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Schneefall

von

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Muskelkater

Der Wind biss heute kräftiger als die vorherigen Tage. Als hätte er eine innere Wut, die er an Cherubimas Haut mit eisigen Zähnen auslassen musste. Vielleicht waren das aber auch einfach nur ihre Nerven, die von dem tagelangen Flug offen lagen. Ihre Schultern und Flugmuskeln fühlten sich schon wie eine einzige breiige Masse an, die nur aus Fasern von Schmerz zusammen gehalten wurde. Es war eine gute Entscheidung gewesen, sie erstmal zu trainieren, bevor Cherubima den Flug übers Meer antreten würde. So sehr es sie auch verlockte, diesen alten Kontinent hinter sich zu lassen, ins Meer stürzen wollte sie auch nicht.

Ihr ganzer Körper löste sich in einem Seufzer der Erleichterung, als der Anführerdrache das Signal für die Landung gab. Noch konnte sie die Anspannung aber nicht los lassen, denn auch für einen Halbdrachen wie sie war ein Sturz aus dieser Höhe kein Zuckerschlecken. Sie segelte ein Stück, bevor sie sich mit der Formation in einen sinkenden Gleitflug begab.

Auf dem Boden angekommen, stakste sie auf hölzernen Beinen zu dem improvisierten Lager, das von den nicht flugfähigen Mitgliedern ihrer Karawane aufgebaut wurde. Alle vom Luftschiff waren froh, mal ein bisschen raus zu kommen und es hatte sich etabliert, dass sie dazu draußen picknickten, ungeachtet der kälter werdenden Abende. Die meisten Drachen hatten eine humanoide Gestalt angenommen und Cherubima beobachtete sie ungläubig dabei, wie sie locker miteinander scherzten und spaßten. Jemand reichte ihr eine Schüssel mit dampfender Suppe.

„Na, meinst du, du hältst es noch bis zum Ende durch?“, erkundigte die zugehörige Person sich.

Cherubima sah missmutig zu ihr auf. Machte sie sich über sie lustig? „Das ist echt keine Schande, wenn du dich jetzt abseilst. Wir sind ohnehin aus dem schwierigsten Gebiet raus, jetzt sollten wir erstmal keine Fallen mehr erwarten müssen.“ Achso, in der längeren Rede erkannte sie, dass echte Fürsorge in der Stimme mit klang. Sie musste schon ganz schön fertig sein, wenn sie nicht einmal mehr das mitbekam.

Ihre Antwort verkam zu einem unverständlichen Brummeln. Mit einem Seufzen machte sie wenigstens das Danke für die Suppe deutlich und kauerte sich dann mit dem Rücken zu einem Feuer zusammen. Die Wärme tat ihren schmerzenden Muskeln gut und so musste sie mit niemandem reden, bis sie nicht wieder halbwegs ansprechbar war. Kesita, die sich nach ein paar Momenten bei ihr einfand, war eine Ausnahme. Mit ihr konnte man auch einfach gut schweigen. Während Cherubima ihre Suppe auslöffelte, sah Kesita zu den Sternen in der aufkommenden Dunkelheit hoch. Immer wieder verdeckten Schwingen die kleinen Lichter, denn der Vogel, der Kesita stets begleitete, nutzte die Zeit außerhalb des Flugschiffes. Drachen flogen ihm viel zu schnell.

Erst ein paar Minuten, nachdem Cherubima ihre Schüssel geleert hatte und sie mitsamt Löffel neben sich abgestellt hatte, richtete Kesita das Wort an sie: „Da ist die Krone der Schlange.“ Ihr ausgestreckter Arm wies auf ein Sternbild, das sich langsam über den Himmel zog.

„Die soll Glück bringen“, gab Cherubima einen bekannten Aberglauben wieder, auch wenn sie sich nicht sicher war, warum eigentlich. Kesita musste das ebenso gut wie sie wissen. %Es hieß, es bringe Glück, wenn man es zu sehen bekam. Möglicherweise war sie einfach nur müde und für tiefere Gedanken gerade nicht zugänglich.

