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Colorblind

Take your glasses off
von

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Left clueless

Shiro wandte seinen Blick von dem Teekessel, den er gerade auf den Herd gestellt hatte, ab. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Küchenablage, auf der noch Geschirr vom Frühstück stand. Normalerweise war immer jemand bereit, dieses zu säubern und wegzuräumen – nur heute nicht. Vielleicht hatten sie einfach viel um die Ohren...

„Wie Rin seine Masho erlitten hat?“, wiederholte Shiro die Frage und sah Yukio dabei an. Bei einer Masho handelte es sich um Wunden oder Leiden, die einem durch Dämonen zugeführt wurden – quasi eine Voraussetzung, um überhaupt ein Exorzist zu werden. Denn wer einmal eine Masho erhalten hat, hat von diesem Moment an die Fähigkeit Dämonen zu sehen. Also war die Frage seines Ziehsohnes irgendwo auch angebracht, immerhin war Rin kein Exorzist, der dieses Ritual durchgangen ist. Seine Mutter hingegen schon. Aber wieso sollte Yuri ihren Sohn Dämonen aussetzen, nur um sich danach mit ihm im Wald zu verschanzen und ihre Existenzen somit quasi zu verheimlichen? Zum Spaß? Nie im Leben. Keine fürsorgliche Mutter würde ihr Kind so einer Gefahr aussetzen. Auch wenn Yukio Yuri noch nicht lange kannte, so machte sie nicht den Eindruck, als wäre ihr es egal, was mit Rin passierte. Sie schien so besorgt, als sich der Schuss gelöst hatte, war sogar zu ihm gerannt und hatte ihn nach Wunden abgesucht.

„Ist es nicht naheliegend, dass Rin sie durch Zufall erhalten haben könnte?“ Shiro hing nun seinen blauen Schal an die Garderobe neben der Eingangtür und kam dann zurück zu Yukio, der noch immer überlegend auf den Laminatboden starrte.

„Es muss doch irgendeinen logischen Grund geben, weshalb sie nicht bei den Menschen leben“, murmelte Yukio und legte seine Hand ans Kinn.

„Es muss nicht immer alles aus Logik heraus entstehen, Yukio“ Der Vater wuschelte dem Sohn durch die dunkelbraunen Haare. „Und jetzt mach deine Hausaufgaben, du hast doch bestimmt welche.“

„Ja, Vater.“ Yukio drehte sich um, verließ die Küche dann aber doch nicht. Stattdessen begann er wieder zu reden: „Was für einer Klasse hat Yuri angehört?“

Shiro nahm den Teekessel vom Herd und schüttete das dampfende Wasser in eine Tasse, die Yukio ihm damals im Kindergarten bemalt und zu Weihnachten geschenkt hatte. Dann stellte er den Kessel wieder zur Seite, nahm die dampfende Tasse, in die er noch einen Löffel legte, in die Hand und setzte sich an den Holztisch in der Mitte der Küche. In Gedanken rührte er seinen grünen Tee um und nach kurzem Überlegen beantwortete er Yukios Frage aber.

„Sie war Teil der unteren zweiten Klasse.“

„Also hat sie nur Kleinvieh beseitigt, wie beispielsweise Goblins... mit denen sie nun in Frieden wohnt?“, fügte er am Ende leise hinzu und nahm gegenüber von seinem Vater Platz. „Warum macht man so Wind um eine Exorzistin der unteren zweiter Klasse?“

Shiro nippte an seinem Tee.

„Das ist eine sehr lange Geschichte, die noch in meine jungen Jahre zurückgeht, das zu erklären würde zu lange dauern.“

„Ich habe den ganzen Abend Zeit“, erwiderte Yukio arrogant und lehnte sich im Stuhl zurück. „Also?“

„Du hast vielleicht den ganzen Abend Zeit, aber deine Hausaufgaben warten und ich muss meinen Bericht schreiben. Wir verschieben das auf wann anders.“

Und damit griff er nach dem Stapel Papier, der auf dem Tisch lag und nur darauf wartete, beschrieben zu werden. Yukio reichte ihm widerwillig kommentarlos den Kugelschreiber, der neben ihm auf der Kommode an der Wand lag. Dann nickte sein Vater ihm dankend zu und hängte sich über das noch leere Papier.

