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Eren

Geheimnisse der Turanos
von

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Volle Kontrolle

Wie nicht anders zu erwarten, war Ajax ganz und gar nicht begeistert von Erens Verspätung. Die Ausrede mit dem vergessenen Deutschbuch kaufte er seinem Bruder zwar ab, aber als Entschuldigung reichte das nicht. Zur Strafe musste er die Nacht in der Eisernen Jungfrau verbringen, zur Abhärtung gegenüber Schmerzen und zum Lernen länger ohne Schlaf auszukommen. In so einem Metallgestell zu schlafen, ist so gut wie unmöglich. Ein paar Minuten im Halbschlaf gehen vielleicht, aber sobald er tiefer ins Traumreich abdriftete und sein Körper sich auch hinlegen wollte, rissen die Stacheln größere Wunden und er war wieder hellwach. Zumindest musste er so am Morgen nur die dunklen Schattenpfeile verschießen.

 

Und schon ist der Tag da: Halloween. Heute Abend feiert Eren Turano das erste Mal in seinem zwölfjährigen Leben einen Feiertag. Er freut sich richtig darauf, aber er hat auch Angst und ist ein wenig nervös. Doch die Freude ist um ein Vielfaches stärker. Alle Gefühle verbirgt er gekonnt vor seiner Familie.

 

In der Schule gab Timo nicht einen einzigen bissigen Kommentar von sich. Tatsächlich hat er Eren die meiste Zeit einfach ignoriert oder ihm seltsame Blicke zugeworfen, die er jedes Mal mit einem freundlichen Lächeln erwidert hat. Das allerdings schien den Klassensprecher noch weiter zu verstören. Wahrscheinlich grübelte er noch immer über die gestrige Blamage nach. Natürlich fiel auch Paula und Max der veränderte Timo auf, sagten aber vorerst nichts dazu, sondern benahmen sich auch normal. Vermutlich glaubten sie, dass er sich endlich wieder beruhigt hatte oder wollten es durch einen Kommentar nicht wieder ausarten lassen.

 

Die Halloween-Pause war weniger spektakulär, als Eren es sich ausgemalt hatte. Die Schüler hatten dafür eine Freistunde, um sich in der Cafeteria, in der jeder Winkel mit irgendwelchen Gruseldekorationen geschmückt war, mit allerlei Halloweenessen vollzustopfen. Es gab Wackelpudding in Gehirnform, Kekse mit aufgemalten Skeletten, Kürbissen oder Fledermäusen, Würstchen in Form von Fingern, Marshmallows in Augapfelform und einige andere Dinge. Da Eren das alles ziemlich skurril vorkam, hat er sich im Hintergrund gehalten und lieber nichts von dem Zeug probiert, das eh nicht in seinem Ernährungsplan gestanden hätte. Max hat versucht ihm ein paar Mal irgendwas in den Mund zu stopfen, glücklicherweise konnte er das jedes Mal verhindern, was den Blonden zum Schmollen brachte. Allerdings war er sofort wieder fröhlich, als er sich an die bevorstehende Süßes oder Saures-Tour erinnerte.

 

Sobald die letzte Stunde vorbei war, hat Max Eren noch einmal an das Kostüm erinnert. Natürlich. Der Turano bleibt nach wie vor bei seiner Meinung, er bräuchte keines. Er hätte auch gar keines. Max schmollte deswegen zwar ein wenig, aber da der Bus drängelte, hatte er keine Zeit ihm länger zu erklären, weshalb es so wichtig ist an Halloween ein Kostüm zu tragen. Nachdem ihm Max noch versichert hat, dass er ihm später den Treffpunkt und die Uhrzeit schicken würde, ist er davon gestürmt und dabei beinahe die Treppe runter gefallen.

 

Diesmal hat Eren Ajax nicht annähernd so lange warten lassen wie gestern. Noch im Auto hat er seinen neuesten Bericht in die Familiengruppe geschickt, damit auch Benedikt Turano Bescheid weiß, der in seiner Firma beschäftigt ist und schon angekündigt hat, heute nicht viel Zeit für die Familie zu haben. Da der Zwölfjährige selbst heute nicht so viel Zeit für Training hat, stehen lediglich drei bzw. zwei Punkte auf der Liste. Der erste sind die Hausaufgaben, die relativ schnell erledigt sind. Sie sind einfach und freitags verzichten viele Lehrer auf diese. Außerdem ist Halloween.

 

Während er so an den Englischhausaufgaben sitzt, springt plötzlich der Display seines Smartphones an. Wie schon die letzten Tage lässt Max nicht lange auf seine Nachricht warten. Seit er dem Blonden seine Nummer gegeben hat, schreiben sie relativ regelmäßig über belangloses Zeug, wobei es meistens irgendwie immer auf das Thema „Halloween und Kostüme“ raus läuft. Genauso regelmäßig schickt Eren natürlich brav Screenshots in die Familiengruppe, damit auch sein Bruder und Vater auf dem Laufenden bleiben.

