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Nadira

und das Erbe der Finsternis
von

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Wyatt

Raubtierartig elegant bahnte sie sich ihren Weg durch die fröhliche Masse an Tanzenden. Der Saum ihres dunklen Rockes vollendete ihre lasziven Hüftbewegungen in schwingender Ekstase. Ihre blonde Lockenpracht stach in der Dunkelheit hervor. Die helle Haut diente dem wilden Farbenspiel als unberührte Leinwand.
 

„Hi, Süße!“, drängte sich ihr alsbald der Erste in den Weg und blies ihr seinen alkoholgetränkten Atem ins Gesicht.

Unbeeindruckt drehte sie ihren Kopf und sah teilnahmslos in die vom Rausch verzerrten Züge des Rotblonden. Sie schmunzelte leise. Eine undefinierbare Form der Bedrohung lag darin verborgen, als sie zuckersüß anfragte: „Wie ist dein Name?“
 

Der Andere glaubte zu triumphieren, seinem schiefen Grinsen nach zu urteilen, als er sich sogleich enger an sie heranwagte und lallend antwortete: „Ashley. Und du, meine Hübsche?“

Bedachtsam glitten ihre blauen Augen seinen Hals hinab, folgten ihrer zierlichen Frauenhand, als sie ihre langen Finger in den scheinbar krallenartig zugespitzten Fingernägeln verspielt über die Knopfreihe seines dunklen Hemdes wandern ließ. Das Blut pulsierte wild unter seiner erhitzten Haut. Lebendig und verführerisch pochte sein menschliches Herz im wilden Rhythmus ihrer lockenden Berührung.
 

„Tanz mit deinen Freunden, Ashley!“, gebot der Lockenkopf dann schmunzelnd.

Wie aufs Zauberwort drehte sich der junge Mann da abrupt wieder zu besagten Freunden um, die ihn in überschwänglicher Freude begrüßten.

Sie beachtete es nicht weiter und nahm stattdessen ihr Ziel wieder ins Auge.

Kurz schweifte ihr erfreut funkelndes Augenpaar das vertraut silbrige Blau. Sie lächelte hinterlistig, als der Dunkelblonde ihr nur neckisch zuzwinkerte, ehe er sich wieder über den noch jungfräulichen Hals seines dunkelhäutigen Opfers hermachte.

Wie ein Raubtier, das sich an seiner Jagd erfreute, stolzierte sie mit schwingenden Hüften auf ihre erwählte Beute zu. Andächtig zog ihr schlanker Finger dann einen elektrisierenden Weg über die ansehnliche Rückensansicht des Braunhaarigen, den sie bereits von der Bar aus erblickt hatte.

Federartig flog er weiter über seine Schulterblätter bis hin zu seinem durchaus strammen Bizeps, als ihr Blau auch schon seinem überraschten Grün begegnete.

Augenblicklich verfing es sich in ihren sonderlich glitzernden Saphiren, tauchte ein in eine nie zuvor gekannte Tiefe, während sie geschmeidig an seine Seite kam.

Vorwitzig umfasste sie seine Wange und nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Einzig sie schien seinen Geist nun vollkommen zu beherrschen. Spielerisch trommelten ihre blassen Fingerkuppen über seine warme Haut, als sie auch ihre andere Hand an seine noch unberührte Wange führte.

Die Faszination und Verblüffung in ihrem Rücken ignorierte sie gekonnt, als sie sich einzig auf den sportlichen Athleten vor sich konzentrierte. Sein kräftiger Herzschlag verriet ihr alles, was sie wissen musste, während sein Geruch sie verheißungsvoll umnebelte. Zufrieden nahm sie ihre Wahl genauer unter die Lupe. Er ließ sie gewähren. So gestattete sie ihm die Umklammerung ihrer Hüfte. Eine stille Übereinkunft schien getroffen, als sie düster grinsend wieder seinen lüsternen Blick traf und mit einem aufreizenden Hüftschwung in die Musik mit einfallen wollte.

Doch sie wurden überrascht. Grob umpackte jemand ihren Erwählten am Oberarm und unterbrach so ihr gerade erst einsetzendes Spiel. Sie schob enttäuscht ihre Unterlippe vor, als der Braunhaarige widerwillig von ihr abließ. Seine warme Hand auf ihrer Taille war die einzige Verbindung.
 

