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Herzschmerzhelden

von

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Hundertprozentig sicher

Das Haus, vor dem ich stehe, ist schon ein wenig älter, aber riesig. Nach rechts und links strecken sich weiß verputzte Wände unter einem dunklen Holzdach. Stallgebäude, ein Hofplatz, ein Bauerngarten. Vor den Fenstern Blumenkästen mit Geranien. Rote Geranien. Rundherum so ein Zaun aus dünnen Holzlatten, die mit Draht aneinandergebunden worden sind. Man kann hindurchsehen, aber wenn man das Haus betreten will, muss man durch ein großes, gemauertes Tor. Auch hier wieder Blumenkästen, ein Briefschlitz und eine Klingel. „Spaich“ steht in runden, altmodisch wirkenden Buchstaben auf einem sorgfältig geschriebenen Schild. Wenn ich hinein will, muss ich wohl klingeln.
 

Vielleicht war das doch keine so gute Idee.

 

Aber ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr. Herrn Mehner habe ich mit der Versicherung, dass es länger dauern könnte, bereits nach Hause geschickt. Ich stehe also mutterseelenallein auf der Straße, die sich nach ein paar weiteren Häusern in der Landschaft verliert, und kann eigentlich nur die Flucht nach vorn antreten. Aber was ist, wenn Bruno mich gar nicht sehen will? Oder wenn er nicht zu Hause ist?

 

Blödsinn. Er ist krank, wo soll er denn sonst sein?
 

Da ich auf die Frage keine Antwort weiß und auch nicht weiter dumm auf dem Grünstreifen herumstehen will, gebe ich mir selbst einen Ruck und drücke auf den Klingelknopf. Als nichts passiert, versuche ich es noch einmal. Vielleicht war ich ja beim ersten Mal nicht kräftig genug. Immer noch regt sich nichts und ich will mich schon umdrehen und abhauen, als plötzlich die Haustür aufgeht. Eine blasse, blonde Frau erscheint im Türrahmen. Sie hat eine spitze Nase und unruhige, helle Augen.
 

„Ja?“, fragt sie und sieht mich nicht besonders freundlich an. Eine geblümte Schürze verhüllt den größten Teil ihrer Kleidung, aber ich kann sehen, dass sie einen langen Rock und eine weiße Bluse trägt. Darunter grobe Schuhe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, dass sie gerade für ein Bauerntheater probt. Eigentlich wundert es mich, dass sie nicht noch ein Kopftuch aufhat. Zuzutrauen wäre es ihr.

 

„Frau Spaich?“, frage ich und bin mir nicht sicher, was gleich passieren wird. So, wie sie guckt, würde sie mir wohl am liebsten die Tür vor der Nase zuschlagen.

 

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin ein Schulkamerad von Bruno und habe … also ich wollte ihm sein Buch wiederbringen, das er mir letzte Woche geliehen hat.“

 

Okay, das war jetzt nicht meine beste Vorstellung aber immerhin ist mir gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass es wohl nicht gut kommt, wenn ich sage, dass ich ihm die Hausaufgaben vorbeibringen will. Wir sind schließlich nicht mehr in der Grundschule. Und bei Herrn Mehner hat die Ausrede mit dem Buch ja auch schon gezogen. Warum also nicht dabei bleiben?

 

Ich sehe genau, wie Brunos Mutter zögert. Wenigsten nehme ich an, dass sie seine Mutter ist. Sie hat die gleichen Augen wie er, allerdings sind ihre eher blaustichig und von dunklen Ringen umgeben. Um ihren Mund haben sich tiefe Falten eingegraben. Sie sieht aus, als würde sie niemals lachen.

 

„Er ist oben“, sagt sie schließlich und fällt dabei ein wenig in sich zusammen. „Du kannst hereinkommen, wenn du möchtest.“

 

Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht wieder ins Haus. Anscheinend erwartet sie, dass ich ihr folge.

 

Was für ein seltsames Haus, denke ich noch, bevor ich das eiserne Tor öffne und mich selbst hinein lasse.

 

Drinnen ist es muffig und dunkel. Ein vollkommen vollgestopfter Flur, dessen Garderobe aus messingfarbenen Haken fast überquillt. Darunter Gummistiefel, Arbeitsschuhe und ein Paar Sneaker, die ich als Brunos wiedererkenne. Allesamt riesig und groß genug, um einen kleinen Hund darin zu beerdigen oder wenigstens eine Katze.

 

„Entschuldige bitte die Unordnung. Ich räum das schnell weg.“

 

Während sie das sagt, wuchtet Brunos Mutter mit viel Mühe ein riesiges Bügelbrett zur Seite, das mitten in der altbackenen Küche steht. Links und recht türmen sich Körbe mit sauberer Wäsche auf, dazwischen ein großer Esstisch mit einer Eckbank und auf der Bank …

 

„Oh hallo. Wer bist du denn?“

 

Ein Mädchen mit langen Zöpfen schaut mich aus großen Augen an. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Heft, in dem sie anscheinend gerade geschrieben hat. Ihre Hand schwebt noch immer über der Stelle, wo sie gerade aufgehört hat. Allerdings antwortet sie nicht auf meine Frage. Sie sieht mich nur an.
 

„Ge, Katie. Pack zusammen. Du kannst später noch weiterschreiben.“

„Ja, Mama.“

 

Sofort klappt die Kleine ihr Heft zusammen, steckt den Stift ein und macht, dass sie wegkommt. An der Tür, die zum hinteren Ende der Küche hinausführt, wagt sie es noch, einen schnellen Blick zu mir zu werfen, aber dann ist sie fort, bevor ich sie auch nur anlächeln kann. Sehr eigenartig.
 

„Ich sage Bruno, dass du da bist.“

 

Auch Brunos Mutter schickt sich an, die Küche zu verlassen und ebenfalls nach oben zu verschwinden. Himmel, was ist denn hier los? Hab ich irgendwas Falsches gegessen oder warum flüchten die alle vor mir?

 

Du bist hier nicht willkommen.

 

Um das zu erkennen, muss man nun wirklich kein Einstein sein. Es ist, als fürchteten sie, dass ich irgendwas zu sehen bekomme, das nicht für meine Augen bestimmt ist. Dabei frage ich mich, was das sein soll. Eine Leiche werden sie ja wohl kaum im Keller versteckt haben. Obwohl … vielleicht die Uroma. Ist Kartoffeln holen gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Zuzutrauen wäre es ihnen. Ansonsten ist das hier alles nur … fürchterlich traurig. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Ich bin kaum fünf Minuten hier und möchte am liebsten schreiend davonlaufen. Die weiß gekachelten Wände, die abgescheuerten Fliesen. Nirgendwo ein bisschen Farbe, alles wirkt klein und gedrückt trotz der Größe. Kein Wunder, dass sich Brunos Mutter und seine … Schwester (?) so verhalten. Hier kann man doch nicht leben. Maximal überleben.
 

