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Eine Wilde Jagd

19. September 2022 - Ein Beitrag zur Goldenen Fanficzeit
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Eine Wilde Jagd

Normalerweise neigte er nicht dazu, am helllichten Tag durch die Nachbarschaft zu skaten, aber heute machte Joe eine kleine Ausnahme. Diese hatte zugegebenermaßen in erster Linie mit seinem Publikum zu tun. Er wusste nicht, wo die hübsche Blondine auf einmal hergekommen war, doch sie hatte plötzlich einfach hinter ihm gestanden und mit großen Augen das Skateboard in seiner Hand angestarrt. Und wer war er denn, dass er sich so eine Gelegenheit entgehen ließ?

 

Entspannt wich er einem Gullideckel aus, warf dem, ihm gut bekannten, Kalligrafiestudio einen kurzen Seitenblick zu und setzte schließlich zu einem Ollie an, um das Skateboard von der Straße auf den Fußweg zurück zu befördern. Es war kein großer Sprung, nicht einmal ein sonderlich komplizierter, doch es reichte, um die junge Frau zum Jubeln zu bringen.

 

Ihre Augen funkelten, als er das Skateboard schließlich vor ihr zum Stehen brachte. „Wow, du bist so cool!“, rief sie und lehnte sich ihm entgegen. Joe genoss die Aussicht auf ihr Dekolleté und schenkte ihr ein Lächeln. „Wenn du willst, können wir zusammen was trinken gehen“, schlug er vor, während er mit dem linken Fuß auf den Tail seines Skateboards trat. Die Nose schnellte nach oben, er zog seinen rechten Fuß zurück und fing das Board lässig mit der Hand. „Ich kenne da zufällig ein ganz reizendes Restaurant.“

„Japanisch?“, fragte sie, in der Stimme einen dicken amerikanischen Akzent, den er eigentlich ganz niedlich fand.

„Italienisch“, entgegnete er. „Aber ich kenne auch ein paar gute einheimische Restaurants. Magst du Ramen?“

Sie leckte sich über die knallrot geschminkten Lippen. „Furchtbar gerne. Aber bevor wir essen gehen, muss ich unbedingt diesen Sprung ausprobieren.“

Einen Moment lang glaubte Joe, er habe sich verhört. Die Kleine wollte bitte was?

„Du willst einen Ollie ausprobieren?“, fragte er ungläubig.

Sie nickte. „In Chicago bin ich oft mit dem Skateboard gefahren.“

Joe bezweifelte das. Wäre sie wirklich eine Skaterin, er hätte sie kaum mit einem einfachen Ollie beeindrucken können. Doch noch während er überlegte, wie er ihr die Schnapsidee wieder ausreden konnte, nahm sie ihm das Skateboard aus der Hand, ließ es zu Boden sinken und setzte elegant einen Fuß auf sein Deck. Joe öffnete den Mund. Mit Plateauschuhen auf ein Skateboard zu steigen, schien ihm auch nicht besonders clever zu sein.

Die Kleine verlagerte ihr Gewicht auf den vorderen Fuß und spielte unschuldig mit einer Haarsträhne. „Keine Angst, du kriegst es gleich zurück“, säuselte sie.

Joe ließ den Blick an ihr hinabgleiten und blieb schließlich damit an seinem Board hängen. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, wagte er den Widerspruch.

Sie lachte. „Du bist süß, aber mir passiert schon nichts.“ Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht und stieg endgültig auf sein Skateboard. „Siehst du? Ich habe das perfekte Gleichgewicht.“

Joe öffnete den Mund, bereit, ihr zu sagen, dass so ziemlich jeder auf einem Skateboard stehen konnte und das sie mit den Schuhen vermutlich selbst als erfahrene Skaterin stürzen würde, wenn sie damit zu fahren versuchte, doch seine neue Bekanntschaft war schneller. Lachend nahm sie den hinteren Fuß vom Deck, stellte ihn auf den Boden und stieß sich einmal kräftig ab.

