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Chaos im Kopf (Ami)

von

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Wenn das Zubereiten eines Obstsalates am Morgen nach dem ersten Kaffee schon zu einer Herausforderung der Konzentrationsfähigkeit wird. Wenn schon die allerkleinsten Geräusche ablenkend wirken. Wenn du weißt, dass du gleich etwas tun wirst, um die Aufmerksamkeit einer Person zu bekommen, du willst es aber eigentlich nicht, weißt aber, du wirst es nicht verhindern können. Denn es ist ein Impuls, den du nicht steuern kannst. Er ist ein Teil von dir, und doch arbeitet er gegen dich. Wenn du nicht sein kannst wie die anderen und nie sein kannst, wie du eigentlich bist. Wenn deine Gedanken nie aufhören zu kreisen. Wenn du von dem zwanghaft Sein-müssen-wie-die-anderen Kopfschmerzen, Schlafprobleme und Verspannungen bekommst.
 

All das ist es, womit Ami seit gut 30 Jahren lebt. Chaos ist ihr ständiger Wegbegleiter. Egal wie strukturiert, manchmal schon fast autistisch sie wirkt, so sehr herrscht das Chaos in ihrem Kopf. Der Kampf um die Kontrolle über ihre Gedanken, geht schon seit sie denken kann. Sie bemüht sich stehts darum, ein „normales“ Leben zu führen und merkt doch, dass sie beinahe täglich an ihre Grenzen stößt. Sie weiß, was sie kann und dass sie das, was sie kann, gern tut, aber dass sie schon daran scheitert, dass sie nicht ist, was andere von ihr erwarten. Sie fühlt sich schnell unsicher, wenn sie weiß, dass sie nicht sein darf, wie sie eigentlich ist, zugleich aber nie das erfüllen kann, was andere von ihr erwarten, obwohl sie weiß, dass sie es kann. Doch wie beweist man, was man kann, wenn man nicht erfüllt, was andere erwarten?
 

Bewusst schreibe ich ihre Geschichte so verwirrend, denn es spiegelt gut wider, was sie erzählen möchte. Alles ist ständig in der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihre niemals stillstehenden Gedanken zerfetzen alles, was sie wahrnimmt und auch nur im entferntesten zu einer Auseinandersetzung in der Außenwelt werden könnte. Systematische Selbstzerstörung könnte man es auch nennen oder als würden die berühmten Teufel und Engel miteinander kämpfen. Sie wirke desinteressiert und unaufmerksam. Diesen Satz hört sie öfters, auch wenn es in den meisten Fällen nicht stimmt, so erzählte sie mir. Es fängt bereits damit an, dass ihre Einstellung anders sei. Dieses schnelle Abfertigen im Fabrikstil sei nicht das, was sie für richtig hält, schon allein damit stieße sie schon oft auf eine falsche Wahrnehmung ihrer Person. Sie könnte so arbeiten, doch dann wäre es ihr, als verriete sie etwas Ureigenes. Dazu käme dann, dass sie manchmal kurzzeitig weggleite, um dann wieder aufmerksamer da zu sein, dabei handele es sich aber um weniger als Sekunden. Doch es sei möglich, dass andere dies auch wahrnehmen und es als Desinteresse oder Unaufmerksamkeit interpretieren. Dem sei aber nicht so, sie habe immer alles im Blick, zumindest sei bislang nichts geschehen, was sie anders denken ließe, erzählte sie weiter. Aber die Gesellschaft funktioniere wohl nur, wenn man sich möglichst der Masse anpasse und funktioniere, egal was noch passiere. Doch wie passt man in eine Gesellschaft, in der keiner sein kann, wie er ist und alle möglichst gleich sein sollen und zugleich doch individuell? „Manchmal habe ich das Gefühl, dass nicht nur in meinen Kopf alles auf einen Widerspruch stößt, sondern auch die Gesellschaft selbst ein reiner Widerspruch ist. Wie können wir Menschen die Schwarmintelligenz nachahmen und zugleich auf unsere individuelle Einzigartigkeit bestehen? Wie ist man wie alle und doch ein Individuum? Kann eine Ich-Gesellschaft ein Schwarm sein?“*1
 

Doch will ich versuchen, ein wenig strukturierter zu werden. In dieser Geschichte geht es um Ami, das Chaos in ihr Kopf und ihrem Leben mit ADHS. Doch will ich nicht mit gesicherten Fakten, Statistiken und medizinisch belegten Tatsachen kommen. Es ist die Geschichte einer 30-jährigen Frau und ihr Leben mit dem Aufmerksamkeit-Defizit-Syndrom.
 