Während ich mich so umsehe, fällt mein Blick auf das Bügelbrett. Ein angefangenes Wäschestück liegt darauf. Es ist ein weißes Hemd und mich durchzuckt ein Gedanke.

 

Ist das etwa das Hemd, das ich ?

 

Vorsichtig trete ich näher, doch noch bevor ich auf das Etikett spähen kann, höre ich erneut Schritte. Im nächsten Augenblick kommt Brunos Mutter um die Ecke.

 

„Du kannst hochgehen, wenn du möchtest.“

 

Eigentlich möchte ich nicht, denn inzwischen fühlt sich das Ganze an, als hätte ich meine Nase schon viel zu tief in den Kaninchenbau gesteckt. Gleich wird bestimmt jemand mit einem Knüppel auftauchen und mich ohne zu zögern hinterrücks erschlagen. Oder eine von diesen Drahtfallen erwischt mich und ich zappele panisch darin herum, während sich die Schlinge immer enger um meinen Hals zieht und mich langsam erdrosselt. Wie genau ich auf solche Gedanken komme, weiß ich nicht. Liegt vielleicht an dem ausgestopften Tierkopf, der mich von der Wand des Ganges aus anglotzt, der sich an die Küche anschließt. Was genau es ist, kann ich nicht sagen. Die dunkle Holzvertäfelung schluckt hier so gut wie jedes Licht. Außerdem kenne ich mich mit diesen Viechern nicht so gut aus. Irgendwas mit Hörnern halt. Rehbock, Gemse, was weiß ich. Daneben hängen noch zwei Geweihe. Eines sieht aus, als hinge noch Fleisch daran. Absolut gruselig.

 

Nichts wie weg, denke ich und mache mich wider besseren Wissens daran, die knarrende Treppe zu erklimmen. Auch sie ist aus dunklem Holz und ächzt unter jedem meiner Schritte. Möchte mal wissen, wie die beiden anderen das gemacht haben, dass man sie kaum gehört hat. Die müssen ja leicht wie Vögelchen sein.

 

Oben immer noch erdrückende Enge. Ein Flur mit ausgetretenen Teppichen und ein Geländer, das unter meinem Griff wackelt, als ich mich die letzten paar Stufen hinaufziehe. An den Wänden uralte Tapeten. Es sieht aus, als wäre hier seit 50 Jahren nicht mehr renoviert worden. Mindestens. Selbst die Trockenblumen in der Vase am Fenster müssen noch aus der Zeit stammen. Vermutlich sollte ich aufhören, sie anzustarren, sonst zerfallen sie noch vor lauter Schreck zu Staub.

 

Dann hätte es wenigstens einer von uns hinter sich.

 

Vor lauter Erstaunen – oder vielmehr Entsetzen – habe ich sogar vergessen, warum ich eigentlich hier bin. Das wird mir erst wieder bewusst, als ich hinter mir eine Tür klappen höre. Zu sehen ist niemand, aber ich bin mir sicher, dass die eine Zimmertür ziemlich schuldbewusst dreinschaut. Dahinter presst sich wahrscheinlich gerade ein kleines Mädchen die Hände auf den Mund und versucht, nur keinen Laut von sich zu geben, weil der komische Typ mit der knallengen Hose und der lässigen Frisur immer noch hier herumsteht, als wolle er Wurzeln schlagen. Während ich mir das vorstelle, frage ich mich, wie alt die Kleine wohl sein mag? Sieben? Acht? Sehr viel älter jedenfalls nicht. Und warum hat Bruno sie nie erwähnt?

 

Wann denn? Etwa während sein Schwanz in deinem Arsch steckte?

 

Na gut, wenn man es so formuliert, wäre das wohl ziemlich schräg gewesen. Und es bestand ja auch absolut kein Grund dazu. Immerhin wollten wir nur ficken. Dazu muss man sich nicht mögen. Oder miteinander reden. Man muss nur geil sein und das waren wir. Beide. Bis zu der Sache mit diesem … Kuss. Was hat er sich nur dabei gedacht?

 

Vielleicht ja nichts. Wäre doch nichts dabei. Immerhin hast du früher auch mit allen möglichen Kerlen rumgeknutscht.

 

Wieder hat der Typ in meinem Kopf irgendwie recht. Aber das war bevor … Nein! Schluss damit! Ich werde mir jetzt nicht auch noch über ihn Gedanken machen. Reicht doch, wenn mir ein Kerl im Kopf rumspukt. Da brauch ich nicht noch irgendwelche Exe, die sich als Geist der vergangenen Weihnacht aufspielen und den Moralapostel mimen. Bruno hatte absolut kein Recht dazu, mich zu küssen. Und erst recht hat er kein Recht, jetzt die beleidigte Leberwurst zu spielen, nur weil ich nicht mitmachen wollte. Und um ihm das zu sagen, bin ich jetzt hier. So.

 

Mit neu gefasstem Mut werfe ich mich in die Brust, atme tief durch und mache mich auf den Weg, den gruseligen Flur entlang.

 

Nein, verdammt. Der ist nicht gruselig. Nur alt! Und dunkel. Himmel, du bist so eine Memme.

 

Ich zeige dem Lästermaul in meinem Kopf den Stinkefinger und stehe, ohne es zu merken, plötzlich vor zwei Türen. Hinter einer ist leise Musik zu hören und immer mal wieder ein bellendes Husten. Dazwischen ein Klappern und Klirren, so als würde jemand etwas beiseite räumen. Hinter der anderen ist es vollkommen still. Vermutlich das Schlafzimmer, das vor meinem geistigen Auge ebenso antik eingerichtet ist wie der Rest des Hauses. Dunkle, schwere Holzmöbel, gestärkte Blümchenbettwäsche und weiße, bodenlange Gardinen. Ein absoluter Alptraum wie aus Großvaters Zeiten. Und ich stecke mittendrin.

 

Konzentration jetzt!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Du bist wegen Bruno hier und das ist alles, was zählt. Also mach jetzt!

 

Immer noch starre ich die beiden Türen an und rühre mich nicht vom Fleck. Ob ich wohl klopfen sollte? Damit er weiß, dass ich komme. Andererseits wird er ja kaum nackt sein, nachdem seine Mutter mich schon angekündigt hat. Und selbst wenn, wäre das ja nichts Neues. Andererseits könnte ich mich auch noch aus dem Flurfenster stürzen. Dann hätten die Blumen wenigstens was zu lachen.
 