Sein Skateboard machte einen Satz nach vorne. Sie zog den Fuß nach oben, verfehlte die Idealposition deutlich und rammte ihn schließlich mit Wucht auf den Tail. Das Board reagierte sofort. Die Nase ging nach oben, die Kleine wackelte mit den Armen in der Luft und kippte mit einem Schrei nach hinten.

Ein lautes „Ratsch“ ertönte, während sie unsanft auf dem Hintern landete.

Eilig lief Joe zu ihr. „Ist alles in Ordnung?“, wollte er wissen.

Sie rieb sich den Po. „Aua“, stöhnte sie, „Ich glaube, dein Board ist nicht richtig ausbalanciert.“

Widerwillig hielt Joe ihr die Hand entgegen. Die Behauptung war natürlich blanker Unsinn. Sein Board war für seine Bedürfnisse perfekt ausbalanciert und wenn sie etwas anderes wollte, musste sie eben mit ihrem eigenen Skateboard Ollies üben gehen. „Apropos Board“, entgegnete er, während er die junge Frau zurück auf die Beine zog, „Wo ist es überhaupt?“

 

Einen Moment lang starrte sie ihn an und er starrte etwa genauso ahnungslos zurück. Dann begannen sie sich synchron umzusehen. Weit konnte es ja nicht gekommen sein. Vielleicht war es ein Stück die Straße hinuntergerollt, oder es lag wie eine Schildkröte an der nächsten Hauswand auf dem Rücken. Oder aber -

Joe hob den Blick und erstarrte.

 

Es dauerte ganze vier Sekunden, bis die Kleine bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war und dann noch mal drei, bis sie auf die glorreiche Idee kam, in die gleiche Richtung zu gucken wie er.

„Oh“, lautete ihr Kommentar dazu.

„Oh“, echote Joe, den Blick nach wie vor auf das skateboardförmige Loch in der ansonsten tadellosen Schiebetür gerichtet.

 

Er war ein toter Mann.

 

Neben ihm schluckte es schwer. „Das ist eine klassische Schiebetür“, murmelte seine neue Bekanntschaft, „Die sind sicher teuer. Weißt du, ähm … Mir fällt gerade ein, dass mein Flug in ein paar Stunden geht und ich muss noch zum Check-in und zur Gepäckkontrolle …“ Joe drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, während sie einen eiligen Schritt zurückmachte, „Du weißt, wie lange es immer dauert, bis man ohne Piepen durch den Metalldetektor kommt. Ich äh … Kann wirklich unmöglich warten. Wenn du je nach Chicago kommst, ruf mich aaaan!“

 

Er starrte ihr nach. Für jemanden mit Plateauschuhen war sie wirklich überraschend schnell und ziemlich unverfroren. Sie hätte sich wenigstens gemeinsam mit ihm für das Loch entschuldigen können. Joe atmete tief durch. Irgendwie konnte er ihre Reaktion aber auch verstehen. Wäre da nicht sein Skateboard, er wäre vermutlich auch gerannt.

Langsam und bedächtig schlich er auf die Shoji-Tür zu.

Je näher er kam, desto offensichtlicher wurde, dass seine amerikanische Freundin wirklich gut getroffen hatte. Das Loch war genau auf Kopfhöhe. Er konnte den Tisch im Inneren sehen, die zweifarbigen Tatamimatten auf dem Boden und - natürlich - Kaoru, der, den Pinsel noch in der Hand, ungläubig in die frisch entstandene Lichtquelle blinzelte.

„Was war das?“, hörte er ihn fragen.

„Ein Skateboard, Master“, antwortete CARLA, seine K.I.

Joe räusperte sich und klopfte vorsichtig gegen den Holzrahmen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Hallo Kaoru“, begann er, „Es tut mir leid wegen deiner Tür, aber da war diese Kleine und sie wollte unbedingt einen Ollie ausprobieren …“

Kaoru erhob sich langsam, strich sich den dunkelblauen Kimono glatt und trat zu ihm an die Tür. Stoisch blickte er durch das Loch zu ihm nach draußen. „Ich sehe niemanden“, stellte er schließlich fest.

