahnen, was in seinem Kopf vorging. Dabei dürfte nichts Gutes herauskommen, in Zusammenhang mit ihrer Person.

„Mach dir da keine Sorgen“, meldete Hop sich noch einmal. „Ich bin sicher, dass Raelene sich gegen Delion durchsetzen könnte, wenn er doch mal zu viel will. Wahrscheinlich muss man Delion aber eher zwingen, auch mal Aufgaben abzugeben.“

„So schlimm ist es inzwischen nicht mehr“, widersprach Delion. „Raelene macht einen guten Job als Champ, das erleichtert schon einiges.“

Ein Lob von Delion? Ein Lob! Ihr Herz machte Freudensprünge. Egal, ob es ehrlich gemeint war oder er das nur aus Höflichkeit gesagt hatte, sie freute sich darüber. Deshalb huschte auch ein verlegenes Lächeln über ihre Lippen. Sania beobachtete sie aufmerksam, wie Raelene bemerkte, weshalb sie versuchte ganz normal zu wirken.

„Das hört man doch gern~. Immer schön weiter so! Oh, Großmutter wäre übrigens auch gerne gekommen“, erzählte Sania schließlich, als wollte sie, Raelene zuliebe, das Thema wechseln. „Aber sie wollte ihren jährlichen Kontrollbesuch bei Endynalos nicht verschieben. Obwohl sie nun in Rente ist, kann sie die Arbeit nicht sein lassen. Typisch für sie.“

Seufzend tätschelte Sania Voldis Kopf. Das Hunde-Pokémon saß auf ihrem Schoß und hechelte die ganze Zeit gierig, während es auf das ganze Essen auf dem Tisch starrte – dabei hatte Sania bereits mehr als genug mit ihrem kleinen Liebling geteilt.

„Mama gibt bestimmt gern noch mal eine Party, wenn sie auch kann.“ Hop legte den Maiskolben auf seinem Teller ab, um einen Schluck zu trinken. „Nachzusehen, ob bei Endynalos alles okay ist, ist immerhin auch wichtig.“

Da hatte Hop recht. Bei seiner letzten Befreiung wäre Endynalos fast dazu imstande gewesen, Galar auszulöschen, so etwas durfte nie wieder passieren.

Delion schien sich nicht gern an Endynalos zu erinnern. „Ach ja …“

Sicher konnte ihm das niemand verübeln. Von allen hatte er den schwersten Kampf mit Endynalos austragen müssen, ganz allein. Rückblickend war es auch für Raelene ein Wunder, dass am Ende alles gut ausgegangen war. Ohne Zacian und Zamazenta hätten sie einpacken können …

„Wie steht es bislang?“, fragte Delion. „Ist er noch sicher verwahrt?“

Soweit Raelene wusste, hatte man eigens zur sicheren Verwahrung von Endynalos in den verschneiten Bergen hinter Circhester eine Einrichtung erbaut. Laut einigen Berichten sollen die Bauarbeiten damals unfassbar schnell abgelaufen sein, was man wohl als wahre Glanzleistung von Menschen und deren Pokémon bezeichnen konnte. Die Gegend um das Gebäude herum war angeblich ziemlich verlassen, damit, im Falle eines erneuten Ausbruchs von Endynalos, der Schaden so gering wie möglich gehalten werden könnte, bis Hilfe eintraf. Die Einrichtung lag außerdem zwischen Score City und Claw City, also könnten zügig aus diesen Städten oder aus Circhester Trainer herbei eilen.

„Es gab bisher jedenfalls keine Probleme“, berichtete Sania zufrieden. „Großmutter macht sich stets auch ein Bild von den dortigen Forschern und Wachen, damit nicht nochmal ein Unglück geschieht.“

Raelene runzelte nachdenklich die Stirn, weshalb Sania sie fragte, was los sei, worauf sie folgende Antwort erhielt: „Ich wundere mich nur ... irgendwie dachte ich immer, ihr würdet Endynalos erforschen.“

„Oh, den Vorschlag habe ich gemacht“, versicherte Sania. „Großmutter meinte aber, dass man Dinge, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, besser ruhen lassen sollte. Oder so ähnlich.“

Wie aus dem Nichts packte Raelene eine Frage, die ein Gefühl von Unruhe in ihr auslöste: „Wie sich Endynalos wohl fühlt?“

„Bestimmt einsam“, antwortete Delion darauf, überraschend schnell.

