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Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

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Der fatale Anruf

"Glaub´s mir doch! Das wird nicht funktionieren, U.", beharrte Victor mild, fast amüsiert, hielt dem Wiesel-Genius aber dennoch die gewünschte Dose getrockneter Kräutermischung hin.

"Ich sage: das klappt!", diskutierte Urnue stur. "Ein Teil Holz und ein Teil Wasser stehen zwei Teilen Erde gegenüber. Die Elemente sind ausgeglichen. Der Bannkreis wird funktionieren." Er verteilte die zerriebenen Kräuter häufchenweise auf dem mit Kreide gezogenen Kreis, den sie beide hier gerade in eine verlassene Lagerhalle malten. Sie waren ziemlich häufig in irgendwelchen leeren Fabrikgeländen außerhalb der Wohngegenden, wo keiner was von ihnen mitkriegte. Hier hatten sie Platz und waren ungestört, wenn sie irgendwas üben oder experimentieren wollten. Und das wollte vor allem Urnue ausgesprochen oft. Seit er seinen Schützling Ruppert verloren und sich Victor angeschlossen hatte, hatte er einen unbändigen Ehrgeiz entwickelt, dem Magister Artificiosus Magicae an Können und Wissen möglichst nicht nachzustehen. Er war glücklich und dankbar, bei Victor bleiben zu dürfen, der sich sonst niemandem zeigte und niemandem vertraute, und wollte ihm ein brauchbarer Partner sein. Daher verbrachte er förmlich jede freie Minute damit, Magie zu lernen oder Kampf zu trainieren.

"Die höhere Magie ist keine Mathematik mehr. Du musst die Vehemenz-Faktoren berücksichtigen. Die Elemente bilden nicht grundlos einen Energiekreis", merkte Victor belustigt an. "Ein Element im Kreislauf beherrscht das nächste. Holz ist stärker als Wasser. Wenn die Mengen identisch sind, wird das Holz gewinnen. Zumal man schon allein darüber streiten könnte, ob gemahlene Kräuter überhaupt noch als 'Holz' durchgehen."

"Jedes Pflanzenmaterial ist gut genug dafür. Also halt die Klappe, du Besserwisser", verlangte Urnue, natürlich nicht ganz ernst gemeint. Er stellte die Gewürzdose beiseite und griff wieder zur Kreide.

"Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass die Anzahl der verwendeten Elemente auch keine ganz unwesentliche Rolle spielt?"

"Eine Triole wird keine Probleme machen. Die ist eine Naturkonstante."

"Drei ist keine gute Zahl. Sie ist völlig unausgewogen. Durch nichts teilbar, und mit nichts Gleichwertigem auffüllbar, um ein ausbalanciertes Ganzes aus ihr zu machen."

Urnue legte kurz genervt den Kopf in den Nacken. "Musst du immer das letzte Wort haben!?"

"Was, letztes Wort? Ich dachte, von dir käme noch mehr. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass deine Argumentation schon zu Ende ist?", kicherte Victor.

Urnue wandte sich wieder seiner Arbeit zu und setzte unbeirrt die Kreide an, um den fast fertigen Bannkreis zu vollenden.

Victor trat ein paar Schritte zurück und zog einen gewaltigen, magischen Schutzschild vor sich hoch, der so groß war wie er selbst.

Der Wiesel-Genius mit den schwarzen Wuschelhaaren glotzte ihn verwundert an, statt seine Kreidestriche fertig zu ziehen. "Was soll das werden?"

"Ich geh in Deckung", klärte Victor ihn in einem völlig glaubwürdigen Tonfall auf, als sei das doch wohl zweifellos angebracht.

Urnue kamen doch langsam Zweifel an der Funktionsfähigkeit seines Bannkreises, angesichts der Tatsache, dass Victor sich ernsthaft hinter einem Schutzschild verschanzte. Aber würde hier wirklich gleich etwas richtig Gefährliches losgehen, würde Victor doch nicht einfach kommentarlos zusehen und ihn machen lassen, oder? Veralberte der Witzbold ihn etwa?
 

Die beiden konnten es nicht mehr drauf ankommen lassen, denn eine leise Melodie unterbrach ihre Magiestudien abrupt. Ein Handyklingelton. Mit missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen griff Urnue in seine Jackentasche und holte sein Telefon heraus. Während er ernst auf den Bildschirm starrte, spulte die Klingelmelodie noch ein zweites Mal ab.

Auch Victors fröhlich-amüsierte Stimmung war schlagartig verschwunden. Er ließ seinen magischen Schutzschild wieder sinken. "Ist das Danny?"