Ach scheiß drauf. Ich klopfe jetzt.

 

Ich hebe also die Hand, balle sie zur Faust und poche dreimal kräftig gegen die Tür. Drinnen wird es still. Allerdings kommt auch keine Antwort, sodass ich mich dazu entschließe, doch einfach reinzugehen. Mit weichen Knie drücke ich die Klinke herunter und schiebe die Tür dann vorsichtig auf. Ein Schritt nach vorne und dann …

 

„Du?“

 

Vor mir steht Bruno. Er trägt eine ausgeleierte Jogginghose und ein altes T-Shirt und starrt mich mit fast ebenso großen Augen an wie seine Mutter und seine kleine Schwester zuvor. Irgendwas habe ich heute anscheinend an mir.
 

„Äh ja … ich. Hi.“

 

Bruno erwidert nichts. Es ist unübersehbar, dass er nicht mit mir gerechnet hat. Natürlich nicht. Wie auch? Ist ja nicht so, als ob ich regelmäßig hier vorbeikäme.

 

„Deine Mutter hat gesagt, ich soll einfach hochgehen.“

 

Wenn ich die Schuld ein bisschen verteile, wird er mich vielleicht nicht gleich umbringen. Dieser Gedanke scheint ihm nämlich gerade gekommen zu sein, wenn ich den mörderischen Ausdruck in seinem Gesicht richtig deute.
 

„Was willst du?“, blafft er mich an. In seinem Zimmer sieht es so ähnlich aus, wie im Rest des Hauses. Ein wenig moderner sind die Möbel vielleicht, aber nicht viel. Wenn ich raten müsste, würde ich auf Pressholz tippen. Ein irgendwie nichtssagender Braunton, an den Wänden ein paar Poster, ein zerwühltes Bett, Stereoanlage. Wer hat denn bitte heutzutage noch so was? Die eine Tür am Kleiderschrank ist schief. Sieht aus, als hätte jemand dagegen getreten. Daneben ein Regal mit Pokalen und einige Urkunden. Wofür er die wohl bekommen hat?

 

„Ich hab gefragt, was du willst!“, holt mich Bruno in rauem Ton wieder in die Wirklichkeit zurück. Er hat echt schlechte Laune und obendrein ist er anscheinend wirklich krank. Seine Augen glänzen fiebrig und vor dem Bett liegt ein Haufen benutzter Taschentücher. Irgendwas sagt mir, dass die nicht davon stammen, dass er sich hier in einer Tour einen runtergeholt hat.

 

Bei dieser Überlegung wird mir plötzlich klar, dass ich hier nichts verloren habe. Absolut nichts. Und trotzdem bin ich hier. So eine Scheiße!

 

„Also ich … ich will dir dein Buch wiederbringen.“

 

Keine Ahnung, warum mein Gehirn jetzt ausgerechnet das ausspuckt. Ist vermutlich mal wieder im Notfall-Modus. Fight or flight situation. Der Parasympathikus pumpt dabei jede Menge Hormone ins Blut, die dafür sorgen, dass ich besser kämpfen oder schneller rennen kann. Oder Bruno dümmlich anlächeln. Woher auch immer diese Idee jetzt stammt.
 

„Was?“

 

Okay, bei einem Wettbewerb im Dumm-aus-der-Wäsche-Gucken, hätte er jetzt gewonnen. Ein Abbild vollkommenen Unverständnisses. Eine echte Meisterleistung. Ja wirklich!

 

„Warum?“

 

Ich blinzele zweimal, um wenigstens irgendwelche Muskeln zu bewegen. Der Rest von mir bleibt vollkommen erstarrt.

 

Los sag was! JETZT!

 

„Weil du es mir geliehen hast“, blubbere ich heraus. „Denkt deine Mutter wenigstens. Und Herrn Mehner hab ich erzählt, dass ich es aus Versehen eingesteckt habe.“

 

Noch immer ergibt das, was aus meinem Mund kommt, nicht wirklich einen Sinn. Wenigstens für Bruno. Ich kann sehen, wie er versucht, es zu verstehen. Er versucht es wirklich. Ganz feste.

 

„Aha“, macht er schließlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob er es jetzt tatsächlich kapiert hat oder nur so tut. Was beides in dieser Situation irgendwie angebracht wäre. Man, was habe ich mir nur dabei gedacht, hier einfach so reinzuplatzen? Ich sollte gehen. Ganz schnell.
 

„Ja, ich … ich wollte mal nach dir sehen. Wegen Freitag.“

 

Für den Bruchteil eines Wimpernschlags meine ich, ein Aufblitzen in Brunos Augen zu sehen. Ein flüchtiges Abbild dessen, was ich am Freitag schon entdeckt habe. Es ist wirklich nur ganz kurz zu sehen – vermutlich gibt es Sternschnuppen, die länger am Himmel stehen – dann verfinstert sich sein Gesicht wieder.

 

„Da gibt es nichts zu sehen. Ich bin krank. Jetzt verschwinde.“
 

Die Ansage ist eigentlich deutlich, aber mein dummes Gehirn ist anscheinend der Meinung, dass das noch nicht genug an Aussprache ist.

 

„Ich hab auf dich gewartet“, beginne ich daher und werde sofort von Bruno unterbrochen, der sich drohend vor mir aufbaut.
 

„Sag mal, hörst du schwer? Ich hab gesagt, du sollst abhauen. Oder soll ich dir Beine machen?“

 

„Aber du …“, versuche ich es noch einmal, als Bruno mich bereits am Kragen packt und gegen die nächste Wand schleudert. Sein Gesicht schiebt sich ganz dicht an mich heran und seine Schnupfen-Bazillen packen schon mal die Koffer, um in unentdecktes Neuland vorzudringen.
 

„Ich hab gesagt, dass du dich verpissen sollst“, faucht er. „Also geh endlich. Na los! Verschwinde! HAU AB!“

 

Während er das sagt, presst er mich fester und fester gegen die Mauer in meinem Rücken. Nur zu gerne würde ich ihn jetzt ja in süffisantem Ton darauf hinweisen, dass ich nicht gehen kann, während er mich festhält, aber da ist etwas in seinem Blick, das mich die dummen Sprüche vergessen lässt. Ich spüre, wie sein ganzer Körper vor Anspannung zittert. Dass er nur zu gerne zuschlagen würde. Mir wehtun, mich treten und anschließend windelweich prügeln. Um mich für das büßen zu lassen, was ich ihm angetan habe. Aber in seinem Blick sehe ich etwas ganz anderes. Etwas, das mich vergessen lässt, was ich eigentlich sagen wollte. Oder was er gesagt hat.

