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Herzschmerzhelden

von

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Ein guter Junge

Die Tür ist kaum hinter Pascal ins Schloss gefallen, als ich mich bereits mit meinem Smartphone aufs Bett werfe und verschiedene Apps öffne. Natürlich schaue ich erst mal, ob ich irgendwelche interessanten Nachrichten habe – nein – oder Likes auf meine Instastory – ja, aber nur von unwichtigen Leuten – und natürlich ob es irgendwelche Bilder von Typen gibt, die ich liken könnte. Nach kurzer Suche werde ich fündig und bei zweien traue ich mich sogar, ein Herz dazulassen. Das Foto von dem einen ist aber auch wirklich scharf. Er liegt am Strand und das, was sich da gegen den Stoff seiner mehr als knappen, roten Badehose abzeichnet, ist wirklich nicht von schlechten Eltern. Groß, dick, hart. Zumindest werde ich das, während ich dieses Wunderwerk eines geschickt gewählten Bildwinkels anstarre. Denn, falls es noch keinem aufgefallen ist, ich steh auf Schwänze. Klar kann man mich auch mit dem restlichen Körper begeistern. Flacher Bauch, nicht zu aufgepumpt und vor allem gepflegte Haare. Ein charmantes Grinsen oder tolle Augen bringen mich ebenfalls zum Lächeln. Aber wenn wir von nackten Tatsachen sprechen, fängt am ehesten eine gut sichtbare Ausbuchtung in der Hose meine Aufmerksamkeit ein. Da lasse ich alle Piercings, Tattoos und Brustmuskeln links liegen und will am liebsten direkt mal hingreifen. Geht mir weg mit shirtless Tops und zeigt mir, was ihr in der Hose habt. Der Rest ist lediglich ein Bonus.

 

Ich betrachte also weiter den nahezu nackten Halbgott, während ich meine Hand in meine eigene Hose gleiten lasse. Das, was ich dort finde, zuckt freudig erregt, als ich es endlich mit der so dringend benötigten Aufmerksamkeit bedenke. Fuck, das letzte Mal ist schon wieder viel zu lange her. Gefühlt mindestens drei Tage, auch wenn das nicht so ganz stimmt, weil ich mir heute Morgen beim Duschen schon einen runtergeholt habe. Wie eigentlich jeden Tag. Aber dieser Schwanz …

 

Während ich weiter durch seine Galerie scrolle und hoffe, noch ein paar eindeutige Bilder zu finden, stelle ich mir gleichzeitig vor, wie es wäre, wenn ich jetzt nicht allein wäre. Wenn ich einen Typen hier hätte, der mir die Hose runterziehen und mich hier und jetzt nehmen würde. Auf dem Bett, auf dem Fußboden, scheißegal. Ich würde ihm sogar einen blasen. Hauptsache, er fickt mich.

 

Ganz kurz überlege ich, ob ich es mir noch ein bisschen gemütlicher machen soll. Gleitgel hab ich da, Kondome ebenfalls. Ich könnte mir was suchen, dass sich als Schwanzersatz hernehmen lässt, und dann …

 

Nein, keine Zeit. Und ich will jetzt auch nicht aufhören. Kopfkino muss reichen.

 

Ich schmeiße also mein Handy beiseite und nestele ein Taschentuch aus der Packung auf meinem Nachttisch. Mit verhaltenem Stöhnen und immer schneller werdenden Bewegungen bringe ich mich selbst weiter und weiter einem steilen Höhepunkt entgegen. Als ich schließlich komme, bäume ich mich in Gedanken ein letztes Mal der imaginären Länge entgegen, die gerade noch tief und hart in mir gesteckt hat. Danach breche ich auf dem Bett zusammen und kann mich erst einmal nicht mehr rühren. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust und in meiner Hand ist es warm und feucht. Ich weiß, dass ich noch was zum Wischen brauche, bevor die ganze Soße aufs Bett läuft, aber uff. War das gut!

