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Herzschmerzhelden

von

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Blut ist dicker als Wasser

Die nächsten Tage ziehen sich und gehen trotzdem größtenteils spurlos an mir vorbei. Ich quäle mich morgens aus dem Bett, gammle durch den Tag, ignoriere die Tatsache, dass ich eigentlich lernen müsste, stopfe Blödsinn in mich rein und verbringe zu viel Zeit vor irgendwelchen Bildschirmen. Dazwischen telefoniere oder chatte ich mit Pascal oder manchmal sogar mit Michelle, deren Nummer ich neuerdings mein Eigen nenne. Die beiden bemühen sich redlich, mir das Gefühl zu geben dazuzugehören. Wir haben sogar eine gemeinsame Chatgruppe für die Partyplanung eröffnet, obwohl da nicht wirklich viel abgeht, außer das Michelle mir versprochen hat, absolut göttliche Brownies zu backen. Ich lache, gebe Kommentare zu den verschiedenen Vorschlägen ab und lasse mir nicht anmerken, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Sogar die Sache vom letzten Samstag ist inzwischen abgehakt, nachdem ich habe verlauten lassen, dass ich einfach auf ein paar dumme Arschlöcher gestoßen bin, die mir die Laune verhagelt haben. Ich habe nicht gesagt, wer es war. Das bleibt mein Geheimnis.
 

Alles in allem läuft es also bei mir. Mein Leben ist normal, die Sache mit Bruno so gut wie abgehakt. Alles ist so, wie es noch vor ein paar Wochen war, nur dass ich morgens nicht mehr zu Schule muss und auch sonst viel mehr Freizeit habe. Man sollte also denken, dass ich rundum zufrieden bin. Leider bin ich es nicht und das nervt.

 

Komischerweise scheint es meiner Mutter jedoch ähnlich zu gehen. Dabei geht die doch arbeiten, hat einen regelmäßigen Tagesablauf und so was alles. Also irgendwas stimmt da nicht. Des Rätsels Lösung scheint in greifbare Nähe zu rücken, als sie am Abendbrotstich einen Brief öffnet. Er hat ein kleines Bild von einer Kirche darauf und ich wollte ihn eigentlich schon in den Papiermüll schmeißen, war dann aber doch zu faul dafür.
 

„Was ist das?“, frage ich und pike an meinem Rührei herum. Aus irgendeinem Grund steht die Ketchupflasche auf dem Tisch, obwohl ich mich nicht erinnern kann, sie da hingestellt zu haben. Eigenartig.
 

„Das ist von der Gemeinde. Herr Häberle wird übernächste Woche beigesetzt.“

 

Ich nicke und kaue und schlucke, als ginge mich das nichts an. Dabei muss ich an die Packung Kekse denken, die immer noch in meinem Zimmer steht. Nachdem Herr Häberle gestorben ist, kam es mir irgendwie falsch vor, sie aufzuessen. Die Kekse eines Toten. Obwohl meine Mutter gemeint hat, dass das schon okay sei. Der alte Mann hätte da wohl mehr nach dem Motto „Lieber den Magen verrenken, als dem Wirt was schenken“ gelebt. Insofern sei es in Ordnung, dass ich sie nicht verderben lasse. Aber ich kann trotzdem nicht. Dumm!

 

„Ich werde wohl hingehen.“
 

Meine Mutter sagt das so beiläufig, als wäre nichts das nichts Besonderes, dabei bin ich mir sicher, dass es das doch ist. Sie war immerhin nur seine Anwältin.

 

„Warum?“, frage ich und komme mir wie ein Heuchler vor. Als wenn ich nicht ebenso viele Dinge in petto hätte, wo sich ein normal denkender Mensch fragen würde, warum ich das gemacht habe. Aber schließlich bin ich noch ein Teenager und darf das.
 

„Na ja, er hat wohl sonst keine Verwandten. Und keine Freunde. Ich finde die Vorstellung traurig, dass niemand außer dem Pfarrer und dem Bestatter zu seiner Beerdigung kommen.“

 

Das ist wohl wahr. So was würde ich niemandem wünschen. Obwohl ich mir relativ sicher bin, dass einem das zu dem Zeitpunkt schon reichlich egal ist. An der Sache mit dem Himmelreich ist doch bestimmt eh nichts dran.

 

„Möchtest du auch mitkommen?“

 

Ich hebe den Kopf, um zu sehen, ob meine Mutter das ernst meint, aber sie lächelt einfach nur.
 

„Du musst natürlich nicht. Es war nur so ein Gedanke.“

 

Nur so ein Gedanke. Ja, da ist was dran. Das Gefühl hatte ich in den letzten Tagen ständig.

 

„Mal sehen“, gebe ich indifferent von mir und weiß nicht, ob ich das wirklich will. Beerdigungen sind mit Sicherheit endlos öde und schließlich kannte ich den Mann ja nicht mal. Ich bin ihm einmal begegnet. Obwohl es trotzdem komisch ist, dass er weg ist.

 

Als würde etwas fehlen.
 

Der Satz hallt in meinem Kopf wieder und ich weiß, in welche Richtung er sich bewegt. Die, in der die Erinnerungen an Bruno lauern. Dabei habe ich mich doch echt bemüht, einen Haken an die Sache zu machen. Weil es einfach nicht hinhaut. Weil wir zu unterschiedlich sind. Weil er nicht will.

 

Nein, nicht 'nicht will'. Nicht kann. Das ist jedenfalls das, was er gesagt hat. Oder besser geschrieben. Und irgendwie ist es wohl das, was mich nicht loslässt. Weil, wenn er nicht wollte, fein! Ich will ja hier niemanden zwingen und es gibt noch jede Menge andere schöne Männer da draußen. Aber dieses 'ich kann nicht' ist wie ein Mückenstich, der geradezu danach bettelt, ihn zu kratzen. Dabei habe ich es wirklich versucht. Ich hab mir gesagt, dass es vermutlich heißt, dass er lieber noch ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte in seinem Schrank bleiben möchte. Und eigentlich hätte es nicht der vielen, vielen Internetposts bedurft, um mir klarzumachen, dass ich mich deswegen von ihm fernhalten sollte. Weil das einfach nicht mein Ding ist. Nicht meine Welt. Weil ich was Besseres verdient habe als das. Oder wenigstens was Anderes. Aber irgendwie …

 

„Ich denke, es wäre ein schöner Abschluss.“

 

Meine Mutter quatscht wieder dazwischen und holt mich aus meiner Gedankenwelt zurück an den Küchentisch. Wovon redet sie noch gleich? Ach ja. Herrn Häberles Beerdigung. Und auch, wenn ich wirklich, wirklich keinen Bock habe, da hinzugehen, hat sie mit einer Sache vielleicht nicht ganz unrecht. Es wäre ein Abschluss. Ein richtiger so mit Verabschieden und wissen, dass es danach vorbei ist. Endgültig. Vielleicht ist es das, was mir fehlt.