Urnue schüttelte langsam und ratlos den Kopf. "Rupperts Söhne haben meine neue Nummer nicht. Und selbst wenn, rufen sie mich nicht mit unterdrückter Nummer an."

"Wer hat noch deine Nummer?", wollte der Gestaltwandler wissen.

Urnue warf einen Blick auf die Armbanduhr, dann nahm er den Anruf im Lautsprecher-Modus entgegen. "Wer ist da?", verlangte er zu wissen, ohne sich selbst namentlich zu melden.

"Oh ... äh ... Hey! Sind Sie Mister Urnue D´Agou?", plärrte eine unbekannte Männerstimme aus dem lautgeschalteten Telefon. Eine tiefe, dunkle Reibeisen-Stimme, die deshalb aber nicht unangenehm klang.

"Wer sind Sie? Woher haben Sie diese Nummer?"

"Ähm ... mein Name ist John. Ist aber nicht so wichtig. Wir kennen uns ohnehin nicht." Der Anrufer sprach nur leidlich Russisch. Und der markant englische Akzent wies ihn ebenfalls nicht als Muttersprachler aus. "Aber, sagen Sie, haben Sie eventuell noch Kontakt zu einem gewissen Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov?"

Urnue verengte argwöhnisch die Augen. "Ich weise Sie darauf hin, dass ich den Anruf in 10 Sekunden abbrechen werde", konterte er gänzlich humorlos.

"Kein Problem, so viel Ihrer Zeit brauche ich gar nicht. Nur, wenn Sie noch irgendwie Kontakt zu Mister Akomowarov haben, dann sagen Sie ihm bitte, dass Vladislav vor drei Tagen aus dem Gefängnis geflohen ist. Ich finde, Mister Akomowarov sollte das wissen. Ich weiß bloß nicht, wie ich ihn erreichen soll. Er legt viel Wert darauf, nicht gefunden zu werden und ..." Der Redeschwall brach ab, als Urnue konsequent auflegte.

Urnue sah nochmal kontrollierend auf die Armbanduhr, dass er die Zeit nicht überschritten hatte. Er wollte vermeiden, dass die Telefonverbindung zurückverfolgt wurde und er hier gefunden wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, Victor zu finden indem er nach Urnue suchte. Dieser Umweg war immerhin sehr vielversprechend, wenn man wusste, dass Victor und Urnue ständig gemeinsam auf Tour waren. Als nächstes sah er Victor an, der gerade missmutig die Arme verschränkte. "Was denkst du?", wollte Urnue von ihm wissen.

Der Russe zog ein verdrießliches Gesicht und überlegte lange, bevor er seine Einschätzung in dem prägnanten Fazit "Scheiße." zusammenfasste.

"Könnte eine Falle sein, oder?", hielt Urnue dagegen. "Vielleicht wollen sie dich bloß aus deinem Versteck locken."

"Schon möglich. Aber wenn es DOCH stimmt, muss ich das wissen. Im Gefängnis war Vladislav auch schon eine Gefahr für mich, aber nicht halb so gefährlich wie wenn er frei draußen rumrennt. Und vor allem ...", merkte er finster an, "muss ich ihn vor Seiji Kami wiederfinden!"

"Du meinst, der von den FABELS?"

Victor nickte ernst. "Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass ich von ihm noch nichts gehört habe. Wenn Seiji wüsste, dass Vladislav aus dem Knast ausgebrochen ist, hätte er es mir schon längst selber gesagt. Seiji hat eine e-mail-Adresse von mir. Er kann jederzeit Kontakt zu mir aufnehmen. ... Es sei denn, er will es mir ganz bewusst verschweigen."

"Also, mich würde es wiederum sehr wundern, wenn jemand wie Vladislav entflieht, und eine Organisation wie die FABELS drei Tage lang nichts davon mitkriegt", sponn der Wiesel-Genius diesen Gedankengang weiter. "Das wäre schon ziemliches Systemversagen, oder? Das würde den FABELS gar nicht ähnlich sehen."

"Wie auch immer. Ich muss rauskriegen, ob Vladislav wirklich auf freiem Fuß ist, und ihn so schnell wie möglich finden."

"Und was hast du vor, wenn du ihn gefunden hast?"

"Nur soviel: Nochmal kriegt Seiji ihn nicht. Der hatte seine Chance."

"Dragomir, du hast eine Abmachung mit ihm", gab Urnue besorgt zu bedenken.