 

Max, 31.10., 13:54

Buuh! *Geist-Emoji*

 

Eren, 31.10., 13:55

Hey, sollte mich das erschrecken?

 

Max, 31.10., 13:56

Jaa! Ich will dich schon mal in Halloween-Stimmung bringen *Kürbis-Emoji , Hexe-Emoji , Fledermaus-Emoji , Spinne-Emoji*

 

Eren, 31.10., 13:57

Da musst du dir aber noch mehr Mühe geben

 

Max, 31.10., 13:58

Oh, Kürbislaterne! *Schmollmund-Emoji*

Okay, Herausforderung angenommen! Freu dich auf schauriges Süßes oder Saures *Teufel-Emoji*

Übrigens, kennst du das Eiscafe FrostYum? Da treffen wir uns um 18 Uhr. Sei pünktlich und vergiss dein Kostüm nicht *Zwinkernder Zunge rausstreck-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:00

Das kenne ich nicht, aber werd´s schon finden

 

Max, 31.10., 14:02

Ignoriere meine Herausforderung nicht, Eren!

Bis nachher im Kostüm *Zwinkernder-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:04

Nein

 

Max, 31.10., 14:04

Biiiitttteeee! *Trauriger Schmollmund-Emoji , Dackelblick-Emoji*

 

Eren, 31.10., 14:05

Nein. Bis später

 

Max, 31.10., 14:10

Du bist fies! *Heulender-Emoji*

 

Anschließend noch kurz ein Update in die Familiengruppe und weiter geht’s mit Englisch.