Obwohl es Delion nicht gelungen war, Endynalos einzufangen und es schlimmstenfalls ganz Galar hätte vernichten können, zeigte er Empathie für dieses Pokémon. Raelene konnte nicht anders, als ihn bewundernd anzusehen und zu lächeln. Kein Wunder, dass sie so verliebt in ihn war.

Hop sah ihn kurz an, aber da Delion das nicht weiter ausführen wollte, übernahm er das Wort: „Ich fände es auch gut, wenn wir ihn erforschen könnten, immerhin wissen wir nichts über ihn. Aber ich denke auch, dass es besser ist, ihn in Ruhe zu lassen. Solange er schläft, kann nichts schiefgehen.“

„Ja, auch wenn es trotzdem schade ist“, stimmte Sania zu.

Ihr Voldi wollte scheinbar auf den Tisch springen, doch sie hielt es rechtzeitig davon ab und knuddelte es stattdessen ordentlich durch.

„Hey, tu nicht so, als würdest du bei mir nie was zu essen bekommen, du Vielfraß~.“

Raelene lachte herzlich. „Dedenne tut auch immer so, als hätte er nichts bekommen, während er mit Beeren vollgestopfte Backen hat und ganz unschuldig vor einem steht. Meistens gebe ich dann nach, weil er dabei zu süß ist.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Hop lachte ebenfalls. „Deswegen ist es mit Relaxo sehr einfach, der schläft die ganze Zeit. Besonders nachdem er mein Mittagessen geklaut hat. Manche Pokémon wissen Menschen einfach zu gut auszunutzen.“

Sania hob theatralisch eine Hand an ihre Stirn. „Und ich muss dann auf meinen Schönheits-Smoothie verzichten. Wenn Relaxo erst mal schläft, bekommt man ihn nicht mehr so leicht wach.“

Vielleicht sollten sie sich besser einen zweiten Kühlschrank besorgen. An zwei Orten gleichzeitig könnte Relaxo nicht im Weg liegen. Wenigstens konnte man sich sicher sein, dass Relaxo also immer satt und zufrieden war.

„Euer Alltag ist also auch immer aufregend, was?“, schmunzelte Raelene.

Sania nickte enthusiastisch. „Aber klar! Vor allem unsere Außen-Einsätze sind manchmal nicht ohne. Es gibt nichts Spannenderes, als den Spuren von Pokémon auf den Grund zu gehen.“

„Vor allem mitten in einem Schneesturm“, führte Hop weiter aus. „Letztes Mal musste ich mich an Zwollock festbinden, um nicht aus Versehen verweht zu werden.“

Ein Glück nur, dass Hops Zwollock derart unempfindlich gegen alles war. Raelene hatte oft genug gegen die beiden gekämpft, weshalb sie das so genau wusste. Bestimmt hatte Zwollock den Wind einfach nur an sich abprallen lassen, während er stoisch und stolz mitten im kniehohen Schnee gestanden hatte. Ohne ihre Pokémon könnten sie solche Dinge niemals alleine schaffen.

„Fehlen euch nicht die Pokémon-Kämpfe?“ Delions Frage gewann sogleich Raelenes Aufmerksamkeit. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Leben ohne Pokémon-Kämpfe – gegen andere Trainer – wirklich erfüllend ist.“

„Das glaub ich dir auf's Wort, dass du dir das nicht vorstellen kannst!“, lachte Sania, und beugte sich über den Tisch, bis sie Delion gegen die Brust klopfen konnte. „Es ist ja nicht so, dass wir niemals kämpfen. Nur eben nicht gegen Trainer. Es ist oft nötig, wilde Pokémon durch einen Kampf zu schwächen, um sie zu untersuchen.“

„Aber das ist doch nicht das gleiche“, wandte Raelene ein – ihre goldgelben Augen fingen an zu leuchten wie Sterne. „Die Spannung und das Knistern in der Luft, wenn beide Trainer und ihre Pokémon alles geben, erlebt man nur in einem richtigen Kampf~.“

Da fiel ihr ein, dass sie schon ewig nicht mehr gegen Hop gekämpft hatte, obwohl es damals fast schon zu ihrem Alltag zählen konnte. Irgendwann waren von seiner Seite aus auch keine Herausforderungen gekommen. Vielleicht war er zu beschäftigt für solche Kämpfe oder wirklich nicht mehr interessiert daran. Schade eigentlich.