Das leise Geräusch von Kugelschreiber auf Papier erfüllte den Raum und wurde von nachdenkenden Geräuschen seitens Shiro ab und an unterbrochen. Yukios Blick blieb starr auf seinen Vater und das Papier gerichtet, doch er wagte sich nicht, Shiro zu unterbrechen. Deshalb entschied er sich nach einigen Minuten dazu, das dreckige Geschirr einzuräumen und dabei bei Möglichkeit über die Schulter seines Vaters zu linsen. Dabei erhaschte er zusammenfassende Worte von dem Treffen mit Yuri und ihrem Sohn. Auch seine eigene Kurzschlussreaktion wurde erwähnt, was ihm noch immer peinlich war.

„Wir können die Erzählung auch auf mehrere Abende verteilen, Vater“, schlug der Junge nebenbei vor, und der Kugelschreiber verstummte.

„Yukio.“

„Ja, Vater?“

„Wenn du dich mit Rin anlegen willst, kannst du das gerne tun. Willst du das?“

„Was? Nein, niemals“ Der Junge bildete mit seinen Armen ein abwehrendes X vor seinem Körper und schüttelte wild den Kopf. „Der Kerl ist so ein...“
 

„Arroganter Arsch!“ Rin ließ mit voller Wucht die Axt auf das aufgestellte Stück Holz auf dem Stamm vor sich hinabsausen und teilte das Stück in zwei Hälften. „Denkt er ist der Beste, nur weil er mit 'ner Knarre rumrennt und von Daddy wie eine Königin behandelt wird. Hast du gesehen wie der das Teil gehalten hat? Da kommt ja ein Kleinkind besser mit dem Ding klar!“

Sauer schnaubte Rin und betrachtete die kleine Wolke, die sich dabei vor seiner Nase bildete und dann verschwand. Dabei fiel sein Blick auf den zunehmenden Mond, der ihn provokant mit seinem Licht anlachte.

Rin, warum bist du so wütend auf den Fremden?

Rin sah neben den von Schnee befreiten Baumstamm, wo Kuro, ein schwarzer Kater mit zwei Schweifen, saß und den Kopf fragend schief legte. Kuro war seit seiner Geburt nicht von seiner Seite gewichen und ging oft mit ihm auf Spaziergänge oder auf Patrouille im Wald. Er war ein Cait Sith, der für den Schutz der Hütte zuständig war und dieser Aufgabe auch immer brav nachkam. Naja... es kam schließlich nie jemand hier her und Wildschweine trauten sich auch nicht in seine Nähe. Denn wenn Kuro sich dafür entschied, seine Form als Nekomata anzunehmen, wuchs er zu einer riesigen dämonischen Katze, die selbst Bären mit Leichtigkeit verscheuchen konnte.

„Hast du dir den mal angesehen? Ohne Grund auf Schneemänner zu schießen, die nichts getan haben!“ Erneut zerhackte er ein Stück Holz und schlug die Axt danach in den Stamm, um sich seine Jacke auszuziehen.

Aber er ist doch Shiros Sohn. Und Shiro ist ein angesehener Exorzist.

„Schön für ihn, juckt mich doch nicht. Der soll sich hier bloß nicht mehr blicken lassen. Du hast die Erlaubnis ihn zu fressen, wenn er der Hütte zu nahe kommt.“ Mit Leichtigkeit zog er die Axt aus dem Holz, stellte das nächste Stück Holz hochkant auf den flachen Baumstamm und teilte dieses auch. Dabei wich sein Cait Sith zur Seite aus, um nicht von dem fallenden Holz getroffen zu werden. „Der Kerl macht mich wütend.“

Kuro schnaubte und schüttelte den Kopf, weshalb Rin inne hielt. Seine Schultern senkten sich.

Ich nehme nur Befehle von Yuri an, tut mir leid. Und ich werde Shiro auch nichts antun, du kennst ihn nur nicht gut!

