Nach getaner Arbeit
Wir sind keine Engel
Kapitel 18: Nach getaner Arbeit
Das durch die Fenster dringende Sonnenlicht kitzelte seine Augenlider und holte ihn langsam aus dem Land der Träume. Mürrisch drehte sich Hiroshi Kawaguchi in dem Bett herum und bemerkte, dass neben ihm noch jemand lag. Er öffnete die Augen und blickte direkt in die unsicher und etwas verängstigt wirkenden Augen eines schwarzhaarigen Jungen von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren. Langsam kam die Erinnerung zurück, am Vorabend war er noch die lange Strecke bis zu dem Herrenhaus in den Bergen gefahren, in dem Gohan, Samejima und Yamamoto den Tod gefunden hatten. Der Betrieb lief trotz allem weiter, von solchen Kleinigkeiten durfte man sich schließlich nicht aufhalten lassen. Er, als Politiker und Geschäftsmann, wusste das. Da er nach dem anstrengenden Tag und der langen Autofahrt müde war, wollte er nur noch ein Bett und junge, frische, enge Gesellschaft. Eine der Angelegenheiten, weshalb er gerne mit Frau Takehito Geschäfte machte: Man bekam immer genau das, was man wollte. Und er hatte sein Augenmerk auf etwas Neues gelegt, was er unter allen Umständen besitzen wollte, koste es, was es wolle.
Träge setzte er sich im Bett auf und stieß den Jugendlichen aus seinem Bett. „Was machst du noch hier? Los, sieh zu, dass du wegkommst.“
Heftig nickend und ohne ein Wort zu verlieren sammelte der Junge hastig seine Kleidungsstücke zusammen und zog nur seine Hose an. Seine restlichen Sachen trug er lediglich unter dem Arm, verließ eilig das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Als er alleine war, kletterte auch Kawaguchi aus dem großen Bett und streckte sich zunächst einmal ausgiebig. Dann ging er gemütlich ins Badezimmer und genehmigte sich eine erfrischende Dusche. Nebenbei schaltete er das Radio an und lauschte der Musik, die nur Bruchstückhaft zwischen den Geräuschen des plätschernden Wassers zu ihm durchdrang. Ein unzufriedenes Murren entkam seiner Kehle, als eine angenehme Frauenstimme die Musik unterbrach und die halbstündlichen Nachrichten verlas.
Der Politiker streckte seine Hand nach dem kleinen Gerät aus und tastete nach einem Knopf, um den Sender zu wechseln. Er hielt jedoch inne, als er durch das Wasserrauschen hindurch vage etwas von einem Leichenfund im Hilton Hotel vernahm. Statt des Senders stellte er nun rasch den Wasserstrahl ab, um wenigstens noch den Rest der Meldung mitzubekommen.
„... abgesperrt. Weder die Pressesprecher des Hilton noch die Polizei wollen zum jetzigen Zeitpunkt genauere Angaben über den Vorfall machen. Zu einer eindeutigen Identifizierung durch Angehörige oder eine DNA-Analyse sei es bisher noch nicht gekommen.“
Mit einem klickenden Geräusch schaltete der Verteidigungsminister das Radio aus, er hatte genug gehört. Er duschte sich nochmals ab und stieg aus der Kabine, woraufhin er sich abtrocknete und nur einen Morgenmantel anzog. So bekleidet verließ er sein Zimmer, ging die Treppe hinunter und suchte im Erdgeschoss den Speisesaal auf.
Niemand außer ihm hielt sich in dem Raum auf und zu Kawaguchis Bedauern, war das Buffet bereits abgeräumt. Ein verärgertes Brummen entrann seiner Kehle während er sich umdrehte und wieder auf den Flur hinaus stapfte. Von dort aus steuerte er direkt das Büro von Frau Takehito an, welches er ohne vormaliges Klopfen betrat.
„Warum gibt es kein Frühstück?“, fragte er barsch und ließ die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen.
Die ältere Dame sah von ihrem Computer auf. „Weil es bereits ein Uhr mittags ist, darum. Es gibt gleich Mittagessen, vielleicht möchten Sie damit Vorlieb nehmen? Ich kann natürlich auch einem der Jungen Bescheid sagen, dass man für Sie noch einmal Frühstück machen soll.“
Nach kurzem Überlegen schüttelte der Politiker den Kopf. „Nein, ich denke, dann beginne ich den Tag direkt mit einem guten Mittagessen.“
„Gut. Gibt es noch etwas?“, fragte Takehito und wollte schon wieder an ihre Arbeit gehen.
Der Verteidigungsminister nickte jedoch und setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. „In der Tat. Ich habe gerade durch Zufall im Radio etwas in den Nachrichten aufgeschnappt. Haben Sie heute schon Nachrichten gehört oder vielleicht die Zeitung gelesen?“
„Weder noch. Ich habe den Newsflash im Internet gelesen. Man hat ihre Leiche gefunden. Ich gratuliere, Sie sind jetzt offiziell tot, zumindest sobald Sie eindeutig identifiziert wurden“, erklärte die Frau sachlich. „Das sollte allerdings recht schnell gehen. Ihre Familie wird sie identifizieren können, aber ebenso sicher ist eine DNA-Analyse oder ein Gebissabdruck.“
„Sie sind bereits gut informiert, wie ich sehe.“ Der rundliche Mann nickte zufrieden. „Wie lange glauben Sie, dass es dauern wird?“
„Wahrscheinlich nicht besonders lange, immerhin sind Sie ein sehr wichtiger Mann. Spätestens heute Abend hören wir in den Nachrichten von dem grausamen Mord an einem angesehenen Politiker. Noch gibt die Polizei ja keine Auskünfte an die Presse weiter.“
Kawaguchi nickte wiederum. „Man wird nach den Mördern fahnden. Wollen Sie diese Weiß so aus dem Weg räumen? Oder benutzen Sie diese Männer für Ihre Zwecke?“
Frau Takehito lachte beinahe amüsiert auf. „Wenn ich jemanden aus dem Weg räumen will, dann habe ich ganz andere Methoden. Sie erinnern sich doch gewiss an die netten Herren, die ihre Bodyguards waren. Auf sie ist immer Verlass und sie sind sozusagen mein kleiner, privater Schlägertrupp. Noch kann ich Weiß vielleicht gebrauchen, darum werde ich sie nicht in die Hände der Polizei fallen lassen. Stattdessen werden wir behaupten, es war alles inszeniert.“
„Das macht Sinn. Wir geben also alles als unsere Idee aus, um der Öffentlichkeit die Bedeutsamkeit der Genforschung zu demonstrieren. Ich finde Ihr Vorhaben großartig und bin sicher, dass wir damit das Parlament beeindrucken und auf unsere Seite ziehen können. Wann haben Sie vor, mit unserer Version der Wahrheit auf Polizei und Presse zuzugehen?“
„Sie sind ein wichtiger Fürsprecher unserer Sache. Nicht nur das Parlament wird von unserer Demonstration beeindruckt sein, auch die Polizei und das Militär werden sehen, dass durch das Klonen ganz neue Maßstäbe in Hinsicht auf Personenschutz erreicht werden können“, erläuterte die ältere Dame. „Wir werden allerdings noch ein wenig mit unserem in Erscheinung treten abwarten. Schließlich wollen wir den ganzen Rummel doch für uns nutzen. Wo kommt dieses Land denn hin, wenn auf einmal redliche Politiker ermordet werden und sich auch andere Volksvertreter anderer Parteien nicht mehr ihrer Haut sicher sein können? Angst ist ein wichtiges Instrument der Einschüchterung und Überredung.“
Der Verteidigungsminister grinste siegessicher. „Wie ich sehe, haben Sie alles bestens unter Kontrolle und ich kann mich vollends auf Ihre Kompetenzen verlassen. Diese Investition von Staatsgeldern hat sich scheinbar wirklich endlich einmal gelohnt.“
„Es ehrt mich sehr, dass Sie es so sehen, Kawaguchi-sama“, entgegnete die Frau ehrerbietig und fragte sich allmählich, warum ihr Gegenüber nicht endlich aufstand und ging, schließlich hatte sie nicht den ganzen Tag Zeit für Smalltalk. Andererseits musste sie diesen Mann auch wohlwollend und großzügig stimmen, noch brauchte sie ihn. „Gibt es vielleicht noch etwas, was Ihnen am Herzen liegt und ich für Sie tun kann?“
Nachdenklich runzelte der Politiker die Stirn und antwortete dann: „Ja, allerdings, das können Sie. Ich habe mir diese Videoaufnahme von dem Mord in der Hotelsuite einige Male angesehen und ich muss sagen, diese Männer faszinieren mich. Es gibt etwas, um dass ich Sie bitten möchte.“
„Immer frei heraus damit und ich werde sehen, was wir für Sie tun können.“
„Kann er nicht endlich damit aufhören?“, jammerte Xen und hielt sich demonstrativ die Ohren zu.
