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Lieblingsmensch

Leo x Adam
von

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Lieblingsmensch

Zwei Straßen vor der Ausfahrt zum Revier macht Leo einen abrupten Schlenker und biegt in eine Seitenstraße ab.

Alles wird langsamer. Adam registriert den Schulhof, den Strom an Kindern, die Bushaltestelle und das absolute Halteverbot, in dem sie stehen. Er wartet, bis der Motor gurgelnd absäuft, erst dann wendet er den Kopf.

Die Sonne spiegelt sich in der Scheibe und verleiht Leo einen Heiligenschein.
 

„Wenn du es dir nochmal anders überlegst…“, sagt Leo. Seine Finger trommeln auf dem Lenkrad und er sieht ihn nicht an. „Wenn du umkehren willst… Ich würde das verstehen. Jeder würde das verstehen.“
 

Das war keine direkte Frage und deswegen fühlt sich Adam auch nur bedingt aufgefordert zu antworten. Manchmal muss Leo Dinge einfach laut aussprechen, um seine Gedanken in eine geordnete Reihenfolge zu bringen.

Adam hat sich schon vor langer Zeit angewöhnt, manchmal einfach zuzuhören.
 

„Du musst nichts beweisen. Niemandem. Mir schon gar nicht.“ Leos Stimme ist ruhig, aber seine Schultern unter dem Schulterholster sind eine gerade, angespannte Linie.
 

Er starrt nach draußen und Adam folgt seinem Bick, bis er auf den beiden Jungen hängenbleibt, die gemeinsam ein wenig abseits von den anderen neben dem Bushäuschen stehen und sich um ein Comicheft drängen. Sie sind vierzehn oder fünfzehn, pubertär und pickelig, mit fettigen Haaren unter hässlichen Kappen, aber sie stoßen sich abwechselnd in die Rippen, grinsen sich an und deuten aufgeregt auf die Seiten vor sich.

Es ist was sehr Vertrautes in ihrer einander zugewandten Haltung, ihren verschwörerischen Blicken, und daran wie sie eine kleine Blase in dem hektischen Getümmel bilden, in die kein Außenstehender reinkommt.

Leo sieht ihnen zu, andächtig und ein kleines bisschen wehmütig, und Adam spürt wie es tief drin in seiner Brust butterweich wird.
 

„Ich denke nur, dass es… zu früh ist“, sagt Leo schließlich.
 

Adam seufzt. „Machen wir das jetzt?“ fragt er. „Im Halteverbot?“
 

„Ja“, sagt Leo. „Ja, wir machen das jetzt.“

Wenn er diesen Tonfall aufsetzt, kann man sich alle weiteren Diskussionen sparen.
 

Esther hat letzten Monat ein Seminar über „Gewaltfreie Kommunikation“ besucht und Adam nachher gesteckt, dass Leo das 1:1 alles schon genauso macht, und vermutlich ohne, dass er jemals in so einem Seminar gewesen ist.

Leo wird immer ganz ruhig, wenn er Leute herumkommandiert, ruhig, leise und ganz sachlich. Aber auch unmissverständlich. Deswegen übernimmt er auch meistens die Teamleitung bei Fällen.

Wenn Leo sagt, sie machen das jetzt, machen sie das eben jetzt.
 

„Ich will nichts beweisen“, sagt Adam. „Nicht den Kollegen. Die meisten fanden mich doch schon vorher schräg. Find ich es toll, dass jetzt alle darüber reden, dass mein Vater ein Soziopath war, der mich so sehr gehasst hat, dass er noch kurz vor seinem Ableben versucht hat mir einen Mord anzuhängen? Nein. Aber deswegen will ich mich nicht den Rest meines Lebens verstecken.“

Das hat er immerhin schonmal getan. Weglaufen. Sich verstecken.