Der Cait Sith hob Nase und Schweife und trabte dann brav Richtung Hütte. Rin ließ die Axt sinken und starrte dem schwarzen Kater fassungslos hinterher. Hatte sein eigener Schutzgeist ihn gerade abgewiesen?

„Bitte was?!“, entwich es Rin noch, ehe Kuro die angelehnte Tür aufdrückte und ins Warme tapste. Und um dem noch die Kirsche aufzusetzen kickte er die Tür mit er Hinterpfote zu und schloss Rin damit aus. „Kuro!“

„Aber, aber“ Rin rollte genervt mit den Augen und stöhnte noch genervter auf. „Man will sich doch nicht mit seinem Schutzgeist anlegen.“

„Was willst du denn jetzt?“

Ein weißer Pudel mit einer lila Schleife um den Hals kam hinter einer der Tannen hervor und sprang auf den Baumstamm, auf dem eben noch Kuro gesessen hatte. Seine blöd dreinschauenden Augen sahen zu Rin hinauf. Doch dieser sammelte nur stumm das zerhackte Holz auf und legte es in einen Korb.

„Oh bitte, begrüßt man so seinen großen Bruder? Anhand von Shiros heutigem Bericht habe ich mich dazu entschieden, dir einen Besuch abzustatten. Denn sich mit dem Klassenbesten der aktuellen Novizen anzulegen könnte noch unschön enden für dich. Ich hoffe dem bist du bewusst.“

„Ach, lass mich in Ruhe, Mephisto. Immer wenn du auftauchst geht irgendetwas in naher Zukunft schief.“ Rin hievte sich den Korb auf die linke Schulter und die Axt über die rechte.

„Also ein Großteil davon geht auf dein Konto. Denn du reagierst mit Gewalt statt Worten. Zumindest habe ich das Shiros Bericht entnommen.“

„Der kann froh sein, dass ich ihm nicht den Arm gebrochen habe.“

„Genau das meine ich. Rin, du wirst Yukio Okumura und Shiro vermutlich noch einige Male sehen. Versuch also zumindest ein wenig dich mit ihnen zu verstehen.“

„Was haben die hier zu suchen?“

„Es war Shiro, der mich nach dem Verbleib deiner Mutter gefragt hat. Und ich war so nett und habe meinem treusten Exorzisten seine Bitte erfüllt.“

„Genau das meine ich. Irgendetwas wird in Zukunft schief gehen nur weil du uns nicht einfach in Ruhe lassen kannst.“ Rin schüttelte den Kopf und drehte sich von Mephisto weg, um sich auf den Weg Richtung Hütte zu machen.

„Rin, versuche dich mit ihnen zu arrangieren. Sie wollen dir nichts tun. Und wenn, dann bin ich ja auch noch da.“

„Wie beruhigend...“, meinte der Dunkelhaarige ironisch, lehnte die Axt neben der Haustür an die Wand und klopfte an die hölzerne Tür, die dann auch schon von seiner Mutter geöffnet wurde. Sie sah ihn lächelnd an.

„Mit wem hast du denn geredet, Rin?“

„Mit mir selbst.“

Damit lief er an ihr vorbei und bog direkt nach rechts in das Wohnzimmer. Vorsichtig stellte er den Korb mit gehacktem Holz neben den Kamin, der aus Steinen gebaut war. Dankend drückte Yuri ihn kurz von der Seite und sofort entspannten sich seine Muskeln.

„Ich hau mich aufs Ohr“, murrte Rin, erwiderte die Umarmung knapp und verließ dann das Wohnzimmer, um die Treppe am Ende des Flurs hinaufzugehen. Dort oben war sein Reich. Es bestand zwar nur aus zwei kleinen Räumen und einem Badezimmer, aber der Fakt, dass sie Elektronik hatten, vereinfachte das alles sehr.

„Rin, hast du denn gar keinen Hunger? Du hast dich immerhin körperlich angestrengt. Ich mache dir was.“ Yuri schien besorgt, doch der Junge winkte knapp ab.

„Danke, aber ich habe keinen Appetit. Gute Nacht.“

Schweigend nahm die Mutter diese Antwort hin und schob das Verhalten auf die Pubertät, in der ihr Sohn sich aktuell befand.
 