„Du bist gemein“, meinte Payakootha und warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Phuong spielt sehr gut auf seiner Violine und so ein wenig klassische Weiterbildung kann selbst dir nicht schaden. Außerdem muss er doch für seinen großen Auftritt auf dem Schulfest üben.“
Yukio nickte zustimmend. „Und die Schule geht nun einmal vor. Wenn es dir nicht passt, dann kannst du ja gehen. Dich hält niemand auf, vorläufig haben wir ja erst einmal keinen Auftrag.“
„Na umso besser“, maulte der grünhaarige Mann und erhob sich aus dem Sessel, um das Haus zu verlassen.
Der Shawnee sah ihm nach und seufzte leise. „So ein sturer Esel.“
„So ist er eben, wie ein kleines Kind und will immer seinen Willen durchsetzen. Mittlerweile solltest du das wissen“, sagte der Schwarzhaarige gleichgültig. „Vielleicht sollten wir Phuong hier im Wohnzimmer üben lassen, vor uns als Publikum.“
„Das ist eine gute Idee, dann kann er sich daran gewöhnen. Es wäre wohl ziemlich blamabel, wenn er auf dem Schulfest vor Aufregung nicht spielen könnte. Gehen wir denn auch mit hin?“, fragte der Jüngere hoffnungsvoll.
Der Ungar schüttelte den Kopf. „Vermutlich werden Weiß auch dort sein und ich möchte keinen unnötigen Ärger provozieren. Das wäre nicht gesund für uns in aller Öffentlichkeit enttarnt zu werden.“
„Na und? Ist doch egal, wenn sie da sind. Auch sie haben viel zu verlieren und werden sich nicht mit uns anlegen. Erstens würden sie das sowieso nicht überleben und zweitens würde auch ihre Tarnung auffliegen, nicht bloß unsere“, sagte Payakootha.
„So kann man es natürlich auch sehen. Gut, meinetwegen gehen wir hin, aber ich glaube nicht, dass Xen sonderlich große Lust hat uns zu begleiten.“
„Dann zwingen wir ihn halt“, beschloss der Junge indianischer Abstammung und sprang von seinem Platz auf. „Ich sage Phuong Bescheid und hole ihn herunter.“
Mit diesen Worten eilte er auch schon aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ohne zu klopfen riss er einfach die Schlafzimmertür des Vietnamesen auf und stürzte in das Zimmer. Vollkommen irritiert hielt dieser in seinem Violinenspiel inne.
„Wir kommen mit zum Schulfest“, verkündete der ältere Junge strahlend. „Und du sollst nach unten kommen, damit du vor Publikum üben kannst, auch wenn wir nur zu zweit sind.“
Phuong lächelte seinen Freund erfreut an. „Schön, dass ihr mitkommt. Aber ihr müsst nicht, wenn ihr nicht wollt, ich bin schließlich kein kleines Kind mehr. Und bei den Proben in der Schule habe ich ja auch schon vor Publikum gespielt.“
„Erstens wollen wir aber und zweitens keine Widerrede, du kommst mit nach unten. Oder Yukio und ich belagern dein Zimmer. Was ist dir lieber?“
„In Ordnung“, lachte der Jüngere. „Ist Xen wieder einmal geflüchtet? So schlecht spiele ich ja nun auch nicht.“
Payakootha nickte seufzend. „Ja, ist er. Kümmere dich aber nicht darum, er ist einfach nur ein Banause der keine Ahnung hat.“
Gemeinsam gingen sie wieder ins Wohnzimmer, wo der langhaarige Junge seinen Notenständer aufstellte. Er konnte das Stück zwar auswendig, allerdings wollte er lieber zur Sicherheit zwischendurch nachschauen können, falls er sich verhaspelte.
„Meine Damen und Herren, verehrte Gäste. Voller Stolz präsentieren wir Ihnen heute Abend die Teufelstriller-Sonate von Giuseppe Tartini in drei Sätzen, interpretiert von Phuong Van Nguyen“, leitete er selbst sein Stück ein und begann mit dem Bogen über die Saiten seiner Violine zu streichen.
In Gedanken versunken goss Omi die Blumen im Schaufenster. Er fand es irgendwie lächerlich am nächsten Tag nach der Mission wieder so zu tun, als seien sie vier normale Männer, die ein normales, langweiliges Leben als Blumenverkäufer führten. Was ihn aber eigentlich an diesem Tag störte, waren die unzähligen Schulmädchen, die unaufhörlich nachfragten, wo die Floristen denn am Vortag gewesen seien, schließlich sei doch Valentinstag gewesen.
Auch die anderen Weiß-Mitglieder konnten die andauernden Fragen langsam aber sicher einfach nicht mehr hören und es war schließlich Yohji, der laut genug, so dass es auch alle anderen im Laden hören konnten, einem Mädchen endlich eine Antwort auf die Fragerei gab. „Der Valentinstag ist nicht nur für euch da, sondern für alle Paare, auch wenn er bloß rein kommerziellen Zwecken dient. Aber wir haben auch alle noch ein Leben jenseits des Blumenladens und eben auch jeder eine Verabredung gehabt.“
Aya und Ken wähnten sich schon beinahe in Sicherheit, als der Geräuschpegel auf diese Aussage hin abnahm und die Fragen verstummten. Gedämpftes Getuschel folgte und die jungen Männer machten sich wieder daran ihrer Arbeit nachzugehen und zahlende Kunden zu bedienen.
Schon nach wenigen Minuten schwoll die Lautstärke allerdings erneut an und die Mädchen wollten wissen, wer denn das große Glück hatte, mit einem ihrer Angebeteten ausgehen zu dürfen.
Der blonde Junge schloss seine Hand fester um den Griff der Gießkanne, als er beobachtete, wie ihr Leader weiterhin von einer Schar Kundinnen bedrängt wurde. Den Pulk, der sich um ihn herum gebildet hatte und unaufhörlich auf ihn einredete, nahm er dagegen kaum wahr. Stattdessen beobachtete er weiter den Älteren und fühlte etwas in sich aufkeimen, was er bis jetzt noch niemals gefühlt hatte. Er wusste nicht einzuschätzen, was es war und warum, aber er wusste ganz genau, dass er nicht wollte, dass der andere Assassin in dieser Weise bedrängt wurde. War das Eifersucht?
Energisch stellte er die Gießkanne beiseite und bahnte sich seinen Weg hinüber zu dem Rotschopf. Freundlich, aber bestimmt schob er die ihn umringenden Mädchen von dem größeren Mann weg und umschloss dessen Hand mit seiner. Zunächst blickte Omi ein wenig unsicher in die fragenden Gesichter und schluckte schwer. Dann fasste er sich jedoch ein Herz und meinte: „Aya und ich waren gestern zusammen unterwegs. Wir haben uns den Tag freigenommen und halt mal etwas Zeit zusammen verbracht.“
Schockiertes Schweigen war die Reaktion auf diese Offenbarung. Auch Aya blickte ungläubig auf seinen Freund hinunter. Sogar Ken und Yohji hielten inne und wandten den Blick zu ihrem Jüngsten.
Auf dessen Gesicht breitete sich langsam aber stetig die Schamesröte aus und färbte sein Gesicht bald bis unter die Haarwurzeln dunkelrot. Es schien, als lastete die Stille des Augenblickes schwer auf seinen Schultern. In diesem Moment wünschte er sich nichts mehr, als dass einer seiner Freunde etwas sagte und ihm so zur Hilfe kam.
Der ehemalige Torwart war es, der sich räusperte und Omis Erklärung ergänzte. „Wir haben uns alle frei genommen und zusammen etwas unternommen, weil wir Omi versprochen haben, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Eben einfach, um füreinander mehr da zu sein, schließlich leben wir sozusagen als Familie zusammen.“
Die Blicke der Schulmädchen richteten sich daraufhin auf Ken und kurz darauf wurden wieder einige Fragen laut, warum sie so etwas denn ausgerechnet am Valentinstag machen mussten. Yohji konnte sich das Geschnatter nicht länger anhören und wies noch mal auf ihre Privatsphäre hin. Außerdem übernahm er ausnahmsweise einmal Ayas Part und verkündete, dass alle nicht zahlenden Kunden den Laden doch bitte verlassen mögen.
Der Rotschopf hielt seinen Blick indes weiterhin auf Omi geheftet. Nur langsam wanderten seine Augen zu der umklammerten Hand und schauten dann wieder in die tiefblauen Augen des Jungen. Dieser hatte immer noch einen roten Kopf, wirkte nun unsicherer als zuvor und schien sich nicht mehr wohl zu fühlen. Im nächsten Moment riss sich das jüngste Weiß-Mitglied los und hastete aus dem Verkaufsraum durch die Hintertür in die Wohnung.
Für einen Augenblick sah der Weiß-Leader ihm verwirrt hinterher, er konnte sich nicht erklären, was dieser plötzliche Ausbruch zu bedeuten hatte. So hatte er den Jüngeren bisher noch niemals erlebt und er sollte deswegen vielleicht später mit ihm sprechen. Andererseits würde es dem blonden Jungen vielleicht unangenehm sein und Aya spürte Zweifel in sich aufkeimen, als er das Für und Wider gegeneinander abwog.