„Aber solange jeder auf seine Weise Spaß hat, ist ja alles super“, fügte sie hinzu.

Delion nickte zufrieden. „Wenigstens eine Person hier, die mich versteht.“

Jetzt würde Raelene gerne auf der Stelle gegen ihn kämpfen, aber sie konnte Delion nicht mehr einfach herausfordern. Sie wollte ihn nicht bedrängen oder riskieren, dass er das falsch verstand. Gerade heute sollten sie die gemeinsame Grillparty einfach genießen, schon weil nicht alle oft die Zeit dazu fanden. Außerdem war sie schon glücklich genug, dass er nun ein wenig lockerer geworden war.

Darum fing sie endlich mal damit an, ihren Salat zu essen, statt nur darin herumzustochern – er schmeckte wirklich großartig. Für die Pokémon standen natürlich Schälchen mit verschiedenen Beeren bereit, sollten sie Hunger haben. Zumindest Wolly tollte aber noch lieber herum und sprang dabei geschickt zwischen den ganzen Anwesenden umher, ohne jemanden anzurempeln oder zu stören.

„Das klingt alles sehr lustig“, sagte plötzlich jemand, etwas verträumt.

Dieser Jemand war Gloria. Bislang war sie recht still gewesen und hatte vor sich hin gestarrt. Für Victor, ihren Bruder, war das nicht ungewöhnlich. Schon als Kind war er die Ruhe in Person gewesen und hatte die oft fehlende Vernunft der anderen ausgeglichen. Aber der war gerade nicht mal anwesend. Bei Gloria musste man sich schon eher darüber wundern, wenn sie derart still war. Als Raelene bei ihr nachhakte, was sie meinte, blinzelte sie überrascht und hob verlegen die Hände vor ihr Gesicht.

„Hab ich das laut gesagt? Entschuldigung. Ich musste mir das nur vorstellen, wie Relaxo den Kühlschrank plündert.“

Gloria hing wirklich noch bei der Stelle ihrer Gespräche fest? Irgendwie war das … süß. Eigentlich kannte Raelene das gar nicht von ihr, dass sie so hinterherhinkte. Normalerweise war Gloria ziemlich aufmerksam. Womöglich beschäftigten sie aber auch noch andere Dinge, wegen denen sie etwas abwesend gewesen war. Sie fanden alle wirklich kaum noch die Gelegenheit dazu, sich über den Alltag und die Arbeit auszusprechen.

Besorgt sah Gloria Hop an. „Bekommst du denn trotzdem genug zu essen?“

Das passte schon eher zu ihr. Ihre Fürsorglichkeit war eine ihrer größten Stärken, konnte aber manchmal auch etwas zu weit gehen. Raelene freute sich darüber, dass Gloria und Victor sich auch nicht wirklich verändert hatten, obwohl sie nicht mehr so viel miteinander abhingen. Dadurch entstand so eine vertraute Atmosphäre, die Raelene sehr genoss.

„Nur keine Angst“, sagte Hop schmunzelnd. „Ich hol mir dann einfach was vom Lebensmittelhändler in der Nähe, der kennt mich schon.“

Sichtlich erleichtert atmete Gloria auf. „Gut, schließlich brauchst du die Energie ja genauso wie jeder Trainer.“

Reine Kopfarbeit konnte auf ganz andere Weise anstrengend sein, sagte man. Für Raelene war es auf jeden Fall erstaunlich, dass Hop freiwillig so viel lernte. Sie selbst war oft erschöpfter als nach einem Training mit ihren Pokémon, nachdem sie etwas gelesen hatte. Darum war sie mehr als froh, als Champ keine Bücher wälzen zu müssen. Gloria war es stets ähnlich ergangen wie Raelene, was das Thema Lernen anging. Da Gloria versuchte eine richtige Züchterin zu werden, musste sie garantiert auch wieder viel pauken. Die Arme.