Yukio saß bis tief in die Nacht an seinen Hausaufgaben, obwohl er diese auch spontan im Unterricht hätte beantworten können. Seine Schrift war ordentlich, seine Antworten ausführlich und seine Gedanken jenseits von dem, wo sie sein sollten.

Shiro hatte ihn vorhin eiskalt abgewimmelt und hatte sich dann in sein eigenes Zimmer zurückgezogen. Sein Vater brauchte nicht viele Stunden Schlaf und auch Yukio nahm diesen Charakterzug immer mehr an, je mehr er lernte und für das Kolleg arbeitete. Aber in wenigen Wochen stand seine Adepten-Zulassungsprüfung vor der Tür. Auf seine Klassenkameraden konnte er sich zwar verlassen, bevorzugte es aber, Dinge alleine zu klären. Denn dann war es sicher, dass es richtig erledigt wurde.

Nemu Takara... viel war Yukio nicht über ihn bekannt. Er hatte hellbraune Haare und kommunizierte über eine Handpuppe, die er immer bei sich trug. Laut Aussagen war er ein Tamer, ein Exorzist, der selber Dämonen rief, um böse Dämonen zu bekämpfen. Übertreiben sollte man es allerdings nicht, da solch eine Beschwörung immer das Opfern vom eigenen Blut erforderte. Wenn man nicht selbstbewusst genug war, konnten die gerufenen Dämonen aber auch gegen einen wenden und im schlimmsten Fall töten.

Izumo Kamiki ist ebenfalls ein Tamer aus seiner Klasse und ist eine sehr stolze und besserwisserische Person, weshalb sie sich oft mit ihren Kameraden, vor allem Ryuji Suguro, in die Haare bekam. Wenn man gerade von Haaren redet konnte man auch mit Suguro fortfahren, denn dieser hatte dunkelbraune Haare mit einem gefärbten blonden Strich, der von seinem Pony bis in den Nacken ging. Ihn mit einem Hahn zu vergleichen endete meist in Stress. Gewöhnungsbedürftig, aber eigentlich war er kein schlechter Kerl. Er mag wie ein Hau-drauf Typ wirken, war aber das totale Gegenteil. Dazu war er ein wirklich fleißiger Schüler, hatte Disziplin und nahm alles immer ein wenig zu ernst. Seine Spezialgebiete waren das Rezitieren aus der Bibel und auch als Dragoon stand er nicht im schlechten Licht.

Man traf Suguro meist immer nur mit seinen zwei engsten Freunden, Renzo Shima und Konekomaru Miwa, an. Shima war ein pinkhaariger, sorgloser Junge, der quasi jedem weiblichen Wesen von Assiah hinterher sabberte. Seine größte Furcht sind Insekten und seine Fähigkeiten bestehen darin, mit dem Mönchsstab umzugehen, was er vermutlich bei seiner Familie gelernt hatte. Laut eigener Aussage sei er, wie auch Suguro, auch ein Aria, würde aber bei einer echten Konfrontation binnen weniger Sekunden draufgehen.

Der Dritte im Bunde war Konekomaru. Er war der Kleinste des Trios, trug eine Brille und hatte eine Glatze. Man konnte ihn als den Ruhepol der Gruppe ansehen, da er sehr gewissenhaft und vernünftig war und Suguro und Konekomaru meist von Dummheiten abzuhalten versuchte. Seine Intelligenz spiegelte sich darin wieder, dass er, wie auch Suguro, sehr begabt war, was das Rezitieren von Versen aus der Bibel anging.

Die Letzte im Bunde war Shiemi Moriyama. Ein niedliches Mädchen mit kinnlangen, blonden Haaren, die Yukio bereits seit seiner Kindheit kannte, da ihre Mutter einen Laden für Exorzistenbedarf besaß und sein Vater immer seine Lieferungen bei ihr bestellte und abholte. Sie war sehr schüchtern und dem Kolleg nur beigetreten, weil sie sich von ihm hatte inspirieren lassen. Trotz ihrer unsicheren Art hatte sie es im Unterricht geschafft, einen magischen Diener zu beschwören – Nii-Chan, in kleines Grünmännchen.