Omi hatte sich in der Zwischenzeit in sein Zimmer zurückgezogen und sich auf das Bett geworfen.
Leise nuschelte er immer wieder in sein Kissen: „Ich bin so dumm, ich bin so dumm. Warum habe ich das bloß gemacht? Ich bin so blöd. Jetzt ist es aus.“
Den leise genuschelten Anschuldigungen gegen sich selbst folgten einige stumme Schluchzer. Der blonde Junge war sich beinahe sicher, dass Aya nie wieder ein Wort mit ihm wechseln würde, schließlich hatte er ihn praktisch vor allen Leuten bloß gestellt. Wahrscheinlich konnte er jetzt auch endgültig das zumindest brüderliche Verhältnis zwischen ihnen abschreiben. Mit der Behauptung, ein gemeinsames Date gehabt zu haben, hatte er wohl weit über das Ziel hinaus geschossen. Auch wenn Ken noch versucht hatte, die Situation zu retten, geholfen hatte es scheinbar überhaupt nichts. Dieser fragende Blick in diesen wundervollen, amethystfarbenen Augen ließ den kleinen Japaner nicht mehr los, da er glaubte außer Verwunderung noch Verachtung und Widerwille darin gelesen zu haben.
Brad besah sich das kleine Häuflein Elend, das sich ihm darbot und seufzte leise. „Irgendwie verstärkt sich mein Gefühl, dass es in diesem Haushalt akut an solchen Dingen wie Selbstwertgefühl mangelt. Der Einzige, der ein wirklich aufgeblasenes Ego zu haben scheint, ist Kudou. Die anderen sollten sich von ihm und Schuldig wohl mal eine Scheibe abschneiden.“
Auch wenn der Amerikaner zu großspurige Menschen zwar nicht wirklich leiden konnte, so mochte er dieses in Selbstmitleid zerfließende, weinerliche Gejammer noch viel weniger. In dieser Weise gab sich der Hacker doch sonst nie, auch wenn er privat nicht so berechnend und effizient war, wie auf Missionen. Ein solches Tief hatte der Schwarz-Leader in seiner Zeit als Schutzengel allerdings noch nicht bei ihm erlebt. Zudem war ihm diese Reaktion absolut unverständlich, wenn man sich Mühe gab genau hinzusehen, dann war dem Rotschopf dieses etwas unglückliche Geständnis nicht zuwider gewesen. Doch Verliebte neigten erfahrungsgemäß zuweilen dazu, Signale falsch zu deuten oder einfach zu übersehen. Sein Schützling schien im Augenblick in eine tiefgreifende Depression zu versinken und er konnte nichts dagegen tun. Sich sichtbar zu machen und mit ihm sprechen zu dürfen, wäre in dieser Situation gewiss sehr hilfreich gewesen.
Nach Ladenschluss zog Yohji Ken mit nach draußen, um die Blumenkübel hinein zu tragen. Bevor der andere sich jedoch an die Arbeit machen konnte, hielt der Ältere ihn zurück.
„Ich glaube, wir müssen jetzt dringend etwas in Sachen Omi und Aya unternehmen.“
Der ehemalige Torwart sah ihn verwirrt an. „Warum meinst du das? Nur weil Omi in sein Zimmer gerannt ist? Ach komm schon, er hat sozusagen vor versammelter Mannschaft seine Liebe zu einem Mann gestanden und es waren auch einiger seiner Schulfreunde darunter. Wahrscheinlich ist ihm das nur unangenehm, dass er so reagiert hat und alle es mitbekommen haben.“
„Du verstehst es einfach nicht, Ken“, meinte der Playboy und rollte mit den Augen. „Liebe ist eine kleine, zerbrechliche Pflanze und jede noch so kleine Erschütterung kann sie zerstören, wenn sie noch in den Kinderschuhen steckt. Ich denke, Omi ist froh darüber wenigstens einen kleinen Teil seiner Gefühle endlich offenbart zu haben. Aber hast du dir mal Aya angesehen? Er wirkte ziemlich verwundert und ist danach noch viel stiller und abweisender als sonst gewesen. Vielleicht versteht er das alles falsch und das würde Omi endgültig das Herz brechen.“
Langsam nickend antwortete der Braunhaarige: „Ja, ich verstehe schon, was du meinst. Wir hatten ja bisher noch keine Gelegenheit mit Aya über Omi zu sprechen, obwohl wir es ihm versprochen haben. Die Aktion vorhin kam vielleicht zu überraschend. Hoffentlich ziehen sich die Beiden deswegen nicht in ihr Schneckenhaus zurück, weil es ihnen peinlich ist.“
Der Ältere nickte ebenfalls. „Das hoffe ich auch, allerdings habe ich die Befürchtung, dass genau das passieren wird. Ich meine, mittlerweile wissen wir schließlich, dass zumindest Aya den Hang dazu hat sofort alles abzublocken sobald sich ihm jemand emotional nähern will.“
„Das stimmt allerdings. Wir sollten wohl umso behutsamer an die Sache heran gehen. Vielleicht sollten wir auch vorerst gar nicht mehr über diesen Vorfall reden“, schlug Ken vor und hob einen der Blumenkübel hoch. „Jetzt sollten wir aber den Laden endlich schließen, sonst kriegen wir noch Ärger mit unserem geliebten Leader.“
„Mit unserem Problemkind trifft es wohl eher“, grinste Yohji und ließ die Rollläden herunter. „Aber wenn Aya von sich aus darauf zu sprechen kommt, müssen wir ja irgend etwas antworten. Warten wir einfach erst einmal ab. Wir sollten nur nicht von uns aus mit der Tür ins Haus fallen.“
Nachdem sie auch die restlichen Kübel verstaut und den Verkaufsraum geschlossen hatten, gingen die beiden Männer in die Küche, wo der Rotschopf bereits das Abendessen vorbereitete.
Der Jüngste der drei Anwesenden wusch sich die Hände und machte sich daran, den Tisch zu decken. Wie beiläufig fragte er: „Nächstes Wochenende ist doch Omis Schulfest. Wie wäre es, wenn wir alle zusammen dort hingehen und einfach mal wieder einen Tag genießen?“
Der Playboy hatte sich währenddessen an den Küchentisch gesetzt und sich eine Zigarette angezündet. „Ich finde die Idee eigentlich ganz gut, wir sollten hingehen. Vorausgesetzt natürlich, Omi hat nichts dagegen sich mit uns dort blicken zu lassen.“
„Er erzählt doch auch vor allen Kunden, wir hätten eine Verabredung gehabt. Warum sollte ihm da ein Schulfest unangenehm sein?“, fragte Aya trocken und rührte schon beinahe aggressiv in der Pfanne herum.
„Ich weiß überhaupt nicht, was daran so schlimm war“, versuchte der honigblonde Mann sein Gemüt zu schlichten. „Er wollte doch bloß, dass die nervende Fragerei aufhört und das hat er ja wohl damit geschafft. Außerdem habe ich ja auch mit dem Gerede von Privatleben und Verabredungen angefangen. Ihm ist vielleicht einfach nichts anderes eingefallen, was er hätte stattdessen sagen können. Wäre es dir lieber gewesen, wenn er die Wahrheit gesagt hätte? Entschuldigt bitte, dass wir gestern nicht für euch da waren, aber wir mussten leider einen bedeutenden Politiker töten, weil der leider nicht das tut, wofür er in sein Amt gewählt wurde. Ich bitte dich, Aya, da ist die Variante mit dem Date doch wohl wesentlich angenehmer.“
Farfarello warf einen vorwurfsvollen Blick auf Schuldig und zog dabei eine Augenbraue nach oben. „Nennt der das etwa behutsam vorgehen und nicht mit der Tür ins Haus fallen? Dein Schützling ist manchmal aber auch wirklich zu dämlich.“
„Er wird schon seine Gründe haben“, verteidigte der Deutsche ihn. „Außerdem hat er doch Recht, die Wahrheit können sie nicht in die Welt hinausposaunen, die Wahrheit würde sie doch gar nicht vertragen. Und dazu kommt, dass Aya angefangen hat.“
„Wovon redet ihr überhaupt?“, fragte Nagi irritiert und blickte zwischen den Beiden hin und her.