Das Leben hat mehr Ecken und Kanten als Rundungen und selbst wenn man sich im Kreis dreht, so stößt man auf Ecken und Kanten. Viele Situationen dürften den meisten Menschen bekannt vorkommen und manche werden denken: Was ist schlimm dran? Kenn ich doch auch nur zu gut. Was es für Ami schwer macht, ist, dass sie nicht filtern kann bzw. steuern, was nun gerade zerkaut werden soll und was sie nur unnötig belastet. Gerade die Themen Reizüberflutung und Impulskontrollstörung sind Themen, mit denen sie zu tun hat und über die es nur wenig zu lesen gibt. Überhaupt wird weniger über ADHS bei Erwachsenen geschrieben oder gelehrt. Es wird lediglich öfters mal erwähnt, dass ADHS von der Geburt bis zum Tod vorhanden ist. Fazit, es verschwindet nicht mit der Pubertät, wie es Akne oft tut, jedoch findet man nur wenig bis gar nichts über Erwachsene mit ADHS*2. Aber was genau ist eine Reizüberflutung? Und was genau kann man sich unter einer Impulskontrollstörung vorstellen?
 

Reize nehmen wir über unsere Sinne beinahe ununterbrochen wahr, ein Filter irgendwo im Kopf sortiert, was durch die einzelnen Gedächtnisse bis in die Schaltzentrale kommt und was direkt ausgeblendet bzw. ins Unterbewusstsein kommt. Bei einer Reizüberflutung wird wie bei einer Überschwemmung dieser Filter überlastet, so dass er nicht mehr funktionstüchtig ist oder nur noch eingeschränkt filtert. Dabei dringen alle Geräusche, Empfindungen, Gerüche und Bilder in die Schaltzentrale und sorgen dort für eine Überflutung. Man kann sich auch einen großen Schreibtisch vorstellen, auf dem alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, auf Zetteln abgelegt wird, jedoch ohne System. Kleine Wesen versuchen nun Tag und Nacht, über dieses Chaos eine Kontrolle zu erlangen. Wenn es nur manchmal vorkommt, schaffen es die kleinen Wesen, irgendwann die Kontrolle zu bekommen, ist es aber Dauerzustand, so wachsen die Papierhaufen auf dem Schreibtisch nur immer weiter und die kleinen Wesen schaffen trotz Höchstleistung, immer nur die obersten Schichten abzutragen. Dieser Dauerbetrieb verursacht dann wiederum, dass auch der Mensch dahinter nicht zu Ruhe kommt und die benötigte Erholungsphase kürzer ausfällt.
 

Um sich die Impulskontrollstörung besser vorstellen zu können, bleiben wir bei dem Bild des Schreibtisches, erweitern das Bild aber, indem wir uns die Schaltzentrale im Kopf als eine Art Großraumbüro vorstellen. Jeder Arbeitsplatz hat seinen Bereich. Neben dem Schreibtisch für die Reize von außen gibt es noch den Arbeitsplatz Emotionen, Arbeitsplätze für die Gedächtnisse und eben einen für die Impulse. Sie alle müssen zusammenarbeiten, denn gemeinsam bilden sie die Schaltzentrale. Ist aber ein Arbeitsplatz überfordert und das auf Dauer, leiden auch die anderen darunter. Informationen kommen verzögert an, gehen unter oder können gar nicht weitergereicht werden. Die Arbeiter von der Abteilung für Impulse müssen aber arbeiten, und so handeln sie, wie sie hoffen, dass es richtig ist. Dies äußert sich dann in ruckartigen Bewegungen von Gliedmaßen, unkontrollierbaren Aktionen, nur um die Aufmerksamkeit eines anderen zu bekommen gleich einem Hilferuf der Schaltzentrale.
 

