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Herzschmerzhelden

von

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Keine Antwort

„Vorsicht Stufe!“

 

Instinktiv strecke ich die Arme aus und werde langsamer. Links bekomme ich rauen Stein zu fassen, rechts einen Türrahmen und vor mir befindet sich nichts als warme, nach Sommer riechende Luft, Vogelgezwitscher und das Brummen eines Insekts, das ziemlich nahe an mir vorbeifliegt. Wir befinden uns also an der Terrassentür, das heißt offenbar, dass die Überraschung, die Pascal mir so großspurig angekündigt hat, draußen ist. Hinter mir höre ich meinen Freund ungeduldig herumhampeln.

 

„Nun mach schon, geh endlich.“

 

Ich grinse, weil ihm sein Plan, mich mit geschlossenen Augen durch die Gegend zu lotsen, offenbar gerade gar nicht mehr gefällt. Aber nett wie ich bin, lasse ich ihn nicht weiter zappeln.

 

„Kann ich denn jetzt gucken?“, frage ich, nachdem ich einen Schritt vorgetreten bin und somit auf der Simmerichschen Terrasse stehe. Die Sonne hat die grauen Fliesen ordentlich aufgeheizt und ich spüre ihre Wärme unter meinen Fußsohlen. Trotz Socken.

 

„Nein, warte. Einen Augenblick noch.“

 

Pascals Hände legen sich auf meine Schultern und schieben mich noch ein Stück vorwärts. Wären unsere Rollen vertauscht, müsste ich jetzt wohl Angst haben, dass er mich in den Pool schubst. So jedoch weiß ich, dass mir nichts passieren wird. Pascal ist viel zu anständig.

 

„Jetzt kannst du gucken.“

 

Vorsichtig blinzele ich und sondiere die Lage. Ich stehe tatsächlich noch weit genug weg vom Pool, um nicht im nächsten Moment hineinzufliegen. Allerdings hat sich etwas verändert. Da ist immer noch die geschmackvolle Loungegarnitur, die blühenden Hortensienbüsche, der nahezu englische Rasen, die in Form geschnittenen Orangenbäumchen und die von keinem Krümel Unkraut verunzierten Beete. Inmitten des Ausblicks allerdings, der normalerweise unverdeckt bis ins Tal hinab geht, prangt ein riesiges, viereckiges, mit Wasser gefülltes Gebilde. Die dunklen Wände mit der kleinen Einstiegstreppe sind perfekt auf die Holzelemente des Hauses abgestimmt und auf einen Wink mit Pascals Handy hin fängt das Wasser im Inneren des Dings zuerst an zu brodeln und dann auch noch die Farbe zu wechseln. Im Halbminutentakt erstrahlt der gesamte Pool in rotem, grünem, blauen, gelben, türkisem und violettem Licht. Ich glaub, ich steh im Wald. Das ist ja wie Weihnachten. Nur nasser. Und geiler.
 

„Der Wahnsinn!“, stammele ich irgendwann, als ich meinen Mund wieder zugeklappt bekomme. Pascal grinst bis über beide Ohren.

 

„Fett, oder? Komm mit, ich zeig ihn dir.“

 

Er packt meine Hand und zieht mich ohne große Gegenwehr vorwärts. Das ist so ultrakrass. Die Erfüllung meiner feuchtesten Träume, die ausnahmsweise mal nichts mit Männerhintern in engen Shorts zu tun haben. Ein Wunder. Ein Himmelreich. Ein Eins-A-Riesen-Luxus-Whirlpool. Ich kann es immer noch nicht fassen.

 

„Wenn ich sterbe, will ich, dass du meine Asche hier drin verstreust“, murmele ich und hänge meine Nase über das mit Chlor ordentlich steril gemachte Heißwasserbecken. Noch nie rochen Chemikalien so gut. Ich glaube, ich schmelze. Pascal lacht hinter mir.
 

„Hab ich doch gewusst, dass es dir gefällt. Na los, wir probieren ihn aus. Ich hol meine Badehose.“

 

Nur widerwillig trenne ich mich von dem Schätzchen, das mir zuzuflüstern scheint, nicht allzu weit wegzulaufen. Als ich mich endlich losreiße, um mich ebenfalls umzuziehen, ist Pascal bereits im Wohnzimmer angekommen.
 

„Yallah, mein Freund!“, ruft er und nimmt gleich zwei Treppenstufen auf einmal. „Wer zu spät kommt, muss nachher an die Tür.“
 

Das wirkt. Entgegen meines Versprechens habe ich nämlich vergessen, Verpflegung mitzubringen, sodass wir nachher Pizza bestellen müssen. Oder vielmehr gleich, was heißt, dass einer von uns in spätestens ner halben Stunde wieder aus dem Wasser muss. Und das werde ganz bestimmt nicht ich sein. Ich schnappe mir also meine Tasche und will Pascal gerade die freischwingende Treppe nach oben folgen, als mir plötzlich eine Idee kommt.

 

Wenn ich hier unten bleibe, bin ich schneller.

 

Keine Ahnung, woher der Gedanke plötzlich kommt, aber ich mache im selben Augenblick, da er mir durch den Kopf schießt, auf dem Absatz kehrt und laufe in Richtung Gäste-WC. Wobei die Bezeichnung „WC“ wirklich stark untertrieben ist. Das hier ist ein voll ausgestattetes Badezimmer, mit Dusche, zwei Waschbecken und sogar einem Bidet. Im Schrank warten stapelweise weiche, flauschige Handtücher und wenn man nicht auf eine Übernachtung vorbereitet ist, befinden sich in den Schubladen alle nur denkbaren Hygieneartikel von Zweitzahnbürste bis Abschminkpads. Und jetzt haben sie auch noch nen Whirlpool. Ich glaub, ich zieh hier ein.