Der Ire zuckte beinahe gleichgültig mit den Achseln. „Über deinen Schützling, Omi und das, was er im Laden gesagt hat. Sie wollen die beiden schon seit geraumer Zeit endlich richtig miteinander verkuppeln.“
„Mittlerweile sollte es wohl jedem auffallen, dass die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht“, warf der Mann mit dem flammend orange Haar ein. „Aber irgendwie scheinen die Beiden es einfach nicht zu bemerken oder sie wollen es einfach nicht sehen.“
Der kleine Japaner schüttelte den Kopf. „So hart darfst du auch nicht sein. Immerhin haben Weiß es nicht leicht, genauso wenig wie wir damals. Auch sie haben viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen und an einigen davon waren wir auch nicht gerade unschuldig. Ich kann verstehen, wenn sie da mittlerweile lieber auf Nummer sicher gehen und nichts wirklich an sich heran lassen wollen. Yohji und Ken meinen es sicherlich gut, aber ich glaube, sie werden wenig Erfolg haben.“
„Warum traust du ihnen nicht zu, dass sie Liebesboten spielen können?“, fragte Schuldig. „So unbeholfen sind sie nun auch nicht. Ich würde sagen, Yohji weiß Bescheid, wenn es um Gefühle geht. Auch wenn alle Welt ihn für einen hoffnungslosen Playboy hält.“
„Das bestreite ich ja auch überhaupt nicht“, wehrte der braunhaarige Junge ab. „Ich traue es den Beiden schon zu, aber Aya ist niemand, der bei Verkupplungsversuchen mitspielen würde. Mittlerweile hatte ich schließlich genug Zeit ihn zu beobachten und kennen zu lernen. Er kommt mit solchen Dingen einfach noch nicht zurecht, er weiß einfach nichts davon, das muss er erst lernen. Vielleicht wäre Omi daher das Beste, was ihm passieren könnte. Aber solange er das selber nicht einsieht und sich selbst belügt, wird auch niemand anders etwas daran ändern können.“
„Das hört sich wirklich so an, als hättest du dich sehr mit dem Thema auseinandergesetzt“, merkte Farfarello an.
Ein verlegenes Lächeln schlich sich auf Nagis Lippen. „Das bleibt ja nicht aus. Was bleibt mir denn nachts anderes übrig, als seine Schubladen zu durchsuchen und alte Briefe und Karten sowie seine selbst geschriebene Prosa zu lesen?“
„Du schnüffelst in seinen Privatangelegenheiten herum?“, hakte der Deutsche nach. „Ich wusste ja, dass du manchmal neugierig bist. Aber so neugierig? Ich bin stolz auf dich.“
Lachend zerwuschelte er dem Jüngeren die Haare, der das allerdings alles andere als witzig fand.
Am späten Abend traf Xen allein in dem Herrenhaus ein und bereits von der Straße aus hatte er gesehen, dass beinahe in allen Fenstern Licht brannte und scheinbar Hochbetrieb herrschte. Ein volles Haus störte ihn nicht weiter, er war bloß hierher gekommen, um nach einem Auftrag zu fragen und sich vielleicht selbst auch ein wenig Spaß zu gönnen.
Mit langen Schritten ging er direkt auf das Büro von Frau Takehito zu, klopfte an und wartete, bis er hereingebeten wurde. Wie er sehen konnte, war die ältere Dame alleine in dem Büro und beschäftigte sich wiedereinmal mit ihrem Computer. Manchmal fragte sich der grünhaarige Mann, ob Leute, die den ganzen Tag vor dem Bildschirm verbrachten, tatsächlich arbeiteten oder ob sie lediglich im Internet surften oder sich die Zeit mit Computerspielen vertrieben. Er konnte sich kaum vorstellen, dass es tatsächlich so viel Arbeit am PC zu erledigen gab, er war eher praktisch veranlagt.
„Was tust du hier?“, fragte die Frau hinter dem Schreibtisch, als sie aufschaute. „Ich habe euch nicht herbestellt.“
„Ich bin ja auch alleine“, entgegnete der junge Mann salopp und ließ sich auf das Sofa an der Wand fallen. „Eigentlich wollte ich nur Unseens Katzenmusik entkommen und dachte mir, ich könnte auch direkt einmal vorbeischauen, ob es Arbeit gibt.“
„Da hättest du auch einfach anrufen oder eine E-Mail schicken können“, entgegnete Takehito trocken. „Aber vielleicht gibt es da wirklich etwas, was du übernehmen kannst. Kawaguchi hat heute Mittag wegen dem Vorfall von gestern mit mir geredet.“
Xen zog eine Augenbraue nach oben. „Was hatte dieser widerwärtige, fette Kerl jetzt wieder daran auszusetzen? Es lief alles nach Plan und wunderbar glatt, perfekter hätte es nicht sein können.“
„Hüte deine Zunge“, ermahnte die ältere Dame ihn. „Noch ist dieser Mann für uns von unschätzbarem Wert. Ohne ihn hätten wir nach dieser Katastrophe direkt einpacken können.“
„Sie konnten diese drei Oberbonzen nicht ausstehen, habe ich Recht?“, feixte der grünhaarige Mann und machte es sich noch ein wenig bequemer. „Ist ja auch verständlich, die haben ziemlich viel Mist gebaut.“
Die Japanerin schüttelte den Kopf. „Du solltest wirklich etwas an deiner Ausdrucksweise feilen. Aber es ist ja wohl kein Geheimnis, dass ich mit den Methoden der ehemaligen Vorsitzenden unserer Organisation nicht einverstanden war. Außerdem war dieser okkulte Humbug nichts weiter als reine Zeit- und Geldverschwendung. Geherrscht wird heutzutage anders. Im Prinzip sollten wir dann Weiß und Schwarz wohl für die Beseitigung dieses Fehlers in gewisser Weise Dankbarkeit zollen. Aber wir wollen es ja auch nicht übertreiben, es reicht vollkommen, wenn sie für uns Mittel zum Zweck sind. Schwarz hat ja bereits die Früchte unserer Dankbarkeit geerntet.“
Ein schallendes Lachen entrann der Kehle des Auftragsmörders. „Das ist wohl wahr. Bei uns bekommt jeder das, was er verdient. Also kommen wir noch mal zu diesem Kawaguchi zurück. Was genau will er denn?“
„Was soll er schon großartig wollen? Weiß natürlich, einer von ihnen hat es ihm angetan“, erklärte Takehito kühl. „Ihr sollt ihn beschaffen. Wie ist mir vollkommen egal, Hauptsache, er ist lebendig, wenn ihr ihn abliefert.“
„Gut, wollen wir das jetzt direkt bereden oder sollen die anderen noch hierher kommen und zur Auftragsbesprechung erscheinen?“, fragte Changeling und betrachtete dabei seine Fingernägel.
„Das ist mir gleich, du kannst ihnen die Order auch überbringen.“
„Noch besser. Also wen sollen wir ihm herbei schaffen? Wo und wann wäre es ihm am liebsten?“, fragte der Mann weiter.
Die ältere Dame verzog die Lippen zu einem kalten, spöttischen Lächeln. „Ihm wäre es wohl sofort am Liebsten. Aber ich habe andere Pläne, ihr könnt euch ruhig ein wenig Zeit lassen und auf eine günstige Gelegenheit warten. Ich habe es nicht nötig, sofort zu springen, wenn er etwas will, auch, wenn er wichtig ist. Allerdings will ich die kommenden Tage und Wochen noch intensiv zur Vorbereitung unserer kleinen Präsentation nutzen und dafür brauche ich ihn. Ablenken mit neuen Spielzeugen kann er sich dann immer noch. Übrigens wird Weiß wohl auch ziemlich in Bedrängnis geraten, wenn die Polizei auf ihre Spur kommen sollte, es könnte amüsant werden, das mitzuverfolgen.“
„Ich denke nicht, dass Weiß sonderliche Probleme mit der Polizei bekommen. Sie gehen sehr professionell und vorsichtig in diesen Dingen um“, gab der grünhaarige Mann zu bedenken. „Aber es macht immer wieder Spaß mit ihnen zu spielen.“
„Warten wir es ab, wir haben schließlich Zeit und die Fäden in der Hand.“
Innerhalb der nächsten Tage wurde in allen Medien über den Leichenfund im Hilton Hotel berichtet. Die endgültige Identifizierung der Leiche durch Angehörige und eine DNA-Analyse erfolgte bereits nach einigen Tagen. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass der Verteidigungsminister Hiroshi Kawaguchi ermordet in seinem Hotelzimmer aufgefunden wurde.
„... Die Polizei konnte am Tatort keine Spuren sichern, die auf den oder die Täter hinweisen. Der genaue Tathergang konnte jedoch anhand der Wunde rekonstruiert werden. Bei der Mordwaffe muss...“
Aya schaltete den Fernseher aus uns sah besorgt aus dem Fenster.
„Was hast du denn, Aya-kun?“, fragte Omi vorsichtig nach.
„Du hast es doch gehört. Die Polizei sucht nach uns.“
Der blonde Junge nickte. „Aber das tun sie doch schon seit Jahren. Und haben sie je eine Spur gefunden, die sie zu uns führt? Früher hat Perser zwar alles verwischt, aber seit seinem Tod haben wir doch bisher alles auch gut selbst gemeistert. Mach dir keine Sorgen, ich bin sicher, dass man uns nicht entlarven wird.“
Der Rotschopf seufzte leise. „Hoffentlich hast du Recht.“
Mit diesen Worten verließ er das Wohnzimmer und zog sich in seine eigenen vier Wände zurück. Er konnte Omis Anwesenheit in den letzten Tagen nicht lange ertragen, wenn sie alleine waren. Immer wieder musste er an den Vorfall im Blumenladen denken und war sich einfach nicht sicher darüber, wie er weiter reagieren sollte.