"Hatte ich! Und die wurde erfüllt! Ich habe 3 Jahre geopfert und auf den Abschuss etlicher Motus-Wichser verzichtet, um Vladislav zu kriegen! Nur um ihn dann den FABELS zu überlassen, die ihn begnadigt haben!"

"Das waren nicht die FABELS, sondern der Strafrichter. Und Vladislav wurde nicht begnadigt. Er hat lebenslänglich bekommen."

"Das IST eine Begnadigung!", begehrte Victor sauer auf. "Seiji hat mir zugesagt, dass er in den Staaten angeklagt wird, nach amerikanischem Recht! Dort gibt es noch die Todesstrafe. Aber Seijis Anwälte waren zu dumm, die Todesstrafe für Vladislav rauszuholen, obwohl wirklich alles dafürgesprochen hätte. Sie haben sich mit der Haft zufrieden gegeben. DAS war nicht der Deal, den ich mit Seiji Kami hatte!"

Urnue seufzte und zog ein um Vernunft bittendes Gesicht. "Mach Seiji Kami keine Vorwürfe deswegen. Er kann nun wirklich am wenigsten dafür. Es ist nicht fair, von seinen Anwälten zu sprechen. Er hatte nichtmal Einfluss auf die Anklage."

"Ist mir egal, wer was dafür kann, dass Vladislav so davongekommen ist. Nochmal passiert mir das jedenfalls nicht."

Urnue beschloss, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Er hatte Victor selten so außer sich und so unkaschiert wütend gesehen. Für gewöhnlich hatte Victor sich besser im Griff. Er hatte gar nicht gewusst, dass der Russe so viel Groll gegen die FABELS hegte, noch dazu einen so unbegründeten. Aber bestimmt würde er sich schnell wieder abregen, wenn er den ominösen Anruf erst verdaut und ein paar gesicherte Fakten zusammengetragen hatte.
 

Victor schien das ähnlich zu sehen, denn er stopfte durchatmend die Hände in die Manteltaschen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem halbfertigen Bannkreis zu. "Also, wie steht´s? Willst du ihn noch beenden?", schlug er vor - betont ruhiger und friedfertiger als zuvor.

"Hat das denn noch Sinn?"

"Mh~ Mit ein paar kleineren Korrekturen ist er durchaus noch zu retten. Du bist schon auf dem richtigen Weg. Du musst nur verstehen, dass die asiatischen Elemente ein wenig anders ticken als die westlichen, und musst die Elemente darauf basierend neu ausbalancieren."

"Wäre er wirklich explodiert, wenn ich ihn so gelassen hätte?", wollte Urnue zweifelnd wissen.

"Quatsch. Mein Schutzschild vorhin war nur Spaß, um dich zu ärgern. So, wie der Bannkreis jetzt gerade ist, wäre einfach gar nichts passiert. Die überstarke Holz-Energie wird einfach alle anderen Elemente aufsaugen und es kommt zu keiner Reaktion."

"Du bist so fies!", hielt Urnue ihm beleidigt vor. "Dafür, dass du an einer Universität unterrichtest, sind deine Lehrmethoden schon sehr fragwürdig. Machst du dich über deine Studenten auch so lustig?"

Victor zuckte hinnehmend mit den Schultern. "Ich sage dir das gleiche, was ich auch meinen Studenten sage: Wenn du einen Zauber vergeigst, wirst du leider nur selten das Glück haben, dass einfach gar nichts passiert. Oft genug endet missglückte Magie in einer Katastrophe. Sei dir dessen immer bewusst, wenn du versuchst, dir was Neues anzueignen. Dass du sorgfältig vorgehst, und weißt was du tust, ist immens wichtig, U. - Gerade auf so hohem Niveau wie diesem hier können Fehler tödlich enden."

Urnue nickte einverstanden. "Gut. Also was hab ich falsch gemacht?", wollte er wissen, pflanzte sich euphorisch im Schneidersitz mitten auf den blanken Fußboden und schaute wissbegierig zu Victor hoch. "Bring es mir bei!"

Der Gestaltwandler setzte sich zu ihm. Er griff nach der Dose mit getrockneten Kräutern. Natürlich hätte er Urnue einfach die fertige Lösung verraten können, aber davon hätte er nichts gelernt. Sollte Urnue die Zusammenhänge wirklich verstehen, musste Victor weiter ausholen. "Wie ist es um dein Alchemie-Wissen bestellt? Hast du Ahnung davon?"

"Alchemie?", erwiderte Urnue verständnislos. "Diese Kunst ist mittelalterlich. Die praktiziert doch heute keiner mehr."