 

 

Kurz darauf entsorge ich das feuchte Papier ganz unten im Hausmüll, wasche mir die Hände und öffne im Vorbeigehen die Kühlschranktür. Der Inhalt ist ungefähr so interessant wie eine Biographie von Bartholdi. Ganz kurz bleibt mein Blick an einer Packung Buttermilch hängen und ich fantasiere einige Momente lang darüber, ein Bild von mir zu machen, auf dem ein deutlich sichtbarer, weißer Rand meinen Mund umgibt. Vielleicht so halbnackt auf dem Bett, das Glas noch in der Hand, damit man auch weiß, worum es geht, und es gleichzeitig so zweideutig aussieht, dass man trotzdem erkennt, auf was ich anspiele. Die Vorstellung ist so genial, dass ich fast nach dem Becher greife, mich dann aber doch noch zurückhalte. Das Ganze würde jetzt zu lange dauern. Immerhin habe ich noch einen ziemlich lange Liste vor mir, während der Zeiger der Uhr unaufhaltsam dem Feierabend meiner Mutter entgegenwandert. Bis dahin muss ich Tatsachen geschaffen haben, wenn ich mir meinen Plan nicht versauen will. Also keine Fotosession. Ich bin eh schon spät dran.
 

Mit einem Schnaufen lasse ich also die Buttermilch Buttermilch sein und trolle mich zurück in mein Zimmer. Gerade jetzt erscheint mir alles andere attraktiver, als mich irgendwie anzustrengen. Zumal in Bezug auf Schule. Ich schnappe mir daher erneut mein Handy und bitte Pascal darum, mir die Lösungen für Mathe zu schicken, damit wenigstens ein Punkt ohne größere Umstände abgehakt ist. Der Gute liest die Nachricht sofort, antwortet aber nicht, weswegen ich annehme, dass er tatsächlich bei Michelle ist. Bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt darüber streiten, dass er während des Dates ans Handy gegangen ist und noch dazu in Erwägung zieht, mal wieder meine Faulheit zu unterstützen, muss ich grinsen.

 

Weil ich den Messenger gerade offen habe, gucke ich mir auch gleich das neue Profilbild von Jamie an. Arm in Arm steht er mit seinem neuen Freund am Rand des Schlossparks und grinst in die Kamera. Die beiden haben riesige Sonnenbrillen auf und sehen so cool und frei und lässig aus, dass es mir für einen kleinen Augenblick ein komisches Gefühl im Magen macht. Natürlich vermisse ich ihn nicht. Immerhin ist die Chance, dass wir nach all der Zeit tatsächlich noch zusammen wären, quasi gleich Null. Aber einfach die Möglichkeit, dass da jemand ist, den man … anrufen kann, wenn man horny ist, oder dem man Celebrity-Nudes teilen kann, ohne dass derjenige gleich einen Herzinfarkt kriegt, wäre halt schon irgendwie cool. So wie mit Rico, dem ersten, mit dem ich was hatte, und mit dem ich mich eigentlich nur zum Ficken getroffen habe. Wir waren da beide nicht zimperlich und sind gleich beim ersten Mal aufs Ganze gegangen. Am Ende hat er Schluss gemacht, weil es ihm mit mir zu langweilig wurde. Wir hatten zu dem Zeitpunkt aber auch schon so gut wie alles durch, was sich 14-jährige halt so abschauen können.

 