Weiß hatten sich letztendlich doch darauf geeinigt gemeinsam das Schulfest zu besuchen, obwohl Aya und Omi sich in den letzten Tagen, wann immer es ging, aus dem Weg gegangen waren. Der blonde Junge entschuldigte es immer damit, dass er noch für seine Führerscheinprüfung oder für die Schule lernen musste. Erstere Ausrede nahm ihm nicht wirklich jemand ab, da er seine Theorieprüfung bereits hinter sich gebracht und fehlerfrei bestanden hatte und man für die praktische Prüfung ohne Auto nur schwerlich lernen konnte. Der Weiß-Leader machte sich nicht einmal die Mühe, Ausreden zu erfinden, von ihm war man es schließlich mittlerweile gewohnt, dass er sich einfach zurückzog und alleine vor sich hin brütete.
Ken und Yohji erhofften sich von diesem Tag, dass die Atmosphäre wieder etwas entspannter wurde und einer von ihnen endlich versuchen konnte, mit dem Rotschopf wegen Omi zu reden. Sie konnten einfach nicht länger mit ansehen, wie er unter der unterkühlten Distanz litt.
Mit Ayas Porsche fuhren die vier jungen Männer zu Omis Schule und sahen sich einer nicht geahnten Parkplatzknappheit gegenüber, die sie zwang eine Viertelstunde um das Gebäude herum zu fahren und die angrenzenden Straßen nach einer freien Parklücke abzusuchen.
„Ich habe doch gesagt, wir hätten früher losfahren sollen“, seufzte Omi und sah dabei zu, wie ein anderes Auto ihnen einen Parkplatz vor der Nase wegschnappte.
„Wir hätten ja auch pünktlich losfahren können“, meinte der Weiß-Leader kühl, „wenn ein gewisser Herr Kudou nicht wieder Stunden im Badezimmer gebraucht hätte.“
Entrüstet zog der Playboy scharf die Luft ein. „Schönheit hat eben ihren Preis. Ich kann ja nichts dafür, dass ihr mich nicht eher geweckt habt. Ihr wisst doch, dass ich von dem Wecker allein nicht wach werde.“
Der braunhaarige Japaner zog eine Augenbraue nach oben. „Ich habe dich eher geweckt. Über eine ganze Stunde etwa neun oder zehn Mal bis du endlich deinen Luxuskörper aus den Kissen bequemt hast.“
„Könnt ihr bitte aufhören zu streiten? Ich kann mich nicht auf den Verkehr konzentrieren“, unterbrach der Rotschopf schneidend diese Unterhaltung und merkte nur noch aus dem Augenwinkel, dass er soeben an einer Parklücke vorbei gefahren war.
„Da hättest du gerade parken können“, gab der ehemalige Fußballer dazu seinen überflüssigen Kommentar ab.
Aya umklammerte das Lenkrad und zischte: „Ja, ich weiß es. Aber ich kann nicht wenden, das ist eine Einbahnstraße und außerdem hat sie uns der Wagen hinter uns schon weggeschnappt.“
Die anderen Drei befanden es für besser, ab jetzt den Mund zu halten, um den Mann mit den amethystfarbenen Augen nicht noch mehr aufzuregen. Sie hofften nur, dass er sich baldmöglichst wieder beruhigte, denn ansonsten war ihr Vorhaben, die angespannte Atmosphäre wieder etwas zu lockern, wohl zum Scheitern verurteilt.
Nach einigen weiteren Minuten hatten sie endlich eine Parkmöglichkeit ergattert und sofort besetzt. Durch dieses kleine Erfolgserlebnis hellte sich auch die Laune des Weiß-Leaders ein wenig auf.
Allerdings murrte er immer noch ein wenig griesgrämig vor sich hin: „Wo kommen bloß diese ganzen Autos her, hier ist es doch sonst nicht so voll. Kaum zu glauben, dass auf einem Schulfest so viele Leute sein sollen.“
„Nun ja, wenn von jedem Schüler mindestens die Eltern und dann wahrscheinlich auch noch die Geschwister mitkommen, kommen da halt schon ziemlich viele Leute zusammen“, meinte der blonde Junge kleinlaut und betrat mit seinen Freunden das Schulgelände.
Ken pfiff zwischen den Zähnen hindurch als er sich umsah, während sie über den Hof spazierten. „Ist ja schon ziemlich viel los hier. Was gibt es denn an diesen vielen Ständen hier?“
„Jede Klasse macht halt etwas für das Schulfest. Ein paar Klassen verkaufen Snacks und Getränke. Bei anderen gibt es dann sogar ein paar kulinarische Spezialitäten, wie zum Beispiel französische Crêpes, deutsche Brezeln oder amerikanische Muffins. Außerdem wurden ein paar Wettbewerbe vorbereitet wie Sackhüpfen, Dreibeinlauf und sogar eine Schulrallye“, erklärte Omi. „Unsere Klasse hat einen Sketch vorbereitet, der zusammen mit einigen anderen Darbietungen in der Aula aufgeführt wird. Ich konnte mich zum Glück darum drücken, weil ich schließlich in einem Blumenladen arbeiten muss, um meinen eigenen Unterhalt zu verdienen und mich auf meine Führerscheinprüfung vorbereiten muss.“
„Wann soll denn dieses ominöse Konzert stattfinden, von dem du uns erzählt hast?“, fragte Yohji und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
„Heute Mittag um zwölf Uhr. Wollen wir uns das zusammen ansehen? Es ist keine Pflicht.“
Der Rotschopf nickte. „Ja, das werden wir. Ein wenig Kultur kann diesen beiden Banausen gar nicht schaden. Außerdem vermute ich, dass die anderen von Mißgunst auch hier sind, wenn dieser Phuong schon hier ist.“
„Wir sind keine Banausen“, wehrte Ken ab. „Zumindest ich bin keiner, mit Yohji könntest du schon Recht haben.“
„Hat er nicht!“, redete der honigblonde Mann dazwischen. „Mit dieser Mißgunstsache allerdings schon. Aber ich glaube kaum, dass wir hier Probleme mit ihnen bekommen werden. Sie können hier wohl schließlich kaum ein Massaker anrichten.“
Der Jüngste der kleinen Gruppe nickte zustimmend. „Davon gehe ich eigentlich auch nicht aus, das entspricht nicht ihrem Stil, zumindest bisher nicht. Aber direkt suchen sollten wir sie nicht, wenn ihr mich fragt. Eine Konfrontation müssen wir ja nun doch nicht unbedingt provozieren.“
„Genau“, pflichtete der ehemalige Torwart bei. „Also lasst uns einfach nicht mehr davon reden, sondern den Tag genießen. Feste sind dazu da, um Spaß zu haben. Wenn wir ihnen über den Weg laufen, dann reagieren wir einfach nicht, sondern tun so, als würden wir sie nicht kennen. Das ist, denke ich, die beste Lösung.“
Da die anderen drei Männer im Grunde genommen derselben Meinung waren, schlenderten sie gemeinsam über das Schulgelände und besahen sich, was alles angeboten wurde.
Als es auf die Mittagszeit zuging, strömten immer mehr Menschen in das Schulgebäude und in die Aula. Weiß taten es ihnen gleich und ergatterten noch einige Sitzplätze in der Mitte der Halle.
Mißgunst waren ebenfalls anwesend, saßen allerdings weit vorne, damit sie Phuong gut im Blickfeld hatten. Payakootha jubelte seinem Freund bereits überschwänglich zu und achtete überhaupt nicht auf die tadelnden Blicke der um sie herum sitzenden Personen.
Pünktlich um zwölf Uhr trat der Schülersprecher auf die Bühne und hinter das Standmikrofon in deren Mitte.
„Guten Tag meine Damen und Herren, liebe Mitschüler und Lehrer, verehrtes Publikum“, begrüßte der Junge aus der Oberstufe die Zuhörer.
Daraufhin folgte eine lange Rede über die Notwendigkeit des Lernens, das Engagement des Schuldirektors und das Schulfest zur Feier seines Geburtstages. Nachdem er im Namen aller Schüler und Lehrer nochmals herzlichst gratuliert hatte, kündigte er endlich das eigens für diesen Tag zusammengestellte Orchester und die einzelnen Solisten an. Er verbeugte sich höflich und verließ begleitet von Beifall die Bühne.
Als das Licht gedämmt wurde, verstummten auch die klatschenden Hände und einige Lichtspots wurden auf das Orchester gerichtet. Mit sanften Klängen wurde das Geburtstagsständchen eingeleitet, was bald darauf in ein klassisches Meisterwerk überging und das Publikum in seinen Bann zog.
Xen lehnte sich in seinem, wie er fand sehr unbequemen, Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Für diese Art von Musik hatte er eigentlich überhaupt nichts übrig, für gewöhnlich hörte er lieber alles andere was laut war und rhythmische Beats hatte. Weshalb er sich hierzu hatte überreden lassen, konnte er nicht einmal mehr ganz nachvollziehen, wahrscheinlich bloß, um ausnahmsweise einmal noch mehr Ärger mit den anderen Dreien aus dem Weg zu gehen. Immer wieder warf er einen ungeduldigen Blick auf die Uhr und fragte sich, wann diese Tortur endlich vorüber sein würde.