 

~~~

 

Die nächsten beiden Punkte sind identisch, unterscheiden sich lediglich in den Formen: vollständige Verwandlung und Kontrolle. Eren würde dieses Training gerne überspringen. Er hat es schon so oft versucht, bisher ohne Erfolg. Er scheitert wirklich jedes Mal aufs Neue. Entweder er schafft es nicht die vollständige Form anzunehmen oder, sollte es ihm in seltenen Fällen doch gelingen, dauert es nicht lange bis ihm die Kontrolle über seinen Körper von einer der Spiegelstimmen entrissen wird. Und dann läuft er Amok. Das erste Mal, als das geschah, hat er das Turano-Anwesen größtenteils dem Erdboden gleich gemacht. Deshalb wird dieser Test auch in Flaurana stattfinden, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und mit so wenig Beteiligten wie möglich. Heute heißt das: Eren, Ajax, Dr. Ryu und zwei Wachen, die gleichzeitig als Assistenten dienen.

 

Die Turano-Brüder treffen sich mit der restlichen Gruppe im Missionsraum 1 mit der Teleportmaschine. Wie bei der Eierschalensuche steht die Frau am Schaltpult und stellt die Maschine ein. Die Wachleute sind auch schon da, der Mann mit Dr. Ryus Koffer in der Hand und die Frau mit einer länglichen Tasche. Eren kann sich schon denken, was sich darin befindet. Sicherheitsvorkehrungen, sollte er mal wieder scheitern.

 

„Hallo, Dr. Ryu, ist alles bereit?“, erkundigt sich Ajax sofort nachdem sie den Raum betreten haben.

 

Die Rothaarige hebt den Kopf und lächelt die beiden an. „Hallo. Ja, ich muss nur noch zwei Parameter eingeben und dann … So, fertig. Wir können los.“

 

Auf ein erlaubendes Nicken des älteren Turano hin, startet Dr. Ryu die Maschine. Sie brummt, surrt, blubbert und erschafft den bunten Wirbel in die andere Welt. Nacheinander, angeführt von Ajax, dicht gefolgt von Eren, durchschreitet die Gruppe das Portal. Wieder schließt Eren die Augen und öffnet sie erst wieder, sobald er festen Boden unter den Schuhsohlen spürt.

 

Das Reiseziel ist ein anderes als beim letzten Mal. Zum einen, weil es hier keine anderen Arbeiter gibt, die an irgendwas forschen. Außerdem ist das hier überhaupt kein Gebäude, sondern eine Höhle tief unter der Erde. Außer dem Teleporter gibt es keinen weiteren Zugang. Die Luft ist dick und stickig. Lediglich zwei schmale Tunnelchen lassen einen Hauch von Luftaustausch und Licht zu. Ansonsten spenden Stehlampen hier und da genug Helligkeit, um nicht über die Felsen zu stolpern. Es wurden auch kleine Pflanzen hier angesiedelt, sodass man nicht sofort erstickt. Ursprünglich gab es Mal ein Tunnelsystems, das hier runter geführt hat, aber nachdem sich Turano Industries hier eingenistet hat, wurde der Zugang verschlossen, sodass das hier ein Geheimversteck wurde. Ideal für Erens Verwandlungsübungen.

 

Ajax führt seinen kleinen Bruder zur Wand gegenüber der Maschine, wo ein Käfig aus dickem Spezialglas und Metallstangen steht. Da Eren schon weiß was ihn erwartet und was er zu tun hat, steigt er ohne zu murren in den Käfig. Während die Wachen ihre mitgebrachten Instrumente auf dem Tisch daneben ausbreiten, widmen sich die Ärztin und der blonde Turano den vier Ketten, zwei davon baumeln von der Käfigdecke und die anderen beiden liegen am Boden. Bereitwillig lässt sich der Zwölfjährige an Hand- und Fußgelenken fesseln und mit schweren Schlössern die Manschetten verschließen. Damit die Ketten auch einem möglichen Amoklauf standhalten, sind sie mit unzähligen Runen versehen. Laut Dr. Ryu sind das irgendwelche Schutz- und Verstärkungszauber aus Flaurana, wo es schließlich neben monströsen Kreaturen auch Magie gibt.

 

Sein Vater hat ihm erklärt, dass alle Menschen im Bunker ihre Fähigkeiten Flaurana zu verdanken haben. Es ist eine Art Mutation durch die Magiewolken, wie er sie nennt, die durch zufällig auftretende Portale zwischen den Welten hindurch gelangen. Manche Menschen sind für solche Mutationen empfänglicher, deshalb bekommt auch nicht jeder spezielle Kräfte. Je jünger man ist, desto wahrscheinlicher ist die Mutation. Und da Benedikt Turano schon lange mit solchen Portalen experimentiert, waren auch Eren und Ajax sehr früh und sehr vielen dieser Magiewolken ausgesetzt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide Brüder Kräfte erhalten haben.

 

Sobald die Ärztin das letzte Schloss schließt und danach den Käfig verlässt, um die Vorbereitungen der Assistenten zu kontrollieren, überprüft Ajax noch einmal die Fesseln, die jetzt schon an der Haut zu scheuern anfangen.

 

„Heute will ich Fortschritte sehen“, fordert der Ältere bestimmt. „Du musst endlich lernen dein volles Potenzial nutzen zu können. Du bist kein kleines Kind mehr. Wir trainieren schon zu lange für halbe Sachen. Vater setzt hohe Erwartungen in dich. Schließlich sollst du eines Tages den Bunker leiten. Also, kann ich ihm heute einen Erfolg berichten, Bruder?“

 

„Ja, Ajax.“ *Ich werd´s versuchen. Bisher hat es ja auch immer so gut geklappt. Nur kein Druck.*

 

Tja, leichter gedacht als getan. Der nervöse Knoten in seinem Magen macht sich jetzt schon bemerkbar. Doch davon lässt er sich nicht beeinflussen. Er muss einfach sein bestes geben, dann wird’s schon klappen. Ganz sicher.

 

„Sehr schön.“ Schließlich verlässt Ajax den Käfig, verschließt ihn von außen und stellt sich mit verschränkten Armen etwa drei Meter entfernt auf. An die Frau gerichtet erkundigt er sich: „Sind Sie soweit?“

 

„Ja, alle Vorbereitungen sind abgeschlossen“, bestätigt sie, nimmt ihr Tablet und macht sich bereit alles aufzuschreiben. „Wir können anfangen.“

 

Die Sicherheitsassistenten postieren sich links und rechts des Käfigs, heben die Gewehre an und zielen damit durch kleine Löcher im Käfig auf Erens Hals. In ihren angespannten Gesichtern ist deutlich abzulesen, dass sie jetzt gerne woanders wären. Eren kann es ihnen nicht verübeln. Er würde auch nicht hier in der Höhle sein wollen, wenn er die Kontrolle verliert.

 

„Okay, leg los, Eren. Fang mit der Dämonenseite an“, entscheidet Ajax mit strenger Prüfermiene.

 

Klar, dass sein Bruder die Seite wählt, die er nicht so gut beherrscht. Die komplette dunkle Form hat er noch kein einziges Mal angenommen. Sie will sich einfach nicht seinem Willen beugen und wenn Eren ehrlich ist, hat er Angst vor dieser Kraft und was sie anrichten kann, wenn sie ihn übermannt. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb es ihm noch nicht gelungen ist. Aber heute ist der Tag! Wie Ajax sagte: Er ist schon Zwölf, da sollte er langsam die Kräfte und Stimmen kontrollieren können, nicht andersherum. Es ist sein Körper, nicht der der Spiegel!

 

Um sich besser konzentrieren zu können, schließt Eren die Augen, sucht und findet die schwarz-weiße Tür in seinem Kopf und öffnet sie.



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