Joe schluckte. „Ja … also … sie ist“, begann er und zeigte etwas hilflos in die Richtung, in die sie eben noch verschwunden war.

Kaoru beobachtete sein Tun mit einer gewissen Skepsis. „Weggelaufen?“, fasste er die Bewegung schließlich in Worte.

Joe nickte. „Weggelaufen“, bestätigte er.

„Fein. Gib mir ihren Namen, dann schickt CARLA ihr die Rechnung.“

 

Joe öffnete den Mund, halb bereit der Forderung seines Freundes nachzukommen. Es gab nur ein winziges Problem dabei. Unwirsch fuhr er sich mit der Hand durch die dunkelgrünen Haare und legte sie schließlich peinlich berührt in seinen Nacken.

„Also, weißt du …“

„Du weißt ihren Namen nicht“, stellte Kaoru ungerührt fest.

Unter anderen Umständen hätte sich Joe darüber gefreut, dass sein Freund ihn so gut kannte, dass er diese Peinlichkeit nicht laut aussprechen musste, doch mit Blick auf die Situation zog er es vor, lieber reumütig zu nicken.

„Es tut mir leid.“

Sein Gegenüber seufzte. „In Ordnung, dann gib mir ihre Telefonnummer.“

Joe schluckte schwer.

„Ihre E-Mail? Ihren Line-Account? Die Adresse?“

„Sie äh wohnt in Chicago.“

„Chicago, Illinois“, nutzte CARLA die Gelegenheit, um sich in das Gespräch einzumischen, „Drittgrößte Stadt der USA. Die aktuelle Einwohnerzahl beträgt etwa 2.746.388 Menschen. Die Chance, eine bestimmte namenlose Person in Chicago zu finden, liegt folglich bei unter 1 %.“

Joe stieß ein leises Knurren aus. „Danke CARLA“, entgegnete er gereizt. Diese Information hatte er gerade wirklich nicht gebraucht und überhaupt mochte er es nicht, wenn die Blechbüchse sich in seine Unterhaltungen einmischte.

Ihm gegenüber strich sich Kaoru beiläufig eine rosafarbene Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie musste sich irgendwann aus seinem Zopf gelöst haben. „CARLA, bestell mir eine neue Tür-Bespannung“, befahl er, „Und leg eine Rechnung auf den Namen Kojiro Nanjo an.“

Ja, Master“, entgegnete die K.I. „Eine Türbespannung, weiß, matt, ohne Fasern, reißfest, zwanzig Meter für 40628 Yen. Betrag zahlbar binnen 14 Tagen nach Erhalt der Rechnung. Zahlen Sie mit VISA oder Mastercard?

„Mit … He Moment mal!“, unterbrach sich Joe selbst, „Wieso sollte ich 40000 Yen für deine dämliche Tür bezahlen?“

„Weil dein Skateboard sie kaputtgemacht hat.“

„Mein Skateboard hat ein ganz kleines Loch in deine Tür gerissen. Und ja, die Neubespannung bezahl ich dir, aber es reicht ja wohl, wenn du dieses eine Rechteck neu bespannst und nicht gleich deine ganze Tür!“

Kaoru schüttelte den Kopf. „Meine Tür ist jeden Tag der Sonne ausgesetzt. Das bedeutet, das Papier verfärbt sich im Laufe der Zeit. Wenn ich nur die eine Stelle austauschen lasse, habe ich für den Rest des Jahres einen weißen Fleck auf Augenhöhe in meiner Eingangstür. Das kann ich meinen Kunden unmöglich zumuten.“

Joe stemmte die Hände in die Hüften. „Als würde das einer von denen merken“, behauptete er, „Nimm wenigstens eine billigere Bespannung. Ich führe ein Restaurant, keine Bank!“

„Laut meiner Recherche ist das, dass günstigste Angebot zu den notwendigen Konditionen“, versicherte CARLA, doch Joe dachte gar nicht daran, der Blechbüchse darauf zu antworten.