 

Der Moment währt allerdings nicht lange, denn schon im nächsten bohren sich seine Fingerknöchel wieder schmerzhaft in meine Kehle. Ich bin mir sicher, er würde noch weiter zudrücken, als wir plötzlich eine zaghafte Stimme hören.
 

„Bruno?“
 

Unsere beiden Köpfe drehen sich herum und erblicken das kleine Mädchen von vorhin. Wahrscheinlich hat sie der Lärm aufgeschreckt, denn wenn ich das richtig sehe, müsste die Wand, an die ich gerade so unvorteilhaft gedrückt werde, zu ihrem Zimmer gehören.
 

„Katie.“

 

Für einen Moment wird Brunos Griff lockerer, doch dann fasst er wieder ebenso fest zu wie gerade eben.

 

„Verschwinde“, zischt er die Kleine an. „Das geht dich nichts an.“

 

Ihre Augen werden, obwohl das eigentlich nicht möglich scheint, noch größer. Sie sieht erst mich an, dann Bruno und dann macht sie zögerlich einen Schritt nach hinten.
 

„Geh, Katie“, sagt Bruno noch einmal und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er das nicht zum ersten Mal sagt. Da ist etwas an der Art, wie er die Worte betont. An dem bedächtigen Nicken, mit dem die Kleine den Kopf einzieht und ebenso lautlos, wie sie gekommen ist, wieder verschwindet. Im gleichen Augenblick, als ihre Zimmertür zuklappt, lässt Bruno mich los.
 

Er tritt zurück und eröffnet mir damit einen Fluchtweg. Nur, dass ich gar nicht fliehen will.
 

„Geh“, sagt er fast im gleichen Tonfall wie zu seiner Schwester und doch ist es vollkommen anders. Sein Kopf ist gesenkt und es wirkt, als wäre er derjenige, der gerade einen Schlag in die Weichteile kassiert hat. „Du hast hier nichts verloren.“

 

Noch bevor ich darauf reagieren kann, hat Bruno sich bereits umgedreht und macht Anstalten, in sein Zimmer zurückzugehen. Als er jedoch die Hand hebt, um die Tür hinter sich zuzuschieben, halte ich es nicht länger aus.

 

„Sehen wir uns morgen in der Schule?“

 

Ich weiß nicht, warum ich das frage. Vielleicht, weil ich nicht einfach so gehen will. Weil ich nicht will, dass es einfach so vorbei ist.

 

Bruno sagt nichts. Eine ganze Weile steht er einfach nur da, dann hebt er den Kopf und holt tief Luft.
 

„Ich glaube nicht, dass ich diese Woche nochmal wiederkomme.“

 

Danach schließt er die Tür und ich stehe da und habe das Gefühl, versagt zu haben. Ich weiß nur nicht genau, wobei.

 

 

 

Die nächsten zwei Wochen sind scheiße. Nicht nur, dass wir quasi eine Klausur nach der anderen schreiben und Bruno mich wie Luft behandelt, wenn wir uns denn überhaupt über den Weg laufen. Nein. Jetzt fängt auch noch Pascal an, mir auf die Nüsse zu gehen, und zwar mit einem Thema, bei dem ich nun wirklich nicht damit gerechnet hätte.
 

„Was soll das heißen, du willst nicht feiern? Bist du irre?“

 

Eigentlich sollten wir gerade anlässlich unseres „Lerntreffs“ im Simmerichschen Wohnzimmer angewandte Sozialwissenschaft und ähnlichen Mist in unsere Köpfe quetschen, aber mir stehen Globalisierung, demographischer Wandel und das ganze Scheiß-Europaparlament bis hier. Wen interessiert denn so was? Mich jedenfalls nicht. Die machen doch eh alle, was sie wollen.
 

„Nee, keinen Bock“, wiegele ich Pascal ab und tue so, als würde ich nichts lieber tun, als mich über die aktuellen Maßnahmen zur Gleichstellung der Frau auf dem innerdeutschen Arbeitsmarkt zu informieren. Dummerweise merke ich erst, als er mir die Broschüre aus der Hand nimmt, dass ich sie die ganze Zeit verkehrt herum gehalten habe.
 

„Und warum auf einmal nicht mehr?“

 

Man, der ist aber heute auch hartnäckig. Dabei ist doch nun wirklich nichts dabei. Immerhin wird er ja erst in zwei Monaten 18. Und Michelle hat ihren Geburtstag auch nicht groß gefeiert, weil sie zu der Zeit mit ihren Eltern im Ski-Urlaub war. Also alles tutti. Ist ja nicht so, als würde wirklich jemand zu meiner Party kommen wollen. Also außer den beiden natürlich.

 

„Ist doch scheiße in der Prüfungszeit. Da kommt doch eh keine Sau. Ich kann dann ja meinen Führerschein feiern. Nächstes Jahr oder so.“

 

Herr Mehner hat mir nämlich angekündigt, dass er demnächst ins Krankenhaus muss, um sich an der Bandscheibe operieren zu lassen. Deswegen zieht er momentan die Schüler vor, die eine Chance haben, noch vor seinem Krankenhausaufenthalt die Prüfung zu machen, und ich gehöre offenbar nicht dazu. Nicht, dass mich das gerade wirklich schockt. So, wie es aussieht, werde ich wohl eh noch ein Jahr länger hier hocken müssen. Bye Bye, Abitur, hallo Kleinstadtmief!

 

„Boah, ich hätte jetzt voll Bock auf Chinesisch.“

 

Michelle, die gerade eben noch voll der Motivation schien, wirft plötzlich ihr Buch von sich und hält sich den Magen.

 

„Ich hab echt solchen Hunger. Ihr auch?“

 

Irgendwas ist faul im Staate Dänemark, aber noch bevor ich darauf komme, was es wohl sein könnte, hat Pascal sich schon in die Heldenbrust geworfen.
 

„Ich könnte uns was holen. Dauert ja nicht lange.“

„Oh wirklich? Das wäre toll.“

 

Auch Michelle kann offenbar 1000-Watt-Lächeln, nur dass es bei ihr ziemlich cringe aussieht. Aber natürlich merkt unser Don Quijote davon nichts. Der ist ja so was von liebesblind. Zur Strafe bestelle ich mir einmal die Karte rauf und runter, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich kaum was runterbekommen werde. Die Sache mit Bruno ist mir auf den Magen geschlagen und das ganz ohne Kantine.

 

„Schön, ich hol den Kram dann eben ab. Also zerfleischt euch nicht, während ich weg bin.“

 

Oh nein, hab ich etwa verpasst, dass er mich hier mit Michelle alleine lassen will? Ach du Scheiße. Hilfe!