"Nein, aber sie bildet bis heute die Grundlage aller modernen Chemie, Medizin und auch Magie. Sie hat immer noch Gültigkeit. Alchemie ist die Lehre von den Eigenschaften der Dinge und ihrer Umwandlung in etwas Edleres - sei es nun die Umwandlung von unedlen Metallen in Gold oder die Umwandlung des irdisch verhafteten Geistes hin zur Erleuchtung. Eigenschaften und Umwandlung, Urnue. Genau das, was wir hier gerade mit dem Bannkreis versuchen. Er baut auf den Wechselwirkungen der Eigenschaften verschiedener Elemente auf. Die Alchemie ist die Quintessenz dafür."

Urnue rieb sich kurz deprimiert die Augen, als würde er eine sehr trockene, anstrengende und hochkomplizierte Unterrichtsstunde erwarten, doch dann kehrte sein Interesse übergangslos wieder zurück. Er nickte erneut. "Na schön, reden wir über Alchemie. Meine Kenntnisse aus dem Bereich der Alchemie beschränken sich im Wesentlichen auf die 'Tabula Smaragdina'."

Victor lachte erheitert. "Echt jetzt? Hast du die etwa verstanden?"

"Natürlich nicht. Aber im Prinzip lehrt sie ja, dass im großen Weltgefüge alles miteinander verbunden ist und sich alles gegenseitig beeinflusst. Wenn man eins verändert, verändert man alles. Sie lehrt, dass es für alles Entsprechungen gibt, und das Kleine sich im Großen widerspiegelt. Sie lehrt aber auch, dass es eine große, universelle Ordnung gibt, die immer bestehen bleibt, weil sich innerhalb ihres Rahmens alles gegenseitig ausbalanciert."

"Ja, so könnte man es zusammenfassen", bestätigte Victor. Dann schüttelte er leicht den Kopf. "Wer die 'Tabula Smaragdina' wirklich bis in ihre verstecktesten Botschaften zwischen den Zeilen und bis in ihre geheimsprachlichen Begriffe und Codes hinein verstanden hat, der hat das ganze Universum verstanden. Dem kann man nichts mehr beibringen. Aber so weit bringt es heute wohl niemand mehr, weil die 'Tabula Smaragdina' schon so oft hin und her übersetzt wurde, dass ihr ursprünglicher Wortlaut kaum noch zu rekonstruieren ist. Selbst wenn sie nicht so mystisch formuliert wäre, dass jeder Satz eigentlich einer detaillierten Auslegung und Kommentierung bedürfte."

"Hast du sie verstanden?"

"Gott bewahre, nein. Und ich hab leider wirklich viel Zeit mit ihr verschwendet. - Suchen wir uns also etwas Praktischeres: ..." Victor zückte seinen E-book-Reader, auf dem er inzwischen fast seine gesamte Bibliothek digitalisiert hatte. Der ließ sich auf Reisen und Ausflüge schließlich leichter mitnehmen als die Regale über Regale voller Bücher, die bei ihm rumstanden. Wenn er den Verdacht hatte, dass er seine Fachliteratur unterwegs brauchen könnte, dann nahm er den Reader mit. Und wenn er mit Urnue übte, war dieser Verdacht immer gegeben. "'The last Will and Testament of Basilius Valentinus'", kündigte er an.

Urnue verengte nachdenklich die Augen. "Hab ich zumindest schonmal irgendwo gehört ..."

"Du wirst dich freuen: ich hab nur die englische Version davon. Aber das war immer noch besser als die Deutsche. Auf Russisch hab ich das Werk leider nicht gefunden. Das 'testamentum ultimatum' und die 'Zwölff Schlüssel', die später bei der englischen Übersetzung zum 'Last Will and Testament' zusammengefasst wurden, enthalten unter anderem eine fast abschließende Sammlung aller alchimistischen Symbole und ihrer Beziehungen zueinander. Genau die brauchen wir, wenn wir was darüber lernen wollen, wie sich die Elemente in deinem Bannkreis gegenseitig beeinflussen." Victor suchte nach der entsprechenden Datei, um sie Urnue zeigen zu können, und sie begannen über Magie-Theorie zu philosophieren, als hätte es den Anruf von diesem mysteriösen John nie gegeben. Als wäre Vladislav nicht aus dem Gefängnis entwischt. Als wäre die Welt immer noch in Ordnung. Aber dennoch blieb in Victors Hinterkopf dieser hässliche Gedanke hängen, dass sie das nicht mehr war. Jetzt nicht mehr.



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