 

Erst einmal geht es jedoch ums Ausziehen. Ich streife also meine Hose, Unterwäsche und Strümpfe ab und meine Badehose über. Auch das olivfarbene Hemd, das ich mehr aus Gründen der Ästhetik anhabe, fliegt in die Ecke. Als ich mich jedoch auch noch des roten T-Shirts entledigen will, das ich darunter trage, stockt meine Bewegung. Auf meinem rechten Arm prangt unübersehbar Brunos Telefonnummer. Natürlich habe ich sie inzwischen in mein Handy eingespeichert und mich sogar getraut, ihm eine Nachricht zu schreiben. Zwei, wenn man genau ist. 'Hey!' und 'Alles okay?' lautete der Text. Beide Nachrichten sind angekommen, beide wurden bisher nicht gelesen. Zumindest, wenn man der Statusanzeige trauen kann. Und natürlich hat Bruno nicht geantwortet. Auch jetzt nicht, wie mich das unter meiner Berührung aufleuchtende Display wissen lässt. Der Bildschirm ist leer, ich habe keine Benachrichtigung. Zur Sicherheit öffne ich nochmal den Messenger für den Fall, dass da irgendwas nicht richtig übermittelt wurde, aber die Häkchen neben meinen Nachrichten sind weiterhin grau und das Symbol am Header des Chats immer noch nichtssagend anonym. Scheiße!
 

„Fabi? Wo steckst du?“

 

Ich zucke zusammen und lasse das Handy schnell zwischen meinen Sachen verschwinden. Pascal muss ja nicht unbedingt wissen, dass ich hier wie ein liebeskrankes Hündchen an meinem Telefon klebe. Zumal ihn das nur wieder auf das Thema „mein geheimer Lover“ bringen würde, das ich seit meiner Ankunft tunlichst vermieden habe.

 

„Komme!“, rufe ich daher schnell und stürme nach draußen, ohne jedoch mein Shirt auszuziehen. Etwas, das Pascal natürlich sofort kommentiert.

 

„Hast du Sonnenbrand?“, fragt er und deutet auf meinen Oberkörper. „Oder Knutschflecke?“

 

Ich zeige ihm meinen Mittelfinger und gehe nicht weiter auf die implizierte Frage ein. Wirklich, der Kerl ist so was von neugierig!
 

„Bestell lieber Pizza“, meine ich, um ihn abzulenken. So wirklich hungrig bin ich eigentlich nicht. Den ganzen Tag schon nicht. Ich ernähre mich sozusagen von Luft und Liebe, haha.

 

„Geht klar“, erwidert Pascal jedoch nur und schiebt ab in die Küche, um in der einzig zumutbaren Pizzeria vor Ort anzurufen. In anderen Städten gäbe es für so was vermutlich ne App, aber nicht hier in Hintertupfingen. Die haben nicht mal ne Website. Es ist ein Wunder, dass man nicht noch per Morsezeichen bestellen muss.

 

„Halbe bis Dreiviertelstunde“, kommt Pascal kurz darauf mit der üblichen Nachricht zurück. Als wenn die jemals was anderes sagen würden, egal wie lange es dauert.
 

„Na dann, ab in die Fluten“, meine ich fröhlich und kaschiere damit meine Befürchtungen, dass er die Telefonnummer auf meinem Arm erspähen könnte. Im Wasser kann ich die bestimmt verstecken. Oder sogar entfernen, obwohl es mir irgendwie nicht gefällt, das zu tun. Immerhin ist die von Bruno.

 

 

Der Pool ist atemberaubend. Nicht nur, dass das Wasser die perfekte Temperatur hat. Sobald ich meinen Körper auf einer der Liegen drapiert habe, umschwärmen mich sofort Millionen von wunderbar kitzelnden Blubberbläschen, von denen ich, wenn ich kitschig veranlagt wäre, wohl behaupten würde, dass sie sich anfühlen wie Engelsflügel. So jedoch bleibt mir nur ein aus dem tiefsten Tiefen meiner Seele stammendes Seufzen und das einzig mögliche Urteil.
 

„Zehn von zehn, Bro!“

 

Wie um das zu bestätigen, lasse ich mich noch ein bisschen tiefer sinken. Oh man, das ist so gut. Seit ich das erste Mal in so einem Teil gesessen habe – Pascals Eltern hatten mich auf einen Ausflug in so ein ultranobles Spa mitgenommen, das aus einer gefühlten Million verschiedenen Saunen, Pools und thematisch aufeinander abgestimmten Ruhezonen bestand – habe ich mir geschworen, dass ich so etwas später mal in mein Badezimmer einbauen lasse. Immerhin liebe ich es zu baden und was könnte es Besseres geben, als sich neben dem Planschen in Bergen von duftendem Schaum noch rundherum von gut eingestellten Düsen wohltuend massieren zu lassen? Also außer natürlich, die Wasserstrahlen würden durch einen knackigen Massageboy ersetzt, aber der läge wohl wirklich außerhalb meiner Preisklasse.

 

„Der Wahnsinn“, sage ich noch einmal, bevor ich auch noch den Kopf untertauche und sofort wieder hebe, weil es da unten einfach laut ist. Okay, Eins zu Null für ne normale Badewanne, aber sonst kriegt mich hier so schnell keiner wieder raus. Nicht mal für Pizza.
 

„Wusste ich doch, dass es dir gefällt“, meint Pascal grinsend von der anderen Seite des Pools. Ich hab wirklich verdammtes Glück, dass seine Eltern ihn so gepolt haben, wenigstens einen Teil seines Reichtums an arme Bedürftige weiterzugeben. Arme Bedürftige wie mich zum Beispiel.

 

„Gefallen?“ echoe ich. „Ich liebe es.“

 

Wäre der Pool ein Mensch und ich ein Hund, würde ich mich wohl jetzt sein Bein rammeln. Wie kann etwas nur so geil sein? Ob man hier drin auch übernachten kann?