„Du könntest eine geringere Dicke nehmen“, schlug er Kaoru stattdessen vor, „Oder sagte deine Blechdose nicht „reißfest“? Ich bezweifle, dass deine Bespannung im Augenblick reißfest ist.“

„Nein, das ist sie nicht“, gab Kaoru zu, „Allerdings bestand dafür auch nie die Notwendigkeit.“

Joe atmete tief durch. „Das tut sie immer noch nicht“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Die Tatsache, dass ich dich sehe, obwohl du immer noch vor meiner Tür stehst, lässt mich zu einem anderen Ergebnis kommen.“

„Wenn du mich nicht sehen willst, nimm vielleicht einfach mal die Brille ab!“

Kaorus Blick verfinsterte sich. „Wie war das?“, zischte er und einen Moment lang hätte Joe nichts lieber getan, als seinem Gegenüber an die Gurgel zu gehen. Von allen Menschen, die er kannte, war Kaoru der Einzige, der es in einem kurzen Gespräch schaffte, ihn derart auf die Palme zu bringen. Nur das ihn das heute kein bisschen weiter brachte.

Er zählte innerlich bis zehn, dann atmete er tief durch.

„Fein, fein. Ganz ruhig, Kaoru“, versuchte er auch sein Gegenüber davon abzuhalten, sich weiter aufzuregen, „Was hältst du davon, wenn wir das auf die altmodische Art lösen? Wir veranstalten ein Beef, heute Nacht, und wenn du gewinnst, bezahle ich dir deine Bespannung mit allen Extras, die dir und der Blechbüchse in den Sinn kommen. Aber wenn ich gewinne, dann ist die Sache ein für alle Mal vom Tisch und wird als kleiner Unfall einer unvorsichtigen Touristin gewertet.“

Kaoru nickte. „Einverstanden“, erwiderte er.

 

Joe atmete auf. Das waren gute Nachrichten. Kaoru war kein einfacher Gegner, aber das war er bekanntermaßen auch nicht. Und er würde den Teufel tun, kampflos 40000 Yen in Kaorus Ladenfront zu investieren.

„Einverstanden“, echote er, „Dann gib mir jetzt mein Skateboard.“

Kaoru schüttelte den Kopf. „Bedaure.“

Fassungslos starrte Joe ihn an, doch wenn Kaoru das bemerkte, zeigte er es nicht.

„Dein Skateboard ist das Tatwerkzeug“, erklärte er, so ruhig, als wäre er gerade mitten in einer seiner Kalligrafie-Stunden, „Solange die Sache nicht abschließend geklärt ist, werde ich es als Beweismittel behalten.“

„UND WIE SOLL ICH DANN GEGEN DICH ANTRETEN?!“, platzte es aus Joe heraus. Am allerliebsten hätte er Kaoru geschüttelt, doch der Rest der Schiebetür hielt ihn glücklicherweise davon ab.

„Ich würde sagen, du solltest dich nach einem geeigneten Ersatz umsehen.“

„Kaoru!“, entfuhr es Joe noch einmal, doch dieser wandte sich bereits von ihm ab.

„Ich seh dich dann um Mitternacht.“

 

 
 

****

 

Auf dem Gelände der alten Mine war so viel los wie eh und je. Skater aller Altersstufen standen in kleinen Grüppchen zusammen oder zeigten ihre Moves. Hier und da kreischte jemand seinen Namen, doch insgesamt waren es weniger Stimmen als sonst. Was sicher in erster Linie daran lag, dass er zu Fuß unterwegs war.