„Wyatt, was soll das?“, brauste der Braunschopf auf.

Ihr entging die argwöhnische Musterung des Hellhaarigen derweil nicht, als er seinen augenscheinlichen Freund am Kragen seines T-shirts näher an sich heranzog, um ihm etwas zuzuflüstern.

Sie wurde neugierig, riskierte es allerdings nicht, ihre Lauscher zu spitzen. Nicht bei der lauten Musik. Stattdessen fokussierte sie seine durchaus sinnlich vollen Lippen.
 

„Was? Sag mal, spinnst du jetzt? Was soll der Mist?“, stieß ihn dann ihr Tanzpartner von sich.

Damit stach das stürmische Grau des Blonden in ihre in der Dunkelheit sonderbar funkelnden Iriden. Irrte sie, oder lag da so etwas wie eine Form von Erkenntnis in dem hitzigen Augenpaar?
 

„Brian“, mahnte der Zweite.

Doch noch ehe der Angesprochene reagieren konnte, schritt seine Gegenüber und Auslöser des freundschaftlichen Zwistes ein. Sanft, nahezu versöhnlich, legte sie ihm ihre kalte Hand auf die bebende Brust, unter der sich seine Muskeln beachtlich spannten. Neugierig beäugte sie den Hinzugekommenen, der ihr so voller Misstrauen begegnete, als sie sich zwischen die beiden jungen Männer drängte. Äußerst ungewöhnlich für einen Menschenmann, der noch dazu in der Blüte seiner Jugend stand. Für gewöhnlich verfehlte ihre Ausstrahlung nie ihre Wirkung. Doch bei diesem hier schien das nicht so. Ganz im Gegenteil, er hatte eine gehörige Portion Respekt vor ihr. Sein Herz pumpte das Adrenalin ungeduldig durch seine Adern, als sie kurz vor ihm zum Stehen kam. Intensiv tauchte sie ein in sein wild flackerndes Graublau.
 

„Was auch immer du bist, hau ab“, heizte ihr Interesse nur weiter an und ließ sie den Braunhaarigen fast gänzlich vergessen.
 

„Was auch immer ich bin?“, schnurrte sie.

Er hielt ihrem lauernden Blick stand, tapfer, eisern, wie der Fels in der Brandung. Sie bedachte es mit ihrem so geheimnisvollen Schmunzeln. Das klang sehr interessant.
 

„Entschuldige, er ist eigentlich nicht so. Ignorier ihn einfach“, bemühte sich der Braunschopf zu retten, was schon längst verloren war.
 

Sie hob abwehrend ihre Hand und ordnete desinteressiert an, ohne ihn anzusehen: „Misch dich nicht ein, Brian.“

Augenblicklich verstummte dieser.

Ihr Gegenüber sah kurz alarmiert von seinem erstaunlich teilnahmslosen Freund zu ihr und wieder zurück.

Erst als Nadira näher an ihn herantrat und ihre Nase über seinen Hals schickte, war er versucht, zurückzuschrecken. Da hatte sie bereits wieder von ihm abgelassen und wich auf die vorherige Distanz zurück. Er vermochte ihr Grinsen nicht zu deuten, mit dem sie ihn daraufhin besah.

Er hatte allerdings auch keine Zeit, ihr merkwürdiges Verhalten weiter zu ergründen, da teilte sich auch schon die Masse in ihrem Rücken und gewährte den Blick auf einen dunkelblonden Struwwelkopf. Er hielt zielstrebig auf sie zu. Ein weiterer Mann hing an seiner Seite und hatte seinen einen Arm um die breiten Schultern des Hellhaarigen geschlungen. Der andere Arm baumelte schlaff zur anderen Seite. Der schwarzer Haarvorhang gab nur hin und wieder sein selbstzufriedenes Grinsen wieder, das sich breit über seine vollen Lippen zog. Er schien jenseits von Gut und Böse.

„Nadira!“, erreichte sie die vertaute Männerstimme.

Der Lockenschopf drehte sich augenblicklich zu dem Herankommenden um.
 