„Dann haben wir vielleicht wirklich den schwierigsten Teil der Strecke hinter uns“, machte Kesita ihrer Hoffnung Ausdruck. Beide sahen dem Sternbild einen Moment bei seinem Weg über den Nachthimmel zu. Wenn Cherubima es doch auch so leicht hätte, durch die Luft zu ziehen. Stattdessen musste sie sich mit steifen Muskeln abrackern und infolgedessen morgens mit einem Kater aufwachen. Sie massierte sich die Schultern und so gut es ging auch ihren Rücken. Ja, natürlich hätte sie sich von ihrem Vater einen Teleportzauber beibringen lassen können, der sie noch viel weitere Strecken zurück legen ließ. Aber sie wollte endlich mal etwas aus eigener Stärke schaffen und textit{nicht} dauernd auf ihn zurück fallen. Und so trug sie die Schmerzen, wenn auch mit Widerwillen, doch mit einer gewissen stolzen Haltung. Sie waren ein Zeichen ihrer eigenen harten Arbeit.

„Ist auch ganz gut so. Wenn ich ehrlich bin, hab ich nicht mehr die Aufmerksamkeit, irgendeine magische Vorrichtung zu bemerken, wenn man sie mir direkt vor die Nase hält“, griff Cherubima den Gesprächsfaden wieder auf. Und das war, wofür man sie angeheuert hatte. Sie seufzte. „Vorhin sagte mir jemand, dass ich mich abseilen könne. Ist vielleicht das beste.“ Kesita brummte darauf erst einmal nur als Zeichen, dass sie die Worte gehört hatte. War ja letztendlich Cherubimas Entscheidung und so rechnete sie nicht mit einer Antwort. Aber das hieße, Kesita viel eher zu verlassen als sie es wahrscheinlich ohnehin müsste. Sie wünschte sich, sie bereits als Freundin bezeichnen zu können, aber dafür kannten sie sich eigentlich noch zu kurz. Und viel geredet hatten sie ja nun wirklich auch nicht, musste Cherubima amüsiert feststellen. Trotzdem war ihre Anwesenheit willkommen und auch Kesita schien das so zu empfinden. Wenn Cherubima ehrlich war, schaute sie sich Kesita auch einfach gerne an. Nicht nur, dass sie gut schweigen konnte und ansonsten einen echt angenehmen Charakter hatte, sie sah auch noch verdammt gut aus.

„Du könntest auch auf dem Luftschiff mitfliegen“, schlug sie vor. Cherubima sah sie überrascht an und biss sich nachdenklich auf die Lippe.

„Aber ich habe keine Fahrt gebucht“, wandte sie ein. „Nicht, dass es den Drachen zu schwer wird.“ Obwohl das hieß, dass sie nicht nur länger bei Kesita bleiben könnte, sondern sogar mehr Zeit für sie hätte, widerstrebte es ihr irgendwie. Als ob sie aufgeben würde, weil sie der selbst gesteckten Herausforderung nicht gewachsen war. Als ob das zeigen würde, dass sie nicht alleine in der Lage war, ihr Leben zu organisieren.

„Ach, denen fällt eine oder zwei oder ein Dutzend Personen mehr gar nicht auf“, winkte Kesita ab. Aus dem Dunkel der Nacht kam eine Antwort ihres Vogels, die sich wie ein zustimmendes Kichern anhörte. „Und wegen des Buchens, da lässt sich bestimmt was regeln. Macht es dir viel aus, wenn dein Lohn für die restliche Strecke oder ein paar Tage gekürzt wird?“ Ihr Lächeln sagte schon, dass sie nicht daran glaubte. Aber Cherubima hätte sich ja auch in der Nähe eine neue, lukrative Arbeit suchen können, wenn sie nicht weiter mit flog. Doch dass Kesita sie überredete, weiter bei ihr zu bleiben, war ein sehr angenehmes Gefühl. Sie erwiderte das Lächeln und sah nochmal zu der Krone der Schlange hoch. Vielleicht brachte sie ja wirklich Glück und Kesita fühlte sich ähnlich wie Cherubima.

„Etwas Geld ist besser als kein Geld“, sagte sie. „Sobald ich wieder laufen kann, rede ich mit dem Anführer.“ Kesitas Nicken bekam Cherubima aus dem Augenwinkel heraus mit. Dann fiel ihr etwas auf, was sie diese Sache erstmal aus den Gedanken verbannen ließ: „Die Krone steht aber weit im Norden!“

„Hm?“, signalisierte Kesita, dass sie einen Moment brauchte, um dem Gedankensprung zu folgen. „Ja, hast Recht“, stimmte sie dann zu. „Aber wundert dich das? Es ist schon fast richtig Winter, bald könnte es zu schneien anfangen.“

„Sollte mich nicht wundern“, bestätigte Cherubima. „Aber ich habe irgendwie die Zeit aus dem Blick verloren. Um diese Jahreszeit hat meine Familie immer ein Fest gefeiert.“ Sie musste sich einen Moment über ihre Gefühle klar werden, bevor sie weiter sprechen konnte. Aber wie üblich ließ Kesita ihr die Zeit, die sie brauchte. „Es ist irgendwie komisch, diesmal nicht mit zu feiern. Also, ich will nicht unbedingt zurück, um zu feiern, aber irgendwie fehlt es mir trotzdem.“ Sie hatte sich ungeschickt ausgedrückt und versuchte, die Bedeutung ihrer Worte mit einer Geste zu unterstreichen. Kesita schien erst einmal zu überlegen.