 

„Michelle war auch ganz hin und weg“, sagt mein allerliebster Lieblingsfreund und holt mich damit ein winziges Stückchen zurück in die Wirklichkeit. Eigentlich sollte ich jetzt wohl verschnupft sein, weil seine Freundin vor mir hier reindurfte, aber dann beschließe ich, es ihm durchgehen zu lassen. Wenn ich die Wahl zwischen Pascal und Bruno gehabt hätte, um hier herumzuplanschen, wäre meine Wahl eventuell auch auf Letzteren gefallen. Also eigentlich ziemlich bestimmt sogar. Mir ist echt nicht mehr zu helfen.
 

„Mhm“, mache ich daher nur und lasse mich mit geschlossenen Augen nach hinten sinken. Diese Liege ist wirklich so was von bequem. Wenn ich jetzt noch ein Kissen …

 

„Sie hat sogar gemeint, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht doch zwischenfahren. Also wegen des Studiums.“

 

Jetzt fängt der schon wieder damit an. Hat man denn nie seine Ruhe?
 

„Das ist doch Unfug“, brumme ich und versuche, mich auf das warme Wasser zu konzentrieren, das meinen Körper liebkost. „Da ist man ja mindestens zwei Stunden unterwegs.“
 

„Zweieinhalb“, meint Pascal und klingt dabei nicht so unbegeistert, wie er sollte. „Ich hab nachgeschaut.“

 

Zweieinhalb Stunden. Das ist ja total irre! Zumal man die Strecke ja abends auch noch zurück müsste. Das macht doch kein Mensch.

 

„Man könnte im Zug lernen. Die haben da sogar W-Lan.“

 

Anscheinend hat mein lieber Freund sich das alles schon fix und fertig ausgedacht. Ich frage mich nur, wofür? Immerhin wollten wir doch von hier weg.

 

„Woher der Sinneswandel?“, frage ich deshalb und überlege, ob man sich auf diesen vorgeformten Liegen wohl auch auf den Bauch drehen kann. Eine intensive Wasserströmung an der richtigen Stelle, könnte sich interessant anfühlen.

 

„Na ja, du hast doch gemeint, dass deine Klausuren nicht so gut gelaufen sind. Und wenn du vielleicht doch erst nächstes Jahr …“

 

Ich zucke zusammen, reiße die Augen auf und kippe fast von meiner Liege. Hat er etwa gerade ernsthaft in Erwägung gezogen, dass ich durchfallen könnte?
 

„Hey!“, mache ich und klinge dabei auch nicht so überzeugend, wie ich sollte. „Ich werd das schon schaffen. Alles easy, okay?“

 

Pascal lächelt. Und er bemüht sich, dabei nicht allzu mitleidig dreinzuschauen.
 

„Klar. Was sonst. Ich hab halt nur gedacht, für den Fall, dass nicht … Außerdem weiß ich ja nicht, wie die Pläne deines Lovers aussehen. Vielleicht kann der ja hier nicht weg.“

 

Ich schnaufe.
 

„Klar, weil er ein 46-jähriger, verheirateter Familienvater ist“, knurre ich und reiße im nächsten Moment die Augen noch weiter auf, weil Pascal tatsächlich ertappt aussieht. Ertappt!

 

„Ist er nicht!“, erkläre ich zutiefst entrüstet und frage mich, wer von uns eigentlich den Kopf tiefer in der Gosse hat. Oh man, das ist ja eklig. Widerlich! Pfui!

 

„Hab ich auch nicht angenommen“, behauptet Pascal prompt, ohne rot zu werden. Ich glaube, so langsam muss ich aufpassen, dass ich ihm nicht zu viel beibringe. Der trickst mich am Ende noch …
 

„Sonst hätte er dir ja wohl kaum seine Telefonnummer auf den Arm geschrieben.“

 

Argh!

 

Ich versinke trotz der Lautstärke einfach mal unter Wasser, weil ich grad nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Ich meine, müsste Pascal nicht so langsam verstanden haben, dass ich Bruno nicht outen kann? Das geht einfach nicht, das gehört sich nicht. Nicht, wenn man nicht rausfindet, dass er wirklich verheiratet ist und zwei Kinder hat. Und selbst dann wäre das ein absoluter Arsch-Move, so verständlich ich es ja auch fände.

 

Als ich wieder auftauche, sieht Pascal immer noch höchst zufrieden mit sich aus, nur das leichte Flackern in seinem Blick zeigt mir, dass er sich vielleicht doch nicht so ganz sicher ist, ob er nicht ein bisschen zu weit gegangen ist. Das ist jedoch im nächsten Moment vergessen, als es an der Tür klingelt.
 

„Ich geh aufmachen“, meint er und springt auf.

 

„Nimm dir ein Handtuch!“, belle ich hinter ihm her. Er nickt und winkt und hinterlässt weiter eine deutlich sichtbare nasse Spur auf dem Fußboden. Ach, was soll’s. Ist ja nicht mein Wohnzimmer.

 

Kurz darauf erscheint Pascal erneut in der Türöffnung, dieses Mal mit zwei Pizzakartons in der Hand.
 

„Willst du was trinken?“, ruft er und ich wedele lässig mit der Hand.
 

„Chardonnay, Süßer! Aber zack-zack.“

 

Pascal lacht und verschwindet noch einmal, um kurz darauf mit zwei Colas wieder zurückzukommen. Immer noch grinsend wirft er mir eine davon zu.
 

„Cheers!“, rufen wir beide und lassen kurz die Dosen zusammenknallen, bevor wir einen großen Schluck nehmen und uns dann über die Pizza hermachen. Aus den Augenwinkeln checke ich, ob Pascal mich immer noch beobachtet, aber der scheint ganz mit seinem Stück käseüberladenen Teig beschäftigt zu sein. Als er das allerdings vernichtet hat, lehnt er sich zurück und lässt den Blick schweifen.