Geschwind huschten ihre Saphire über den Dunkelhaarigen an der Seite ihres Bruders, ehe Letzterer sie auch schon anwies: „Wir sollten gehen. Ich hab Raphael rumschleichen sehen.“

Wyatt verstand gar nichts. Es war ihm nur recht. Hauptsache er bekam Brian von dieser sonderbaren Frau weg. Also legte er seinem Freund kurzerhand seine Hand auf dessen massige Schulter, da fand auch schon wieder dieses seltsame Augenpaar das Seine. Er schluckte unmerklich. Alles in ihm spannte sich an. Er schien wie erstarrt. Und doch war da ein winziger Teil in ihm, ein bedeutungslos geringer Teil, der sich unerklärbar angezogen fühlte. Sowohl von der Blonden, wie auch noch seltsamerweise von dem Fremden, der da anscheinend seinen Freund auf den Beinen hielt.

Da jagte sie ihm auch bereits unwillkürlich heiß-kalte Schauer den Rücken hinab, als sie abermals nah an ihn herankam. Er war machtlos und konnte ihrem Blick einfach nicht entgehen, der tief in den Seinen eintauchte.

Noch einmal fühlte er sich von ihr fremdartig enttarnt, als hätte er irgendein Geheimnis, das sie ihm an der Nasenspitze ansah. Da streckte sie sich nach seinem Ohr.
 

Er erschauderte, als ihr warmer Atem erotisch über seine Ohrmuschel fegte, ehe sie ihm verführerisch zuraunte: „Wir sehen uns wieder, Seher.“

Ohne auch nur einen weiteren Moment seine Verwunderung auszukosten, wandte sie sich rasch ab und verschwand mit dem Struwwelkopf und dessen schwarzhaarigen Begleiter in der Menge.
 

„Wo ist Kelly?“, wollte sie sogleich wissen.
 

„Toiletten“, erwiderte ihr Bruder knapp, nachdem er einen Moment in sich gegangen war.
 

„Und du willst den mitnehmen?“, erkundigte sie sich mit Blick auf seine heutige Errungenschaft.
 

„He, die Nacht ist noch jung, Kleines. Gönn mir doch auch mal was. Im Gegensatz zu dir hatte ich schon lange kein Heißblut mehr“, grinste der Ältere dann frech.

Der Schwarzhaarige humpelte derweil mehr schlecht als recht an seiner Seite. Er wurde viel mehr von ihm mitgeschleift, als dass er mit den langen Schritten des Dunkelblonden mithalten konnte.

Nadira kräuselte daraufhin nachdenklich ihr Näschen.
 

„Musstest du gleich soviel trinken? Der hält nur auf“, schimpfte sie dann, ehe sie unbeirrt anordnete: „Hol den Wagen, ich hole Kelly.“

Ohne seinen Protest abzuwarten, hörte sie ihn doch bereits verräterisch Luft holen, schlug sie den Weg zu den Toiletten ein.
 

„Kein weiteres Spiel heute Abend, Nadira, hörst du?“, warf er ihr dann doch noch hinterher.

Vergebens, wie er noch darunter erkannte. Und so machte er sich seufzend daran, sich und seinen „Freund“ zum Wagen zu schleppen.
 

Hektisch glitten ihre Iriden umher, während sie sich durch die Menschenmasse wühlte. Gerade noch rechtzeitig presste sie sich an einen der grauen Stützpfeiler, als sie den hellblonden Schopf unter den Übrigen im Augenwinkel herausstechen sah. Ein leises Lächeln überzog ihre blutroten Lippen, während ihre Brust sich erregt gegen den seidenen Stoff ihres Oberteils presste. Vorsichtig lugte sie um die Ecke zu der schwarzen Tür, die gerade hinter einer weiteren Frau zu schwang. Abschätzend glitt sie dann hinüber, bis sie auf die imposante Erscheinung des Goldblonden traf. Schwarz kleidete ihn gut, erlaubte sie sich ein Urteil, ehe sie wieder ihren Weg ins Auge fasste. Anscheinend hatten sie dasselbe Ziel. Sie grinste, schöpfte noch einmal leise Luft und straffte ihre Schultern, um dann aus ihrem vorläufigen Schutz zu treten. Einzig von manchen Menschen gebremst huschte sie so geschwind es ihr möglich war durch die schwarze Flügeltüre. Grell empfingen sie die Neonröhren an der Decke, so dass sie kurz blinzelte. Sie hielt sich nicht mit den Damen vor dem Spiegel auf, von denen so manche verwundert aufsah, als die Blonde an ihnen vorbeirauschte, ohne ihr Spiegelbild.