Nach Rico hing ich ne ganze Weile mit einer Emoclique rum, wo spätestens nach dem zweiten Joint jeder mit jedem rumgemacht hat. Ständig wurde da geknutscht, gekuschelt oder manchmal sogar gevögelt. Ich kann nicht mal ausschließen, dass ich nicht zwischendurch die Zunge von nem Mädchen im Mund hatte. War mir in meinem Zustand dann aber auch egal und mit den schwarz gefärbten Haaren sahen wir eh alle gleich aus. Dann jedoch kam Jamie und mit ihm war es das erste Mal was Ernsteres. Denke ich jedenfalls. Immerhin haben wir neben Sex auch noch andere Sachen gemacht. Wir sind ins Kino gegangen, zusammen auf Konzerten gewesen und sogar übers Wochenende weggefahren. In der Zeit hab ich mich dann auch mehr oder weniger überall geoutet. Nachdem dann aber klar wurde, dass meine Eltern sich trennen und ich irgendwo nach Hintertupfingen ziehen würde, haben Jamie und ich uns in gegenseitigem Einverständnis freigegeben. Es war das Beste so und ich bereue nicht, dass ich diesen Schritt gegangen bin, auch wenn mir das einen Kontakt eingebracht hat, den ich nicht wirklich löschen kann, weil wir uns ja nicht im Streit getrennt haben, aber auch nicht antexten, wenn ich Bock darauf habe, weil das auch wieder creepy wäre. Daher bleibt mir nur, ab und an sein Foto anzustarren und festzustellen, dass sein Leben ungefähr tausend mal besser ist als meins. Was ein Scheiß-Lucker!

 

Ich schnaufe noch einmal und bringe es über mich, alle Ablenkungen zu schließen und die Shopping-App zu öffnen. Ich brauche für den Ball dringend was Neues zum Anziehen, denn seien wir mal ehrlich: Im Konfirmationsanzug kann ich da wohl schlecht auftauchen. Mal abgesehen davon, dass mir die Hose inzwischen ein ganzes Stück zu kurz ist, wäre das ja wohl echt oberpeinlich. Ich bin immerhin keine 14 mehr und das Teil definitiv nicht mehr up-to-date. Zuvor wende ich mich jedoch dem Herzstück meines unglaublich genialen Plans zu.

 

Ich scrolle durch die Angebote und werde schnell fündig. Einen Klick später befindet sich das Teil im Einkaufswagen und ich will schon einen neuen Suchbegriff eingeben, als mir in der „Kunden kauften auch“-Anzeige etwas ins Auge sticht, das ich ebenfalls unbedingt brauche. Noch zweimal geklickt und auch dieses Item wird am Ende des Monats die Kreditkarte meiner Mum belasten.

 

„Und jetzt kommt der schwierige Teil“, murmelte ich und gebe „Anzug stylisch“ in die Suchmaske ein. Das erste Ergebnis ist ein quietschbunter Anzug mit einem Muster aus Mario, Luigi, Toad und King Cooper. Na Mahlzeit! Das kann doch nicht deren Ernst sein. Und dann der Text erst. 'Mit diesem Anzug zeigst du allen das Party Animal in dir.'

 

Ich klicke die bunte Scheußlichkeit ganz schnell wieder weg und lasse den Rest an mir vorüberziehen. Hässlich, hässlich, hässlich, zu teuer, hässlich. Mhm, eine LED-Leuchtkrawatte? Nein, hässlich. Obwohl mir die bestimmt einige Blicke einbringen würde, aber da kann ich mir ja gleich eine Propellermütze aufsetzen. Und auch Flamingos auf babyblauem Untergrund, das grellgelbe Ananas-Muster und das gestreifte Teil, in dem ich aussehen würde wie Gomez von der Addams Family, fallen auf jeden Fall flach. Meine Güte, was ist denn nur mit dem Suchverlauf los? Haben die ne Macke?

 

Mein Blick bleibt schließlich an einem himmelblau melierten Sakko hängen, das endlich mal auf positive Weise aus dem Einheitsbrei heraussticht. Ein dezentes Karomuster lässt das Ding noch mehr leuchten und würde meine leicht gebräunte Haut sicherlich gut zur Geltung bringen. Ich betrachte die Produktbilder und finde, dass der Typ, der das Ding zusammen mit einer dunklen Jeans und einem eng anliegendem, weißen Shirt kombiniert trägt, einfach nur geil und lässig aussieht. Selbst wenn der nur Ost-Serbokratisch spräche und dumm wie Bohnenstroh wäre, würde ich mich sofort für den ausziehen. Quasi genau das, was ich suche.