„Ich mein, wir können auch hier eine kleine Fete machen. Viel Zeug haben wir zwar nicht mit, aber irgendetwas lässt sich bestimmt zusammen schustern.“ Was für ein wunderbarer Vorschlag. Das war zwar nicht, warum Cherubima es erwähnt hatte, aber so ausgesprochen war es die einzige logische Konsequenz. Sie kam sich angestarrt vor und deshalb schaute sie in Kesitas Gesicht. Sie konnte ihre Miene nicht genau deuten. „Oder geht es dir mehr darum, mit deiner Familie zu feiern?“

Nein, Kesita war genug.

Aber sie wollte die Frage ehrlich und nicht vorschnell beantworten. Beim Nachdenken huschten Cherubimas Augen über das Feuer hinter ihnen, über die Leute, die sich außerhalb ihrer kleinen Oase aus Stille geräuschvoll unterhielten, Dinge durch die Gegend schleppten und allgemein den Abend genossen. Quasi alle Wesen bekamen einen Blick ab, aber Kesitas fliederfarbene Augen mied Cherubima.

„Nein, ein Jahr ohne sie geht schon“, gestand sie schließlich ein, weil sie feststellte, dass es auch ohne Kesita der Wahrheit entsprochen hätte. Dann präzisierte sie, was sie sich vorstellte: „Ein richtiges Fest will ich nicht daraus machen, ich glaub, dazu fehlt mir grad einfach die Energie. Aber irgendwas kleines wär nett, vielleicht nur wir beide? Einfach eine Kerze anzünden, vielleicht einen Stern an einen Tannenzweig hängen und uns im Schein des Feuers unterhalten?“ Sie kam sich töricht vor und wurde rot. Das hörte sich total anders an als das lärmende Spektakel, in das unweigerlich alles ausartete, wenn sich ihre Mutter und ihre drei kleinen Halbgeschwister hinein steigerten. Und doch schien es genau das richtige zu sein, gerade mit Kesita. Ihre Großmutter hatte es schließlich das Fest der Besinnung und der Liebe genannt. Sie war froh, dass Kesita bisher keine Anzeichen von Gedankenlesen gezeigt hatte.

„Hört sich nett an“, antwortete Kesita wieder mit einem Lächeln. „Was feiert ihr eigentlich? Hoffentlich nicht deinen Geburtstag, ich hab nämlich nichts für dich.“

„Geschenke!“, fiel es Cherubima ein, sich widerwillig auf etwas Anderes konzentrierend. „Ach, verdammt, ja! Also eigentlich gibt man sich zu dem Fest Geschenke. Aber ich hab das total verschlafen und gar nichts vorbereitet.“ Zwar war ein Halt in der Nähe einer größeren Stadt für in ein paar Tagen geplant, aber sie würden nicht lange genug da bleiben, dass Cherubima etwas für alle finden könnte. Immer vorausgesetzt, sie konnte überhaupt durch die Straßen laufen.

„Naja, sie wissen ja, dass du unterwegs bist. Und als Söldner dauert es ne Weile, bis man genug Kapital zusammen hat, um etwas zu verschenken“, bot Kesita ihr Gründe für das Fehlen an.

Cherubima lächelte. Ja, ihr Vater würde das akzeptieren, selbst wenn er wusste, dass es nicht wahr war. Lys war so ein erwachsenes Kind, dass sie bestimmt auch verkraften konnte, ein Jahr ohne Geschenk auszukommen. Louskrell kannte Cherubima eigentlich kaum, sie oder er erwartete vielleicht nicht einmal etwas. Und MIE und ihre Mutter? Tja, wer konnte das wirklich sagen?