 

„Warte, ich komme …“

 

„Bis später!“, fährt mir Michelle jedoch ganz gekonnt in die Parade und schlägt, kaum das Pascal hindurch ist, die Haustür hinter ihm zu. Noch ahne ich ja nichts Böses, aber als sie sich umdreht, weiß ich, was die Stunde geschlagen hat.
 

„So, und wir beide reden jetzt mal Klartext“, verkündet sie und sieht nicht aus, als würde sie damit mathematische Gleichungen meinen. „Was ist mit dir los?“

 

„Nich- …“, beginne ich, komme jedoch nicht weit, bevor sie mich schon wieder unterbricht.
 

„Verarsch mich nicht, Fabian. Du hängst jetzt schon seit Wochen total durch und zwar nicht deswegen, weil du dich so doll in dein Abi reinkniest. Deine Englisch-Klausur hast du nach der Hälfte der Zeit schon abgegeben, obwohl du gerade mal ein Drittel der Aufgaben bearbeitet hattest. Das sind doch alles nur Ausreden.“

 

Michelle, Mickey und Donald belauern mich alle drei gleichermaßen. Ihr Top heute ist blau, der Lidschatten violett. Hat ihr eigentlich mal jemand gesagt, dass das scheiße aussieht? Eigentlich könnte ich das machen. Lenkt sie vielleicht vom Thema ab.

 

„Das geht dich gar nichts an“, sage ich stattdessen und will mich in Pascals Zimmer verziehen, aber Pausbäckchen hält mich mit der Kraft der drei Bären am Arm fest und schaut mich böse an. Man, wieso müssen Pascals Eltern auch ausgerechnet heute zu diesem Tagungs-Verabredungs-Dingens gehen? Normalerweise würde ich mich ja über sturmfrei freuen, wenn es nicht a) mit Michelle wäre und b) dazu geführt hätte, dass ich jetzt metaphorisch gesehen darauf hoffen muss, dass Michelle nicht gleich noch eine Streckbank und glühende Eisen aus der Tasche zaubert. Zuzutrauen wäre es ihr.

 

„Jetzt hör doch mal endlich mit dem Scheiß auf“, meckert sie jedoch nur, bevor sich die Zornesfalten auf ihrer Stirn in irgendwas anderes Welliges verwandeln. Sieht aus wie Hundefutter.
 

„Wir machen uns Sorgen um dich.“

 

Ja genau. Wir! Als wenn ich das glauben würde. Michelle wäre doch froh, wenn sie Pascal für sich allein hätte. Und der hat mich heute nur eingeladen, um mich wegen dieser Geburtstagssache zu belatschern. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe.

 

Gab es für dich vor ein paar Wochen auch noch nicht, unkt das Arschloch in meinem Kopf, das in letzter Zeit ziemlich still geworden ist. Nur ab und an wirft es noch ein, dass die sozialen Medien nach irgendwelchen Spuren von Bruno zu durchforsten, nicht gesund für mich sein kann. Was es auch bestimmt nicht ist, aber das muss man mir ja nicht dauernd unter die Nase reiben.

 

„Seit dieser Sache mit Bruno …“

 

Bruno? Moment mal. Woher weiß sie von Bruno? Oh, hab ich das jetzt laut gefragt? Verfickter Fuck! Und jetzt schaut Michelle auch noch so mitleidig drein.

 

„Also doch“, meint sie und guckt dabei immer noch wie ein Dackel. Scheiße, was meint sie damit? Hat sie mich etwa …

 

„Ich hab mir schon gedacht, dass da irgendetwas läuft zwischen euch. Ihr habt euch beide mehr als merkwürdig benommen. Zuerst seid ihr wie Hund und Katz und dann auf einmal … Puff. Nichts mehr. Und dann die Aktion mit dem Hemd. Da wusste ich, dass da irgendwas im Busch ist. Also spuck es aus. Was hat er angestellt?“

 

Ich glaube, wenn man mich beschreiben sollte, würde man wohl die Worte „er guckt wie ein Auto“ in den Mund nehmen. Obwohl die meisten neueren Modelle nicht mehr wirklich menschlich aussehen. Diese ganzen SUVs, die da über die Autobahnen rasen, gleichen eher getunten Kampfhunden, und wie so einer sehe ich momentan nun wirklich nicht aus. Mehr wie ein gegen die Wand gelaufener Mops.

 

„Angestellt?“, wiederhole ich daher nur und kann mir auf die Frage nicht so recht einen Reim machen. Weil eigentlich war ich es ja, der …

 

„Ja, angestellt“, fährt Michelle jedoch ungerührt fort. „Das mit dem Hemd fand ich ja noch ganz witzig. Zumal ich davon ausging, dass er dich damit wegen der Sache auf dem Ball drangekriegt hat. Verdient hättest du es jedenfalls. Außerdem hat er ja anscheinend im Gegenzug dafür gesorgt, dass diese peinlichen Filmchen von dir wieder verschwinden. Es war zumindest auffällig schnell Ruhe damit, nachdem Bruno sich persönlich darum gekümmert hat. Angeblich, weil er keinen Ärger mit seinem Trainer wollte, aber mal ehrlich … Auf den meisten Aufnahmen war er doch gar nicht zu sehen. Das kam mir gleich spanisch vor.“

 

An dieser Stelle habe ich bereits den Atem angehalten und wage nicht einmal mehr zu blinzeln, weil ich gerade ernsthaft befürchte, dass Michelle daraus meine Wichs-Häufigkeit ablesen könnte. Wer ist diese Frau? Etwa eine Wiedergeburt von Agatha Christi? Wobei, Moment mal … ist die überhaupt schon tot? Und wenn ja, wer hat sie ermordet? Michelle? Ich hätte zumindest so überhaupt keine Bedenken, eine Grand Jury davon zu überzeugen. Und wie geschickt sie mich in die Enge getrieben hat, nachdem sie Pascal aus dem Weg geräumt hat. Ob er wohl von der Aktion wusste? Immerhin hat er ihr ja sonst auch alles weitergetratscht, die miese Petze. Gerade, als ich jedoch überlege, ob ich jetzt lieber nach einem Anwalt verlangen sollte, ändert Michelle schon wieder ihre Taktik.

 

„Eigentlich wollte ich dich da ja schon zur Rede stellen, doch dann dachte ich mir: Hey, was soll’s? Fabian ist gut drauf. Es wird schon nicht so schlimm sein. Aber dann, an dem Abend, als wir im Kino waren, warst du so … aufgewühlt. Du hast während der ganzen Fahrt kein Wort gesagt und warst auch sonst verdächtig ruhig. Nicht einmal mit diesem Stripper-Film konnte man dich hinter dem Ofen vorlocken. Da wusste ich, dass etwas passiert sein muss. Etwas, das mit ziemlicher Sicherheit mit Bruno zu tun hat. Und ich frage mich schon die ganz Zeit, was das ist.“

 

Wow, sie ist echt gut, das muss man ihr lassen. Denn ganz kurz, also wirklich nur für den Hauch einer Sekunde, war ich gerade tatsächlich in Versuchung, mich ihr an die wogende Brust zu werfen und ihr mein Leid zu klagen. Fast. Nur leider zieht diese Lasst-Busen-Sprechen-Nummer bei mir nicht und die Blitzblaue-Liebmädchen-Äugelein-Masche auch nicht.