 

Ich muss nochmal mit Bruno reden, beschließe ich und weiß auch schon, wie ich das anstellen werde. Ganz wohl ist mir bei dem Gedanken nicht, aber immerhin heißt es doch, dass es immer erst mal schlimmer werden muss, bevor es besser werden kann. Ich werde also wohl in den sauren Apfel beißen müssen und mich noch einmal in die Höhle des Löwen begeben. Wird schon schiefgehen.

 

 

 

Das gute am Ort-dessen-Name-nicht-genannt-wird, ist ja, dass nichts wegkommt. In großen Städten findet man unweigerlich irgendwo leerstehende Häuser, Gebäude, die eigentlich abgerissen oder saniert werden müssen, aber sich keiner drum kümmert. In Hintertupfingen passiert so etwas nicht. Möglich, dass es an der sprichwörtlichen Sparsamkeit der Schwaben liegt, aber sei es, wie es sei, für mich heißt dass, dass ich am Freitagnachmittag nicht lange suchen muss, wenn es darum geht, Bruno zu finden. Zumindest hoffe ich, dass er sich in dem schon leicht angeranzten Schuppen befindet, der früher mal eine Kegelbahn war. Nachdem der Besitzer das Zeitliche gesegnet hatte, hat sich der Sportverein die Räume gekrallt und in eine Art Fitnessstudio verwandelt. Natürlich nur für Vereinsmitglieder, wobei da das „mit Glied“ wohl wörtlich genommen wird. Anders kann ich mir die Wolke an angestautem Testosteron nicht erklären, die mir entgegenweht, sobald ich die Tür geöffnet habe. Eventuell ist es aber auch nur eine Mischung aus Schweiß, alten Turnmatten und Talkumpuder. Der typische Turnhallengeruch, der meinen Adrenalinspiegel gleich ein bisschen nach oben treibt. Ich war zwar nie das dicke Kind mit der Brille, das niemand in der Mannschaft haben wollte, aber durch besondere sportliche Leistungen habe ich mich halt auch nicht hervorgetan. Warum auch, das interessiert doch eh niemanden. Und jetzt stehe ich hier inmitten eines wahren Dschungels aus Eisenstangen, Lederpolstern und Stahlgewichten und fürchte mich ein bisschen. Eine moderne Folterkammer, dazu gedacht, den männlichen Körper zu stählen, zu trainieren und zu formen. Eigentlich gar nicht mal so ein schlechtes Prinzip, wenn mir nicht sofort und unmissverständlich klargemacht würde, dass ich nicht hierher gehöre.
 

„Hey, du! Hier ist nur für Mitglieder.“
 

Der Typ, der mir entgegenstiefelt, trägt eine Art tief ausgeschnittenen Badeanzug mit angesetztem Höschen in einem derart grellen Gelbton, dass ich ihn gerne fragen würde, ob er den aus den 90ern hat. Einzig die Tatsache, dass das vermutlich der Wahrheit entspricht, hält mich davon ab. Auch dass Kniestrümpfe zu Shorts anscheinend neuerdings salonfähig sind und man das offenbar am besten mit einem breiten Ledergürtel der Marke „hierfür musste ein halber Ochse sterben“ trägt, will mir nicht so recht in den Kopf. Am schlimmsten ist jedoch der Gesichtsausdruck, der mich an eine wütende Bulldogge erinnert und vermutlich sofort verscheucht hätte, wenn ich nicht a man with a plan wäre. So gelingt es mir nämlich tatsächlich, ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen.

 

„Das ist super“, verkünde ich und gebe mich eifrig. „Ich bin nämlich wegen eines Probetrainings hier. Muss ich mich da bei Ihnen melden?“

 

Die Bulldogge wird unmerklich langsamer und mustert mich von den blond gefärbten Haarspitzen bis runter zu den hochmodernen, weißen Sneakern. Vermutlich ist ihr sofort klar, dass ich hier allenfalls als Hühnerfutter herhalten kann, aber eigentlich will ich ja auch gar keinen Sport machen. Ich will nur mit Bruno sprechen.
 

„Ein Freund von mir trainiert hier, daher wollte ich es auch mal probieren. Sie kennen doch sicher Bruno Spaich?“
 

Die fleischige Visage der Bulldogge zuckt bei der Erwähnung von Brunos Namen und es kommt mir so vor, als würde sie ein kleines bisschen freundlicher dreinschauen.
 

„Natürlich kenne ich den. Er ist gerade hier.“

 

Er dreht sich um.

 

„Bruno? Komm mal rüber. Hier will dich einer sprechen.“

 

Ich lächele immer noch und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Herzschlag sich mindestens verdoppelt, als ich die wohlbekannte Gestalt aus dem Hintergrund auf uns zukommen sehe. Noch kann Bruno mich hinter der massigen Silhouette der Bulldogge nicht ausmachen, aber dann …

 

Bruno bleibt auf der Stelle wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiten sich, als er mich sieht, und ich bilde mir ein, dass er ein bisschen blass um die Nasenspitze wird. Auch er trägt so einen merkwürdigen, hautengen Anzug, wobei seiner in schwarz und rot gehalten ist. Macht das Ding nicht unbedingt kleidsamer, aber wenigstens weniger Augenkrebs erregend. An seinen Händen klebt weißer Staub.

 

„Hallo Bruno!“, rufe ich und winke auch noch, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen. „Ich hab gedacht, ich schau mal vorbei. Du hast ja gesagt, dass du heute trainierst.“
 

Während ich das sage, sehe ich Bruno an und es scheint, als wäre er kurz davor, Reißaus zu nehmen. Er sieht vollkommen geschockt aus und für einen Moment überlege ich, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Aber was hätte ich denn machen sollen? Meine Nachrichten hat er ja nicht beantwortet.