Joe biss die Zähne zusammen. Die Tatsache, dass Kaoru sein Skateboard einbehalten hatte, setzte ihm mehr zu als die offene Rechnung. Sie kannten einander seit Jahren, und eigentlich hatte er erwartet, dass Kaoru auf ihre Freundschaft vertraute. Doch manchmal war Kaoru eben ein sturköpfiger Idiot, der seinem Kopf stets den Vorzug vor seinen Gefühlen gab. Wahrscheinlich sollte er nichts in die Sache hineininterpretieren. Wahrscheinlich sollte er einfach auf ihre Freundschaft vertrauen. Doch das änderte nichts daran, dass Kaorus Entscheidung an ihm nagte. Das und die Tatsache, dass er immer noch kein Ersatzboard gefunden hatte.

 

Der Wind trieb Shadows Stimme zu ihm hinüber. Scheinbar war der andere Skater heute wieder voll in seinem Element. „Ich bin kein Taxi!“, hörte Joe ihn schreien. Instinktiv wandte er sich in die Richtung aus der Shadows Vorwurf gekommen war und versuchte einen Blick auf dessen orangefarbenen Irokesen zu erhaschen. Man konnte von Shadow ja halten, was man wollte, aber unauffällig war er nun wirklich nicht.

Langsam machte er ein paar Schritte in die Richtung, wich knapp einem Typen mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze aus und dann sah er auch schon den Grund für Shadows Ärger. Scheinbar war er heute mit dem Auto gekommen. Die Aufschrift „Tulip Blumenhandel“ hatte er großflächig mit braunem Paketklebeband überklebt, doch die aufgemalten Tulpen auf dem rosafarbenen Kleinwagen verrieten trotzdem recht genau, woher er den Wagen hatte.

Neben dem Auto stand Shadow, schäumend vor Wut und bereit, jeden auf die Hörner zu nehmen, der es wagte, sich sein ungewöhnliches Gefährt allzu offensichtlich anzusehen. An einem anderen Tag hätte Joe vielleicht sein Glück mit ihm versucht, doch heute hatte er wirklich schon genug Ärger. Neugierig blickte er erst nach links und dann nach rechts, bis er ein paar ihm sehr bekannte, blaue Haare zwischen den Zuschauern entdeckte.

„Langa!“, rief er und tatsächlich drehte sich der Teenager zu ihm um.

„Hmm?“

„Hast du Reki mitgebracht?“

Langa nickte und zeigte zu Shadow hinüber. Erst jetzt fiel Joe auf, mit wem dieser so leidenschaftlich stritt. Einen Moment lang starrte er auf die Kapuze von Rekis gelbem Sweatshirt, dann setzte er sein bestes Lächeln auf und winkte den beiden Streithähnen. „Reki! Shadow!“, rief er und schaffte es tatsächlich, deren Disput für den Augenblick zu beenden.

Neugierig kamen beide zu ihnen hinüber.

„Du musst mir helfen“, eröffnete Joe kaum das Reki neben ihm zum Stehen gekommen war. Shadow verzog das Gesicht.“ Dem ist nicht mehr zu helfen“, stichelte er, doch Joe ignorierte den Einwurf königlich. Wenn Shadow provozieren wollte, bitte, aber er hatte gerade Wichtigeres zu tun.

„Leih mir dein Skateboard.“

„Hä?“, kam die reichlich verdutzte Antwort des Jungen.

Joe schenkte ihm ein Lächeln. „Du hast mich schon richtig verstanden“, erklärte er, „Leih mir dein Skateboard für ein Beef. Ich lad euch auch zu meiner Siegesfeier ein.“

„Machst du Frucht-Sandwichs?“, platzte es aus Shadow heraus, „Poutine?“, fiel ihm Langa von der anderen Seite aus ins Wort. „Ramen?“, erkundigte sich Reki.

Joe schüttelte den Kopf. „Euch ist schon klar, dass ich ein italienisches Restaurant führe?“, fragte er die Drei. „Aber ja, meinetwegen. Ich mach euch das alles, aber dafür leihst du mir dein Board.“

„Abgemacht“, antwortete Langa an Rekis Stelle, was diesen dazu brachte, seinen Freund mit dem Ellenbogen zu stupsen. „Eh, verleih nicht einfach mein Skateboard!“, fuhr er ihn an, doch Langa ignorierte diesen Einwurf stoisch. "Japanisch ist eben kompliziert", setzte er zu seiner Verteidigung an.