Yukio und Payakootha hingegen genossen die Musik und klatschten begeistert mit den anderen Anwesenden im Saal, als Phuong alleine in die Mitte der Bühne trat und das Rampenlicht nur auf ihn gerichtet wurde.
Der junge Vietnamese legte die Violine an sein Kinn und brachte den Bogen in die Ausgangsstellung. Erst als es wieder ganz still im Publikum wurde, begann er damit, die Sehne kraftvoll über die Saiten zu streichen.
Nach dem kleinen Konzert verließen die Gäste den Saal wieder. Nur vereinzelt blieben noch einige Eltern zurück, um ihre Kinder für ihren Auftritt zu loben. Auch Mitschüler gratulierten den Musikern und sprachen ihre Begeisterung aus.
Phuong wurde ebenfalls bereits erwartet und Payakootha umarmte ihn überschwänglich. „Du warst absolute Spitzenklasse, besser als alle anderen.“
„Danke“, meinte der Kleinere. „Aber darum durfte ich ja auch ein Solo spielen.“
„Aber du warst auch besser, als die anderen Solisten“, beteuerte der Junge indianischer Abstammung.
„Sind wir dann hier fertig und können wieder nach Hause gehen?“, unterbrach Xen ungeduldig die Lobsagungen. „Ich fange an mich zu langweilen.“
Yukio schüttelte den Kopf. „Nein, heute bleiben wir ausnahmsweise so lange hier, wie Phuong es möchte. Er hat es sich verdient, heute einmal den Tagesablauf zu bestimmen und du hast versprochen mitzukommen und alles über dich ergehen zu lassen.“
„Versprochen? Gezwungen hast du mich!“, protestierte der grünhaarige Mann energisch.
„Schrei doch noch lauter, auf Hokkaido kann man dich noch nicht hören. Du bist manchmal so peinlich, Xen!“, echauffierte sich der Shawnee und wandte sich dann wieder an den Jüngeren. „Willst du denn noch hier bleiben? Ich habe gesehen, dass draußen noch Wettbewerbe gemacht werden. Sollen wir da nicht mitmachen? Das wird bestimmt lustig.“
Der Kleinste der Gruppe nickte bloß. „Ja, haben wir einfach noch ein bisschen Spaß, so haben wir auch einmal etwas Abwechslung.“
„Klasse!“, jubelte Payakootha, ergriff die Hand seines Freundes und lief mit ihm auf den Schulhof.
Yukio schüttelte den Kopf und folgte ihnen zusammen mit dem Zweitältesten in gemäßigtem Schritt. „Manchmal frage ich mich, wo die Beiden diese Energie und Unbeschwertheit hernehmen.“
„LSD“, kommentierte Xen trocken mit einem breiten Grinsen im Gesicht und steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Ken-kun?“, fragte der blonde Junge gedehnt und zupfte dem Älteren am Ärmel. „Mach wir bei dem Dreibeinlauf mit? Das macht bestimmt Spaß.“
Der ehemalige Torwart besah sich die Strecke, auf der sich bereits einige andere Besucher abmühten mit zusammengebundenen Beinen im Gleichschritt das Ziel zu erreichen. „Warum fragst du nicht Aya? Mit ihm würdest du das doch bestimmt lieber machen.“
„Schon, aber der würde von Anfang an ‘Nein‘ sagen. Außerdem hat er noch längere Beine als du und würde daher zu große Schritte für mich machen“, erklärte Omi mit einem Lächeln. „Wenn wir zusammen laufen ist die Chance geringer, dass wir ebenso im Matsch landen, wie die anderen Leute.“
„Na gut, melden wir uns für den nächsten Lauf an“, stimmte der braunhaarige Mann zu und lies sich von dem kleineren Japaner mit zu dem Anmeldestand ziehen.
Die beiden anderen Weiß-Mitglieder folgten ihnen und blieben an der Abgrenzung stehen.
„Kann man dabei etwas gewinnen?“, fragte Yohji und hoffte von irgendjemanden eine Antwort zu bekommen.
Der Jüngste von ihnen schüttelte mit dem Kopf. „Nein, hierbei nicht. Das soll lediglich Spaß machen. Aber heute Nachmittag gibt es noch eine Schulrallye quer durch das Schulgebäude und da kann man einen Gutschein vom Computerladen im Einkaufszentrum gewinnen. Ich wollte euch auch noch fragen, ob ihr da mit mir zusammen mitmachen würdet, ich könnte nämlich so langsam einen neuen Monitor gebrauchen.“
„Kann man denn in Gruppen teilnehmen?“, fragte der Rotschopf skeptisch.
„Ja, das geht, aber dann wird der Preis halt geteilt. Ich hatte gehofft, ihr würdet dann auf euren Anteil verzichten, schließlich brauche ich den Monitor ja auch zum Arbeiten“, meinte der blonde Junge und setzte seine geübte Unschuldsmiene auf.
„Aber natürlich kannst du dir dann einen neuen Monitor kaufen“, stimmte Ken voreilig zu. „Vorausgesetzt, der Gutschein deckt den Betrag auch ab.“
„Wenn es nicht reicht, könnt ihr mir den Rest ja zum Geburtstag schenken“, schlug Omi freudestrahlend vor.
Der honigblonde Mann runzelte skeptisch die Stirn. „Und was ist, wenn wir schon etwas anderes für dich haben? Kann man sich dann nur mit einem kleinen Teil beteiligen?“
„Du hast schon ein Geschenk gekauft?“, fragte der ehemalige Torwart neugierig. „Was denn für eins?“
Mit vehementem Kopfschütteln wehrte der Playboy ab. „Das werde ich euch jetzt bestimmt nicht sagen, sonst ist doch die ganze Überraschung hinüber.“ Dann ließ er seinen Blick zu dem Kleinsten von ihnen wandern. „Und komm bloß nicht auf die Idee mein Zimmer danach zu durchsuchen, dort ist es nicht versteckt.“
„Als würde ich so etwas machen. Was denkst du bloß von mir, Yohji-kun?“
Dieser zuckte lediglich mit den Achseln. „Das du manchmal halt neugierig bist. Außerdem denke ich, dass ihr beide jetzt dran seid.“
Mit diesen Worten deutete er auf die Startlinie, wo nur noch ihr Platz frei war und man bereits auf Ken und Omi wartete. Eilig gingen sie auf ihren Platz und eine Schülerin band ihnen mit Paketschnur die Knöchel zusammen. Die Beiden warfen noch einen prüfenden Blick auf ihre Konkurrenten, als auch schon eine Pistole mit Platzpatronen zum Start abgefeuert wurde.
Brad und Farfarello bemühten sich, damit ihre Schützlinge nicht sofort der Länge nach hinfielen und aus dem Rennen ausschieden, was sich allerdings zunächst als schwierig darstellte, da die Beiden Probleme damit hatten, den gleichen Rhythmus zu finden. Nach einigen Schritten war das Gleichgewicht jedoch hergestellt und die Jungen liefen zielstrebig auf die Ziellinie zu.
Die beiden Älteren Weiß-Mitglieder standen hinter der Absperrung und sahen dem Wettrennen zu. Während Yohji seine Freunde lautstark anfeuerte, verschränkte Aya nur die Arme vor der Brust und sah dem Treiben mehr oder minder skeptisch entgegen. Viele der Läufer vielen bereits auf der ersten Hälfte der Rennstrecke mehrmals in den Schmutz und einige von ihnen schafften es trotz aller Anstrengungen nicht, sich wieder dem Rennen anzuschließen. Der Blick des Rotschopfs schweifte wieder zu Omi und Ken, die im Augenblick das Feld anführten. Zwei junge Männer, etwa im gleichen Alter, waren ihnen jedoch dicht auf den Fersen und überholten sogar, so dass sie als erste ins Ziel gelangten.
Der Weiß-Leader versteifte sich und legte eine Hand auf den Arm des älteren Mannes neben sich. „Sieh dir die beiden Gewinner bitte einmal genau an. Kommen sie dir nicht irgendwie bekannt vor?“
Der Playboy tat wie ihm geheißen und musterte die beiden Jungen. Dann nickte er. „Ja, sehr bekannt. Vielleicht können wir sie ja noch ignorieren.“
„Ich hoffe es.“
Die beiden jüngeren Weiß-Mitglieder indes wollten den Gewinnern dieses Rennens gratulieren und reagierten ebenso überrascht wie ihre Teammitglieder. Dieses lange, beinahe weiße Haar war unverwechselbar und eine solche Tätowierung, wie sie der Braunhaarige trug, war ebenfalls nicht alltäglich.
Ohne sich jedoch sein Unbehagen anmerken zu lassen, ging der blonde Junge direkt auf die Beiden zu und strecke ihnen die Hand entgegen. „Herzlichen Glückwunsch zu eurem Sieg, das war ein gutes Rennen.“
Payakootha und Phuong schienen im ersten Augenblick ebenfalls ein wenig verwirrt zu sein. Auch sie hatten nicht wirklich auf die anderen Leute um sie herum geachtet und hauptsächlich kannten sie Weiß schließlich nur in ihrer Arbeitskleidung.