 

'Was kannst du nicht?'

'Was soll das heißen?'

'Antworte mir!'

 

Deswegen stehe ich jetzt hier. Obwohl ich weiß, dass ich es nach dieser Schlappe einfach hätte gut sein lassen sollen und ihn in Frieden. Allein der Versuch, nochmal irgendwas mit ihm zu klären, ist der reinste Selbstbetrug. Aber irgendein sehr, sehr dummer Teil von mir scheint das nicht einsehen zu wollen. Nicht, bevor er es nicht von Bruno selbst gehört hat.

 

Bruno schluckt. Ich sehe förmlich, wie er sich zusammenreißt. Haltung bewahren. Sich nur keine Blöße geben. Keine Schwäche zeigen. Nicht hier und nicht vor ihnen.
 

„Hallo Fabian“, gibt er zurück und seine tiefe Stimme sorgt dafür, dass ich instant Gänsehaut bekomme. Scheiße, ich hab ihn echt vermisst. Obwohl das Schwachsinn ist, immerhin will er mich nicht. Und trotzdem bin ich hier.

 

Idiot!

 

Der Trainer, oder was auch immer der Bulldoggen-Typ darstellen soll, knurrt.
 

„Ich glaub ja nicht, dass dein Freund hier richtig ist. Das halbe Hemd bricht doch schon unter der Stange zusammen. Mal ganz zu schweigen von irgendwelchen Gewichten.“

 

Tja, also wenn ich ehrlich bin, könnte er damit nicht so ganz unrecht haben. Wobei … so ein bisschen was würde ich bestimmt schon schaffen. Nur halt unter Garantie nicht so ein Paket wie das, das jetzt im Hintergrund einer der anderen in die Höhe reißt. Das müssen mindestens 200 Kilo sein. Dabei keucht und schnauft er, als würde er gleich umfallen. Daneben ein anfeuernder Mob.

 

„Atmen!“

„Ja, du hast es.“

„Jetzt ganz ruhig.“

„Hoch! Hoch!“

 

Ein letztes Brüllen und die Stange mit den dicken Eisenscheiben hebt sich in die Höhe, bevor der Koloss sie nach einem kurzen Halten wieder auf die Matte schmeißt. Die anderen um ihn herum jubeln wie eine Horde wild gewordene Orang-Utans und ich weiß grad nicht, ob ich das jetzt nur dämlich oder gleich abstoßen finden soll. Was finden die nur da dran?
 

Die Dogge in gelb grunzt.

 

„Wir können es ja mal probieren. Hast du Sportsachen mit?“

 

Lächelnd hebe ich meine Tasche. Wie schon gesagt: Ich bin vorbereitet. Der Trainer nickt zufrieden.
 

„Na gut. Bruno, zeig ihm die Umkleiden.“

 

Damit stapft das Bulldoggen-Gesicht von dannen und lässt mich und Bruno allein zurück. Der wiederum sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Missmutig knurrt er mich an.

 

„Komm mit.“

 

Mit diesen Worten dreht Bruno sich um und stapft – anders kann man die Gangart mit diesen albernen Halbstrümpfen, die auch seine Beine bis über die Waden zieren, einfach nicht nennen – in Richtung zweier Türen davon. Daneben ein Glaskasten, indem früher vermutlich mal die Elektronik der Kegelbahn saß. Wenn es so was denn hier überhaupt schon gab. Der Zustand der Umkleide lässt jedenfalls nicht darauf schließen. Man, das ist ja noch elender als bei uns in der Schule und das will schon was heißen.

 

Kaum, dass sich die altersschwache Presspappentür selbsttätig hinter mir geschlossen hat, bleibe ich stehen. Bruno, der noch ein Stück weiter in den braun gefliesten Raum mit den metallenen Schließfächern und den überaus hart aussehenden Holzbänken hineingelaufen ist, wird ebenfalls langsamer. Wenn er sich beeilt hätte, hätte er sich vermutlich in die Waschräume abseilen können, die ich hinter einer halb geöffneten Tür erkennen kann. Die andere Tür im gleichen abstoßenden Kackbraun beherbergt vermutlich Pissoirs und Kabinen für schwerere Fälle. Wieder einmal stehen Bruno und ich uns also zwischen Kacheln und Klostein gegenüber. Nur, dass er dieses Mal nicht mal mehr den Versuch macht, mich anzusehen.
 

„Was willst du?“, fragt er und wirkt dabei nicht so wütend, wie ich befürchtet hatte. Eher resigniert. Oder müde.

 

Vielleicht war es doch keine gute Idee herzukommen. Vielleicht sollte ich einfach gehen.

 

„Du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet“, sage ich, und bemühe mich, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. „Da hab ich mir Sorgen gemacht.“

 

Das ist nicht wirklich gelogen, aber vielleicht ein bisschen vorgeschoben. Die meiste Zeit war ich einfach nur sauer und enttäuscht.

 

Bruno antwortet wieder nicht. Er steht nur da mit gesenktem Kopf und wirkt, als würde er darauf warten, dass ihm irgendjemand den Gnadenstoß versetzt. Vorzugsweise ich. Aber das habe ich nicht vor. So leicht kommt er mir nicht davon.
 

„Warum hast du dich nicht gemeldet?“

 

Brunos großer Brustkorb hebt und senkt sich und ich gebe zu, dass er mir jetzt gerade fast ein bisschen leidtut. Aber ich tue mir auch leid, verdammt. Ich hab diese Scheiße nicht verdient. Und er auch nicht. Trotzdem schweigt er und schweigt und schweigt und macht mich einfach rasend damit. Ich will jetzt endlich eine Erklärung.

 

„Warum …“

„Weil ich nicht konnte!“
 

Wie eine Faustschlag schleudert er mir seine Antwort entgegen. Sein Kopf ruckt herum und ich sehe die Wut darin aufsteigen. Aber auch Verzweiflung. Es schnürt mir die Kehle zu.
 

„Ich konnte nicht“, wiederholt er noch einmal, bevor er den Blick wieder abwendet, die Hände zu Fäusten geballt, als würde er am liebsten auf etwas einschlagen. Doch was immer ihn quält, lässt sich so offenbar nicht beseitigen.
 