Joe zuckte mit dem Schultern und griff nach Rekis Board. „Ich verspreche, ich bring es dir in einem Stück zurück.“

„Das hoffe ich doch“, platzte es aus Reki heraus. „Ich habe gestern erst neue Räder aufgezogen und die Kratzer auf dem Deck entfernt. Ich hab noch nicht mal eine Testfahrt damit machen können.“

„Ich werde vorsichtig damit umgehen.“

„Das hat er bezüglich meines Lieblingspinsels auch gesagt“, ertönte eine tadelnde Stimme hinter ihm.

Langsam drehte sich Joe um. „Da war ich elf!“, schnappte er zurück und musterte seinen Gegner.

Kaoru hatte seinen dunkelblauen Kimono gegen den üblichen Hakama getauscht, den er für Rennen zu tragen pflegte. Er hatte die Haare höher gebunden und die Brille gegen Kontaktlinsen ausgewechselt. Eine Sicherheitsmaßnahme, die er seit der dritten kaputten Brille zu treffen pflegte. In der Hand hielt er Joes Skateboard.

„Hast du es dir noch mal überlegt?“, entwich es Joe hoffnungsvoller, als er eigentlich klingen wollte, doch Kaoru schüttelte den Kopf. „Du kannst es nach dem Rennen wieder haben“, erklärte er. „Sobald CARLA deine Kreditkartennummer aufgenommen hat.“

Joe knirschte mit den Zähnen. „Fein“, schnappte er, „Wie du willst. Ich habe mir ohnehin gerade ein gutes Skateboard ausgeliehen.“

Kaoru schenkte Reki einen mitfühlenden Blick. „Du weißt, du musst das nicht machen“, erklärte er ihm.

„WAS SOLL DAS DENN HEIßEN?!“, platzte es aus Joe heraus. „Hör gefälligst auf, dich in meine Abmachungen einzumischen!“

„Ich habe lediglich einem jüngeren Skater einen guten Rat gegeben!“, zischte Kaoru zurück.

„Seit wann ist es ein guter Rat, dass er mich nicht unterstützen soll?!“

Shadow drängte sich zwischen sie und schaffte es so, ihren aktuellen Zwist zu beenden. „Wenn ihr heute ein Beef austragen wollt, solltet ihr jetzt zum Start gehen.“

Kaoru nickte und drückte ihm spontan das fischförmige Skateboard in die Hand. „Halt das kurz für mich“, wies er ihn an und stolzierte hocherhobenen Hauptes in Richtung Start davon. Shadow starrte das Skateboard in seinen Händen an. Normalerweise hätte er jetzt sicher gebrüllt, dass er nicht die Garderobe war, doch Kaoru war bereits über alle Berge und Joe blieb nicht die Zeit jetzt auch noch mit Shadow zu verhandeln.

„Mach mir ja keine Dellen rein“, warnte er den Anderen scherzhaft, dann folgte er seinem Gegner zum Startpunkt.

 

 
 

****

 

Das erste Startlicht leuchtete bereits orange, als er sich neben Kaoru stellte. Dieser stützte sich mit der linken Hand auf sein Skateboard und warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu. „Du weißt, dass es nicht gut ist, ein Rennen auf einem unbekannten Skateboard zu fahren“, erinnerte er ihn. „Du kannst nicht erwarten, dass es sich exakt so wie deines verhält.“

Gerne hätte Joe ihm entgegen gegrollt, dass er kein unbekanntes Board brauchen würde, wenn Kaoru nicht so verdammt kleinlich wäre, doch stattdessen nickte er knapp und ließ die Jacke von seinen Schultern gleiten.

Kalte Nachtluft strich über seine nackten Schultern. Ein angenehmes Gefühl.