 

„Weißt du …“, meint er und guckt dabei anscheinend extra nicht in meine Richtung. „Ich hab überlegt, zur Einweihung des neuen Pools ne Party steigen zu lassen. Vielleicht in zwei Wochen oder so. Was meinst du dazu?“

 

Da ich gerade einen großen Bissen im Mund habe, meine ich erst mal gar nichts. Ich wundere mich nur über den Themenwechsel, bis mir auffällt, was in zwei Wochen ist. Entsprechend entgeistert starre ich Pascal an, der mir gegenüber die Unschuld in Person gibt.
 

„In zwei Wochen?“, frage ich nach, schlucke und tue so, als wüsste ich von nichts. „Warum ausgerechnet da?“

 

„Och, nur so“, meint er und beißt mit nur schlecht verborgenem Grinsen nochmal von seiner Pizza ab. „Ich dachte nur, dass dann ja noch genug Zeit ist bis zu den mündlichen Prüfungen ist und wir vielleicht alle ne Aufmunterung vertragen könnten. Ich hab überlegt, den ganzen Jahrgang einzuladen. Nur damit keiner ausgeschlossen wird und so.“

 

Er schaut mich an und seine Augen funkeln jetzt.

 

„Also, was sagst du? Ist das ne gute Idee?“

 

Ich schnaufe ein bisschen und starre auf meine Pizza hinab. Sie haben jede Menge Oregano auf dem Käse verteilt, obwohl ich extra gesagt hatte, dass sie den weglassen sollen. Diese Stümper können aber auch gar nichts. Das Ding schmeckt wie frisch gemähte Wiese.
 

„Wie soll das denn ablaufen?“, frage ich, um mich ein wenig aus der Affäre zu ziehen. Natürlich weiß ich, was er vorhat. Er versucht gerade, der verdammt beste Freund aller Zeiten zu sein und auch gegen meinen ausdrücklichen Wunsch, meinen 18. zu feiern. Spinner!
 

„Tja, keine Ahnung. Ich dachte, wir könnten so ne Art Vor-dem-Abi-Party daraus machen. Du weißt schon, jeder bringt was mit, alle sind eingeladen. Es würde also gar nicht auffallen, wenn da auch jemand kommt, den du unbedingt dabei haben möchtest.“

 

Fuck, er ist wirklich der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Und ne verdammte Nervensäge!
 

„Ich sage dir nicht, wer es ist“, murre ich und beiße noch ein Stück von der Zumutung ab, die sie hier Pizza nennen. Immerhin habe ich dann den Mund voll und kann meinen finsteren Blick auf die Überdosis an Blattwerk schieben. Denn, wenn ich ehrlich bin, hört sich die Idee verdammt klasse an. Ich und Bruno auf einer Party. Wie geil!

 

„Hab ich ja auch nicht gefragt“, meint Pascal mit einem so breiten Grinsen, dass selbst die Tante von 'Smile' vor Neid erblassen würde. „Ich hab nur gedacht, dass du dich vielleicht freuen würdest, wenn wir ein bisschen … feiern. Nichts weiter.“

 

An dieser Stelle beschließe ich, dass ich die Pizza nicht weiter essen werde. Sie ist furchtbar. Ebenso wie die Tatsache, dass ich Pascal so scheiße behandele.
 

„Okay“, sage ich und muss selbst ein bisschen grinsen. „Aber ich will ne Torte. Und Kerzen. Und Feuerwerk!“

 

Pascal lacht, weil er weiß, das mindestens zwei Sachen davon nicht ernst gemeint sind.
 

„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber ich kann nichts versprechen.“
 

„Schon klar“, sage ich und lasse mich zurück in das warme, sprudelnde Wasser sinken. Für einen Moment wage ich, es mir vorzustellen. Die Party, die Leute, Häppchen und Cocktails. Wie ich mich zwischendurch mit Bruno ins obere Bad verziehe und wir ne schnelle Nummer schieben, um danach unentdeckt am Panoramafenster dabei zuzusehen, wie bunte Sterne in den Sommerhimmel schießen. All das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein. Und ich habe einen Freund, der es trotzdem für mich möglich macht. Der sogar erwägt, noch ein weiteres Jahr in diesem Kaff zu verbringen, wenn meine Noten es erforderlich machen. Was nicht der Fall sein wird. Garantiert nicht! Aber alleine, dass er es in Erwägung zieht … Ich bin wirklich ein verdammter Scheiß-Lucker.

 

 

 

„Fabian! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du gefälligst dein Handtuch aufhängen sollst? Und schmeiß doch die dreckigen Sachen bitte gleich in den Wäschekorb, statt sie auf dem Boden liegenzulassen.“

 

Die genervte Stimme meiner Frau Erzeugerin schallt durch den Flur und damit zielgerichtet an mir vorbei. Ich stehe nämlich gerade vor meinem Kleiderschrank und begutachte die enorme Menge an „Nichts Anzuziehen“. Wenn das so weitergeht, muss ich mir bald mal wieder was bestellen. Oder was von Pascal ausleihen, wenn dessen Sachen nicht so unheimlich spießig wären.
 

„Die sind nicht dreckig“, gebe ich nur so halb anwesend zurück. Ehrlich, so langsam müsste sie doch kapiert haben, dass Sachen, die im Badezimmer auf dem Boden liegen, nicht in die Wäsche gehören. Die kann man nochmal anziehen. Nur halt nicht sofort. Und in den Schrank legen kann ich das getragene Zeug ja schließlich auch nicht, also lasse ich es da, wo ich es vermutlich das nächste Mal brauchen werden. Das versteht meine Mutter aber nicht.
 

„Dann räum sie weg.“

 

Siehste, sag ich ja.