„Warum nicht?“

 

Ja, ich weiß, die Frage ist kompliziert. Aber meine Güte, das Leben ist kompliziert. Fucking deal with it.

 

Bruno schweigt wieder und ich fühle förmlich, wie uns die Zeit davonrennt. Ewig werden sie uns hier nicht allein lassen. Wenn er also nicht bald mit der Sprache rausrückt …

 

„Ich hab mich geschämt.“
 

Der Satz, so leise er auch ist, hallt wie ein Glockenschlag zwischen den Wänden wider.

 

Geschämt? Warum?
 

„Weil ich’s verbockt habe.“
 

Die Antwort, auf die Frage, die ich nicht wirklich gestellt, aber wohl ausgestrahlt habe, verwirrt mich. Was genau meint er jetzt? Das mit Samstagabend ist klar. Aber irgendetwas sagt mir, dass das noch nicht alles ist. Wovon also spricht er?
 

„Was ist passiert?“

 

Bruno presst die Lippen aufeinander. Einerseits sieht er immer noch wütend aus, andererseits wirkt es, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Mir ist, als griffen verdammt große Fäuste nach meinem Herz.

 

„Ich hab es nicht hingekriegt“, flüstert er, jetzt wieder so leise, dass ich es kaum verstehe. „An dem Tag, als ich von dir kam, da wollte ich es ihr wirklich sagen. Ich hab gedacht, dass sie es verstehen würde. Dass sie sagen würde, dass es okay ist. Dass es keinen Unterschied macht. Aber als ich dann in der Küche stand, vor ihr ein Berg geschälter Kartoffeln und sie mich so angesehen hat, da … da hab ich mich nicht getraut. Ich hatte plötzlich Angst, dass sie sagt, dass mein Vater ganz recht hätte, mich rauszuschmeißen und dass sie nie wieder was mit mir zu tun haben will. Dabei wollte ich es ihr ja sagen. Ich musste doch, weil …“

 

Brunos Stimme versinkt irgendwo im strategisch platzierten Abfluss, neben dem er steht, und ich bin jetzt immerhin so schlau, dass er offenbar sein Outing versiebt hat. Aber das alleine kann doch nicht das Problem gewesen sein. Oder etwa doch? Hat er etwa gedacht, dass ich deswegen Stress machen würde?

 

„Und dann?“, frage ich, weil mir diese Überlegung nicht gefällt und ich außerdem wissen will, wie es weitergegangen ist. Brunos Gesicht verzieht sich zu einer gequälten Grimasse.
 

„Dann stand auf einmal mein Vater in der Tür. Meine Mutter und ich haben ihn beide nicht kommen hören. Ich weiß noch, wie sie zusammengezuckt ist, als hätte er uns bei etwas Verbotenem erwischt. Und ehrlich gesagt hab ich auch gedacht, dass er ausflippen würde. Aber das ist er nicht. Er hat sich einfach an den Tisch gesetzt und hat so getan, als wäre ich gar nicht da.“
 

Während Bruno das sagt, habe ich unwillkürlich ein Bild vor Augen. Sein Vater mit verschlossenem Gesicht an dem großen Küchentisch, die Mutter erschrocken am Herd, keinen Plan, was sie tun soll, und mittendrin Bruno, der auf das große Donnerwetter wartet, das nicht kommt. Nur eisiges Schweigen. Ich kenne das. Ich habe es mal miterlebt. Es war furchtbar.

 

„Und dann?“

 

Wirklich kreativ ist meine Frage nicht, aber etwas Bessere fällt mir gerade nicht ein. Bruno atmet hörbar aus.
 

„Eine Weile lang hat niemand etwas gesagt. Dann hat mein Vater meine Mutter irgendwann gefragt, ob sie nicht endlich mal das Mittagessen machen wolle. Sie hat sich sofort entschuldigt und angefangen, Töpfe und Schüsseln herauszuholen. Er hat nur dagesessen und kein Wort gesagt. Bis sie mich gefragt hat, ob ich auch Reibekuchen zum Mittag möchte. Da hat er plötzlich geknurrt, dass für einen wie mich hier kein Platz mehr wäre. Meine Mutter hat mich daraufhin angesehen als wollte sie sagen: 'Entschuldige dich doch einfach. Es ist bestimmt alles deine Schuld. Nun bitte ihn schon um Verzeihung.' Da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich bin aus der Küche raus, hoch in mein Zimmer, hab ein paar Sachen in meine Tasche gestopft und bin weg zu Gustav. Ich dachte, ich würde nie wieder zurückkommen.“

 

Nach diesem Redeanfall verfällt Bruno erst einmal wieder in vollkommenes Schweigen und ich weiß auch nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Außer, dass das ja wohl noch nicht das Ende der Geschichte war, denn wie wir beide wissen, ist er ja inzwischen wieder zurückgekrochen. Ob er sich wirklich entschuldigt hat? Seinen Vater angefleht? Ihm versprochen, es nie wieder zu tun? Bei dem Gedanken wird mir schlecht und gleichzeitig fühlt es sich an, als hätte jemand glühende Lava in meinen Bauch gegossen. Das darf doch nicht wahr sein. Das darf doch alles nicht wahr sein.

 

Plötzlich will ich nur noch weg. Mir doch egal, ob Bruno ein Arschloch als Vater hat und welche tollen Gründe es gab, sich dem Deppen wieder vor die Flinte zu schmeißen. Ich bin raus aus der Sache und zwar endgültig.

 

„Ich sollte gehen“, sage ich und will mich schon umdrehen und nach der Türklinke greifen, als Bruno einen Schritt auf mich zumacht.
 

„Fabian.“

 

Meine Nackenhaare richten sich auf. Ich will nicht, dass er meinen Namen sagt. Und ich will auch nicht, dass ich auf einmal nicht mehr gehen will.
 

„Ich wollte es dir erzählen. Ehrlich. Aber ich wusste nicht wie und dann bei Gustav …“

 

Gustav. Immer wieder Gustav. Ob Bruno ihm wohl erzählt hat, warum ihn sein Vater rausgeschmissen hat? Sicher nicht. Gustav! Ha! Ich lach mich tot.