15 Jahre lang.
 

Leo wendet den Kopf. Sein Gesicht ist ernst, seine Augen laserfokussiert als sei das ein Verhör. Und genau wie in einem Verhör zoomt seine Aufmerksamkeit sofort auf das Wesentliche. „Wieso denkst du, dass sie über dich reden? Hat jemand was zu dir gesagt? Hat irgendjemand…?“
 

„Nein.“ Adam zupft mit den Fingerspitzen an seinem Gips. „Niemand hat mit mir geredet. Und das bietet sich nicht so an, um es auf Gute Besserungs-Karten zu schreiben, weißt du? Zu lang.“
 

Er hat tatsächlich Karten bekommen. Zwei von Pia. Eine von Esther. Vom Chef eine extrem pflichtschuldige und sehr peinlich berührte. Und zwei von Kollegen, mit denen er noch nie mehr als drei Sätze gewechselt hat (und die waren vermutlich: „Ich brauch das für die Akten.“, „Wo ist der verdammte Haftbefehl?“ und „Kannst du mal die Fresse halten?“). Es waren sogar nette Karten.
 

Das bedeutet nicht, dass sie nicht über ihn reden. Sie reden mit Sicherheit über ihn und soweit er das einschätzen kann, bewegen sich die Meinungen zu seinem Fall irgendwo zwischen Mitleid und Verachtung. Mitleid, weil er so ein „armes Opfer“ ist und Verachtung, weil seine Familie offenbar deutlich abgefuckter ist als der Durchschnitt. Nicht zu vergessen - das geheuchelte Entsetzen, hinter dem sich kaum verhohlene Schaulust verbirgt.

Das würde wehtun. Wenn es ihn interessieren würde, was andere über ihn denken.

Tut es halt nicht.
 

Leo hat die Augenbrauen zusammengezogen. „Wenn irgendjemand dir blöde kommt, sagst du es mir“, sagt er leise, aber bestimmt. „Egal, wer es ist. Ich schleppe sie durch sämtliche Instanzen der Dienstaufsichtsbehörde und zum Personalrat. Das ist mein Ernst.“
 

Adam lacht und tarnt es als Schnauben. Innerlich ist er gerührt, denn Leo – Meister der aggressionsfreien Kommunikation - versteht sich in der Regel mit absolut jedem gut und löst Konflikte immer sehr friedlich. „Ich steh drauf, wenn du Leuten androhst sie unter Bergen an Bürokratie zu begraben.“
 

„Ach ja?“
 

„Ja.“
 

„Dann mach ich das gerne öfter in deiner Anwesenheit.“

Leos Stimme klingt warm und amüsiert und Adam spürt wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Flirtet Leo mit ihm? Flirtet er mit Leo? Ist das okay? Das ist bestimmt nicht okay.
 

Er räuspert sich, um den Kloß in seinem Hals zu beseitigen. „Du solltest generell viel öfter den bösen Cop spielen.“
 

„Lass mal. Wir wissen doch beide, dass du das viel besser machst.“ Ein Lächeln zerrt an Leos Lippen und er fährt sich mit der Hand über das Gesicht, als versuche er es zu verstecken. Als er die Hand sinken lässt, ist sein Gesicht wieder ernst. „Ich will einfach nicht, dass du dir zu viel zumutest, okay? Niemand erwartet von dir, dass du das einfach so wegsteckst.“
 

„Leo, ich war eine Woche lang zu Hause. Mir fällt die Decke auf den Kopf.“

Das stimmt nicht ganz. Er war die ganze letzte Woche bei Leo zu Hause. Seit er ihn aus dem Gefängnis abgeholt hat und ihn schnurstracks zu sich mitgenommen hat. Adams Vorschlag ihn einfach bei seinem Hotelzimmer abzusetzen kam… weniger gut an („In diesem Rattennest? Vergiss es!“).

Leos Wohnung fühlt sich jetzt schon mehr an wie ein „Zuhause“ als das Haus indem er aufgewachsen ist, es jemals getan hat. Und das ist gefährlich. Denn wo soll das hinführen?

Außerdem kann er ja nicht für alle Ewigkeiten in Leos Bett pennen. Vor allem nicht, wenn Leo dafür auf der Couch schläft. Das fand Adam von Anfang nicht richtig, aber Leo ist ja stur wie ein Maulesel, wenn er will, und er ist skrupellos genug, um es gnadenlos auszunutzen, dass Adam unter den ganzen Schmerzmitteln nur bedingt zurechnungsfähig war und sich nicht wehren konnte.