 

„Ja ja“, gebe ich zurück und greife nach einem sonnengelben Polo-Shirt mit weißen und hellblauen Streifen. Irgendwie ist mir so, als hätte ich das letztens gerade erst angehabt. Aber wann? Und wo? Außerdem ist es irgendwie zu … gelb. Frustriert stopfe ich es zurück in den Kleiderschrank und will gerade das nächste Teil herausziehen, als meine Mutter mit Sturmmiene in der Tür erscheint.
 

„Hier!“ meckert sie und schmeißt meine Klamotten einfach aufs Bett. Ich taste in Panik nach meinem Handtuch.
 

„Ey, Privatsphäre! Ich bin nackt!“

 

Meine Mutter schnaubt.
 

„Erstens habe ich dich nackt auf die Welt gebracht. Zweitens hast du ne Hose an. Und drittens solltest du dann vielleicht einfach die Tür zumachen. Wir leben schließlich nicht in der U-Bahn.“

 

Damit rauscht sie wieder ab und lässt mich, das nasse Handtuch und die Sachen von gestern alleine zurück. Missmutig lasse ich mich neben den Klamottenstapel fallen und ziehe noch missmutiger mein Handy darunter hervor. Auf dem Display: gähnende Leere. Mal abgesehen von einem Daumen hoch für das witzige Meme, das ich Pascal heute morgen geschickt habe, keinerlei Aktivitäten. Es ist wirklich zum Heulen.

 

Ohne viel Hoffnung, dass das etwas bringt, entsperre ich das Display und rufe den Messenger auf. Mein Zeigefinger schwebt über dem Chat mit Bruno. Die Nummer ist immer noch anonym, was wohl heißt, dass er sie weiterhin nicht gespeichert hat. Aber es gibt eine Antwort von ihm. Ein Lebenszeichen, wenn man so will. Es besteht allerdings nur aus zwei Worten.

 

'Bei Gustav.'

 

Diese höchst ausführliche und so überhaupt nicht befriedigende Nachricht war die Antwort auf die Nachricht, die ich ihm gestern noch im Anflug geistiger Umnachtung unbedingt schicken musste. Vermutlich, weil ich so gehyped war von all der Party-Planerei und Pascal und der Tatsache, dass er das mit Bruno als absolut ernstzunehmende Beziehung behandelt hat. Obwohl es das ja eigentlich noch gar nicht ist. Ich weiß nicht, was es ist. Aber weil Pascal so getan hat und ich dadurch wohl auch irgendwie das Gefühl hatte, einen festen Freund zu haben, habe ich Bruno nochmal geschrieben und gefragt, wo er ist. Natürlich hatte ich nicht erwartet, eine Antwort darauf zu bekommen. Doch dann erschienen plötzlich auf magische Weise diese zwei Worte. Ich bin fast aus dem Bett gefallen und habe bestimmt eine Viertelstunde atemlos darauf gewartet, dass da noch was kommt. Aber nichts. Niente. Nada. Das Handy blieb stumm. Es kam keine Erklärung, keine persönliche Nachricht, kein 'Schlaf gut' oder 'Ich melde mich morgen' oder gar 'Ich wär aber lieber bei dir'. Einfach nur ein großes, fettes Gar nichts, das mich Schluss endlich dazu veranlasst hat, das Handy wegzulegen und zu schlafen. Was natürlich nicht geklappt hat. Verdammter Fuck!

 

Vielleicht sollte ich ihm nochmal schreiben.
 

Das Ding ist nur, ich weiß nicht, was. Dass das Gespräch mit seinen Eltern nicht gut gelaufen ist, kann ich mir ja an drei Fingern abzählen. Andernfalls wäre er wohl nicht geflüchtet. Dass er weiterhin vermutlich nicht wirklich unbeobachtet ist, ist auch klar. Wenn ich ihm jetzt also was allzu Verfängliches schreibe und Gustav dann das Handy in die Finger bekommt oder er gar mitkriegt, wenn ich Bruno texte oder ihn anrufe … nee, das lassen wir lieber. Bliebe also die Möglichkeit, was relativ Belangloses zu schreiben, was wiederum total dämlich ist, weil ich ja weiß, was gerade bei ihm abgeht. Oder es eben nicht weiß.

 

Argh!

 

Wütend pfeffere ich das Handy wieder aufs Bett und vergrabe die Hände in meinen Haaren. Gibt bestimmt einen ganz prima crunchy Out-of-bed-Look. Wobei ich fast schon vor mir sehe, dass das heute eher ein Inside-bed-Look wird. Es steht nämlich so gar nichts an und ich langweile mich jetzt schon des Todes. Alternativ werde ich verrückt wegen Bruno. Da kann man sich doch nur die Haare raufen.

 

Weil ich keinen Bock mehr habe, mir weiter Gedanken zu machen, und es für den übergroßen, schwarzen Hoodie, nachdem mir eigentlich wäre, heute viel zu warm ist, greife ich der Einfachheit halber nach dem roten Shirt von gestern und streife es über den Kopf. Damit habe ich immerhin einen Menschen in diesem Haus glücklich gemacht und das ist ja auch was wert.

 

Immer noch voller negativem Optimismus und mit wenig Hoffnung auf Besserung, begebe ich mich in Richtung Küche, um mich dort im aufgestockten Kühlschrank nach etwas umzusehen, dass meine Laune bessert. Karamellpudding zum Beispiel. Oder Mini-Käse.

 

Als ich an der Badezimmertür vorbeikomme, stoppe ich jedoch. Durch den Türspalt – wer wohnt jetzt hier in ner U-Bahn? – kann ich meine Mutter sehen, die vor dem Spiegel steht und sich schminkt. An einem Samstag. Was ist denn jetzt kaputt?
 

„Gehst du aus?“, frage ich und lehne mich in die Tür. Gut, das Erstaunen in meiner Stimme ist vielleicht nicht so nett, aber erstens haben wir kurz nach Mittag, zweitens geht sie nie aus und drittens sehen ihre Klamotten nach Arbeit aus. Ein Geschäftsessen? Müsste ich davon wissen?