 

In Gedanken gehe ich meinen Kleiderschrank durch und finde eine passende, schwarze Jeans irgendwo ganz hinten in einem Fach. Die hatte ich mal für eine Beerdigung gekauft und danach nicht nochmal angehabt, weil sie mir zu trist war. Aber als Ersatz für eine Anzughose ist sie perfekt.

 

Ich packe also das Jackett zu den anderen Sachen in den Warenkorb und schicke meine Bestellung ab. Im gleichen Moment höre ich den Schlüssel in der Haustür. Ein panischer Blick zur Uhr bestätigt mir, dass es schon zehn nach sieben ist und ich anscheinend seit über zwei Stunden hier rumliege und nichts tue. Also fast nichts, aber ich fürchte, dass Internet-Shopping in den Augen meiner Mutter nicht als ausreichende Beschäftigung durchgehen wird.

 

So schnell es geht, schmeiße ich das Phone weg und schaffe es immerhin, noch im Flur aufzutauchen, bevor meine werte Erzeugerin zur Tür hereinkommt. Sie ist schwer beladen mit zwei prallvollen Einkaufstüten, also springe ich hinzu und nehme sie ihr ab.
 

„Lass mich das machen“, flöte ich dabei und weiß in dem Moment, indem ihre Augen schmaler werden, dass ich es wohl ein wenig übertrieben habe.
 

„Was hast du angestellt?“, will sie wissen, noch bevor sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hat.
 

„Wieso?“, frage ich gedehnt zurück und schleppe meine Beute in die Küche. Misstrauisch folgt mir meine Mutter auf dem Fuße und sieht sich um.
 

„Weil ich dich normalerweise mit eisernen Widerhaken und glühenden Stangen dazu bringen muss, mir zu helfen.“

 

Sich immer noch in alle Richtungen versichernd, dass ich nicht etwa irgendwo ein Lagerfeuer angezündet oder gar den Fernseher geschrottet habe, streift sie die Pumps von den Füßen. Ich wette, sie sehnt sich danach, den engen Bleistiftrock endlich mit einer Jogginghose und die rote Bluse mit einem bequemen Shirt zu vertauschen. Obwohl die Kluft heute einen Tick schicker ist als sonst, was vermutlich heißt, dass sie bei Gericht war. Kein guter Tag, um ihr mit meinen Bitten zu kommen, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

 

„Gar nicht wahr“, protestiere ich trotzdem der Form halber, was sie zum Schnauben bringt. Es ist kein gutes Schnauben.
 

„Oh doch! Manchmal stellst du dich sogar schlafend, wenn ich dich rufe, um den Müll runterzutragen.“
 

Okay, vielleicht doch wahr. An dem Tag war ich aber auch echt müde.

 

„Ich brauchte was zum Anziehen“, gebe ich daher schnell zu und versuche, möglichst beiläufig zu klingen. Nicht, dass ich vorhatte, sie diesbezüglich anzulügen. Könnte ich ja auch gar nicht. Immerhin bekommt sie die Bestellung ja noch einmal per Email zugeschickt. Ich müsste mich also auch noch in ihren Account einloggen, die entsprechende Mail löschen, die Bestellung im Verlauf verbergen, sämtlich weiteren Mails über eventuelle Lieferschwierigkeiten abfangen, das Paket persönlich entgegennehmen und zu guter Letzt auch noch den Inhalt vor ihr versteckt halten. Und dann würde sie die Abbuchung letzten Endes doch auf ihrem Konto entdecken, was die ganze Aktion komplett ad absurdum führen würde. Ich weiß das; ich habe es ausprobiert. Zu meinem Glück kann man gebrauchte Videospiele nicht zurückgeben.

 

Meine Mutter seufzt. So ein abgrundtiefes Seufzen, das exklusiv für mich reserviert ist. Wenigstens habe ich sie das sonst noch nie benutzen hören.
 