„Gönn dir auch mal eine Auszeit. Oh, ich weiß was! Ihr solltet uns mal im Hort besuchen kommen~“, schlug Gloria vor. „Wir haben gerade viele frisch geschlüpfte Babys dort. Sie zu beobachten und mit ihnen zu spielen macht wirklich viel Spaß.“

Von dem Vorschlag schien Hop eindeutig begeistert zu sein. „Oh ja, gute Idee. Ist bestimmt entspannend.“

„Ich war neulich auch dort“, sagte Victor, der wieder dazukam, nachdem er kurz nach den Knospis vor ihrem Haus nebenan geschaut hatte. „Sie sind echt süß.“

Das konnte Raelene sich gut vorstellen. Wie lange war es her, seit sie zuletzt mit einem Baby-Pokémon gespielt hatte? Nun, ihr Dedenne war zwar schon lange keines mehr, aber benahm sich oft noch wie eines, woran sie sich nicht störte. Sie liebte ihr kleines Leckermäulchen, das bestimmt einige Gene von einem Mampfaxo in sich trug.

Hop sah hoffnungsvoll zu Sania hinüber. „Bekomme ich dafür mal einen Nachmittag frei?“

Sania tippte sich mit dem Finger gegen das Kinn und tat so, als müsste sie zuerst angestrengt darüber nachdenken, ob sie ihm das erlauben wollte, aber sie lächelte schließlich nickend.

„Nur, wenn du dafür an einem anderen Nachmittag im Labor bleibst, damit ich auch mal im Hort vorbeischauen kann~“, flötete sie vergnügt. „Außerdem bist du immer sehr fleißig, natürlich darfst du dir da mal frei nehmen.“

„Wie schön!“ Begeistert klatschte Gloria in die Hände. „Wenn du dann kommst, können wir ein kleines Picknick im Hort machen.“

Das klang schon fast romantisch. Wie gerne würde Raelene mal mit Delion campen, aber wie sollte sie ihn danach fragen? Hätte er überhaupt Lust darauf?

„Super!“ Hop grinste aufgeregt. „Dann freue ich mich schon doppelt!“

„Bei Baby-Pokémon bin ich auch dabei“, beschloss Delion. „Ich komme also auf jeden Fall auch mal. Was ist mit dir, Raelene?“

Raelenes Gesicht begann sofort zu leuchten. Sicher, Baby-Pokémon waren unglaublich niedlich, aber noch schöner war in diesem Moment, dass Delion sie, völlig unerwartet, danach fragte, ob sie auch Lust darauf hätte.

Oder will er nur sichergehen, dass ich nicht da bin, wenn er zum Hort geht?

Schlagartig war sie wieder unsicher. Sie wollte diese Chance, wenn es denn eine war, jedoch nicht verstreichen lassen. Also kramte sie ihre Entschlossenheit als Champ hervor und gab sich selbst den nötigen Ruck.

„Natürlich, wenn ich darf.“

„Warum solltest du nicht dürfen?“, wandte Gloria ein, wobei sie ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. „Sagt mir nur vorher den Tag, dann melde ich euch alle an und bereite das Picknick vor. Bringt auch eure Pokémon mit. Es ist gut für die Babys, soziale Erfahrungen zu sammeln~.“

Für einen furchtbar kurzen Moment lang schien Delion Raelene prüfend zu mustern. Oder bildete sie sich das auch wieder nur ein? Warum konnte sie nicht einfach lesen, was in seinem Kopf vorging? Nein, genau das wollte sie doch lieber nicht, falls er wirklich etwas gegen sie hatte. Es war so kompliziert.

Schließlich nickte Delion aber dann Gloria zu. „Okay, dann sagen wir Bescheid.“

„Hey“, meldete Hop sich. „Heißt das jetzt, ihr kommt alle am selben Tag wie ich?“

Würde ihn das etwa stören? Zugegeben, Raelene wollte gerne mit Delion alleine sein, wenn möglich. So unsicher sie sich in seiner Gegenwart auch fühlte, sie sehnte sich danach Zeit mit ihm zu verbringen. Selbst wenn sie sich am Ende nur gegenseitig anschweigen würden, könnte sie ihn wenigstens sehen. Dafür nahm sie ihre Unsicherheit in Kauf. Aber wie stellte sie das am besten an, zu vereinbaren, dass sie zu zweit an selben Tag zum Hort gingen?