 

„Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.“
 

Wenn ich mich weiter dumm stelle, kommt Pascal vielleicht mit dem Essen zurück und da sie ja gut erzogen ist, hab ich dann vielleicht meine Ruhe. Weil 'mit vollem Mund' und so.
 

„Fabian!“

 

Jetzt ist sie kurz davor, körperliche Gewalt anzuwenden. Ich sehe es genau und ich weiß, dass sie ganz schön zuknuffen kann. Nicht wirklich ladylike, aber echt effektiv.
 

„Jetzt rück endlich damit raus. Pascal ist schon ganz kirre deswegen.“

 

Ich schiebe die Unterlippe vor und gebe den Beleidigten.
 

„Und warum fragt er mich dann nicht selbst?“

 

Als Antwort bekomme ich ein Augenrollen.
 

„Weil er darauf wartet, dass du zu ihm kommst. Aber du bist ja stur wie eine Kartoffel und leidest lieber stumm vor dich hin. Anstatt einfach mal miteinander zu reden.“

 

So ein bisschen möchte ich ja immer noch zicken. Ja, zicken! Weil Pascal und Michelle die ganze Zeit gewusst haben, dass Bruno im Spiel ist, und nicht ein Sterbenswörtchen gesagt haben, während ich nutzlos Zeit und Energie darauf verwendet habe, sie genau das nicht merken zu lassen. Das hätte ich mir auch sparen können. Echt mal.

 

„Ihr könnt euch wieder abregen“, murre ich deswegen und bringe mich vorsichtshalber trotzdem aus Michelles Reichweite. „Wir haben das Ganze geklärt. Kein Grund, euch eure hübschen Köpfchen zu zerbrechen.“

 

Mehr ins Detail werde ich definitiv nicht gehen, und wenn sie sich auf den Kopf stellt. Allein dass ich zugegeben habe, dass das Ganze etwas mit Bruno zu tun hat, ist mehr, als ich jemals für möglich gehalten hätte.
 

„Ach wirklich?“

 

Der Ton, in dem sie das sagt, legt nahe, dass sie mir kein bisschen glaubt. Aber ich will es ihr nicht erzählen. Ich will nicht!

 

Michelle schnauft und ich rücke gnädigerweise auf dem Sofa ein wenig beiseite, bevor sie sich neben mich plumpsen lässt. Ist ja nicht so, als wenn ich hier zu Hause wäre. Aber ich habe definitiv die älteren Rechte, das muss man mal festhalten.
 

Während ich also die Fernbedienung suche, die irgendwo in den Tiefen der Couchlandschaft verschwunden ist, ist Michelle immer noch nicht fertig mit dem Thema. Himmel, die Frau nervt.

 

„Du würdest mir aber schon sagen, wenn er … na ja. Wenn er dir was getan hätte, oder?“

 

Ich unterbreche meine Suche, um sie ein bisschen begriffsstutzig anzustarren.

 

„Getan? Was denn getan?“

 

Michelle hebt die Schultern.
 

„Weiß nicht. Dich vielleicht … bedroht. Oder erpresst. Um Geld oder so.“

 

Oh man, so langsam wird sie mir echt unheimlich. Denn irgendwo hat sie die Sache ja haargenau erfasst. Nur, dass sie die Rollen dabei genau vertauscht hat.
 

„Nein, hat er nicht“, versichere ich deswegen ausnahmsweise mal aufrichtig. Michelle nickt mit aufeinander gepressten Lippen.
 

„Hätte mich auch gewundert. Dazu ist er einfach nicht der Typ.“

 

Eigentlich bin ich ja wirklich, wirklich in meine Suche nach dem blöden Remote-Teil vertieft, aber der einzige Platz, an dem ich noch nicht nachgesehen habe, ist der, auf dem Michelle sitzt. Außerdem guckt sie so … so!
 

„Als wenn du dich da auskennen würdest“, grummele ich daher leicht frustriert und durchkämme zur Sicherheit doch nochmal die Sofakissen. Man kann ja nie wissen.
 

„Na jaaa …“, antwortet Michelle gedehnt. „Also eigentlich kommt das schon irgendwie hin. Immerhin kenne ich Bruno ja bereits, seit wir klein waren.“

 

Sie lacht.
 

„Obwohl Bruno eigentlich noch nie wirklich klein war. Ich weiß noch, wie er sich auf den Klassenfotos immer neben unsere Lehrerin stellen musste, damit das nicht so auffällt. Einmal wollte ihn ein Vertretungslehrer sogar rauswerfen, weil er dachte, einer der Drittklässler habe sich bei uns reingeschummelt. Man, war der sauer.“

 

Ich grinse ein bisschen.
 

„Wer? Bruno, oder der Lehrer?“

„Beide.“

 

Michelle lacht immer noch und plötzlich finde ich gar nicht mehr, dass sie blöd aussieht. Tut sie ja eigentlich auch nicht. Es ist nur … na ja. Weil Pascal sie halt lieber mag als mich. Ich will auch einen Pascal.

 

„Und sonst?“, frage ich weiter. „Wie war Bruno sonst so. Als Kind meine ich?“

 

Michelle zieht die Nase kraus und wackelt mit der Schnute.
 

„Eigentlich nicht viel anders als jetzt. Groß, grob, ungehobelt. Obwohl er manchmal auch so seine Momente hatte. Ich weiß noch, wie er mir damals im Matheunterricht mein Lineal zerbrochen hat. Statt sich zu entschuldigen, hat er sich einfach umgedreht und ist weggegangen. Ich dachte ja noch: 'Was für ein Blödmann', aber am nächsten Tag stand er plötzlich vor der Schultür und hat auf mich gewartet. 'Gib her' hat er gesagt und dann meinen Ranzen den ganzen Weg bis in unser Klassenzimmer geschleppt. Und mittags wieder zurück. Wie ein Irrer. Eine ganze Woche lang. Und dann erst die Sache mit dem Hamster.“
 

Sie lacht und ich horche auf.

 

„Hamster? Was für ein Hamster?“

 

Michelle streicht sich eine Strähne hinters Ohr und zieht die Füße in einen Schneidersitz.
 