„Was ist es denn diesmal?“, will sie fast schon gottergeben wissen und fängt an, den Inhalt der Tüten auf die Schränke zu verteilen. Sogar ihr Hinterkopf sieht dabei genervt aus. Manchmal ist es bestimmt nicht einfach, meine Mutter zu sein. Aber hey, ich hab mir das auch nicht ausgesucht! Dass sie und Dad zu blöd waren, um ein Kondom zu benutzen, ist ja nun wirklich nicht meine Schuld. Im Gegenteil. Der eigentlich Leidtragende dabei bin ja wohl immer noch ich. Schließlich haben die beiden dadurch dafür gesorgt, dass ich meine eigentliche Bestimmung im Universum nicht antreten konnte. Kronprinz von Schweden werden zum Beispiel.

 

Obwohl meine Mutter also mit daran schuld ist, dass ich mein Leben in der Tristesse von Hinter-den-Sieben-Bergen verbringen muss, öffne ich den Geschirrspüler und angele mir den Besteckkorb heraus. Wobei ich das natürlich nicht müsste. Schließlich haben Prinzen Personal. Aber manchmal kann ich eben auch nett sein.

 

„Nur was zum Anziehen“, informiere ich meine werte Erzeugerin hoheitsvoll und schmeiße Messer, Gabeln und Löffel in die Schublade, dass es spritzt. Eigentlich müsste ich die wohl noch nachtrocken, aber scheiß drauf. Dann kriegen die Dinger eben Wasserflecken. Ist ja nicht so, dass nächste Woche meine königliche Familie hier einreiten würde.

 

„Ich geh mit Pascal zum Sportlerball.“

 

Für einen Moment wird das Geraschel und Türenklappen hinter mir stockend und ich warte fast darauf, schon wieder ein erstauntes 'Ach' zu hören. Die Sache mit dem „auch Schwule können gleichgeschlechtliche Freunde haben, ohne denen zwangsläufig an die Wäsche gehen zu wollen“ ist immer noch kein wirklich allgemein anerkanntes gesellschaftliches Konzept.
 

„Das ist ja schön“, fängt sie sich jedoch schnell wieder und schiebt dann trotzdem noch hinterher: „Wollte er denn nicht mit seiner Freundin gehen?“

 

Ich rolle mit den Augen über die nur schlecht versteckte Nachfrage, ob es da was gibt, was sie wissen sollte. Gibt es nicht. Gab es noch nie. Pascal war von Anfang an in meiner Friendzone. Oder ich in seiner. Wie man es nimmt.

 

„Die hat keine Zeit“, gebe ich lapidar bekannt, stelle den Besteckkorb wieder zurück und schließe die Klappe. Den Rest wird meine Mutter dann schon wegräumen, wenn sie das Geschirr vom Abendessen unterbringen will. Faul wie Bohnenstroh lehne ich mich anschließend an den Küchentresen und sehe zu, wie sie zwei Becher Buttermilch in den Kühlschrank räumt. Was soll das denn? Ist das ne neue Diät?

 

„Außerdem hast du doch immer gesagt, ich soll mal mehr auf die Leute hier zugehen“, ergänze ich halb vorwurfsvoll. „Da ist so ein Ball doch eine tolle Veranstaltung, um sich ein bisschen mehr zu integrieren.“

 

Zack, Treffer, versenkt. Jetzt kann sie nichts mehr dagegen sagen und sämtliche Einkäufe sind als passables Mittel zur gesellschaftlichen Eingliederung abgesegnet. Dabei sollte sie doch wissen, dass ich kein Typ bin, der lange allein bleibt. Ich finde schon Freunde, wenn ich will. Ich will nur nicht. Nicht hier.

 

Meine Mutter lacht.
 

„Schimpfst du nicht dauernd, dass du diese ganze Klüngelei und Vereinsmeierei hasst wie die Pest?“

 

„Ich hab gesagt, dass sie mir auf die Eier geht“, korrigiere ich sie. „Das ist was anderes. Außerdem kann es ja nicht besser werden, wenn man den ganzen alten Säcken einfach das Feld überlässt. Die geilen sich dann an jungen Dingern in kurzen Röcken auf und niemand sagt was dagegen. Das muss endlich aufhören.“

 

Insgeheim klopfe ich mir selbst auf die Schulter, weil ich mich ja nun wirklich wie ein Musterbeispiel an Zivilcourage und Sittsamkeit anhöre. Leider kennt mich meine Mutter besser.