Schnell trat sie in den eigentlichen Raum mit den aneinandergereihten, schwarzen Kabinen.
 

„Kelly?“, brach sich ihre Stimme augenblicklich an den polierten Fliesen.
 

Ein kurzes Erzittern einer der hinteren Kabinentüren wies ihr den Weg.

„Wir gehen“, ordnete sie an, noch während sie auf dem Weg dorthin war.

Dort angekommen, richtete sich ihr Blick umgehend wieder zur Tür, welche zum Vorraum führte.
 

„Was? Jetzt schon? Können wir nicht…?“
 

„Gabriel ist hier. Komm in die Gänge.“
 

„Was?“, kam es panisch von drinnen.

Nadira rollte mit den Augen.
 

„Lass gut sein, du kannst Zuhause trinken.“

Damit öffnete sich die Kabinentür und der dunkle Lockenschopf spitzte hervor.
 

„Das kann ich nicht…“, setzte sie kleinlaut an.

Da stieß sie die Blonde grob zur Seite und erhaschten den Blick auf einen schlanken Jüngling, der zusammengesunken auf der Kloschüssel saß. Den Kopf zur Seite geneigt, offenbarte er die beiden blutenden Wunden an seinem Hals, die den roten Lebenssaft bereits auf seinem weißen Hemd verteilt hatten. Kurz suchte sie das verunsicherte Antlitz ihrer Freundin, die ihr unaufgefordert ihren blutenden Unterarm präsentierte. Sie stöhnte unwillkürlich auf. Der Abend lief allmählich aus dem Ruder. Dass ihr das auch ausgerechnet jetzt einfallen musste. Gewandelte! Jung und ungeduldig!
 

„Dann bring es zu Ende. Schnell. Ich lenk ihn ab.“
 

„Aber wir können ihn doch nicht…“

Das hysterische Aufkreischen aus dem Vorraum stoppte ihre Widerworte umgehend.
 

„Wir haben drei Tage, um ihn zu finden“, war gerade noch Zeit, da knarrten auch schon die Türangeln am anderen Ende des Raumes.

Augenblicklich schob sie die Dunkelhaarige in ihre Kabine zurück, um dann mit einem unmenschlich flinken Satz hinter den Reihen der Kabinen in Deckung zu gehen.

Kurz schwoll der Geräuschpegel dröhnend an, ehe er abrupt wieder auf das vorige Maß zurücksank. Angespannt lauschte sie den bedachtsam langsamen Schritten, die auf den blanken Fliesen klackerten.

Eng presste sie sich dabei an das lackierte Holz in ihrem Rücken und suchte mit ihren Augen nach einer Fluchtmöglichkeit. Ihr Geist arbeitete auf Hochtouren. Da traf sie auf die Fensterreihe zu ihrer Rechten.

Sie verbat es sich, erschrocken zusammenzufahren, als ihre Überlegungen urplötzlich von einem schrillen Aufschrei unterbrochen wurden.
 

„Hinaus!“, vibrierte der sonore Bass scharf in ihren Ohren.

Sie schloss kurz die Augen und kontrollierte ihre Atmung. Kleine Schritte stöckelten schnell über den harten Boden.
 

„Flegel!“, erlaubte sich noch eine zu schimpfen, ehe die Türen abermals auf- und zu schwangen.

Ihre Sinne verrieten ihr, dass sie nun allein waren.
 

„Erfolgreiche Jagd gehabt, Nadira?“, befahl dann ein teuflisches Schmunzeln auf ihre zarten Züge.

Quietschend öffnete sich dann eine der Kabinentüren und erlaubte es so ihrem feinen Gehör, ungefähr zu erahnen, wo er sich gerade befand.