Yukio hatte sich auf mehrere dieser Sachen fixiert, vor allem den Titel als Dragoon wollte er sich erarbeiten. Deshalb bekam er auch Unterricht von seinem Vater was das Schießen und Zielen anging. Die Arbeiten eines Tamers hatte er sich als Nebenziel gesetzt, da seine Ausdauer für solche Beschwörungen noch lange nicht genug war, um irgendetwas sinnvolles nutzen zu können. Auch den Titel als Doktor wollte er sich mit der Zeit erarbeiten. Sein Vater Shiro war auf allen Gebieten geschult und höchst begabt, was für Yukio Grund genug war, ihm nachzueifern. Den Titel als Paladin zu erreichen war ein nahezu unmögliches Ziel, denn es gab immer nur einen lebenden Paladin. Wie er diesen allerdings erreicht hatte, wurde Yukio bis dato noch nicht offenbart. Angeblich besaß er diesen schon seit er ihn adoptiert hatte...

Kopfschüttelnd legte Yukio seinen Stift in die Federmappe, rieb sich müde die Augen und klappte das Buch zu, über dem er die letzten Stunden gehangen hatte. Dann ließ er dieses in seine Schultasche gleiten, knipste das Licht aus, erhob sich von seinem aufgeräumten Schreibtisch und entledigte sich seiner Jacke. Automatisch trugen seine Beine ihn ins Bett. Mit letzter Routine legte er seine Brille noch auf den Nachttisch neben seinem Bett und schloss zufrieden die Augen. Nicht einmal seine Decke hatte er sich übergezogen. Wieso er also am nächsten Morgen zugedeckt aufwachte, war ihm ein Rätsel.

Doch Shiro hatte ihn mit einem ebenso wärmenden Lächeln am Morgen begrüßt.
 

Der Schultag an der Akademie und auch der der Unterricht danach ließen Yukio kalt. Seine Hausaufgaben waren beim Vortragen fehlerfrei, seine restlichen Beiträge zum Unterricht ebenso. Auch war sein Vater so frei gewesen, ihn direkt nach dem Schultag aufzugabeln und mit in der Akademie zu nehmen, wo Shura, eine weitere seiner Schülerinnen, ihre Sachen zusammenpackte und sich von ihm verabschiedete. Yukio konnte sie nicht ausstehen. Sie war aufdringlich, frech und leider auch wirklich begabt.

„Alles okay?“, fragte Shiro und riss den Jungen aus seiner Trance.

„W-wie? Ja.“ Yukio ließ sein Sakko auf dem Stuhl nieder und stellte den Waffenkoffer mit seinen zwei Waffen auf die Schießbank. Vorsichtig öffnete er diesen und baute die Pistolen in Ruhe auf. Shiro nahm währenddessen auf einem weiteren Stuhl Platz und beobachtete seinen Sohn aufmerksam dabei. Auch griff er ein, wenn Yukio einen Schritt vergaß und half ihm dabei, all das korrekt zu lernen.

Am Ende setzte er seinem Sohn noch Gehörschutz und Schutzbrille auf, ehe er mit dem theoretischen Teil der Stunde begann.

Und Yukio hörte brav zu, ehe es ans Eingemachte ging.
 

„Yukio.“

Yukio ließ die Waffe sinken und schob sich den Gehörschutz vom linken Ohr. Lauschend sah er zu seinem Vater, der sich direkt hinter ihn stellte und mit seinem rechten Fuß zwischen Yukios Füße rutschte, um seinen linken Fuß weiter nach außen zu schieben. Dabei schubste er den Jungen auch leicht an, sodass er sich mit dem linken Fuß abfing und ein wenig versetzt stand.

„Beine schulterbreit, das nicht-dominante Bein nach vorne. Belaste den Quad und bringe deine Kniescheibe nach vorn. Dadurch bist du in der Lage, den Rückstoß der Waffe zu absorbieren und zu mildern“, sagte Shiro sanft und brachte seinen Ziehsohn in die Position, die er soeben erklärt hatte. Yukio hatte sich bereits daran gewöhnt, von seinem Vater korrekt platziert zu werden, immerhin gehörte das auch mit zur Ausbildung. Aber ein Wort war ihm besonders im Kopf geblieben.