 

„Und das wirst ausgerechnet du sein?“, fragt sie mit gehobenen Augenbrauen.

 

Ich zucke mit den Achseln.
 

„Na jaaa“, meine ich ausweichend. „Vielleicht?“

 

Sie schüttelt leicht den Kopf und ich sehe genau, dass sie mir kein Wort glaubt. Würde ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.

 

„Auf jeden Fall hat Pascal keine Begleitung und alleine kann er da unmöglich hingehen“, biege ich die Wahrheit ein ganz kleines bisschen zurecht. Natürlich kann er da nicht alleine hingehen, aber ohne mich würde er da ja auch nicht hingehen. Das gleicht sich dann doch irgendwie aus.
 

„Und ich kann das Jackett auch gleich noch zum Abiball anziehen. Die Investition lohnt sich also“, packe ich ganz am Schluss noch mein ultimatives Argument aus. Dagegen ist ja nun wirklich nichts mehr zu sagen.

 

„Ein Jackett?“, fragt meine Mutter ungläubig nach. „Ich hatte mit etwas extravaganterem gerechnet. Einer leuchtenden Krawatte zum Beispiel oder einem Hularöckchen.“

 

Mir gefällt nicht, wie nahe sie damit der Wahrheit kommt, aber ich setze eiskalt mein Pokerface auf. Mütter müssen ja nicht alles wissen.

 

„Ich will doch Pascal nicht blamieren“, entgegne ich und schaffe es sogar, dabei ein wenig entrüstet zu klingen.

 

„Seit wann?“

„Seit … immer?“

 

Noch einmal lacht sie und ich werde so langsam echt sauer. So ein Riesenarschloch bin ich ja nun auch wieder nicht. Maximal ein bisschen zynisch. Und selbstgerecht. Und eitel. Aber sonst …

 

„Was gibt’s eigentlich zu Essen?“, wechsele ich abrupt das Thema. Mein Magen deutet im gleichen Moment an, dass er durchaus etwas zu spachteln vertragen könnte.
 

„Spinat mit Ei“, ist die enttäuschende Antwort. Na prima. Ausgerechnet.

 

„Möchtest du Spiegel- oder Rührei?“, fragt meine Mutter, während sie Pfannen und Töpfe aus dem Eckschrank kramt und in einen davon ein Glas geschälte Kartoffeln leert. Mal ehrlich, die Dinger sind grässlich, aber Kartoffeln schälen ist noch schlimmer und darauf warten, dass sie endlich gar werden, die reinste Folter. Kein Wunder, dass es sonst immer Nudeln gibt.

 

„Rühr“, gebe ich zurück, denn dieses glibberige Zeug oben auf dem Spiegelei ist mit Abstand das Ekligste, was ich mir vorstellen kann. Nichts gegen gewisse Schleimigkeiten an den Händen, aber in meinem Mund will ich so etwas unter Garantie nicht haben. Igitt!

 

„Okay, in fünf Minuten gibt’s Essen. Deck doch schon mal den Tisch.“

 

Für einen Augenblick überlege ich, ob ich Hausaufgaben vortäuschen sollte, aber das wäre nun wirklich eine zu dreiste Lüge. Und zu durchschaubar. Also öffne ich noch einmal den Geschirrspüler und angele einen Teller heraus. Den anderen nehme ich aus dem Schrank. Mein Muttertier soll nicht glauben, dass ich auf einmal dem Fleiß verfallen bin, nur weil ich mich lächerlichen gesellschaftlichen Zwängen hingebe. Zumal ich das ja gar nicht vorhabe, das weiß sie nur noch nicht.

 

Um weitere Fronarbeit zu verhindern, setze ich mich kurzerhand an den Küchentisch und wische hochkonzentriert auf meinem Handy herum. Pascal hat immer noch keine Ergebnisse geschickt. Noch während ich überlege, ob ich ihn nochmal anschreibe, kommt meine Mutter mit zwei Töpfen an den Tisch.