Sie zuckte ein wenig zusammen, sobald der schwarze Schopf ihrer Freundin plötzlich zu ihren Füßen auftauchte, weil diese sich unter der Wand hervorkämpfte.

Warnend legte sie ihren Finger auf ihre Lippen, ehe sie damit zu der Fensterreihe deutete. Skeptisch zog Kelly ihre Stirn in Falten. Nadira sah sie durchdringend an und so nickte sie kurz zur Bestätigung. Mittlerweile zählten sie die dritte Türe, deren Angeln geräuschvoll protestierten. Die Blonde ließ der Zweiten den Vortritt, als sie sich daranmachte, in die andere Richtung, also nahe zum Rand der Kabinenreihe zu schleichen. Ihre Absätze bereiteten ihr dabei wie so oft nicht ganz unerhebliche Schwierigkeiten. Doch sie schaffte es, ihre Schritte hinter dem unterschwelligen Bass zu verbergen.

Kurz wechselten die Freundinnen einen letzten Blick und verständigten sich wild gestikulierend. Die Eine, weil sie ihre Freundin hier nicht zurücklassen wollte, die Andere, weil sie eben dies von ihr verlangte. Erst, als sie auf die Fensterreihe gegenüber zeigte, hatte die Dunkelhaarige ein Einsehen und nickte zögerlich. Damit erhob Nadira ihre Stimme, während Kelly sich weniger elegant durch eines der gekippten Fenster zwängte.
 

„Gabriel. Mischt du dich mal wieder unters Volk? Ich würde es ja einen Teilerfolg nennen.“
 

„So?“

Sie hörte eine Türe schwungvoll zuschlagen. Schnell schaute sie zur Seite und erhaschte gerade noch den Blick auf die Sohle des Stiefels ihrer Freundin. Kurz lehnte sie den Hinterkopf gegen die hölzerne Wand und schloss die Augen.
 

„Ja.“
 

„Nervös?“
 

„Ich bitte dich. Du machst den Abend doch immer zu einem Highlight. Obwohl, wenn ich mir das richtig besehe, gebührt mir die Ehre diesmal gar nicht, nicht wahr, Gabriel?“

Zu gerne hätte sie ihm jetzt Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Doch so musste sie einzig mit seinem Spiegelbild in einem der Fenster Vorlieb nehmen. Er war stehen geblieben. Ein Glück hatte seine Art nicht so gute Ohren, wie die Ihre. Obwohl auch sie erheblich unter den äußeren Bedingungen litt. Hastig schätzte sie die Entfernung zur gegenüberliegenden Fensterseite, ehe sie vorsichtig auf Zehenspitzen ein Stück weiter zurückschlich. Sie behielt seine Silhouette dabei allerdings nach wie vor im Auge.
 

„So schweigsam, großer Krieger?“
 

„Sag mir, was du meinst.“
 

„Gabriel, ich bitte dich“, lächelte sie dann diabolisch.
 

„Stell doch dein Licht nicht so unter den Scheffel. Ich muss zugeben, ich war sehr überrascht, haben wir doch alle angenommen Van Helsing sei der Letzte gewesen. Da hast du Vater aber schön an der Nase herumgeführt. Gut gemacht. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
 

Sie verlor ihn aus den Augen, als er sich rasch ihrer Stimme zuwandte. Zeit für den Abgang, entschied sie.

„War das etwa ein Lob, Lilithkind?“
 

„Vielleicht. Wer weiß“, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen, ehe sie sich fest gegen die kalte Wand in ihrem Rücken presste.
 

Sie vernahm seinen Herzschlag nun laut und deutlich. Und so meinte sie abschließend: „Beim nächsten Mal berichtest du mir, wie du das angestellt hast.“

Damit stieß sie sich kraftvoll von den rauen Fliesen ab, sodass manche unter ihren Händen bröckelten. Noch ehe er um die Ecke war, rannte sie auch schon in ungeheurer Geschwindigkeit an ihm vorbei, um dann mit einem gezielten Köpfer durch das schmale Fenster zu brechen. Sie fiel kopfüber in die Tiefe, um wenig später galant auf ihren Füßen in der Hocke zu landen.