 

Mit angehaltenem Atem und funkelnden Augen wirbele ich wieder zu Bruno herum. Er steht da, die Hand nach mir ausgestreckt und wollte mich wohl aufhalten, aber als er sieht, wie mörderisch mein Blick ist, lässt er den Arm wieder sinken. Ist vielleicht auch besser, sonst hätte ich ihm das Ding vielleicht abgerissen. Ich blecke die Zähne.
 

„Ja?“, frage ich und klinge dabei eklig gehässig. „Was war denn bei Gustav? Hat er dir ein Tittenheft gezeigt und du hast dir gedacht, ach eigentlich ist das ja doch gar nicht so schlecht, ich werd mal wieder hetero?“

 

Ich weiß nicht, woher die Assoziation kommt. Eigentlich habe ich mir bei Gustav nie darüber Gedanken gemacht, auf was er wohl steht. Oder bei sonst jemandem. Die einzigen, die meinen, sich ständig ungefragt in anderer Leute Schlafzimmer einzumischen, sind nämlich die Heten.

 

Bruno weicht zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Chihuahua gegen Dobermann oder so ähnlich. Ein unfairer Kampf, aber jetzt gerade hab ganz klar ich die Hosen an.

 

„Nein, so war das nicht“, stammelt er und wird doch glatt rot. „Gustav hat gar nichts gesagt. Ich hab nur …“
 

„Du hast was?“, fauche ich ihn an. Ich klammere mich regelrecht an meine Wut, damit ich nicht anfange zu heulen. Das ist doch alles scheiße.

 

„Katie war da.“
 

Der Satz ist wie ein Stein, der in einen Weiher plumpst. Plötzlich ist es still und man sieht nur noch die sich ausbreitenden Kreise. Aber man weiß genau, das etwas passiert ist. Wie ein Echo.

 

„Katie?“, frage ich nach einer Weile, als ob ich nicht mehr wüsste, dass das seine Schwester ist. Das kleine Mädchen mit den Zöpfen. Ich hatte sie ganz vergessen.

 

Bruno nickt leicht. Es scheint ihm peinlich zu sein, denn er sieht mir immer noch nicht in die Augen, aber in seinem Gesicht kann ich Entschlossenheit sehen.

 

„Sie kam zu mir und hat mir erzählt, dass sie ausgerissen ist. Um zu mir zu kommen. Und dass unsere Mutter zu Hause nur noch weinen würde, weil ich weg sei. Und dass ich zurückkommen müsse.“

 

Bruno schluckt und ich kann mir denken, dass die Worte in seinem Mund ebenso bitter schmecken wie sie sich anhören.
 

„Ich hab ihr gesagt, dass das nicht geht, weil unser Vater wütend auf mich ist. Und sie hat gesagt: 'Dann entschuldige dich. Papa hat dich doch lieb. Er verzeiht dir.'

 

Bruno schließt die Augen, als würde ihn allein die Erinnerung daran furchtbar quälen. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass er deswegen zurück ist. Wegen seiner Schwester?

 

„Ich hab ihr gesagt, dass ich es mir überlege und sie wieder nach Hause geschickt. Ich wusste, sie würde sonst Ärger kriegen. Danach hab ich … ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte einfach nur noch weg und als Gustav mir dann angeboten hat, auf das Fest zu gehen …“

 

Da hat er zugesagt. Die Schlussfolgerung ist vollkommen logisch und ich hätte es an seiner Stelle auch nicht viel anders gemacht. Was für ein Scheißtag. Was für ne Scheißfamilie. Was für ein Scheißleben.

 

Und dann kam auch noch ich.

 

Ich muss zugeben, dass ich es nicht verstehen will. Was er gemacht hat, war nicht in Ordnung. Er muss doch wissen, dass das nicht in Ordnung war. Aber unter den gegebenen Umständen …

 

Nein! Es war nicht richtig und es wird auch nie richtig sein. Okay?

 

Ich schnaufe, weil ich selbst nicht mehr weiß, was ich glauben soll. Das ist doch alles Mist.

 

„Und warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte das doch … verstanden.“

 

Hätte ich wirklich. Vermutlich. Also vielleicht nicht wirklich, denn schließlich hab ich ja keine kleine Schwester. Aber ich hätte es wenigstens … versucht?

 

Bruno blickt an mir vorbei zu dem vergilbten Lichtschalter neben der Tür.
 

„Weil ich mich geschämt habe“, wiederholt er. „Und weil ich nicht wusste, was ich machen soll. Da warst du und meine Familie und …“

 

„Und da hast du gedacht, du fängst einfach mal Stress mit mir an, damit ich dich nicht mehr haben will?“

 

Ich fasse es nicht. Das ist ja so was von dämlich. Bruno schaut konsterniert.
 

„Nein“, behauptet er und schüttelt den Kopf. „Ich wollte mich eigentlich nur zusaufen. Aber als ich dich da mit dem Typen gesehen habe, da …“

 

Er schaut jetzt auf seine Schuhspitzen, was es auch nicht viel besser macht.

 

„Da wollte ich ihn gerne vermöbeln. Oder dich. Oder irgendwen. Und als du mich dann geschubst hast …“

„Du hast mich zuerst geschubst!“

„Aber du hast mich provoziert!“

„Aber du hast …“

 

An dieser Stelle muss ich innehalten und überlegen, wer eigentlich mit dem ganzen Quatsch angefangen hat, denn ehrlich gesagt ist meine Erinnerung daran etwas schwammig. Muss an der Bowle liegen. Oder am Waldmeister. Ganz bestimmt war es der Waldmeister.

 

„Du hast einfach zugesehen, wie die mich fertiggemacht haben“, trumpfe ich schließlich auf, denn dass das so war, daran kann ich mich noch erinnern. Prompt dreht Bruno den Kopf weg und will sich offenbar am liebsten in einem der Schränke verstecken.
 

„Ja, das war scheiße“, gibt er zu. „Aber ich hatte einfach Angst, dass sie …“

 

„Was merken?“
 

Der Satz war jetzt nicht so schwer zu beenden. Trotzdem zuckt Bruno zusammen und schrumpft gleich noch um einige Zentimeter. Wenn er so weitermacht, ist er bald nur noch so groß wie ich.
 