„Ich glaube, du hast Recht“, beruhigte Cherubima sich. „Trotzdem will ich nach etwas Kleinem Ausschau halten. Eine Karte oder so, damit sie wissen, dass ich an sie denke.“ Als ob sie das noch beweisen musste, wo sie ständig von allen Leuten nach ihrem Vater gefragt wurde, sobald sie ihren Nachnamen sagte. Sie sollte vielleicht den ihrer Mutter benutzen, aber sie wurde lieber mit ihm als mit ihr assoziiert, trotz aller Berühmtheit. Warte, hatte sie Kesita schon ihren Nachnamen genannt? Unruhig bewegte sie ihre Beine, die sich schon etwas besser anfühlten. Was würde Kesita sagen, wenn sie erfuhr, mit wem Cherubima verwand war?

„Mach das“, sagte Kesita mit einer so indifferenten Stimme, dass es nur eine längere Form der Hörbestätigung sein konnte. „Aber du hast mir immer noch nicht verraten, was ihr feiert. Ihr werdet ja schlecht alle am gleichen Tag Geburtstag haben.“ Sie grinste und Cherubima konnte daraus lesen, dass sie sich bewusst war, dass es nicht unmöglich, nur sehr unwahrscheinlich war.

„Wir feiern wirklich sowas wie einen Geburtstag“, setzte Cherubima zu einer Erklärung an. So ganz sicher war sie sich eigentlich nicht, es war einfach Weihnachten. „Ich glaub, der Gott, an den meine Großmutter glaubt, ist da geboren worden. Aber gleichzeitig auch nicht? Also, er ist ein Mensch geworden, aber gleichzeitig auch in seiner Sphäre geblieben und musste mit sich reden, anstatt einfach zu wissen, was er sagen wollte?“ Sie hatte noch nie wirklich versucht, es jemandem zu erklären, und die Geschichten, die sie halb erinnerte, boten nur eine notdürftige Grundlage.

„Er ist also sein eigener Priester geworden?“, brachte Kesita die Sache auf den Kern.

„Ja, ich glaub schon“, nickte Cherubima erleichtert. „Man hört ja Geschichten, dass Herren manchmal als Sterbliche durch die Welt laufen. Ich glaub, so, nur dass er wirklich geboren werden musste und sich nicht einfach einen Körper schaffen konnte.“ Da war noch irgendwas besonderes mit der Geburt gewesen, aber Cherubima erinnerte sich nicht mehr daran. Und es gab bestimmt auch eine Geschichte, warum der Gott sich nicht einfach einen Körper geschaffen hatte. „Jedenfalls, wir feiern das als Familienfest und nennen es Weihnachten.“

„Ich wollte dir gerade anbieten, so eine Art kleinen Gottesdienst für diesen Gott zu machen“, sagte Kesita mit einem Lachen in der Stimme. Das hörte sich so an, als wäre sie erleichtert, dass das nicht nötig schien, aber hätte den Vorschlag sonst trotzdem ernst gemeint. Eine weitere Sache, die Cherubima so toll an ihr fand, aber sie winkte ab.

„Schon gut, ich glaub nicht an diesen Gott. An die Herren, ja, natürlich, aber für ihn brauch ich erst mal Beweise.“ Und sie bezweifelte, dass sie welche geliefert bekommen würde. Hätte er nicht in all den Jahren, die sie nun schon seinen Geburtstag feierten, erscheinen können oder irgendein Zeichen geben, dass er da war?

„Wir machen also was Kleines, damit das Fest nicht ganz unbedacht vorbei geht“, fasste Kesita nach einem Moment der Stille zusammen. „Und erzählen uns Geschichten über unsere Familien? Du musst mich aber stoppen, mein Bruder ist eine ganze epische Buchreihe für sich allein.“ Sie sagte das mit dem liebevollen Spott, den Geschwister manchmal füreinander hatten.

„Ich bezweifle doch stark, dass er an meine kleinen Geschwister heran reicht"', konterte Cherubima im Spaß, aber konnte sich ernsthaft nicht vorstellen, dass es noch jemanden wie MIE geben sollte.

„Das werden wir noch sehen“, lachte Kesita. Ihr Vogel kam mit einer erjagten Maus im Schnabel zurück und setzte sich zu ihren Füßen. „Aber du wolltest noch fragen, ob du im Luftschiff mit fliegen kannst. Geh am besten jetzt, alle sind noch halbwegs aufnahmefähig und deine Muskeln sollten sich entspannt haben, aber noch nicht darauf gekommen sein, dass sie steif werden könnten.“ Cherubima stöhnte halb gespielt, aber Kesita hatte Recht. Sie verabschiedete sich für den Moment und ging auf die Suche nach dem Anführer, um mit ihm die neuen Bedingungen auszuhandeln.



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