Wie auf die Sekunde genau bog der rote Flitzer da auch schon in die Seitengasse ein und kam vor ihr mit laufendem Motor zum Stehen. Die Beifahrertür wurde augenblicklich aufgerissen und Kellys braune Knopfaugen erwarteten sie sehnsüchtig.

Da richtete sie noch einen kurzen Blick hinauf zu dem zerbrochenen Fenster, wo der Blonde auf sie hinabsah. Sie begegnete dem Himmelblau seiner Augen undeutbar schmunzelnd. Dann warf sie ihre blonde Lockenpracht zur Seite, ehe sie geschwind in den teuren Wagen einstieg und rasch die Tür hinter sich zuzog. Mit rauchenden Reifen brauste der rote Flitzer im Rückwärtsgang aus der Sackgasse.

Der Blonde verhaarte ungerührt an Ort und Stelle und hielt den Braunhaarigen, der an seine Seite kam einzig mit einem „Nein“ bestimmt zurück, als dieser gedachte, dem Auto sofort nachzusetzen.

„Das ist nicht der Auftrag, Raphael.“
 

„Mistress Nadira, Master Franςois, Kelly“, wurden die Drei dann wenig später wie gewohnt ehrerbietig begrüßt, als sie die schweren Türen zum offenen Atrium aufrissen.

Der Vierte, der nach wie vor berauscht am Hals des jungen Masters hing, fand keinerlei Beachtung.

Demütig neigte der augenscheinlich alte Glatzkopf mit dem lichten, ergrauten Schopf sein Haupt, sobald er bei ihnen angekommen war.
 

„Ich hoffe, die Nacht war erfreulich.“
 

„Annehmbar“, entgegnete die Blonde kurz angebunden und rauschte umgehend an ihm vorbei.

Schnellen Schrittes eilte sie über den weiß-schwarz gemusterten Marmor die drei Treppenstufen hinauf und riss die gläsernen Türen zu dem kleinen Herrenschloss am Stadtrand schwungvoll auf.
 

Sie war bereits in dem geräumigen Treppenhaus am Fuße der beiden Prunktreppen angelangt, als der Dunkelblonde sich nachsichtig lächelnd an den Älteren wandte: „Danke, Archie. Der Wagen läuft wieder einwandfrei.“

Damit übergab er den Schlüssel zufrieden lächelnd dem Alten und folgte mit Kelly an seiner Seite der Jüngeren.

Diese stand nach wie vor am breiten Treppenabsatz und sah sich einem feurig lodernden Blick gegenüber.
 

„Oh,oh“, zog ihr Bruder scharf die Luft ein, sobald er an ihrer Seite war.

Prompt kam auch er in den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit des rehbraunen Augenpaares, das ihn nicht minder zornig anfunkelte, wie seine Schwester noch kurz zuvor.

Mit einem eingeschnappten Schnauben machte die rassige Schönheit dann auf dem Absatz kehrt, sodass ihre wilde Lockenmähne durch die Luft wirbelte und ließ sie kommentarlos zurück, als sie in ihre Gemächer im ersten Stock verschwand. Laut fielen die Türen wenig später hinter ihr ins Schloss.
 

„Scheint ganz so, als sei da jemand ordentlich sauer“, trällerte der Dunkelblonde, ehe er seinem Spanier an seiner Seite unterstützend unter die Arme greifen musste.
 

„Wiedermal“, fügte er noch hinzu, wofür er dann endgültig in die Seite geboxt wurde und ein empörtes „He“, zum Besten gab.

Mehr erlaubte seine Errungenschaft nicht.
 

„Was hast du erwartet?“, fiel Kelly mit ein.

Nadira strafte die beiden mit Nichtachtung, ehe sie an ihnen vorbei die Stufen erklomm, um sich eiligst in ihre Gemächer auf der gegenüberliegenden Seite zurückzuziehen.

Schwarzhaarige und Dunkelblonder tauschten einen Blick, ehe sie es mit einem beiderseitigen Achselzucken flüchtig abtaten und stattdessen zwischen den marmornen Treppen hindurch in den Wohnraum gingen. Ihren Gast dabei im Schlepptau.



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