„Ich hab mich doch schon entschuldigt.“

 

Ich schnaube. Als wenn das aus der Welt schaffen würde, dass er sich wie ein Arsch benommen hat. Aber da war er in der Geschichte wohl nicht der einzige. Sein Vater hat sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Oder seine Mutter. Erst die Klappe nicht aufkriegen und dann rumheulen. Prima Plan.

 

„Und was ist dann passiert?“

 

Immerhin ist zwischen unserem Zusammentreffen auf dem Fest und unserer nächtlichen Schreiberei noch einiges an Zeit vergangen. Wer weiß, vielleicht hat Bruno in der Zeit noch geheiratet. Oder jemanden umgebracht. Möglich wäre es.

 

Bruno richtet seinen Blick auf die hässlichen Fliesen. Wenn wir so weitermachen, hat er wirklich bald alles hier im Raum sehr sorgfältig begutachtet. Alles außer mir.
 

„Also?“, hake ich nach, weil er anscheinend auf Zeit spielt.

 

„Wir haben uns noch ein Bier geholt. Die anderen haben bald ein anderes Gesprächsthema gefunden. Aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie du mich angesehen hast. Und Katie. Und meine Mutter. Und plötzlich ist mir klar geworden, dass ich immer nur alles kaputtmache. So wie früher schon. Und dann hab ich gedacht, dass ich wenigstens ein bisschen was wieder heil machen muss. Wenigstens etwas.“

 

Und das, was er gewählt hat, warst nicht du.

 

Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Ich meine, wer bin ich schon? Klar, wir hatten ein paar Mal Sex, aber im Grunde genommen …

 

Er ist es nicht wert.
 

Gustav wusste es zwar nicht, aber offenbar hat er da den Nagel auf den Kopf getroffen. Bruno wird sicherlich keine Schwierigkeiten haben, jemand anderen zu finden. In nem Jahr oder zwei oder so. Mit dem, was er unterhalb der Gürtellinie anzubieten hat, allemal. Und das mit den Gefühlen … das geht auch wieder vorbei. In nem Jahr oder zwei oder so.

 

„Tja, das … ist dann ja wohl geglückt.“

 

Immerhin wohnt er wieder zu Hause. Mama happy, Schwester happy, Vater immer noch ein Arsch. Passt doch.

 

Bruno sagt nichts dazu. Und eigentlich ist mir das auch ganz recht. Ich will nicht hören, dass es ihm leidtut. Dass er das alles nicht wollte. Dass er nicht anders kann. Vermutlich vor allem, weil ich ihm das auch noch glauben würde. Ich will ihm aber nicht glauben. Ich will sauer auf ihn sein. Weil es dann leichter ist, ihn gehen zu lassen.
 

Apropos gehen. Das sollte ich jetzt langsam echt mal tun. Hab hier ja doch nichts mehr verloren.

 

„Ich geh dann mal“, sage ich – schon wieder – und will mich umdrehen, als Bruno mich schon wieder aufhält. Dieses Mal wirklich. Ich spüre, seine Hand auf meinem Arm.
 

„Bitte, Fabian. Ich … es tut mir so leid.“

 

Oh ja, spielen wir doch ne Runde Bullshit-Bingo. Mal sehen, welche Sprüche von meiner Liste er sonst noch so bringt.
 

„Ich hab das nicht gewollt.“

 

Das wären dann wohl schon zwei.

 

Während ich noch überlege, ob ich die Reihe wohl schon vollmachen kann, weil ich das 'Ich kann das nicht' immerhin schon schriftlich habe, schafft Bruno es doch glatt, mich zu überraschen.

 

„Können wir nicht vielleicht … Freunde bleiben?“

 

Okay, das ist neu. So ein Schwachsinn ist selbst für Bruno eine Meisterleistung. Freunde bleiben? Sein Ernst?

 

„Ich wusste nicht, dass wir Freunde sind“, rutscht es mir heraus. Lover vielleicht. Fuckbuddies. Mittel zum Zweck. Schwanz und Loch. Alles so was halt. Aber Freunde?

 

Auch Bruno scheint zu merken, was er da gerade für einen BS von sich gegeben hat. Seine Ohren werden ein bisschen rot. Ich glaube, das wird mir fehlen.
 

„Na ja, ich … ich mochte das mit dir. Also das Quatschen und das … andere auch. Aber ich kann schon verstehen, wenn das nicht geht. Glaub mir, wenn ich wüsste, wie …“

 

„Wie du es vor deiner Familie geheim halten kannst, würdest du weiter mit mir ficken?“

 

Ich weiß nicht, wo auf einmal diese Gemeinheiten herkommen, aber ich begrüße sie und greife gleich noch einmal zu.
 

„Und wenn wir deinen Freunden begegnen, versprichst du mir, mich auch nur ein ganz kleines bisschen zusammenzuschlagen? Nur so viel, dass keinem auffällt, dass du eigentlich auf Kerle stehst? Ist es das, was du willst? Ist es das?“
 

Scheiße, Bruno. Sag mir, dass es das nicht ist. Bitte!

 

Bruno sieht vollkommen entsetzt aus.

 

„Nein! Nein, natürlich nicht. Ich hab nur gedacht, wir könnten vielleicht … mal miteinander schreiben.“

 

Am liebsten würde ich Nein sagen. Weil das nicht gut gehen kann. Weil wir früher oder später doch wieder bei dem einen Thema landen würden. Und dann würde das eine zum anderen führen und irgendwann liegen wir dann wieder nebeneinander im Bett und fragen uns, wie es so weit kommen konnte. Und er haut ab und ich bleib alleine zurück und warte auf seinen Anruf, aber er meldet sich nicht und …

 

Schluss damit! Du reagierst total über. Wir sind doch hier nicht in Hollywood. Reiß dich zusammen!

 

„Wenn du meine Nummer wieder entsperrst …“

 

Zu dem Schluss bin ich nämlich inzwischen gekommen, nachdem mir sein Online-Status nicht mehr angezeigt wurde. Nicht, dass ich den Chat mit ihm nicht vorher ungefähr 38 mal am Tag aufgerufen hätte, um nachzusehen, ob er meine Nachrichten endlich mal gelesen hat oder so.

 

Der Rotton von Brunos Ohren wird tiefer.
 