„Ich richte mich da gern nach euch“, meine Gloria geduldig. „Da ich dort arbeite, bin ich ja schon mal sowieso immer vor Ort. Ihr könnt das natürlich so einrichten, wie es für euch passt.“

Raelene schielte verlegen zu Delion, was an ihrer Stimme aber nicht herauszuhören war: „Also ich habe momentan noch recht viel Zeit. Ich kann mich anpassen.“

Bei Delion konnte man das dagegen nie so genau wissen. Als Liga-Präsident gab es wahrscheinlich immer irgendetwas zu tun.

„Wenn es dann nicht zu viel Arbeit ist, komm ich nicht am selben Tag wie Hop.“ Delion dachte kurz nach. „Aber ich will dir trotzdem nicht zu viel aufhalsen, also kann ich mich ja einfach unserem Champ anschließen.“

Was? Hatte sie das gerade richtig gehört? Delion hatte von sich aus gesagt, er würde mit ihr zusammen hingehen? Wäre es zu auffällig, wenn sie sich kurz selbst kniff, nur zur Sicherheit? Besser stimmte sie ihm lieber rasch zu, bevor er es sich noch anders überlegte oder ihr Schweigen falsch deutete. Also nickte Raelene lächelnd, um zu zeigen, dass sie damit einverstanden war. Wenn Delion so etwas schon von sich aus vorschlug, wollte sie das unbedingt dankbar annehmen.

„Gerne, ich freu mich~“, gestand sie offen - ihr Herz machte einen Sprung, weil sie das tatsächlich laut aussprach. „Das wird sicher eine schöne Abwechslung.“

Am besten ließen sie zuerst Hop den Vortritt und besuchten dann an einem Tag nach ihm den Hort. Er hatte schließlich als erster gefragt, ob er dafür frei haben könnte.

Sania schmunzelte und lehnte sich gemütlich im Stuhl zurück. „Ich komme dann mal alleine vorbei. Zu viel Trubel auf einmal ist für die Kleinen sicher auch nicht gut.“

Also stand schon mal fest, wer jeweils zusammen oder alleine ging. Nun konnte Raelene es kaum noch abwarten. Wie gerne würde sie einfach aufspringen, Delions Hand greifen und mit ihm sofort geradewegs Richtung Hort eilen. Aber sie musste sich gedulden. Es war schon ein riesiges Glück, dass sie überhaupt zu zweit gehen würden. Sein Schicksal sollte man nicht unnötig herausfordern, vor allem wenn es gerade einen Weg einschlug, der einem willkommen war.

„Moment mal“, bemerkte Victor ernst. „Warum gab es eigentlich kein Picknick, als ich da war? Oder überhaupt was zu essen?“

Ein paar Sekunden lang starrte alle Victor sprachlos an. Anhand der Gesichtsausdrücke war zu sehen, wie jeder das Gesagte verarbeitete. Plötzlich brachen am Tisch dann alle in Gelächter aus, außer Victor und Gloria. Letztere lächelte nervös.

„Es war so viel zu tun“, wich sie aus. „Die Babys waren gerade erst geschlüpft, da muss man sie ganz besonders im Auge behalten. Nächstes Mal bekommst du auch etwas zu essen, versprochen.“

„Apropos, Essen!“, warf Sania ein. Voldi verstand sofort und sprang von ihrem Schoß, damit sie aufstehen konnte. „Glurak, ich brauche noch etwas vom Grill! Ich habe viel Hunger mitgebracht~.“

Der Großvater von Delion und Hop, der zusammen mit Glurak am Grill stand, salutierte direkt lächelnd und auch Glurak gab ein freundliches Brummen von sich. In diesem Moment stellte Raelene fest, dass ihre Anspannung verschwunden war, worüber sie zufrieden seufzte. Mit etwas Glück könnte sie sich vielleicht sogar mit Delion aussprechen, wenn sie zum Hort gingen, damit sie in Zukunft nicht mehr so schrecklich unsicher wäre. Nun sollte sie aber erst mal weiter das Grillfest genießen.

Es war immer wieder schön, so zusammenzukommen und diese friedliche Stimmung zu genießen – und das Essen.



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