Langsam lehnte er sich nach vorne, ließ die hinteren Rollen des Skateboards auf den Boden sinken. Das zweite Licht flammte auf. Hinter ihm kreischten ein paar Mädchen „Cherry“ und sein Fanclub hielt einem lang gezogenen „Joe“ dagegen. Das dritte Licht flackerte auf. Einen Augenblick lang fragte sich Joe, ob die Mädchen auch kreischen würden, wenn sie wüssten, worum es heute ging? Dann endlich erwachte auch das vierte Licht zum Leben und die wilde Jagd begann.

 

Joe machte einen Satz nach vorne und sprang auf das Board. Kaoru hatte recht, es fuhr sich nicht genau wie seines, doch das Gefühl war ähnlich genug. Er zischte eng durch die erste Kurve, doch Kaoru zog links an ihm vorbei. „Ich habe dir schon oft gesagt, dass du deutlich schneller wärst, würdest du die Kurven effizienter nehmen“, rief er ihm von der Seite aus zu.

Joe beugte sich nach vorne, um den Luftwiderstand zu verringern und nahm seinerseits mehr Fahrt auf. Er war nicht hier, um sich abhängen zu lassen. Rekis Board quittierte seine Mühen mit einem leisen Knacken. Die Räder drehten sich schneller. Er holte wieder auf. Sie jagten durch die zweite Kurve, durch die dritte und hielten schließlich auf die vierte, steilere zu.

„CARLA, berechne den Winkel“, hörte er Kaoru befehlen, doch die Antwort der K.I. interessierte Joe nicht. Er holte Schwung und sprang. Sein linker Fuß knallte gegen blanken Stein. Joe spannte die Muskeln an und stieß sich mit voller Kraft vom Felsen ab. Krachend landete das Skateboard wieder auf der Spur, fuhr jetzt, wenn möglich, noch schneller. Joe erlaubte sich ein Lächeln, mit seinem Power Break war er geradewegs an Kaoru vorbeigezogen.

 

Die Skater am Streckenrand jubelten ihm zu. Die Meisten von ihnen schätzten einen gelungenen Stunt. Doch es dauerte gar nicht lange, da hörte er bereits wieder das leise Surren des elektrisch modifizierten Skateboards. Joe versuchte sich breitzumachen, wollte unbedingt verhindern, dass Kaoru noch einmal an ihm vorbeizog, doch bereits in der nächsten Kurve hatte er erneut das Nachsehen.

Ärgerlich beugte er sich nach vorne, umfasste die Seiten des geliehenen Boards, spannte die Muskeln an und stemmte sich nach oben. Lang nach hinten ausgestreckt, war der Luftwiderstand geringer und er wurde deutlich schneller, zumindest solange seine Armmuskeln es schafften, sein Körpergewicht zu halten. Das Skateboard nahm weiter an Fahrt auf. Er kam Kaoru wieder näher, der inzwischen scheinbar auf Longboard umgestiegen war.

Einen Moment lang waren sie exakt auf gleicher Höhe und Joe erlaubte es sich einen finsteren Blick zur Seite zu werfen. Sie hatten nicht geklärt, was sie tun würden, würde das Rennen in einem Gleichstand enden, doch so wie er Kaoru kannte, würde er wohl eine Wiederholung fordern und dann würden sie die Strecke wieder und wieder abfahren, solange bis es endlich einen eindeutigen Sieger gab.

Unter anderen Umständen hätte er das vermutlich witzig gefunden, doch dieses Mal stand dafür eindeutig zu viel auf dem Spiel. Joe konzentrierte sich auf das Brennen in seinen Armen. Er konnte die nächste Kurve bereits erkennen und wusste spätestens dann musste er sich wieder aufrichten.

„Empfehle Standardform“, verkündete CARLA und gab damit auch für ihn das Zeichen, die Füße wieder auf das Deck zu bringen. Vielleicht konnte er ja noch einen Power Break riskieren und damit erneut einen Vorsprung herausholen. Die Kurve sah grundsätzlich geeignet aus.