 

„Und die Untersetzer?“, fragt sie und ich gucke sie nur an, als wüsste ich nicht, wovon sie redet. Einen auffordernden Blick und die Drohung, dass sie das Essen auch gerne wegschmeißen kann, erhebe ich mich ächzend und stöhnend noch einmal, um die zwei leicht angesengten Korkplatten aus der Schublade zu holen und auf den Tisch zu legen.
 

„Danke schön“, gurrt meine Mutter und stellt die heißen Töpfe darauf. Während sie losgeht, und die Pfanne mit den Eiern holt, schaufele ich mir schon mal was von dem Grünzeug auf den Teller. Meine Mutter ergänzt das ganze Gemüse mit einem Berg Rührei, der für drei Leute reichen würde.
 

„Die Eier mussten weg“, erklärt sie ungefragt. Ich inspiziere ihren Teller, auf dem gerade mal ein mickriges Ei liegt. Ah ja. Also doch Diät.
 

„Wie du meinst“, meine ich ungerührt und beginne wortlos zu essen. Wahrscheinlich sollte ich sie jetzt fragen, wie ihr Tag war, aber wenn ich Pech habe, gibt es nur absolut langweiligen Kram zu hören. Also formuliere ich meine Frage präziser.
 

„Was gibt es Neues von Herrn Häberle?“

 

Herr Häberle ist ungefähr so alt wie Methusalem und so streitsüchtig wie Miss Piggy auf Crack. Der alte Miesepeter verklagt gerne alles und jeden und hat sich aus einem unerfindlichen Grund ausgerechnet meine Mutter rausgepickt, um ihn dabei zu vertreten. Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem ich Fahrstunden bei Herrn Mehner nehme. Mangelnde Auswahl. Oder weil sie im Gegensatz zu allen anderen tatsächlich bereit war, seiner Klage wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Supermarktbesitzer, der ihm zwei Tage abgelaufenen Magerquark verkauft hat, mit einem anwaltlichen Schreiben Ausdruck zu verleihen. Als Nächstes kam er an, weil er sich an einer Parkbank einen Splitter zugezogen hatte. Vor Gericht wollte er erwirken, dass die Stadt die Bänke in Zukunft regelmäßig auf Schäden überprüft und zudem ein Schmerzensgeld herausschlagen. Den Wirt des China-Restaurants wollte er wegen Diskriminierung drankriegen, weil dieser sich weigerte, ihm Bratkartoffeln zu servieren, seine Nachbarin sollte ihm eine beträchtliche Summe bezahlen, weil er über ihre Katze gestolpert war, und sogar die Deutsche Bahn hatte er mal versucht zu verklagen, weil sie ihm nicht die Kosten erstatten wollte, die entstanden waren, als er sich weigerte, den ausgewiesenen Schienenersatzverkehr zu benutzen und stattdessen mit dem Taxi gefahren war. Man sieht also, Herr Häberle hat ein rühriges Wesen und meine Mutter immer wieder interessante Dinge zu erzählen, von Honorar mal ganz abgesehen.

 

Allerdings nicht heute. Heute werden ihre Lippen schmal, als ich sie auf ihren Lieblingsklienten anspreche.

 

„Herr Häberle ist im Krankenhaus“, sagt sie und pikt ein Stück Ei auf, als wäre es persönlich daran schuld. Ich versuche einen Scherz.
 

„Was ist passiert? Möchte er sich mal wieder einen psychischen Knacks attestieren lassen, weil ihn die Polizei wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten hat, obwohl er doch so dringend aufs Klo musste?“

 

Manchmal fährt Herr Häberle nämlich auch noch mit dem Auto, was meiner Meinung nach absolut fahrlässig ist, aber auf mich hört ja keiner. Dass dabei noch keiner umgekommen ist, ist ein Wunder.