„Und du kannst nicht viel länger Home-Office machen“, fügt er hinzu, und er merkt, dass er damit einen Nerv trifft.
 

Leos ganzer Körper versteift sich. Etwas zuckt über sein Gesicht, schneller weg, als es gekommen ist, und er wendet den Blick ab. „Mir wäre schon was eingefallen“, sagt er nur.
 

Du kannst auch nicht deinen gesamten Urlaub für mich aufbrauchen, denkt Adam. Aber das sagt er nicht.

Sie sprechen beide nicht über die naheliegendste Möglichkeit. Dass Leo alleine zur Arbeit geht und Adam sich alleine auf der Couch langweilt. Dass sie acht Stunden getrennt voneinander verbringen könnten, so wie normale Menschen.

Aber das ist keine Option. Nicht wirklich.

Und deswegen reden sie nicht darüber.
 

Einen Moment lang betrachten sie die beiden Jungs, die sich eine Käsestange teilen und sich weiter um ihr Comicheft scharen, und dann seufzt Leo und startet den Motor neu. „Okay“, sagt er. „Aber es gibt Regeln, klar?“
 

-
 

Natürlich gibt es Regeln.

Ich verteile die Aufgaben“, sagt Leo auf dem Parkplatz.
 

Adam verkneift sich anzumerken, dass Leo das sowieso immer tut. „Okay.“
 

„Keine Außeneinsätze bis du eine medizinische Freigabe hast. Und wenn ich sage Feierabend, dann ist auch Feierabend.“
 

Sie laufen nebeneinander die Eingangstreppe hoch. Ihre verschwommenen Doppelgänger spiegeln sich in der breiten Glasfront, und einen schwindelerregenden Moment lang sieht Adam dabei zu, wie Leo ihn ansieht, während er Spiegel!Leo ansieht. Dann öffnen sich die Türen.

Dann sind sie drin.
 

Linoleumboden quietscht unter ihren Turnschuhen. Ein paar Stimmen verstummen. Adams Mund wird trocken.

Allen Versicherungen zum Trotz wie egal ihm die Meinung anderer Leute ist, kribbelt es unter seiner Haut wie eine Millionen Ameisen. Sie sehen ihn an und er spürte ihre Blicke, ihre Fragen, ihre erhobenen Augenbrauen. Irgendwo wird getuschelt. In seiner Jackentasche vergräbt er die Fingernägel in den Handballen bis es schmerzt. Er setzt den Blick auf, den Pia immer als „dein Serienkiller-Gesicht“ bezeichnet. Er marschiert einfach geradeaus.
 

Ein paar Leute starren ihn an, aber viele sind auch zu beschäftigt, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Immerhin ist das ein Polizeirevier und kein Kindergarten. Er wird nicht der schlimmste und nicht mal der abgefuckteste Fall sein, der dieses Jahr hier durchflattert. Das wiederholt er im Kopf, bis sein flatternder Puls sich wieder beruhigt.

Nicht der schlimmste. Nicht mal der abgefuckteste.
 

Sobald sich die Aufzugstüren hinter ihnen schließen, greift Leo nach seiner Hand und zieht sie behutsam aus der Tasche.

Widerspruchslos lässt Adam zu, dass Leo seine geballte Faust behutsam öffnet und seine Finger zwischen Adams schiebt. „Es gibt noch eine Regel“, sagt er leise und drückt seine Hand. „Wenn du gehen willst, dann gehen wir.“

Wir. Dann gehen wir.
 

Adam drückt zurück und atmet tief durch. Er schafft das.

Er schafft das.

„Haben sie…“ Er stockt, fährt sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe. „Haben sie es alle gesehen?“ Seine Stimme klingt rau. Kleinlaut. „Das Video?“
 

„Nein“, sagt Leo sofort. „Nein. Nur die Leute, die es sehen mussten.“ Er zögert. „Und die Mädels.“
 

„Und du.“
 

„Und ich.“
 

Adam nickt. Das langsame Auseinandergleiten der Aufzugstüren erspart ihm eine Antwort.