Ein anderes Beispiel aus einer alltäglichen Situation:

Du sitzt in einem Park auf einer Bank und unterhältst dich mit einer Person, die neben dir sitzt. Sicher, du nimmst wahr, dass die Person neben dir mit dir spricht, du hörst es. Du nimmst aber zugleich auch alles andere wahr, was die Person non-verbal mit ihrem Körper macht. Du hörst die Autos der nahen Straße, die Vögel in den Bäumen, das Eichhörnchen, das den Baum hochrennt, die spielenden oder vielleicht auch streitenden Kinder, die anderen Besucher des Parks, ihre Unterhaltungen, du spürst die Temperatur der Umgebung, das Rascheln der Blätter in den Bäumen, die Sonne, die Wolken, ob es wohl schön bleibt? Das Flugzeug, das über euch hinwegfliegt, die Haarsträhne, die deinem Gegenüber ins Gesicht rutscht, wie deine eigenen Klamotten vielleicht verrutschen. Dann kommen dir Gedanken wie, was habe ich eigentlich an? Was gibt es zum Abendbrot? Was mache ich morgen? Wo wollen wir als nächstes hin? Ob es hier eine öffentliche Toilette gibt? Oder sollten wir vielleicht weiter? Was, wenn ich gleich mal auf die Toilette muss? Wann war ich eigentlich das letzte Mal auf dem Klo? Du hörst vielleicht gerade dann, wie eine Autotür zugeschlagen wird, eine Mutter nach ihrem Kind ruft, ein Fenster geschlossen wird. Reiß dich zusammen, und du konzentrierst dich wieder mehr auf dein Gegenüber. Sollte ich nicht vielleicht lieber mein Rad abschließen? Steht es im Weg? Was denken eigentlich die anderen, gerade wenn ich so abgelenkt bin? Merkt es mein Gegenüber? Du konzentrierst dich wieder auf diesen. Du spürst aber zugleich das Verlangen, dich zu bewegen, obwohl du eigentlich lieber sitzen bleiben möchtest, deine Hände beginnen an deiner Jacke herumzuspielen. Vielleicht sagst du gerade jetzt wieder was Dummes, nur um dich der Aufmerksamkeit des anderen gerade wieder zu vergewissern.
 

Und nein, dies alles geschieht nicht nacheinander, sondern alles gleichzeitig und innerhalb eines Moments. Jetzt versteht man vielleicht, was Ami mit Chaos im Kopf meint. Sie kann sich nicht nur auf das Gespräch mit ihrem Gegenüber konzentrieren. Ob Sie will oder nicht, sind alle anderen Sinneseindrücke auch noch da, und dazu kommen auch noch völlig unsinnige Fragen und Gedanken, die man nun wirklich aufschieben oder lassen könnte. Ist es dann weiter verwunderlich, wenn andere denken, sie sei unaufmerksam? Zu dem ganzen Spaß kommt dann aber ja auch noch eine eingeschränkte oder gestörte Impulskontrolle hinzu, die ich anfangs erwähnt habe. Es können plötzliche unkontrollierte Bewegungen einzelner Gliedmaßen sein, oder dass sie mit der Hand auf den Tisch schlägt, gegen irgendwas tritt, an der falschen Stelle der Gespräche lacht oder mit dem Kopf zuckt. Dass ihre eigene Körpersprache nicht immer klar zu lesen ist, ist selten anderen bewusst. Auch ein zwanghaft regelmäßiges Verändern der Bein- oder Körperhaltung, häufiges Aufstehen oder Verkrampfen der Hände oder Schultern gehören dazu. In Amis Fall auch das Aufkratzen von Pickeln, gestand sie mir mitten im Gespräch. „Es mag seltsam klingen, ist es vermutlich auch, aber wenn eine Stelle dann blutet, wirkt es beruhigend auf mich, weil ich dann offensichtlich, auch für andere sichtbar, eine Aufgabe habe. Es ist mehr ein offensichtliches Beschäftigen der Hände und eine Steuerung der Impulse, als dass ich das Bluten oder was auch immer wirklich bräuchte,“ erklärte sie mir auf mein irritiertes Nachfragen. Viele „Macken“ oder „Ticks“ haben sich auch erst mit den Jahren entwickelt, weil sie zum Großteil ihres Lebens nicht sein konnte, wie sie war, weil die Gesellschaft sie nicht akzeptieren würde, wenn sie sich gäbe, wie sie war. Sie musste in der Schule, in der Ausbildung und im Beruf die funktionierende und in die Gesellschaft passende Frau sein. „Du musst im Unterricht stillsitzen und dem Lehrer konzentriert folgen, du darfst nicht zu sehr auffallen, denn sonst bist du nicht nur die Außenseiterin der Gruppe, sondern sofort das Mobbingopfer,“ erzählte sie und blickte dabei aus dem Fenster in den Vorgarten. „Kurz, das Gesellschaftsleben wurde zu meiner persönlichen Bühne, mein Leben außerhalb meiner Freundes- und Familienkreise mein Theater, in dem ich eine Rolle spielte, die immer weniger eigentlich ich war. Mit der Außenseiterrolle konnte ich gut leben, weil ich schon immer anders war und mich auch in anderen Bereichen von den anderen unterschied. Eigentlich war ich auch glücklich damit, weil es Menschen gab, die mich mochten und so genommen haben, wie ich nun einmal war. Jedoch auch, weil ich schon von Haus aus zu Selbstbewusstheit erzogen worden war. Doch mit dem Älterwerden wurde der Unterschied zwischen mir und den anderen immer größer. Und um schlimmere Mobbingatacken zu umgehen, lernte ich mit den Jahren, eine Rolle aufzubauen, die ich annahm, sobald ich zur Schule kam. Besonders zu bemerken war, dass der Druck, dass diese Rolle sich immer mehr von meinem wirklichen Empfinden unterschied, größer wurde, je älter ich wurde. Es gab ein bestimmtes Bild, dem du entsprechen musstest, wenn du beruflich Fuß fassen wolltest, und dem entsprach und entspreche ich nicht. So unterscheiden sich meine „Rollen“ immer mehr voneinander. Das Gefährliche jedoch daran war, dass im Berufsleben erwartet wird, dass du authentisch bist, wenn du aber authentisch warst, dann passtest du nicht mehr zu der Vorstellung, die andere von dir hatten, welcher du aber du entsprechen musstest, wenn du in deinem Beruf Fuß fassen wolltest. Was wiederum das Chaos im Kopf noch verwirrender macht, weil alles zu einem großer Haufen Widersprüche geworden war. Wie soll ich authentisch sein, wenn ich nicht sein darf, wie ich bin und wie ich mich richtig fühle? Ich werde nie dem Bild der Frau in meiner Altersklasse entsprechen, das die Gesellschaft verlangt, und wenn ich ehrlich bin, will ich es auch nicht. Es wird zwar überall gepredigt, jeder sei einzigartig und individuell und so richtig, wie er ist, doch wer nicht ins System passt, fällt durch.“*3
 