„Wir hatten damals in der Klasse einen Hamster. Eine völlig bescheuerte Idee, wenn du mich fragst, aber damals wussten wir das natürlich nicht. Eines Tages lag der kleine Kerl dann leider tot im Käfig. Die anderen wollten ihn rausholen und anfassen, aber Bruno hat sie alle weggeschubst und gesagt, dass wir ihn beerdigen müssen. Wie ein Riesen-Trauerzug sind wir dann zum Lehrerzimmer gelaufen, Bruno vorneweg mit dem Käfig, wir anderen hinterher. Leider hat unsere Lehrerin uns verboten, den Hamster im Schulgarten zu vergraben. Also hat Bruno ihn ganz vorsichtig in seinen Ranzen gepackt und mit nach Hause genommen.“

 

Immer noch hänge ich an Michelles Lippen. Das klingt alles so unglaublich.

 

„Ja und?“, frage ich ungeduldig, als sie einfach aufhört zu erzählen. „Wie ging es weiter.“

 

Michelle zuckt mit den Schultern.
 

„Keine Ahnung. Als Bruno am nächsten Tag in die Schule kam und wir ihn danach gefragt haben, hat er nicht geantwortet. Wir haben ihn gelöchert und gelöchert, bis er irgendwann wütend geworden ist und uns angeschrien hat, dass wir ihn endlich mit dem dämlichen Hamster in Ruhe lassen sollen. Und dass der Nächste, der ihn fragt, eins aufs Maul kriegt. Hat natürlich keiner geglaubt, bis er seine Drohung wahrgemacht und Theo Schelke Nasenbluten verpasst hat. Danach musste er zwei Stunden nachsitzen und wir haben nie wieder über den Hamster gesprochen.“

 

Ich unterdrücke ein Knurren. Das ist jetzt irgendwie unbefriedigend und nicht halb so lustig, wie ich es mir vorgestellt habe. Fast wie dieser Besuch bei Bruno, nach dem ich mich eigentlich hätte besser fühlen sollen, der aber alles nur noch schlimmer gemacht hat. Oder wenigstens maximal anders, aber nicht besser.

 

Ohne es zu merken, habe ich angefangen, auf meiner Unterlippe herumzukauen. Mal wieder. Das Ding ist schon völlig zernagt, auch wenn in den letzten zwei Wochen meistens nur Mist dabei rausgekommen ist.

 

„Und? Was willst du jetzt machen?“

 

Ich blicke auf und damit direkt in Michelles fragende Augen.
 

„Machen?“, echoe ich. „Wie meinst du das?“

 

Sie schnaubt ein bisschen belustigt.
 

„Na weil du so aussiehst, als würdest du gerade einen Plan schmieden, mit dem ich hundertprozentig nicht einverstanden wäre, wenn ich ihn kennen würde.“

 

Ich überlege kurz, dann grinse ich breit und frech.
 

„Tja, dann würde ich mal sagen, dass ich ihn dir besser nicht verrate.“

 

Im nächsten Moment muss ich mich vor einem sich viel zu schnell nähernden Kissen in Sicherheit bringen. Man, die Frau ist echt gewalttätig. Während ich also mache, dass ich wegkomme, fängt mein Gehirn allerdings tatsächlich an zu arbeiten. Was, wenn ich Bruno zu einem allerletzten Treffen überreden würde? So rein hypothetisch natürlich. Ob er sich darauf einlassen würde?

 

Da müsstest du aber sehr überzeugend sein.

 

Leider muss ich dem nervigen Typen in meinem Kopf ausnahmsweise mal Recht geben. Aber just in diesem Moment fällt mir auch schon etwas ein, wie ich mit meinem Plan Erfolg haben könnte. Sofort zücke ich mein Handy und werfe die Suchmaschine an.

 

„Bräuer Moden?“, fragt Michelle erstaunt, nachdem sie unerlaubterweise einen Blick auf mein Display geworfen hat. „Was willst du da denn?“

 

Ich presse das Gerät an meine Brust und versuche, möglichst unschuldig auszusehen.
 

„Och, nichts Besonderes“, flunkere ich, ohne mit der Wimper zu zucken. „Meine Mutter hat bald Geburtstag und ich wollte dort nach einem Geschenk für sie schauen.“

 

Michelle macht große Augen.

 

„In einem Laden für Herrenmode?

 

Jetzt ist es an mir, ein dummes Gesicht zu machen, und ich merke erst, als Michelle anfängt zu lachen, dass sie mich verarscht hat.

 

„Nee, keine Bange“, erklärt sie kichernd. „Die haben auch was für Damen. Aber ich glaube nicht, dass das der Geschmack deiner Mutter ist. Die Sachen von da sind voll spießig.“

 

Ich nicke nur, denn eigentlich glaube ich das auch nicht. Im Gegenteil; ich bin sogar der festen Überzeugung, dass meine werte Erzeugerin alles, was der Laden zu bieten hat, vollkommen scheußlich finden wird. Allerdings bin ich mir ebenso sicher, dass ich dort trotzdem genau das bekommen werde, was ich brauche. Hundertprozentig sicher.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  chaos-kao
2023-03-16T19:37:13+00:00 16.03.2023 20:37
Ich hab mich bei der Beschreibung des Hauses so richtig unwohl gefühlt. Das klingt nach keinem guten Ort um aufzuwachsen.

Michelle hat definitiv eine gute Intuition, auch wenn sie am Ende dick falsch damit liegt was wirklich vor sich geht.

Ich bin gespannt wo das am Ende alles hin führt und welche Erfahrungen mit Küssen Fabian gemacht hat, dass schon der Versuch ihn so verschreckt.

(Kleinen Fehler hab ich gefunden. In dem Satz "Wenn ich mich weiter dumm stelle, kommt Fabian vielleicht mit dem Essen zurück und da sie ja gut..." müsste es Pascal und nicht Fabian heißen.)
Antwort von:  Maginisha
17.03.2023 08:15
Hey chaos-kao!

Ich glaube, das ging uns allen so. Obwohl es den Bewohnern selbst vielleicht gar nicht mal so bewusst ist. Für das, was einen täglich umgibt, ist man ja doch auch immer ein Stück weit blind.