Sie halten immer noch Händchen, und Leo sieht nicht so aus, als ob er ein Problem damit hätte, einfach so durch den Flur zu laufen. Aber Adam – Adam kann nicht über seinen Schatten springen. Noch nicht. Nicht hier.

Leo war immer sein größtes Geheimnis. So viele Jahre. Die verwundbarste Stelle in seinem Herzen, von der sein Vater nie erfahren durfte und deswegen durfte es auch nie jemand anderes erfahren. Es war sicherer so. Besser so.

Seine Finger gleiten aus Leos Hand.
 

Leo lotst ihn durch lange Gänge und an offenen Bürotüren vorbei, seine Hand schwebt über Adams Rücken, ohne ihn zu berühren, und er wirft wachsame Blicke nach links und rechts, als ob er grade einen wichtigen Zeugen zum Gericht begleitet. Als sie endlich in das gläserne Besprechungszimmer kommen, wo ihre Schreibtische stehen, macht er die Tür mit sehr viel Nachdruck hinter sich zu.
 

Esther und Pia lungern an ihren Schreibtischen herum. Der vertraute Geruch von Kaffee und überhitztem Tintenstrahldrucker liegt in der Luft.
 

„Was machst du denn hier?“ fragt Pia. Sie kaut mit offenem Mund ein Croissant, und starrt ihn an wie eine Erscheinung. „Bist du nicht krankgeschrieben? So für ‘nen Monat? Oder ein Jahr?“
 

Adam klopft mit der rechten Hand gegen den Gips an der Linken. „Ich habe eine ärztliche Bescheinigung, dass ich diensttauglich für den Schreibtisch bin.“
 

„Krass. Ich dachte, man kriegt länger frei, wenn man das Opfer eines Justizirrtums war.“ Sie klingt empört und verteilt beim Reden Krümel auf ihrem Schreibtisch. „Und einen Urlaub auf den Bahamas oder so.“
 

Adam zuckt mit den Schultern. „Das Leben ist hart. Ich kriege nicht mal mehr die guten Drogen.“
 

Esther hebt ihren Blick von der Akte, in die sie grade vertieft ist und lässt ihn einmal kurz an ihm entlangwandern. „Siehst aber ziemlich beschissen aus“, bemerkt sie.
 

Er zeigt ihr den Mittelfinger. „Habe dich auch vermisst, Baumann.“
 

Diese lässige Show abzuziehen, kostet ihn sämtliche Energie, die er nicht hat. Vielleicht ist das genau der Grund, wieso Leo ihn nicht hier haben wollte.

Sein Puls hämmert und seine Knie sind weich. Eine Vergiftung, eine Verhaftung, eine Tracht Prügel und eine Notfall-OP, alles innerhalb von 48 Stunden hängen einem doch mehr nach, als das generell behauptet wird.

Unauffällig sieht er sich nach einem Stuhl um.
 

„Bringt mich mal auf den neusten Stand.“ Leos Hand landet auf seinem Rücken, warm und sicher, und dann dirigiert er ihn ohne große Worte hinüber zu der Ledercouch. „Nicht du, Pia. Schluck erstmal runter.“ Und zu Adam sagt er leise: „Setz dich hin.“
 

Adam gehorcht. Er schnappt sich auf dem Weg eine Akte von Pias Tisch, damit es so aussieht, als wolle er nur entspannt arbeiten, bevor er auf die weiche Ledercouch hinabsinkt. Sie schmiegt sich um seinen Körper wie ein Wattekissen.

Erster Teil geschafft. Jetzt haben ihn alle mal gesehen und gesehen, dass er noch lebt.

Mit einem Ohr hört er, wie Esther in kürzester Kurzfassung Updates über alle neuen Fälle gibt. Pia wirft Ideen und mögliche Motive in den Raum.

Adam blättert in der Akte ohne wirklich zu lesen was drinsteht. Seine Augen wandern wie von selbst zu Leo, folgen ihm bei seinen Bewegungen durch den Raum.
 