 

Als Antwort erhalte ich nur ein angestrengtes Atmen; wahrscheinlich, weil sie gerade dabei ist, Wimperntusche aufzutragen. Ich fände so spitze Borsten in der Nähe meines Augapfels ja gruselig, insofern verzeihe ich ihr die mangelnde Konzentration. Eine Antwort bekomme ich trotzdem.

 

„Ich hab doch gesagt, dass ich ins Krankenhaus fahre.
 

Ah ja, da war irgendwas. Als ich vor ner Stunde oder so am Frühstückstisch aufgetaucht bin – 'Räum gefälligst ab, wenn du fertig bist' – hat sie irgendwas davon gefaselt, dass das Mittagessen ausfällt, weil sie nicht da ist. Zu dem Zeitpunkt war ich aber noch nicht aufnahmefähig. Ich staune ohnehin, dass die Info jetzt von irgendwoher in mein Bewusstsein gekrochen kommt.
 

„Wer ist denn krank?“, frage ich unschuldig und ernte einen vernichtenden Blick. (Die Wimpern sind inzwischen fertig getuscht und trocknen vermutlich schneller, wenn man glühende Blicke dazwischen hindurchströmen lässt.)

 

„Ich fahre zu Herrn Häberle, schon vergessen?“

 

Oh. Oh. Jetzt, wo sie es sagt, hat sie so was wohl gestern schon mal erwähnt. Irgendwas wegen seines Testaments oder so. Meine Mutter will das Ding wohl heute abholen, um es möglichst schnell offiziell hinterlegen zu lassen. Warum das nicht am Montag reicht, weiß ich zwar nicht, aber meine Freizeit ist es ja nicht.

 

Sie ist jetzt beim Lippenstift angekommen, was wohl heißt, dass sie gleich aufbrechen wird. Sie hält jedoch inne, dreht den Kopf und schaut mich an.
 

„Willst du mitkommen?“

 

Mitkommen? Ich? Im Ernst?

 

„Herr Häberle würde sich sicher über Besuch freuen.“

 

Herr Häberle würde sich vielleicht auch über ne Nackttänzerin und ne Flasche Einzianschnaps freuen, aber wir sind hier schließlich nicht bei Wünsch-dir-Was.

 

„Weiß nicht“, meine ich und bohre meine nackten Zehn in die Troddeln der Badezimmermatte. „Da sind doch bestimmt voll viele alte Leute.“
 

„Nicht nur“, sagt meine Mutter mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. „Ich habe da auch schon Familien gesehen. Kinder. Es ist eigentlich ganz nett, wenn die Umstände nicht wären.“

 

Ich merke, wie sich in meinem Bauch ein Knoten bildet. Mit dem Tod hatte ich bisher noch nicht so viel zu tun. Also klar, ich war damals auf der Beerdigung meiner Oma und soweit ich mich erinnern kann, habe ich auch geweint, aber so richtig bewusst, was das heißt, wenn jemand stirbt, war mir damals noch nicht. Und eigentlich habe ich auch jetzt nicht wirklich Lust, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Andererseits bringt mich das Ganze vielleicht auf andere Gedanken. Nicht unbedingt bessere, aber andere.
 

„Na schön, ich komme mit“, sage ich daher zu meinem und dem Erstaunen meiner Mutter. Immerhin bin ich ja normalerweise nicht gerade der Fürsorglichsten einer.

 

„Meinst du, wir sollten ihm was mitbringen?“

 

Ich sehe, wie der Gesichtsausdruck meiner Mutter sich wandelt und so ein warmes Lächeln darauf erscheint. So ein Hab-ich-doch-nicht-alles-falsch-gemacht-er-ist-ja-eigentlich-ein-lieber-Junge-Lächeln. Ha! Wenn die wüsste.

 

„Ja, das wäre schön. Wir halten auf dem Weg nochmal an, ja?“
 

Sie strahlt und ich nicke. Keine Ahnung, ob sich Herr Häberle wirklich freut, mich zu sehen, aber meine Mutter scheint von der Idee begeistert zu sein. Und vielleicht meldet sich ja Bruno, während wir da sind. Das wäre doch wirklich mal was Feines.

 

Aber warum sollte er sich melden, quengelt mein inneres Alter Ego. Du hast ihn doch gar nichts gefragt.

 

Stimmt. Hab ich nicht. Aber vielleicht …

 

Noch bevor mein Kopf versteht, was meine Finger da machen, habe ich mein Handy herausgezogen. Noch einmal rufe ich den Chat auf. Immer noch scheint er die Nummer nicht eingespeichert zu haben, aber vielleicht rückt er ja mit der Sprache raus, wenn ich mich interessiert zeige. So ein bisschen wenigstens. Schließlich hat er es versprochen.

 

'Was ist denn passiert?', tippe ich und schicke die Nachricht ab, bevor ich es mir noch anders überlegen kann. Nur Sekunden später ist sie auch schon übermittelt. Das heißt, selbst wenn ich die jetzt lösche, würde er sehen, dass ich ihm geschrieben habe. Es gibt also kein Zurück mehr.

 

Ach, ich lass das jetzt so, denke ich und stopfe mein Handy zurück in meine Hosentasche. Er wird sich schon melden. Ganz bestimmt.

 

 

 

 

Das Gebäude, dem wir uns nähern, ist kleiner und flacher, als ich es erwartet habe. Es sieht eher aus wie ein Wohnheim. Drumherum gibt es eine Parkanlage, viele Bäume, Blumen und Bänke. Auf denen sitzen hier und da Leute und eine Frau mit so einem Nonnending auf dem Kopf schiebt eine andere Frau in einem Rollstuhl durch die Gegend. Wie es aussieht, arbeitet die hier, denn als wir hineingehen, kommen uns zwei weitere Nonnen entgegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das finde, und dementsprechend froh, als meine Mutter am Tresen der Anmeldung auf eine Dame ohne Kopfbedeckung stößt. Während sie mit ihr spricht, stehe ich da mit meinem Blumenstrauß und meinen Keksen in der Hand und komme mir fehl am Platz vor. In einer Couchecke sitzen einige ältere Menschen. Sollten die nicht in ihren Betten liegen und sterben?