Zögerlich nahm der Vietnamese die angebotene Hand und schüttelte sie langsam. „Ja, scheint so, als hätten wir euch wohl wieder einmal besiegt.“
Farfarello warf einen kurzen, fragenden Blick zu Brad. „Hast du vielleicht irgendeine Vision, wie das hier ausgeht? Einen offenen Kampf werden sie doch hoffentlich vermeiden.“
„Ja, zwischendurch hatte ich eine Vision, aber nicht von einem Kampf, da kann ich dich beruhigen. Allerdings werden Weiß diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen, auch wenn es nur ein Spiel ist. Bei der Schulrallye wollen sie gegeneinander antreten, obwohl ich persönlich das für ziemlich übertrieben halte, das hier hat doch nichts mit ihrer Rivalität auf Missionen zu tun“, meinte der Amerikaner schlicht.
„Solche Worte aus deinem Munde?“, fragte der Einäugige erstaunt. „Ich glaube, du gehörst doch auch zu den Personen, die letztendlich keine Gelegenheit mehr ausgelassen hätten Störenfriede, die sich ungefragt einmischen, aus dem Weg zu räumen.“
Der Schwarz-Leader zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Meinungen ändern sich.“
Auch Payakootha ließ sich von den beiden Weiß-Mitgliedern gratulieren und bedankte sich für den fairen Wettkampf.
In diesem Moment bemerkte Brad etwas und es fiel ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen, was er bei der letzten Mission übersehen hatte. „Natürlich, die Tätowierung“, murmelte er leise. „Warum habe ich das nicht sofort erkannt?“
„Was erkannt? Was soll mit der Tätowierung von diesem Kerl sein?“, hakte der Ire nach, um herauszubekommen, was der andere meinte.
„Ich hatte bei der letzten Mission einige undeutliche Visionen, ich weiß nicht, warum ich sie nicht genau interpretieren konnte, davon habe ich euch doch erzählt. Aber etwas war mit diesem Bodyguard faul und jetzt weiß ich auch was, es war eindeutig jemand von Mißgunst, vielleicht sogar zwei verschiedene“, erklärte der Brillenträger. „Die Tätowierung von dem Bodyguard, der Kawagushi in der Limousine begleitet hat und von dem Mann, der ihn zu seinem Zimmer gebracht hat, war ein wenig anders. Diese Verzierungen am Hals waren nicht so stark ausgeprägt, was bedeutet, es kann nicht dieselbe Person gewesen sein, obwohl sie ansonsten so aussah.“
Farfarello lauschte den Ausführungen aufmerksam und nickte dann langsam. „Aber du bist dir auf jeden Fall sicher, dass dieser Spirit mit dabei war.“
„Ja, mehr als sicher sogar. Aber ich ärgere mich, weshalb ich das erst jetzt erkenne“, meinte der schwarzhaarige Mann. „Was haben Mißgunst bei der letzten Mission von Weiß zu suchen gehabt? Sie haben nicht angegriffen oder im Entferntesten versucht Weiß an ihrem Vorhaben zu hindern.“
„Vielleicht wollten sie sicher gehen, dass unsere Schützlinge ihren Auftrag auch auf jeden Fall hundertprozentig ausführen“, mutmaßte der Mann mit der Augenklappe. „Vielleicht hatten sie ausnahmsweise das gleiche Ziel.“
Brad schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber irgendetwas sagt mir, dass mehr dahinter steckt. Warum sollten sie auf halbem Weg in die Suite die Besetzung tauschen? Das ergibt doch irgendwie überhaupt keinen Sinn.“
„Es ergibt eben nicht immer alles Sinn auf dieser Welt, das solltest du wissen“, warf der Ire achselzuckend ein. „Auch Gott macht alles was sie will, nur zu ihrem Vergnügen, das hat keinen tieferen Sinn.“
Ohne sich weiter aneinander aufzuhalten, trennten sich die vier Wettläufer wieder und gingen jeweils zum Rest ihrer Gruppe zurück. Dieser kleine Zwischenfall sollte ihnen nicht den Tag verderben.
Am Nachmittag meldete Omi sich zusammen mit seinen Freunden für die Schulrallye an und vor dem Start gab einer der an der Organisation beteiligten Schüler am Haupteingang des Schulgebäudes noch letzte Instruktionen.
„An verschiedenen Orten im Schulgebäude befinden sich jeweils ein Puzzleteil für die Lösung des finalen Rätsels sowie ein Hinweis, wo man das nächste Puzzleteil findet. Die Hinweise sind selbstverständlich verschlüsselt und man muss ein wenig Knobeln, um den Sinn herauszufinden, es soll ja auch nicht zu einfach werden. Die Puzzlestücke bestehen aus lateinischen Buchstaben, die ihr jeweils zusammen mit der Hinweisaufgabe an Tafeln, Flipcharts oder Pinwänden findet. Jeder Teilnehmer bekommt einen Notizblock und einen Stift von uns ausgehändigt, andere Hilfsmittel sind nicht zugelassen. Außerdem bekommen jetzt alle einen Umschlag ausgehändigt, in dem die erste Station beschrieben ist, sowie ein kleines Rätsel zum Aufwärmen, dessen Lösung ihr unseren beiden Türstehern mitteilen müsst, damit ihr überhaupt das Gebäude betreten könnt. Bei einem Mitbewerber lauschen hat übrigens keinen Sinn, da die erste Aufgabe für alle verschieden ist. Bei einer falschen Antwort bekommt der Teilnehmer fünf Strafminuten und muss so lange warten, bis er es noch einmal versuchen darf. Ich hoffe, ihr habt alle viel Spaß bei der Rallye. Die Umschläge dürfen jetzt geöffnet werden.“
Der blonde Junge riss seinen Umschlag auf und holte den Zettel, der darin steckte, hervor. Er hielt ihn so, dass die anderen über seine Schulter mit lesen konnten. Der Klassenraum war benannt und darunter stand ein Rätsel, das Omi noch einmal leise vorlas. „Was geht auf und ab, bewegt sich jedoch nie?“
Die Antwort war schnell gefunden und so teilte das jüngste Weiß-Mitglied dem Schüler, der die Teilnehmer in das Gebäude einließ mit, dass es sich bei ihrer Lösung um eine Treppe handelte. Daraufhin durften Weiß in die Schule hinein und der Jüngste von ihnen rannte sofort vor zum ersten Klassenraum, der noch unverschlüsselt auf der Notiz gestanden hatte. An der Tafel waren wie angekündigt auf der einen Seite ein Puzzleteil aufgemalt, in dem einige lateinische Buchstaben standen und die sofort auf den Block geschrieben wurden. Auf der anderen Seite stand eine mathematische Gleichung, vor der Aya, Ken und Yohji direkt kapitulieren mussten. Der kleinste Japaner hingegen hatte bei dieser Aufgabe noch keine Probleme, sie zu lösen und führte sein Team eilig zum nächsten gesuchten Raum. So verfuhren sie auch mit den weiteren Räumen und hatten sich bald einen großen Vorsprung erarbeitet.
Mißgunst nahmen allerdings auch an dieser Rallye teil, Phuong war ebenfalls der Meinung den Preis sehr gut gebrauchen zu können. Auch sie hatten kaum Probleme mit den gestellten Aufgaben, vermieden es jedoch vorerst, Weiß über den Weg zu laufen. Erst als es nach einer Reihe von Puzzleteilen hieß, dass im nächsten Raum der Schlüssel wartete, schlossen sie zu Weiß auf und betraten kurz nach ihnen den Raum.
„Das soll ein Schlüssel sein?“, fragte Ken gerade, als er das Buchstabengewirr an der Tafel betrachtete.
„Wenn da steht, dass es einer ist, dann wird es auch schon so sein“, frotzelte Payakootha. „Denkt nicht zu lange darüber nach, sonst schlagen wir euch dieses Mal womöglich schon wieder.“
Da der kleine Vietnamese den Text bereits abgeschrieben hatte, verließ seine Gruppe den Raum auch schon wieder. Jetzt musste sogar er erst einmal darüber nachdenken, was er mit diesem Buchstabensalat anfangen sollte.
„Soll ich vielleicht mal bei den anderen Gruppen nachforschen, ob schon jemand die Lösung hat?“, bot der Junge indianischer Abstammung an.
Phuong lehnte allerdings ab. „Nein, wir sollen das ehrlich lösen. Und ich glaube, das bekomme ich schon noch hin. Ich denke, Bombay kommt auch nicht so schnell auf das Ergebnis.“
Auch Weiß zogen sich zunächst einmal in eine stille Ecke zurück, um über das Rätsel nach zu denken.
„Vielleicht ist das wieder eine mathematische Gleichung, nur viel komplexer als die anderen“, grübelte Omi laut über die Aufgabe nach. „Eventuell muss man diese kleine Gleichung ’Q-J=7’ in Relation zu den anderen Buchstaben setzen. Was meinst du dazu, Aya-kun?“, fragte er und reichte den Zettel weiter.