Pia und Esther bekommen Aufträge und verschwinden zwischendurch. Sie kommen und gehen, liefern Updates und bringen neue Akten oder neue Verdächtige.

Leo bleibt da. Er telefoniert und pinnt Blätter an die Pinnwand. Notiert Dinge in seinem kleinen schwarzen Notizbuch. Wandert nachdenklich auf und ab.
 

Adam blättert drei verschiedene Akten durch ohne zu sehen was drinsteht, aber er ist sicher, dass er durch die Glastür hindurch super beschäftigt aussieht. Seine Hand pocht manchmal dumpf, wenn er sie zu viel bewegt oder sie zu lange nicht bewegt, aber es ist ein erträglicher, banaler Schmerz.
 

Wenn sie alleine sind, sehen sie sich an. Quer durch den Raum hindurch. Adam fühlt es auf seiner Haut wie eine Berührung. Leos Blicke, die ihn abtasten.

Bist du okay?

Adam wirft ihm ein schräges, kleines Lächeln zu oder zieht die Nase kraus, weil er über eklige Tatort-Bilder gestolpert ist.

Alles gut.

Und Leo lächelt. Wenn Leo lächelt sieht man das vor allem um die Augen. Die feinen Lachfältchen, die sich vertiefen. Dann senkt er den Blick und es zuckt um seine Lippen. Und dann ist es, als ob in seinem ganzen Gesicht die Sonne aufgeht.
 

Es gibt nichts auf der ganzen Welt, was Adam so gerne sieht wie Leos Lächeln.

Tausend Dinge gehen ihm durch den Kopf, die er ihm sagen möchte.

Ich habe dich so vermisst.

Danke, dass du an mich geglaubt hast.

Danke, dass du da bist.

Und Dinge, die er noch nie laut ausgesprochen hat. Dinge die nicht mal einen Namen haben, für die er noch keine Worte gefunden hat.
 

Aber zum ersten Mal in seinem Leben fühlt es sich an, als ob ihm nicht die Zeit davonrennt. Leo ist hier. Bei ihm. Und wenn er das nächste Mal aufblickt, wird er immer noch hier sein.
 

Alles in allem läuft der Tag gut, viel besser als erwartet.

Bis zum Nachmittag.

Dann wird es plötzlich hektisch im Büro, Pia und Esther rennen raus und verschwinden eine Weile, Dienstwaffen parat.

Adam kennt diese Stimmung. Eine Verhaftung liegt in der Luft. Leo tigert auf und ab und lauert am Telefon, muss der Erste sein, der erfährt, ob alles gut ist, dass niemand verletzt wurde.

Verhaftungen sind immer riskant. Egal, wie gut man sie plant. Auch Leute, die man vorher als harmlos eingeschätzt hat, können im letzten Moment durchdrehen. Eine Waffe produzieren, die man nicht auf dem Schirm hatte.
 

Adam legt die Akte beiseite, die er grade durchgeblättert hat. Er steht auf und lehnt sich neben Leo an den Schreibtisch, so dicht, dass ihre Schultern sich berühren. Er greift nach Leos Hand, so wie Leo eben im Aufzug. Leo sieht ihn an und drückt zurück, seine Finger schlingen sich dankbar um Adams.

Sie warten gemeinsam.

Und Adam ist froh, dass er hier ist, er ist froh, dass Leo nicht alleine ist. Warten. Alleine warten ist das Schlimmste.
 

Als das Telefon schrillt, stürzt Leo darauf zu. „Hölzer.“ Kurze Pause. Ein Ausatmen, das durch seinen ganzen Körper geht. Seine Finger schließen sich fester um Adams. „Ja. … Ja. … Und das Messer? … Gut. Bringt ihn her. … Den anderen bestellt ihr für morgen … Genau…. Bis gleich.“
 

„Erfolgreiche Jagd?“ fragt Adam.
 