„Tut mir leid“, sagt er noch einmal und zieht doch glatt sein Handy heraus, um gleich zur Tat zu schreiten. Ich seufze und lege meine Hand auf das Display.
 

„Nachher reicht völlig.“

 

Oder in ein paar Wochen. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist.

 

Bruno schaut, als hätte ich das Letzte ebenfalls laut ausgesprochen. Wie ein Hund, den man getreten hat.

 

„Dann … sehen wir uns in der Schule?“, fragt er und ich will beinahe sagen, dass sich das ja von selbst versteht, aber dann fällt mir ein, dass das eigentlich gar nicht stimmt. Die Tage, an denen wir da hintapern müssen, sind gezählt. Nichts mehr mit heimlichen Treffen auf dem Klo. Kein Beinstellen mehr auf dem Gang. Keine fiesen Nachrichten mehr auf meinem Tisch. Gar nichts mehr. Kein Sterbenswörtchen von Bruno.

 

Scheiße!

 

Und plötzlich will ich nicht mehr, dass es vorbei ist. Er soll mir schreiben. Meinetwegen auch mitten in der Nacht anrufen. Heimlich, draußen, wenn keiner es hört. Ich treff mich auch mit ihm in seinem Schrank. Alles, wenn er nur nicht weggeht.

 

Sei nicht albern. Das ist doch nicht das, was du willst.

 

Nein, ist es nicht. Aber es ist wohl alles, was ich von ihm bekommen könnte. Und offenbar war Bruno schlauer als ich und hat erkannt, dass das nicht reichen wird.

 

Ich kann nicht.
 

Das hat er geschrieben. Und plötzlich ergibt die Nachricht einen ganz neuen Sinn.

 

Ich kann nicht der sein, den du brauchst.
 

Denn darum geht es doch bei der ganzen Scheiße mit der Liebe, oder nicht? Dass man will, dass der andere glücklich ist. Aber Bruno ist nicht glücklich. Und ich bin es auch nicht.

 

Scheiße!

 

„Du könntest zu Pascals Party kommen.“

 

Fuckfuckfuckfuckfuck! Warum sag ich das gerade? Warum sag ich das bloß?

 

Bruno guckt ein bisschen unsicher, so als wüsste er nicht, ob ich das ernst meine.
 

„Meinst du das ernst?“

 

Siehste, sag ich ja.
 

„Klar“, meine ich und tue so, als wäre das nichts Besonderes. „Er hat schließlich den ganzen Jahrgang eingeladen. Da gehörst du doch auch dazu.“

 

Bruno sieht mich immer noch zweifelnd an.
 

„Also die … anderen haben schon überlegt, ob sie hingehen. Simmrichs haben ja wohl einen Pool und alles. Aber ich hab gedacht, weil er doch dein Freund ist …“
 

„Ach, kein Problem“, behaupte ich und winke lässig ab. Was sind schon ein paar Idioten, wenn ich Bruno wiedersehen kann? Außerdem wäre Pascal wohl wirklich enttäuscht, wenn derjenige, wegen dem er die Party eigentlich veranstaltet, gar nicht auftaucht. Das kann ich meinem besten Freund doch nicht antun.

 

Du weißt aber schon, dass ihr nicht mehr zusammen seid?

 

Ich zeige meiner inneren Stimme einen gepflegten Mittelfinger und ignoriere sie.

 

„Natürlich kommst du. Ich hab nämlich Geburtstag.“

 

Bruno schaut wie ein Auto. Himmel, ich hatte ganz vergessen, wie dämlich er gucken kann.
 

„Du hast … dann ist das deine Party?“

 

Okay, vielleicht nicht ganz so dämlich. Ich gebe ihm ein halbe Lächeln.
 

„Na ja, offiziell nicht. Aber Pascal hat gemeint, dass wir meinen 18. unbedingt feiern müssen und von daher …“

 

„Ich komme“, unterbricht Bruno mich atemlos. Ich bin versucht, einen blöden Spruch zu machen, lasse es aber. Dafür ist das hier gerade zu schön. Zu nah. Zu kostbar.

 

„Na dann …“ beginne ich und würde mich vermutlich noch stundenlang in irgendwelchen Abschiedsfloskeln ergehen bis hin zu dem Punkt, an dem Bruno und ich uns in den Armen liegen und uns leidenschaftlich küssen, aber wie es der Zufall will, reißt in diesem Moment die Bulldodge die Tür auf und blafft mich an.
 

„Du bist ja immer noch nicht umgezogen.“

 

Ich reiße mich zusammen, trete ein Stückchen von Bruno weg und gönne dem Kampfhund auf zwei Beinen ein entschuldigendes Lächeln.
 

„Tja, äh, wissen Sie, ich hab es mir überlegt. Badeanzüge stehen mir nicht besonders und dann diese Kniestrümpfe. Ich glaube, damit kann ich mich nicht anfreunden. Deswegen sollte ich mir wohl eher eine etwas männlichere Sportart suchen. Synchronschwimmen zum Beispiel. Oder Purzelbaumschlagen.“

 

Er glotzt und ich warte nicht, bis er verstanden hat, dass ich ihn gerade verarscht habe. Lieber nehme ich die Beine in die Hand und strebe, so schnell es eben geht, ohne zu rennen, schnurstracks dem Ausgang zu. Dabei halte ich immer wieder nach Verfolgern Ausschau. Es kommt mir keiner hinterher, dafür renne ich vornerum volle Kanne in jemanden hinein.
 

„Uff!“, macht der jemand und fällt fast wieder rückwärts zur Tür hinaus. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sich meine Sporttasche gerade in den Bauch eines Herrn mit Schnauzbart und Brille gebohrt hat. Er trägt ein grellgrünes Hemd und eine beige Stoffhose. Seine haarigen Unterarme schmückt eine protzige Uhr, daneben ein fetter, goldener Ehering, kaum zu übersehen. Wer auch immer er ist, ist somit wohl weg vom Fenster.

 

„Tschuldigung“, nuschele ich und hoffe nur, dass mir der Kerl jetzt nicht noch ein Gespräch ans Knie nageln will. Leider scheine ich diesbezüglich kein Glück zu haben

 

„Sag mal, trainieren hier die Jungs von Blau-Weiß?“

 

Ein schneller Blick verrät mir, dass am Ende der Halle die Bulldogge aufgetaucht ist. Wenn ich mich nicht beeile, erwischt er mich doch noch.