 

„Nein“, gibt meine Mutter einsilbig zurück. So langsam gefällt mir das Ganze nicht mehr. Wenn sie sonst von Herrn Häberle erzählt, ist es eher so, als würde sie die neueste Episode einer Real Life Soap nacherzählen. Aber heute …

 

„Er ist gestürzt. Im Bad. Und hat danach zwei Tage hilflos am Boden gelegen, bis die Nachbarin schließlich die Polizei gerufen hat, weil es ihr komisch vorkam, dass die ganze Nacht das Licht brannte. Die Beamten haben die Tür aufgebrochen und ihn gefunden. Als ich im Krankenhaus angerufen habe, war er gerade im OP. Oberschenkelhalsbruch. In seinem Alter kein unerhebliches Risiko. Sie konnten mir natürlich keine nähere Auskunft geben, aber es hörte sich nicht besonders gut an.“

 

Ich schlucke, weil das jetzt wirklich nicht mehr witzig ist. Auch meiner Mutter scheint das Schicksal des alten Kauzes recht nahezugehen.
 

„Ach, der wird schon wieder“, versuche ich sie zu beruhigen. „Wirst sehen, in zwei Tagen scheucht er bereits die Schwestern durch die Gegend und will die Ärzte wegen Kunstfehlern verklagen. Der gibt so schnell nicht auf.“

 

Meine Mutter lächelt daraufhin, aber ich sehe, dass sie es mehr glauben will, als dass sie es wirklich tut. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich den Gedanken an eine Zukunft ohne „Geschichten von Herrn H.“ auch reichlich merkwürdig. Über was sollen wir uns denn dann unterhalten? Meine Noten etwa? Mein nicht vorhandenes Liebesleben? Oder gar ihres?

 

„Ich muss noch Hausaufgaben machen“, verabschiede ich mich daher aus der Situation, ohne meinen Spinat aufgegessen zu haben. Dabei macht der doch angeblich groß und stark. Obwohl ich glaube, dass da bei mir wohl Hopfen und Malz verloren ist. Größer werde ich in diesem Leben nicht mehr und stark … ach na ja. Ich seh gut aus, das muss reichen.
 

Weil Pascal immer noch nicht geantwortet hat, ziehe ich doch tatsächlich mein Matheheft aus dem Rucksack und schlage es sogar auf. Im Grunde ist das Ganze nur noch Wiederholung. Stochastik. Das war beim ersten Mal schon nicht mein Ding.

 

Während ich noch versuche zu berechnen, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass ich vor Langeweile über diesem Thema einschlafe und mir bei einem Sturz vom Stuhl ebenfalls was breche, gibt mein Handy einen vielversprechenden Ton von sich. Eine Nachricht von Pascal mit mehreren Anhängen.
 

„Guter Junge“, murmele ich und mache mich daran, seine Lösungen in mein Heft zu übertragen. Auf Pascal ist eben Verlass.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryosae
2022-12-14T22:28:36+00:00 14.12.2022 23:28
Hey, Junge, das Eigelb ist ja wohl das Beste vom Ei! Was für verdrehte Geschmacksnerven hast du denn bitteschön? xD

Hey Mag,
mir gefällt die Mama. Sie scheint ihren kleinen Pappenheimer gut zu kennen, und umgekehrt. ;)
Was hat er denn noch gekauft? Dessous? :P
Freue mich auf nächstes Mal.

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
15.12.2022 08:11
Haha!

Wobei es ja nicht ums Eigelb an sich geht, sondern um den glibberigen Teil darüber. Aber das Thema kriegen wir nochmal. ;)

Die Mama weiß schon, was da abgeht. Und sicherlich weiß sie im Prinzip auch, dass sie Fabian zu viel durchgehen lässt. Aber das schlechte Gewissen ...

Dessous spielen in Fabians Plan allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Eine SEHR untergeordnete Rolle. Aber du wirst es erleben (wenn ich denn vor lauter Grippe mal zum Tippen komme. Es ist wirklich furchtbar.)

Na vielleicht wird es heute ja was.

Zauberhafte Grüße
Mag


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