Leo nickt. „Er will eine Aussage machen. Sagt, er braucht keinen Anwalt.“ Beim Reden löst er seine Hand aus Adams und legt sie ihm auf die Taille. Es ist eine winzige, beiläufige Berührung, aber Adam fühlt sich, als würde eine winzige Sonne in ihm explodieren. Hitze und Licht fluten seinen Bauch und er verpasst die nächsten Worte. „…wäre gerne noch dabei, bis das eingetütet ist. Danach können wir sofort nach Hause fahren. Ist das okay?“
 

„Klar.“

Nach Hause.
 

Vielleicht klingt er so atemlos wie er sich fühlt, denn Leo betrachtet ihn forschend. „Nicht zu viel für den ersten Tag?“
 

„Ich bin nicht aus Zuckerguss, Leo.“
 

„Nein“, sagt Leo, leise und ganz ernst. „Du bist bloß mein Lieblingsmensch.“
 

Nur der Stärkste überlebt. Die Harten kommen in den Garten. Nur die Harten gewinnen.

Das hat der Alte immer gepredigt. Stundenlang. Untermalt von Faustschlägen.

Alles Schwachsinn.

Niemand hat Adam je so entwaffnet, ihn so mühelos überwältigt und zerschmolzen wie Leos Sanftheit es tut, jedes Mal aufs Neue.

Was soll man denn darauf erwidern?
 

Es gibt keine Worte, oder wenn es sie gibt, hat er sie nicht.

Also rutscht er ein Stück näher an ihn heran, senkt den Kopf und drückt seine Stirn an Leos Schulter.

Du auch, denkt er. Du auch.

Mein Lieblingsmensch.
 

Ihn hat noch nie jemand so behandelt - wie etwas Kostbares, Verletzliches - und er weiß nicht, wie er sich dabei fühlen soll.

Ein echter Mann muss stark sein. Muss was aushalten. Darf bloß keine Heulsuse sein. Muss einstecken können. Weichheit ist Schwäche.

Das hat der Alte gesagt.

Aber wieso sollte er auf den hören? Der hatte in allem Unrecht.

Der hatte keinen Lieblingsmenschen. Den hat überhaupt niemand geliebt.
 

Adam wünscht sich, dass er das alles irgendwie in Worte fassen könnte. All diese Gedanken und Gefühle, die seit letzter Woche unter der Oberfläche schwimmen und in ihm arbeiten. Es fühlt sich alles so riesengroß und unfassbar kompliziert an.

Und dann kommt Leo und macht das alles so einfach. So simpel.

Ein Wort.

Lieblingsmensch.
 

Leo macht es auch jetzt wieder einfach. Er fährt ihm beiläufig mit der Hand über den Rücken und sagt: „Überleg doch schonmal, was du nachher essen willst.“

Als ob er genau weiß, dass Entscheidungen in dieser Größenordnung die einzigen sind, die Adam derzeit treffen kann.

Essen aussuchen. Das kann er.
 

„Es muss nicht super gesund sein, oder?“ murmelt er.
 

„Ein bisschen gesund reicht.“
 

Wieder fliegt ein Lächeln zwischen ihnen hin und her, konserviertes Sonnenlicht, das die Luft zwischen ihnen erwärmt.

Das ist echt, denkt Adam verwundert. Das ist echt und das ist meins. Und der Alte kann es nicht kaputt machen.

Er kann nie wieder was kaputt machen.
 

-
 

Der Verdächtige ist ein mausiger, kleiner Typ mit langen Haaren. Er ist jung, unglaublich jung, trägt eine dicke Goldkette und schlottert in seinen viel zu weiten Hosen. Laut Esther ist er definitiv schuldig, denkt er könne sich irgendwie rausreden, aber wird jeden Moment einknicken. „Eine Stunde“, sagt sie. „Höchstens.“

Sie sehen dabei zu, wie Leo ihn ins Verhörzimmer begleitet.

„Ich gebe ihm bis Mitternacht.“ Pia kaut auf einem Schokoriegel. „Der ist zäher als man denkt.“

„Zwei Stunden“, sagt Adam. „Leo schafft das früher.“
 

Sie trinken Kaffee und sehen durch die Glasfenster Leo beim Arbeiten zu. Okay, vor allem Adam sieht zu. Esther und Pia tippen zwischendurch ihre Berichte ab. Aber sogar, wenn er was zu tun hätte, würde Adam zusehen.