Kurzentschlossen hielt Joe auf die Felsen zu, holte Schwung und sprang. Sein Fuß traf den Stein in einem etwas anderen Winkel als beim ersten Mal. Doch er hatte den Trick oft genug ausgeführt, um zu wissen, dass das für seine Zwecke völlig ausreichend war. Einen Moment lang genoss er das Gefühl, in der Luft zu sein, dann landete das Skateboard hart auf dem Boden. Joe verlagerte sein Gewicht nach vorne, lauschte mit einem halben Ohr dem Jubel der Zuschauer, dann vernahm er ein leises Pling. Das Publikum verstummte schlagartig, sein Skateboard begann zu rattern, neigte sich ungewohnt weit nach rechts und plötzlich segelte er ein zweites Mal durch die Luft.

„Joe!“, hörte er Kaoru hinter sich.

Der Stoff seiner Jacke spannte sich, ein kräftiger Ruck fuhr durch seinen Körper, dann fiel er nach hinten, krachte gegen etwas Schweres und landete schließlich unsanft auf dem Hintern.

„Ohhh“, entfuhr es ihm.

„Au“, kam es von unten, „Geh runter von mir!“

 

Eilig rappelte sich Joe wieder auf. Sein Hintern brannte wie Feuer, aber er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Er hatte Glück gehabt. Wäre er nach vorne gefallen, hätte er sich deutlich stärker verletzen können. Rekis Skateboard lag nicht weit von ihm entfernt auf der Seite, drei Rollen nach wie vor in Bewegung. Nur die Vierte war nicht mehr da, wo sie hingehörte. Das war es also, was ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

„Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ein fremdes Skateboard nicht wie deines ist“, meldete sich Kaoru von unten, „Reki wiegt vielleicht die Hälfte von dir. Es ist kein Wunder, dass sein Skateboard dich und deine Methoden nicht ausgehalten hat.“

„Nennst du mich gerade fett?“, grollte Joe, doch er ahnte, dass an Kaorus Vorwurf etwas dran war. Reki machte mit seinem Board zwar auch Sprünge, doch die basierten auf einer ganz anderen Technik als seine. Und ja, vermutlich hatte Reki auch nicht damit gerechnet, dass er versuchen würde, mit seinem Board ein Beef zu gewinnen. Dem Jungen war da wirklich kein Vorwurf draus zu machen. Auch wenn er ihm vielleicht raten sollte, das nächste Mal die Rollen noch ein bisschen fester zu ziehen.

Nachdenklich streckte er Kaoru die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. „Schätze, du hast mir den einen oder anderen gebrochenen Knochen erspart.“

Kaoru klopfte sich den Staub vom Hakama. „Für solche Sachen sind deine Freunde da.“

„Heißt das, ich schulde dir eine Einladung zu meiner Siegesfeier?“

„Das heißt du schuldest Reki ein neues Skateboard und mir Carbonara im Wert von etwa 40000 Yen.“

„Das kannst du nie im Leben alles essen.“

„Wollen wir wetten?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  _Risa_
2022-10-23T17:11:48+00:00 23.10.2022 19:11
Da ist die Kleine einfach dreist abgehauen und es ist unmöglich sie in einer großen Metropole wiederzufinden. Poor guy. :')

Fand es vor allem auch interessant zu sehen, dass du Joe als Haupt- und Perspektivencharakter hergenommen hast und nicht etwa Langa oder Reki, das ist eine nette Abwechslung.
Mir hat das Lesen und vor allem auch die Skateboard-Action an sich Spaß gemacht.
Antwort von:  _Delacroix_
23.10.2022 19:51
Danke für den Kommentar. Ich freue mich, dass du Spaß beim lesen hattest.^^

Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass Joe einfach leichter zu schreiben ist, weil er ja sehr easy-going wirkt, aber nicht so viel über sein Innenleben bekannt ist, wie zum Beispiel bei Reki. Deshalb schien er mir für den ersten Versuch eine ganz gute Wahl. Außerdem isser doch irgendwie ein netter Chara.^^


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