 

„Komm, er ist wach“, sagt meine Mutter und geht ohne weiter zu zögern in Richtung Aufzug. Ich folge ihr eilig, damit sie mich hier ja nicht alleine lässt. An der Wand steht ein Sinnspruch. Irgendwas mit 'Zeit' und 'Leben' oder so ähnlich. Ein bisschen zynisch, denn viel Zeit hat hier bestimmt keiner mehr.

 

Reiß dich zusammen, ermahne ich mich ausnahmsweise mal selbst, denn schließlich sind wir hier, um es Herrn Häberle nett zu machen. Und im Gegensatz zu ihm werden wir dieses Haus ja in einer Stunde oder so wieder verlassen. Also Kopf hoch, Brust raus und durch da.

 

Das Zimmer am Ende des Ganges ist dann endlich so, wie ich es erwartet habe. Ein großes, helles, ein wenig an ein Krankenhaus erinnernder Raum mit eingebauter Nasszelle, einem Bett, einer Sitzgruppe, einem Tisch mit drei Stühlen und einem großzügigen Balkon, den Herr Häberle aber wohl nicht mehr betreten wird. Zumindest wirkt die alte, faltige Gestalt inmitten der weißen Bettwäsche nicht so, als würde sie noch irgendwelche Luftsprünge machen. Dementsprechend überrascht bin ich, als der hutzelige Mann plötzlich lospoltert.
 

„Na endlich kommt mal wer. Ich klingle und klingle hier, aber keiner rührt sich. Es ist zu hell. Es zieht. Machen Sie gefälligst das Fenster zu!“

 

Meine Mutter lächelt ein bisschen angestrengt, bevor sie zum Fenster tritt und die Vorhänge ein Stück weit schließt. Anschließend kommt sie zurück zum Bett.
 

„Hallo, Herr Häberle“, sagt sie. Der Alte auf dem Bett, der einen Schlauch in der Nase hat, guckt böse.
 

„Ach Sie sind’s. Ich dachte, es ist einer von diesen Pinguinen. Die lassen mich hier noch im Zug verrecken. Eine Schande ist das.“

 

Er verzieht das Gesicht und bricht im nächsten Moment in einen Hustenanfall aus, der seine gesamte Gestalt erschüttert. Kurz bevor meine Mutter jedoch losprintet, um den Notruf zu betätigen, kriegt Herr Häberle sich wieder ein. Seine trüben Augen richten sich auf mich und er verzieht die eh schon völlig zerfurchte Stirn in noch mehr Falten.
 

„Wer ist das?“, will er wissen, als wäre ich ein Sittenstrolch, der es auf seine Bettpfanne abgesehen hat.
 

„Das ist mein Sohn, Herr Häberle“, erklär meine Mutter. „Sag 'Guten Tag', Fabian.“

 

Ich schicke ihr einen Blick, der hoffentlich laut und deutlich 'Ich bin nicht mehr vier!' ausdrückt, bevor ich mich einige Mikrozentimeter weiter ans Bett wage.

 

„Hallo, Herr Häberle“, sage ich und halte Blumen und Kekse wie einen Schutzschild vor mich. Es sind sehr edle Butterkekse und ein fröhlich-bunter Strauß. Ich hab ihn selbst ausgesucht und dachte, dass ich dem alten Mann damit eine Freude mache. Anscheinend habe ich mich getäuscht.

 

Herr Häberle beachtet die Blumen gar nicht. Stattdessen mustert er mich von Kopf bis Schritt – weiter kommt sein Blick nicht – bevor er die Nase rümpft und mich wissen lässt:
 

„Ich hatte mir dich größer vorgestellt.“

 

Ich blinzele und glaube, mich verhört zu haben. Spinnt der?
 

„Ich sie mir auch“, knurre ich, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht habe. Meine Mutter sieht mich entsetzt an und auch Herrn Häberles Gesicht knautscht sich noch weiter zusammen. Da verdecken auch die dünnen Haare nichts mehr. Dann fängt er an zu lachen.
 

„Na du bist mir ja einer“, meint er und winkt mit seiner knotigen Hand in Richtung Waschbecken.

 

„Tu mal das Gemüse ins Wasser. Und hol mir ne Flasche Wasser. Ich bin durstig.“

 

Ich erspare mir den Hinweis, dass neben seinem Bett noch eine halbvolle Flasche steht. Froh, wenigstens etwas zu tun zu haben, mache ich mich daran, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Und natürlich überhöre ich, wie er zu meiner Mutter sagt, dass der 'Rotzaff' ja nicht alles zu wissen bräuchte und warum sie mich überhaupt mitgebracht hätte.

 

Das scheint eine sehr lange Stunde zu werden.

 

Als ich feststelle, dass im Zimmer keine Vase ist, schickt mich meine Mutter zum Schwesternzimmer. Ich schnappe mir die Blumen und schiebe mit der festen Absicht, so bald nicht wiederzukommen, ab nach draußen. Und die Kekse, nehme ich auch mit.

 

Während mir eine nette, ältere Nonne – die scheinen hier echt vorzuherrschen – eine Vase heraussucht, gibt mein Handy plötzlich einen Ton von sich. Schnell ziehe ich es aus der Tasche und entsperre den Bildschirm. Endlich eine Nachricht. Sie ist allerdings nicht von Bruno, sondern von Pascal.

 

'Heute ist Stadtfest in Wieslingen. Bock mitzukommen?'