Leo ist einfach gut in seinem Job. Gott, er ist SO gut. Es ist einfach eine Freude dabei zuzusehen.

Er wirkt so nett, entgegenkommend. Harmlos. Er hört zu, nickt, macht sich ab und zu eine Notiz. Und dann sagt der Verdächtige irgendwas, eingelullt von Leos höflicher, ruhiger Art, und Leos Augen werden scharf. Der Laserfokus ist an. Und Adam hat beinah ein wenig Mitleid mit dem Typen, der nun von präzisen Fragen pulverisiert wird und auseinandergenommen wird, bis er ins Schwitzen gerät und anfängt zu stottern. Sieht zu wie er sich in Widersprüche verheddert. Und dann wird Leo wieder ganz nett, ganz hilfsbereit.

Ich will dir ja glauben, ehrlich, aber ich versteh das nicht ganz. Erklär es mir doch nochmal genau, wie das Messer in deine Wohnung gekommen ist…

Es ist jedes Mal aufs Neue beeindruckend.
 

Genauso wie Leos Rückenansicht. Die breiten Schultern. Das gekreuzte Holster. Adam wird nie darüber wegkommen, wie perfekt sich das Holster an Leos Schultern schmiegt.
 

„Gleich hat er ihn soweit“, murmelt Esther, die mit dem Schreibtischstuhl neben ihn gerollt ist. „Uuund da ist mein Stichwort.“ Leo hat die Arme hinter den Kopf gelegt und die Hände im Nacken gefaltet.

Sie angelt nach einem Stapel Papier und steht auf.
 

„Ich mach das“, sagt Adam.
 

Esther zögert und tauscht einen Blick mit Pia. Pia schüttelt den Kopf.
 

„Was soll schon passieren?“ fragt Adam verärgert. „Denkst du, ich schneide mich am Papier?“ Leo ist sein Partner. Er ist derjenige, der da reingeht. Punkt.
 

Esther verdreht die Augen. „Meinetwegen. Aber wehe ich kriege Stress deswegen.“
 

Sie drückt ihm die Papiere in die Hand. Triumphierend macht sich Adam auf den Weg.

Er will dabei sein, wenn Leo die Angel einholt.
 

Er klopft nicht. Es wirkt echter und zielstrebiger, wenn man nicht klopft. Mit ernstem Gesicht und dem Stapel in der Hand betritt er den Raum. „Hauptkommissar Hölzer?“ Er berührt Leo an der Schulter und beugt sich zu ihm hinunter.

Leo neigt ihm den Kopf zu. Falls er überrascht ist ihn statt Esther zu sehen, lässt er es sich nicht anmerken.
 

„Pizza“, flüstert Adam ganz dicht an seinem Ohr. „Mit Oliven. Zwiebeln. Pilzen. Artischocken.“
 

„Wirklich“, sagt Leo laut. „Vom Staatsanwalt?“ Er nimmt den Stapel entgegen, den Adam ihm hinhält.
 

„Wenn du dich beeilst“, haucht Adam, „gewinne ich dreißig Mäuse. Ich bin bereit zu teilen.“
 

„Interessant. Danke für die Information.“ Leo ist Profi und durch nichts zu erschüttern.
 

Adam erhebt sich wieder und eine winzige Sekunde treffen sich ihre Blicke.

Adam lächelt. Leo bleibt ganz ernst, aber es funkelt in seinen Augen.

Und Adam verlässt das Zimmer.
 

Es dauert keine zehn Minuten, bis der Typ einknickt.

Pia stöhnt als die Tür aufgeht und Leo sie zu sich winkt. „Mist. Kann ich es dir morgen geben? Ich bin grade echt blank…“
 

Adam winkt ab. Das Geld ist ihm nicht so wichtig wie die Tatsache, dass Leo jetzt früher Feierabend hat und mit ihm nach Hause fahren kann.

Erleichtert greift er nach seiner Jacke. Den ganzen Tag über hat er nicht wirklich was runtergekriegt und jetzt hat er so einen Hunger, dass ihm langsam flau wird.