„Quad?“

„Der Quadrizeps ist der Muskel in deinem Vorderbein. Einer der stärksten Muskeln des menschlichen Körpers.“ Zur Erklärung berührte er kurz Beginn- und Endpunkt des Muskels an Yukios Bein, um es ein wenig zu veranschaulichen. Verstehend nickte der Novize und ging wieder in Position. Seufzend schob Shiro ihm den Gehörschutz wieder richtig auf die Ohren, was der Braunhaarige damit kommentierte, indem er sich erneut umdrehte, um zu symbolisieren, dass er begriffen hatte, dass er das vergessen hatte. Danach schüttelte er kurz seinen Oberkörper und zielte auf die Zielscheibe am anderen Ende des Raumes. Er holte tief Luft und verengte die Augen zu Schlitzen, um noch schärfer sehen zu können. Dann drückte er ab.

„Welcher ist der größte Muskel im Körper, Yukio?“, fragte Shiro dann beiläufig während Yukio auf die Ziele schoss.

„Der Musculus Latissimus Doris.“

„Wo befindet er sich?“

„Der Musculus Latissimus Doris bedeckt fast die komplette Länge der Wirbelsäule unter dem Schulterblatt.“

„Sehr gut. Welcher Muskel hat den längsten Namen?“ Shiro sah weiter dabei zu, wie Yukios Schüsse präzise ihre Zielscheibe fanden und trafen – mit einer leichten Linkstendenz.

„Musculus Levator Labii Superioris Alaeque Nasi“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Er ist ein oberflächlicher Muskel im vorderen Wangenbereich. Viel mehr am am Nasenabhang, der die Oberlippe und den Nasenflügel hebt.“ Der letzte Schuss traf sein Ziel ebenfalls und tief ausatmend ließ Yukio die Waffe sinken. Bei dieser handelte es sich um eine auf die Exorzisten eingestellte Waffe der Heiligkreuz-Akademie, eine Detonics 1911. Man konnte sie nach Belangen mit unterschiedlicher Munition nutzen und lag für ihre Verhältnisse leicht in den Händen.

Yukio legte die Waffe auf den Tisch vor sich und nahm die Kopfhörer wieder ab. Im Normalfall konnte man sie auch weitertragen, denn sie waren nur während des Schießens vom Vorteil, da sie laute Geräusche herausfilterten, aber das normale Reden nicht groß beeinträchtigten. Dennoch hörte man sein eigenes Echo beim Reden, womit der Novize noch immer Probleme hatte.

Per Knopfdruck holte er die Zielscheibe zu sich, um sie zu begutachten, doch Shiro zog sie aus der Halterung, noch bevor er einen Blick drauf werfen konnte.

„Wo waren die Fehler?“ Shiro lief wieder am Schießstand auf und ab, so wie er es eben auch getan hatte und es immer tat, wenn Yukio schoss.

Fast schon wie ein kleines Kind sah Yukio von links, wo seine Ausrüstung am der Wand lag, nach rechts, zu den Zielscheiben am anderen Ende des Raums. Er versuchte irgendwie Tipps zu finden, was seine Fehler waren, doch es gab keine Anzeichen, dass er bewusst welche gemacht hatte. Nach wenigen Sekunden bemerkte auch sein Vater diesen Fakt und seufzte.

„A. Wofür steht A?“ Shiro schob sich seine Brille ein wenig höher.

„Atmung“, antwortete Yukio und entfernte das Magazin aus der Waffe.

„Und wie hast du geatmet?“

Keine Antwort. Und endlich hielt Shiro ihm die Zielscheibe vor die Nase. Die grünen Augen des Jungen zählten die Einschusslöcher. Aber er zählte nur Sechs. Dabei war die Magazinkapazität doch Sieben Schuss...

„Da fehlt eine...“, sagte Yukio leise und deutete auf die Zielscheibe.