 

Ich überlege. Dass er mich das jetzt erst fragt, heißt vermutlich, dass Michelle auch mit von der Partie ist. Und obwohl ich ihm das Versprechen abgenommen habe, dass er ihr gegenüber auf gar keinen Fall etwas von meinem Freund erwähnt, bin ich mir nicht sicher, dass sie nicht vielleicht doch was aus ihm rausgepresst hat. Oder sie wollte einfach nur nett sein. Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass die Einladung auf ihrem Mist gewachsen ist.

 

'Mal sehen', texte ich zurück und schicke die Nachricht schnell ab, weil der Pinguin auf dem Rückweg ist. Ich grinse, als mir klar wird, dass ich den Ausdruck von Herrn Häberle übernommen habe.

 

Wenigstens etwas von ihm, das überleben wird, denke ich und stecke mein Handy wieder weg. Von Bruno habe ich immer noch keine Antwort.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  -Chiba-
2023-06-01T13:34:48+00:00 01.06.2023 15:34
Hey,

hach ja...so ein Whirlpool wäre jetzt was *~*
Da kann man echt neidisch werden. Mein kleines Heim hat ja nicht einmal eine Badewanne TT^TT

Und das Gespräch mit Brunos Eltern scheint wohl nicht so gut gelaufen zu sein...wobei ich seinem Vater auch zutrauen würde, dass er ihn einfach vom Hof gejagt hat, ohne noch einmal mit ihm zu reden.
Meine erste Befürchtung war ja, dass der Vater handgreiflich geworden ist und Bruno verprügelt hat und dieser deswegen zu Gustav ist...aber irgendwie traue ich das diesem halben Hemd nicht zu, auch wenn er ein Choleriker ist.

Und ich bin gespannt, ob sich Bruno Gustav anvertraut. Also ob er ihm sagt, dass er in einen Kerl verknallt ist. Er muss ja nicht gleich Fabians Namen rausposaunen *gg*

Ich hoffe, dass wir im nächsten Kapitel erfahren, wie das Zusammentreffen zwischen Bruno und seinem Vater gelaufen ist. Und dass wir vielleicht auch etwas mehr über die Beziehung von Bruno und Gustav erfahren. Immerhin scheint er diesen ja seinen anderen Freunden vorzuziehen. Vielleicht sind sie ja schon seit dem Sandkasten befreundet?

LG
Chi
Antwort von:  Maginisha
02.06.2023 13:04
Hey Chi!

Ich bin ja ein ganz erklärter Badewannen-Nicht-Fan, aber so einen Pool, wie Pascal da hat ... joah, da würd ich mich wohl auch ne Weile reinlegen. ^^

Das Bild vom halben Hemd kriege ich wohl nicht mehr aus deinem Kopf, was? Aber innerlich stimmt das auf jeden Fall, da hat jemand was zu kompensieren. Heißt aber nicht, dass er nicht zulangen könnte. Immerhin arbeitet er ja auch körperlich, von daher ist er also kein Schwächling. Er hat aber halt nicht so viel sichtbare Muskelmasse wie Bruno, sondern ist eher drahtig. Na ja. Das ist auf jeden Fall nicht passiert, wie das Ganze jedoch abgelaufen ist, da müssen wir uns noch ein bisschen gedulden. Und ich gestehe, dass ich durchaus schon in den Tisch gebissen habe, weil ich die Szene aufgrund der Perspektive nicht ausschreiben konnte, aber hilft ja nichts. Wir werden uns also anders behelfen müssen. Also: Kommt Zeit, kommt Info. Versprochen.

Ob ich Gustav noch mehr Screentime gönne ... ähm ja, mal sehen. Sagen wir mal, er ist zumindest nicht ganz so verbohrt wie beispielsweise Jakob, aber ob das ausreicht, damit Bruno ihm die Wahrheit sagt? Na warten wir es mal ab. Wir haben ja noch ein paar Kapitel vor uns.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2023-06-01T10:43:59+00:00 01.06.2023 12:43
Hey Mag,
Herr Häberle ist ja eine richtige Frohnatur.. nicht xDD
Schon witzig wie viele alte Menschen irgendwie gleich sind. Liegt er in einem Hospiz? Scheint eine wahre Rarität zu sein. Nur Nonnen. Der Wahnsinn. xD

Bin so neidisch auf den Whirlpool! Will auch! Muss ich mich wohl auch mit Pascal anfreunden, hilft ja alles nix. ;)
Tja Bruno ist irgendwie... joa... wort karg wie immer? Also das er sich jetzt so gar nicht meldet find ich komisch. Wie war denn das Gespräch mit den Eltern? Erlöse uns, Bruno, bitte!
Wird es davon nächstes Mal input geben? :D

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
02.06.2023 12:52
Hey Ryo!

Also hier in der Gegend hat man für solche Herrschaften (und bösartige, kleine Hunde) ein sehr schönes Wort: Krepel. Und obwohl ich natürlich nicht für alle älteren Menschen sprechen kann, so würde ich doch sagen, dass eine gewisse Neigung zur Halsstarrigkeit vorhanden ist. Außerdem wussten wir ja schon, dass Herr Häberle dazu neigt, alles und jeden zu verklagen. :D

Er liegt aber leider tatsächlich in einem Hozpiz. Dass diese kirchlich geführt sind, scheint jedoch in dieser Gegend nicht ungewöhnlich zu sein. Sagt zumindest meine Recherche. Es gibt allerdings noch andere Kräfte und auch Ärzte, die sind dann natürlich keine Nonnen. :D

Wer möchte nicht inzwischen einen Pascal. :D

Dass sich Bruno so gar nicht meldet, hängt natürlich mit dem zusammen, was ihm beim Zusammentreffen mit seinen Eltern passiert ist. Und natürlich wird es irgendwann Infos dazu geben, ich verrate aber nicht, wann es so weit sein wird. ;P

Ganz zauberhafte GRüße
Mag


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