Ich denke, an Michelles Reaktion bzw. Schlussfolgerung, kann man vielleicht auch sehen, warum sich Fabian ein wenig schwer mit der Situation tut. Ich meine: Ausgerechnet Bruno. Kann ja nicht sein. Aber das wird im nächsten Kapitel - hoffentlich - mal Thema. ^^

Den Fehler habe ich natürlich sofort geändert. Meine Güte, jetzt schmeiße ich selbst meine Charaktere schon durcheinander. Wobei ich gerade echt Schwierigkeiten habe, Bruno nicht dauernd "Leander Plattner" zu nennen, weil er einer Figur aus "Ein Sams für Martin Taschenbier" so unglaublich ähnelt. :D

Mal schauen, wann ich zum Weitertippen komme. Momentan stehen hier so viele Sachen an: Aber ich schau mal. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  -Chiba-
2023-03-16T05:46:09+00:00 16.03.2023 06:46
Juhu, das ging ja schneller als gedacht^^

Bruno kann einem wirklich leid tun. Und natürlich auch seine Mutter und seine Schwester. Auch aus einem alten Haus kann man etwas schönes und freundliches machen. Vielleicht spielen auch Depressionen eine Rolle in der Familie? Vielleicht ist der Vater depressiv und deswegen auch gewalttätig? Und darunter leidet dann die ganze Familie und das Haus.
Ich hoffe, dass sich für die Familie noch alles zum Guten wendet. So ein Leben ist nämlich echt nicht schön.

Die Szene zwischen Michelle und Fabian hat mir gut gefallen. Sie scheint sich echt Sorgen um ihn zu machen. Ich hab das Gefühl, dass die beiden schon gute Freunde geworden sind (obwohl das wahrscheinlich beide abstreiten würden XD).

Jetzt bin ich ja mal auf Fabians Idee gespannt. Bisher waren die ja nicht immer...na ja...von Erfolg gekrönt?
Hoffentlich geht das nicht nach hinten los.
Wobei...wenn Bruno sich nicht auf ein weiteres Treffen einlässt und Fabian weiter ignoriert, dann wäre die Geschichte ja bald zu Ende. Also muss Fabians Plan ja irgendwie aufgehen ^0^

Bin schon auf die Fortsetzung gespannt *~*

LG
Chi
Antwort von:  Maginisha
16.03.2023 14:55
Hey Chiba!

Depressionen würde ich Brunos Vater jetzt nicht wirklich attestieren wollen, obwohl er natürlich so seine Probleme hat. Ein "schönes Haus" in dem Sinne, wie Fabian es versteht, gehört für ihn aber einfach nicht dazu. Er muss sich um Wichtigeres kümmern. Den Hof, die Tiere (ich weiß nicht, ob das rüberkam, dass Brunos Vater Landwirt ist?) und natürlich das Ansehen der Familie und was die Leute denken. Ganz wichtig. Aber wirklich gut macht er seinen Job nicht, das ist schon richtig. Schön geht anders.

Michelle würde Fabian vermutlich schon als Freund betrachten, sie sieh nur halt auch seine Fehler und ist der Meinung, dass er da was tun müsste. Aber sie hat auch ein großes Herz und versteht, dass vieles für ihn nicht so einfach ist. Aber trotzdem ... (So ungefähr könnte man das wohl beschreiben.) Von daher mag sie ihn schon, aber eben mit einem "Aber". Da ist noch viel Luft nach oben. ^^

Im katastrophale Pläne machen ist Fabian tatsächlich der ungekrönte Meister. Ob es dieses Mal besser wird? Hoffen wir es mal, aber ich denke, du hast da schon ganz richtig kombiniert. Wenn nicht, wäre die Geschichte wohl bald zu Ende. :D

Mal sehen, ob ich morgen zum Tippen komme. Dann könnte es mit dem nächsten Kapitel ja mal nicht wieder zwei Wochen dauern. ;D

Zauberhafte Grüße
Mag
Mag
Von:  Ryosae
2023-03-15T22:54:46+00:00 15.03.2023 23:54
Wie toll ist das denn? Da schaut man zufällig vor dem Schlafengehen auf Mexx nach und schawupp - neues Kapitel! :D
Schlecht für den Schlaf - gut für das Fanherz. xD

Es ist so toll. Der Anfang über Brunos Wohnsituation ist beeindruckend geschrieben. Wie wohnt die Familie bitte? Die Familie lebt in der falschen Zeit. In der Eiche-Rustikal-Zeit.. mann, mann. Alles so erdrückend Dunkel. Der große Kerl fühlt sich dort bestimmt ziemlich klein und allein.
Was es wohl mit seiner kleinen Schwester auf sich hat?
Wenn ich einen Bekannten von mir zitieren darf: Krass, was da abgeht. 😅

Und Michelle! Ich liebe das Mädel xDD
Exzellente Kombinationsgabe. Sie hat also doch alles von Anfang an bemerkt. Das Geplänkel zwischen ihr und Fabian ist zum schießen! Mir gefällt so sehr ihre dynamik, auch wenn der gute Fabian noch nicht zugeben möchte, dass er sie mag.
Wir wissen es doch alle ;)

Wird Fabi Bruno jetzt sein eigenes Hemd kaufen?! 😍
Das wäre eine süße Geste!
Ob Bruno nachgeben wird? Werden wir es beim nächsten Mal lesen?

Tschau Kakao
Ryo
Antwort von:  Maginisha
16.03.2023 14:48
HEy Ryo!

Jahaa, ich hatte dann am Wochenende doch noch einiges getippt und nachdem ich das Ganze noch etwas überarbeitet hatte, passte es dann wieder. Und hätte ich nicht noch nach Schokoladen-Fondues gesucht, wäre es sogar noch etwas früher fertig gewesen. :D

Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass diese Schilderungen nicht so weit hergeholt sind. Ich kenne da ja Leute ... Wobei man ja auch bedenken muss, dass wir das Ganze aus Fabians Sichtweise betrachten. Für die eigentlichen Bewohner ist es also vielleicht auch ein Stück weit "normal", besonders, wenn man sonst nicht viele Vergleichsmöglichkeiten hat.

Zur Schwester gibt es tatsächlich noch mehr Hintergrund, aber ich bin mir noch nicht sicher wo/wann/ob das noch in die Geschichte einfließen wird. Mal sehen. Erst mal hat Bruno sie aber aus dem Hut gezaubert, womit sie sinnbildlich für Vieles steht, das Fabian über seinen "fuckbuddy" einfach mal nicht weiß.

Mögen? Michelle? Fabian würde dir einen Vogel zeigen. :D Aber auch da zeigt sich natürlich, dass wir eben Fabians Brille aufhaben, wenn es um die Leute in seiner Umgebung geht. Und an der ändert sich so langsam aber sicher was. Mal sehen, ob das mit Bruno auch noch passiert, und wenn ja, warum.

Das mit dem Hemd ist übrigens eine fabelhafte Idee. Schade, dass Fabian nicht darauf gekommen ist. *g*
Das Ergebnis seines Plans bekommt ihr aber im nächsten Kapitel auf jeden Fall zu lesen und auch, wie Bruno darauf reagiert. So kompliziert ist das Ganze nämlich nicht. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag


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