Esther und Pia laufen voraus und er folgt ihnen mit ein bisschen Abstand. Das Großraumbüro hat sich geleert. Die Ersten sind schon im Feierabend, einige sind noch unterwegs, und der Spätdienst ist noch nicht eingetrudelt. Adam beschleunigt seine Schritte.
 

Leo steht in der Tür und winkt Esther zu sich. Sein Gesichtsausdruck ist ruhig, professionell. Der mausige Typ steht mit hängenden Schultern neben ihm. Er wirft panische Blicke um sich und sieht aus, als ob nur Leos Hand auf seinem Arm ihn davon abhält zu fliehen.
 

Esther liest ihm seine Rechte vor. Leo dreht den Typen zu sich um.

Handschellen blitzen auf.
 

Adam wird langsamer. Seine Kehle fühlt sich plötzlich sehr eng an.
 

Aus weiter Ferne schwappt Leos Stimme an seinen Ohren, während dem Typen Handschellen anlegt. „… muss leider sein... Reine Formalität… im Gebäude…“

Leo stolpert über die Worte. Er bricht ab, blinzelt. Quer über den Flur hinweg starrt er Adam an. Adam starrt die Handschellen an. Dann Leo.

Etwas in Leos Gesicht verändert sich und die Maske aus Professionalität zerbricht.

Esther sagt etwas.

Leo reagiert nicht. Seine Hände sinken lose nach unten. Adam sieht es wie in Zeitlupe.
 

Plötzlich ist Adam wieder am See. Wind braust in den Bäumen. Kaltes Metall um seine Handgelenke. Das endgültige Klicken mit dem es einrastet. Leos Gesicht. Leos Gesicht.

Hände, überall Hände. Auf seinen Armen, seinem Rücken. Sie führen ihn ab. Er ist gefangen, gefangen.

Ein Bulle im Knast. Das würde dem Alten gefallen.

Im Gefängnis wartet noch eine Überraschung auf dich.

Er kriegt keine Luft mehr.
 

Die Handschellen landen auf dem Boden. Das Scheppern holt ihn zurück in die Wirklichkeit.
 

Adam taumelt. Mit zitternden Fingern tastet nach der Wand. Sekundenlang ist er desorientiert.

Pias und Esthers Stimmen gehen unter in dem Dröhnen in seinen Ohren. Der Boden schwankt unter ihm wie ein untergehendes Schiff.

Leo, denkt er benommen. Leo?
 

Und dann steht Leo vor ihm, leichenblass, die Augen riesengroß und schwarz, und er greift nach Adams Arm. Er sagt etwas, und wartet nicht auf die Antwort. Er zieht Adam mit sich und Adam lässt es ohne Widerrede geschehen.
 

Computerbildschirme und leere Schreibtische flackern an ihm vorbei. Sie bewegen sich entweder sehr schnell oder sehr langsam, er weiß es nicht. Der Weg ist endlos und gleichzeitig sehr abrupt vorbei. Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss und dann sind sie in ihrem Büro. In Sicherheit.
 

Leo zieht ihn fort von der voyeuristischen Glaswand, hinein in die Sicherheit einer dunklen Ecke. Er dreht sich zu ihm um und schlingt beide Arme um ihn.

„Shit“, flüstert er. „Shit… Adam… es tut mir so leid…“

Seine Stimme bricht. Er zittert am ganzen Körper.
 

Ich denke nur, dass es zu früh ist.
 

Leos Stimme von heute Morgen hallt in seinem Kopf wider, und Adam hält ihn ganz fest.

Er ist so ein Idiot.
 

Vielleicht war es zu früh für ihn. Vielleicht auch nicht.

Aber es war definitiv zu früh für Leo.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Memphis
2022-04-27T17:48:39+00:00 27.04.2022 19:48
So schön, mal wieder was von dir zu lesen! <3

Auch wenn ich kein Tatort-Zuschauer bin, hatte ich das Gefühl, ich konnte gut folgen und vor allem fand ich die Beziehungsdynamik wundervoll beschrieben. :)


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