 

„Jaja“, entgegne ich deswegen und hoffe, dass das grüne Hemd mich endlich in Ruhe lässt. „Sind alle da drinnen. Sie können sich den schönsten aussuchen.“
 

Der Mann lacht, offenbar hat er Humor.

 

„Na, dann hoffe ich mal, dass die mich nicht auch mit einem Boxsack verwechseln, so wie du. Also, junger Mann. Augen immer schön geradeaus und nicht über die eigenen Füße stolpern.“

 

Selber Füße, denke ich und sage natürlich nichts, weil ich ihn ja immerhin gerade fast über den Haufen gerannt habe. Da sollte ich wohl etwas netter sein.

 

Draußen bin ich versucht, wieder langsamer zu werden und erst einmal durchzuatmen. Leider ist der Bulldogge zuzutrauen, dass sie nicht so schnell aufgibt, und so eile ich weiter an einem dunkelblauen Kastenwagen mit fremdem Kennzeichen vorbei. Auf der Seite klebt ein goldener Aufdruck, den ich jedoch keines Blickes würdige. In Gedanken bin ich nämlich viel zu sehr mit der Bulldogge und mit Bruno beschäftigt. Vor allem natürlich damit, dass ich mich, statt endlich einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen, noch viel tiefer reingeritten habe als vorher. Und dann hab ich ihn auch noch zu meinem Geburtstag eingeladen. Ich bin aber auch wirklich zu dämlich.

 

Er wird sich nicht für dich entscheiden. Niemals!, versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen und in meinem Kopf hämmert es im Takt meiner Schritte:

 

Blut ist dicker als Wasser. Blut ist dicker als Wasser. Blut ist dicker als Wasser.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryosae
2023-06-25T19:14:36+00:00 25.06.2023 21:14
Oh Mag!
Fabian hat solchen Liebeskummer! Irgendwie kommt es mir so vor, als wäre er mehr in Bruno verliebt wie umgekehrt. Jetzt hat er das Küssen erlaubt und alle Gefühlschranken sind geöffnet. Armer Bub! Drück ihn ganz feste von mir! T.T

Dieses Mal war sein Plan richtig gut durchdacht- nicht wie mit der Tüte. ^^"
Also man muss schon sagen das man Bruno schon versteht, irgendwie, aber Fabian hat sein Herz geöffnet, Verständnis gezeigt, steht total hinter ihm, und wie dankt er es ihm? Er hat keine Gelegenheit ausgelassen ihn in den Rücken zu fallen.
Mensch was ein kack Vater er hat. Ignoranz ist die zweitschlimmste Art der Bestrafung.

Wird die Freundschaft funktionieren? We will see... mein Tipp: Nope xDD
Bin für die nächste Runde bereit ;)

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
28.06.2023 13:04
Hey Ryo!

Jetzt hab ich doch glatt vergessen zu antworten. Asche auf mein Haupt. -_-°

Fabian hat wohl tatsächlich Liebeskummer, auch wenn er das nicht so recht merkt. Und die Bedingungen sind ja auch denkbar schlecht. Bruno, der sich nicht meldet. Bruno, der nicht wi... äh kann. Ähm ja. Und irgendwo hatte er wohl nicht ganz unrecht damit, dass Bruno ihn, wenigstens unbewusst, immer weiter von sich weggestoßen hat, weil er einfach nicht wusste, wie er das auf die Reihe kriegen soll so völlig ohne Unterstützung seiner Familie im Rücken. Er kennt es ja nicht anders und dass ihm das Angst gemacht hat, verwundert einen dann irgendwie nicht.

Allerdings muss man ja zugeben, dass ihm schon ziemlich viel daran liegt; Fabian nicht komplett zu verlieren. So ganz scheint er sich also wohl gedanklich auch noch nicht von ihm gelöst zu haben. Ich könnte mir daher vorstellen, dass du mit deiner Voraussage recht hast. Mal sehen, mal sehen.

Ich muss jetzt erst mal sehen, ob ich noch vor meinem Urlaub zur Fertigstellung des nächsten Kapitels komme. Irgendwie liegt noch so viel an... Ich würde mal nicht fest damit rechnen. Eventuell also erst wieder in ein paar Wochen hier etwas Neues.

Bis dahin zauberhafte Grüße
Mag
Von:  -Chiba-
2023-06-23T11:20:20+00:00 23.06.2023 13:20
Hey Mag,

puh, das war viel auf einmal.

Aber schön, dass man mal Brunos Seite etwas näher sieht. Kann mir vorstellen, wie er sich fühlt. So etwas ist immer Scheiße. Eltern sollten zu ihren Kindern stehen, egal wie sie sind. Selbst zu erkennen, dass man "anders" ist, ist schon schwer genug. Da ist der Rückhalt in der Familie um so wichtiger.

Und ich finde es gut, dass Fabian nicht aufgibt...na ja...er hat ja schon irgendwie aufgegeben...aber irgendwie auch nicht.

Bin gespannt, wie es zwischen den beiden weitergeht.
Wenn beide durch die Prüfung rasseln, dann können sie ja noch ein Jahr zusammen verbringen XD

LG
Chi
Antwort von:  Maginisha
25.06.2023 10:48
Hey Chiba!

Ja, das war ne ganze Menge zu entpacken. Wobei ich denke, dass es schon ganz gut ist, dass Bruno Fabian gegenüber jetzt endlich mal mit der Wahrheit rausgerückt ist. Und vielleicht hilft da Fabians Art, ihm auf die Nerven zu gehen und somit Interesse zu zeigen, auch ein wenig dabei.

Dass Bruno so wenig Rückhalt hat, ist aber auch wirklich bescheuert. Leider wohl nicht so selten, wie man denken sollte. Ich hab da schon Storys gehört ...

Aufgegeben haben sie tatsächlich beide irgendwie. Aber so ganz getrennte Wege gehen sie deswegen ja trotzdem noch nicht. Ob man deswegen durchs Abi rasseln sollte, zumal das ja die Möglichkeiten nicht unbedingt verbessert, weiß ich zwar nicht. Aber es stimmt schon, dass sie dann mehr Zeit hätten. Aber vielleicht findet sich ja auch noch eine andere Lösung. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag


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