„Du hast falsch geatmet. Du hast nur durch den Brustkorb geatmet, Yukio. Und was passiert dadurch?“

„Die Waffe bewegt sich... Moment, das hast du extra gemacht! Du hast mir doch Fragen gestellt.“ Beleidigt sah er Shiro ins Gesicht. Auf diesem breitete sich ein kurzes Grinsen aus – Schadenfreude.

„Du hast geantwortet. Du hättest einfach weitermachen sollen. Geh von der Brust- zur Bauchatmung über beim Anvisieren. Dann immer flacher, wodurch sich deine Zielsicherheit erhöht und dein Puls verlangsamt. Und nachdem du geschossen hast nimm mehrere Atemzüge, nicht nur einen einzigen. Dein Körper muss darauf wieder klarkommen, dass er wieder mehr Blut durch die Lungen pumpen muss. Einatmen und Waffe heben, Arm senken und Anvisieren, dabei halb ausatmen, schießen, ausatmen, Luft holen. Dann-“ Shiro stellte sich wieder hinter den Jungen und schob erneut dessen Füße so auseinander, dass er schulterbreit dort stand. „Habe ich dich eben so positioniert, wie du beim Schießen stehen sollst. Und du hast es direkt wieder in die Tonne gekloppt, nachdem wir mit dem Reden fertig waren und du dich in Position gestellt hast.“

Der Junge senkte den Kopf. Tatsache, da hatte Shiro recht. Und um zu zeigen, dass er verstanden hatte, was sein Vater ihm gesagt hatte, nickte er vorsichtig.

„Wo sind deine Gedanken? Du bist abgelenkt.“

Nun schreckte der Junge auf und biss sich auf die Zunge, um nicht seine erstbeste Lüge zu nennen. Stattdessen kratzte er sich am Hinterkopf, legte die Zielscheibe in das Netz der Deckelinnenseite seines Waffenkoffers und zuckte mit den Achseln. Er hatte nicht aktiv an irgendetwas gedacht, aber anscheinend spukte etwas in seinem Unterbewusstsein herum, das ihn abgelenkt hatte.

„Ich denke nicht“, antwortete Yukio sofort. „Also... ich denke schon, aber ich bin beim Unterricht.“

Shiro nahm das Gesicht seines Sohnes in seine Hände und atmete tief ein.

„Wir machen Übermorgen weiter damit. Ruh' dich morgen mal aus.“

„Aber Vater-“

Damit wurde von ihm abgelassen und Shiro baute an seiner Stelle die Waffen auseinander und legte sie zurück in ihren Koffer. Schon fast beleidigt schürzte sein Sohn die Lippen, ließ ihn aber machen. Na gut, ein Tag Pause konnte auch mal vom Nutzen sein.

„Vielleicht kannst du ja meine Besorgungen übernehmen.“ Plötzlich baumelte einer von Shiros vielen Schlüsseln vor Yukios Nase. „Das kannst du mit Shiemi unternehmen.“

„Aber Novizen dürfen den Laden doch nicht betreten.“

„Shiemis Mutter kennt dich. Und dann kannst du auch gleich eine Besorgung bei Yuri abgeben.“

Yukio nickte stumm und zog sich sein schwarzes Sakko wieder über das weiße Hemd, an dem er zwei Knöpfe aufgeknöpft hatte und auch die Ärmel hochgekrempelt hatte.

Shiro nickte zufrieden und verließ mit Yukio den Schießstand.

„Warum soll ich zu Yuri? Ich kenne sie nicht.“

„Weil ich dir vertraue. Außerdem ist es nur ein kleines Paket für ihren Sohn.“

„Und wieso kann sie das nicht selber abholen, wenn sie die Schlüssel vermutlich noch besitzt?“ Skeptisch verschränkte Yukio die Arme vor der Brust.

„Weil das nicht geht.“

Widerwillig gab er sich mit der Antwort zufrieden und folgte seinem Vater durch de Keller hinauf zurück in die Halle der Akademie. Dort trennten sich ihre Wege wieder, da Shiro noch ein Meeting mit dem Direktor hatte und Yukio sich demzufolge mit einem der Schlüssel seines Vaters zurück zum Stift begab.

Na das konnte ja was werden...



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