„Oder man muss die Buchstaben einfach in eine neue Reihenfolge bringen, bis sie einen Sinn ergeben“, mutmaßte der Weiß-Leader und betrachtete das Stück Papier in seiner Hand.
„Du meinst, wie beim Scrabble?“, hakte der ehemalige Torwart nach. „Darin bin ich überhaupt nicht gut, ihr schlagt mich immer.“
„Was glaubst du, was das zu bedeuten hat, Nagi?“, fragte Schuldig. „Wenn wir die Lösung wissen, kann ich sie an Yohji weiter geben.“
Der kleine Japaner schüttelte allerdings den Kopf. „Es tut mir Leid, aber ich kann damit leider auch nichts anfangen. Es könnte wieder etwas mit Mathematik zu tun haben, so wie Omi schon sagte. Allerdings bin ich mir auch nicht sicher, ich muss noch ein wenig darüber nachdenken.“
„Mir sagt das jetzt auf Anhieb auch nichts“, meinte Brad und rückte seine Brille zurecht. „Ich habe auch schon viele Verschlüsselungen gesehen, aber die meisten dann mit Hilfe von Büchern gelöst. Es gibt so viele Arten von Codes, die kann man überhaupt nicht alle auswendig lernen.“
„Was denn? Mich braucht ihr überhaupt nicht so anzusehen. Ich habe von diesen Dingen noch weniger Ahnung als ihr alle zusammen“, wehrte Farfarello ab, als die Blicke letztlich alle auf ihm ruhten.
„Lasst mich doch auch mal sehen.“ Yohji riss dem Rotschopf den Zettel aus der Hand und schaute sich kurz an, was darauf geschrieben stand. Schon nach einem kurzen Moment hellte sich seine Miene auf und er lachte laut auf. „Das hat überhaupt nichts mit Mathematik zu tun und noch weniger mit Scrabble.“
„Natürlich hat es das“, meinte Ken und deutete auf die Notiz am unteren Rand des Blattes. „Ich finde, dass sich ’Q-J=7’ durchaus nach einer mathematischen Formel anhört.“
Omi nickte. „Ich glaube auch, dass Ken da Recht hat. Wir müssen halt die Formel lösen.“
Der Playboy schüttelte vehement den Kopf. „Nein, es ist keine Formel. Es hat zwar ein bisschen mit Mathematik zu tun, aber es ist ein Code, verschlüsselt durch Kryptographie. Gebt mit mal bitte einen leeren Zettel und einen Stift, dann zeig ich euch, wie man es löst.“
„Da bin ich aber mal gespannt“, meinte der blonde Junge und reichte dem Älteren das Gewünschte.
Sofort fing dieser an das lateinische Alphabet darauf zu schreiben. Darüber nummerierte er die Buchstaben von A bis Z mit den arabischen Ziffern von eins bis sechsundzwanzig. Darunter schrieb er die Zahlen in umgekehrter Reihenfolge von fünfundzwanzig bis null. Dann runzelte er die Stirn und meinte beiläufig: „Ach die unteren Zahlen brauche ich gar nicht, die haben die simple Variante benutzt.“
Die anderen drei Weiß-Mitglieder sahen ihm interessiert über die Schulter, als er anfing die scheinbar vollkommen zusammenhanglos zusammengewürfelten Buchstaben in sinnvolle Worte zu verwandeln.
Stolz präsentierte der honigblonde Mann sein Ergebnis. „Wie ihr seht ergibt ZPTWRHJUXPYQV mit dem Schlüssel GMLBFDACSEEBF durchaus einen Sinn, man zieht es einfach voneinander ab wie in dem Beispiel ’Q-J=7’ und man erhält daraus das Wort ’Schuldirektor’. Zusammen ergibt das dann ’Schuldirekt im Lehrerzimmer’.“
Der Jüngste der kleinen Gruppe schlug sich mit einer Hand vor die Stirn. „Also da wäre ich glaube ich auch noch drauf gekommen, wenn ich noch etwas darüber nachgedacht hätte. Aber so haben wir jetzt vielleicht noch einen etwas größeren Vorsprung vor den anderen. Kommt schnell mit zum Lehrerzimmer.“
Aya blickte zu dem größeren Mann und nickte anerkennend. „Ich wusste gar nicht, dass du so etwas kannst. Wo hast du das gelernt?“
„Ich kenne eben noch ein paar Dinge aus meiner Zeit als Privatdetektiv“, grinste Yohji. „So furchtbar zweitklassig war ich dann doch nicht.“
Schuldig lachte laut auf. „Ich habe es euch doch gesagt, er ist ein verkanntes Genie. Bei manchen Leuten ist die Intelligenz eben ein wenig komplexer, das hat man schon an Einstein gesehen.“
Nagi schlug sich nun ebenfalls kopfschüttelnd die Hand vor sein Gesicht. „Hast du nicht zugehört? Er hat diese Art von Verschlüsselung mal gelernt, das hat nicht wirklich viel mit versteckter Genialität zu tun. Idealisiere deinen Schützling nicht zu sehr.“
„Du hast ja bloß Angst, dass er dir vielleicht irgendwann noch einmal den Rang ablaufen könnte“, feixte der Deutsche grinsend.
Mehr Zeit zum Streiten hatten die Beiden allerdings nicht mehr, da ihre Schützlinge nun im Lehrerzimmer standen. Ein Schüler aus der Oberstufe stand hinter dem Tisch und lächelte freundlich, sagte jedoch nichts. Stattdessen deutete er auch die vor ihm stehende Schatulle, die mit einem Buchstabenschloss versehen war.
Omi lief sofort hinüber und stellte an dem Schloss das Wort Schuldirektor ein, woraufhin die Schatulle aufsprang und der ersehnte Einkaufsgutschein zum Vorschein kam. Er nahm ihn heraus und präsentierte ihn stolz den anderen. „Wir haben gewonnen!“
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte nun der Oberschüler und klatschte in die Hände. „Damit ist die Rallye beendet.“
Wenige Minuten später wurde bereits über die Sprechanlage der Schule durchgegeben, dass es einen Gewinner gab und in der Aula noch eine kleine Siegerehrung abgehalten wurde. Alle Teilnehmer wurden herzlich dazu eingeladen.
Phuong blieb mitten auf dem Gang stehen und starrte einen der Lautsprecher ungläubig an. Er hatte gerade die Lösung herausgefunden und ärgerte sich so sehr darüber, von Weiß besiegt worden zu sein, dass er seine Notizen in winzigkleine Stücke zerriss und einfach auf den Boden fallen ließ.
„Ach nimm es nicht so schwer“, versuchte Payakootha ihn zu trösten. „Es ging doch bloß um so einen Gutschein und den haben wir nun wirklich nicht nötig.“
„Genau“, stimmte Yukio zu. „Wenn du neues Equipment für deinen Computer brauchst, bezahlt das doch sowieso die Organisation. Mach dir keine Sorgen darüber.“
Der Vietnamese schüttelte vehement den Kopf. „Es geht mir doch überhaupt nicht um diesen dummen Gutschein. Sie haben uns besiegt und das ärgert mich. Ich wurde von jemandem besiegt, der keine Klassen übersprungen hat und dadurch Klassen unter mir ist und wahrscheinlich einen geringeren IQ hat.“
„Ich kann dich durchaus verstehen“, meinte Xen. „Second is first loser. Das ist schon frustrierend. Aber sieh es doch mal von der anderen Seite, sie werden bei Missionen niemals besser sein als wir. Außerdem hättest du ja Pays Angebot annehmen können, selber schuld, dass du es nicht getan hast. Schließlich hätte er einfach bloß mal ein wenig in die Gedanken der Veranstalter hineinlesen müssen.“
„Willst du trotzdem zu der Siegerehrung gehen?“, fragte der Ungar.
Der Jüngste schüttelte den Kopf. „Nein, das muss ich mir nicht antun. Und ich glaube, ihr wollt hier eigentlich auch nicht länger bleiben. Fahren wir lieber nach Hause.“
Während Mißgunst sich bereits auf den Heimweg machten, überreichte der Schuldirektor noch einmal offiziell Omi seinen errungenen Preis und beglückwünschte ihn zu seiner Scharfsinnigkeit.
Als der Tag sich langsam dem Abend zuneigte, ging auch das Schulfest auf sein Ende zu und Weiß verließen zusammen mit einigen anderen Besuchern das Schulgelände.
„Danke, ohne euch hätte ich diese Rallye wohl nicht geschafft“, meinte der blonde Junge und lächelte dabei Yohji an. „Ganz besonders ohne dich wohl nicht, Yohji-kun.“
Der Playboy winkte ab. „Ach, das war doch gar nichts.“
„Was?!“, unterbrach sie eine ihnen gut bekannte und ungeahnt aufgebrachte Stimme. Aya pflückte den Zettel unter seinem Scheibenwischer hervor und starrte ihn ungläubig an. „Die haben mir doch tatsächlich einen Strafzettel fürs Falschparken ausgestellt.“
Nachdem sie den Rotschopf wieder beruhigt hatten, machten die vier jungen Männer sich endlich auf den Heimweg.