Wir wollten Amis Geschichte aufschreiben, weil wir hoffen, dass es selbstverständlicher wird, dass Menschen eben nicht alle gleich ticken und dennoch gemeinsam leben können. Jeder Mensch ist einzigartig, ein Normal gibt es nicht und wir sollten aufhören, nach einem Normal zu suchen und alle in eine Form zu pressen. Keiner ist wie der andere und es gut so. Ami erklärte sich zu dieser Zusammenarbeit bereit, weil sie hofft, dadurch mehr Verständnis für die Einzigartigkeit der Menschen zu wecken und anderen von ADHS Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind und vielleicht sogar helfen kann, dies als Chance zu sehen, als Geschenk. „Dadurch, dass ich herausgefunden habe, dass alle Einzelteile in dem Puzzle meines Lebens zusammengehören, hat sich für mich ein Bild ergeben, mit dem ich umgehen kann. Das wiederum ermöglicht mir ein Verständnis für mich, das zu einer gewissen Ruhe und Klarheit führt. Ich kämpfe nicht mehr gegen mich. Ich kämpfe gar nicht mehr, ich habe Freundschaft mit mir geschlossen. Zugleich sehe ich aber auch andere nun mit anderen Augen. Verhaltensauffällige Kinder zum Beispiel sind für mich weniger verhaltensauffällig als suchend, die auf der Suche zu ihrer Identität ein wenig länger brauchen. Sie wollen auch nicht als auffällig gesehen werden, sondern als Individuum. Das Kinderkartenlied Ich bin Ich und Du bist Du hat bei genauer Betrachtung noch eine ganz eigene Bedeutung. Ja Ich bin Ich und Du bist Du, also lass uns nicht mehr zu einem Einheitsbrei werden, sondern uns als Einzelne sehen. Wir sind alle klasse und so gewollt wie wir sind. Perfekt.“ Mehr als Amis schöne Abschlussworte möchte ich an dieser Stelle gar nicht anbringen.
 

Fußnoten

*1 = Gespräch mit Ami Februar 2021

*2 = Mit Ausnahme einiger Beiträge neueren Datums auf YouTube oder Blogs. Z. B. Weil ADHS viele Gesichter hat https://www.takeda-adhs.de/blog-podcast/adhs-urlaub/

*3 = Gespräch mit Ami Februar 2021



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