Sehnsucht
Als Kai Reis und seinen Schlafraum erreichte lag der schwarzhaarige Chinese eingerollt auf seinem Bett und schlummerte seelenruhig vor sich hin. Seine Bettdecke war halb auf den Fußboden gerutscht und es sah aus, als diene sein Kissen ihm als Kuscheltierersatz - dieses hielt er nämlich mit beiden Armen fest umklammert vor seinen Bauch gepresst.
Kai lächelte erneut. Rei sah wirklich wie die Unschuld in Person aus. Leise setzte er sich gegenüber von ihm auf sein Bett. Das Gewitter schien Rei überhaupt nichts mehr auszumachen - im Gegenteil - er schien sehr gut zu schlafen, denn er hatte einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck auf den Lippen... Der Blick des Russen blieb an eben diesen hängen.
Kai sah sich in seiner Erkenntnis bestätigt. Genauso, wie sich der Chinese anscheinend in ihn verliebt hatte, so hatte auch Kai ihn nach und nach auch in sein Herz geschlossen. Langsam aber sicher war Rei ihm immer wichtiger geworden und ohne es zu merken, hatte Kai sich den Schwarzhaarigen gar nicht mehr aus seinem Leben weg denken können. Doch eben jene Gefühle kamen erst jetzt zu Tage - ganz plötzlich, als hätte Kai sie vorher unbewusst in einen Käfig, tief in seinem Inneren, geschlossen und erst jetzt frei gelassen. Die Sehnsucht, die den Russen wie eine Lawine überrollte, wuchs mit jeder Sekunde, die er hier saß und Rei beim Schlafen beobachtete. Als er dort so im Wohnzimmer gesessen hatte, hatte er darüber nachgedacht, was Liebe ist. Es mag sich lächerlich anhören, über so eine Frage nachzudenken - aber für eine Person, die nie aufrichtige Liebe in ihrem Leben erfahren hatte, war dies gar nicht mal so einfach zu beantworten. Erst, als die Sonne schon wieder aufging, wurden Kais Augenlieder zu schwer, um noch weiter seinen Zimmergenossen zu betrachten und er sank in einen tiefen Schlaf. Allerdings nicht für lange...
"Kai! Rei!" Aufstehen!" Takao, ansonsten preisgekrönter Morgenmuffel war hellwach, guter Laune und anscheinend auch lebensmüde, denn ohne auch nur einen Gedanken ans Anklopfen zu verschwenden, platzte er in Reis und Kais Zimmer und riss die Vorhänge auf. Anschließend meinte er dann auch noch Kais Weckmethoden kopieren zu wollen, was ihm zwei unfreiwillige morgendliche Joggingrunden um den Gasthof eingebracht hatte.
Drei Stunden später saßen Kai und Rei dann alleine am Frühstückstisch, während Mizuhara und Takao in ihr Zimmer verbannt worden waren (eigentlich nur Takao, aber Mizuhara war da Patriot). Also war alles wie immer... Eigentlich. Kai musste unwillkürlich grinsen, bei den Gedanken an die Ereignisse der letzten Nacht. Plötzlich spürte er eine warme Hand auf seiner Stirn. Sie gehörte zu Rei, der ihn besorgt musterte. Kai indessen verfluchte seine Biologie für das zunehmend schnellere Schlagen seines Herzens. Er war doch kein verliebtes Schulmädchen! Also was sollte das?
"Was soll das werden, wenn ich fragen darf?" Kai versuchte seiner Stimme möglichst einen ruhigen Ton zu geben, um zu überspielen, dass ihn Reis Geste irgendwie doch ein wenig nervös machte. "Ich wollt' nur mal fühlen, ob du Fieber hast." Rei lächelte und nahm seine Hand wieder von Kais Stirn. Dieser blickte den Chinesen nun ein wenig irritiert an. "Wie kommst du denn auf die Idee?" "Na, du grinst." Reis Lächeln wurde Breiter. "Kommt ja selten genug vor." Kai wollte etwas erwidern, ließ es dann aber. Im Grunde genommen hatte Rei ja Recht.
Was die beiden nicht mitbekamen, war die Gegenwart von Mizuhara und Takao, welche hinter einer großen Zierpflanze versteckt die beiden beobachtet hatten - eigentlich hatten sie sich nur nach unten schleichen wollen, um etwas zu Frühstücken, doch dann war auch ihnen Kais ungewöhnliches Verhalten aufgefallen. "Was denkst du ist da los?" Mizuhara warf Takao einen fragenden Blick zu. "Keine Ahnung - aber wir werden es schon noch herausfinden!" Takaos grinste. Er liebte es Detektiv zu spielen.
Schweigend beendeten Rei und Kai ihr Frühstück und machten sich auf den Weg zurück in ihre Suite. „Sag mal... hast du nachher vielleicht Lust mit mir im See schwimmen zu gehen?" Rei betrachtete Kai fragend von der Seite, rechnete insgeheim mit einer "Und-was-ist-de-mit-dem-Training"- Antwort, die aber erstaunlicherweise ausblieb. "Klar, wieso nicht?" Nach außen hin blieb Kai völlig ruhig, als er seine Badesachen zusammen packte - innerlich, war er allerdings das reine Nervenbündel. Wie hatte er dieser Frage bloß zustimmen können?!? Es gab so einige Dinge, die der Russe niemanden so schnell auf die Nase binden würde und eines davon war, dass er nie schwimmen gelernt hatte und ihm fiel - so angestrengt er auch überlegte - keine Ausrede ein, um dieses Manko zu verbergen. In dem Moment, als Rei seine Frage an ihn gerichtet hatte, musste sein Hirn sich kurzzeitig verabschiedet haben. Anders konnte er sich diese Dummheit wirklich nicht erklären.
Auf dem Weg zum See wurden Kai die Ausmaße des Unwetters letzte Nacht vor Augen geführt -
einige tiefer gelegene Straßen in der hügeligen Umgebung des Hotels waren komplett unter Wasser gesetzt und waren nun größtenteils nicht mehr befahrbar und der Russe fragte sich ernsthaft, ob sein Team nun, wie ursprünglich geplant, abreisen konnte. Zu seinem Pech war der Mondsee, der die Form eines Halbmondes hatte, trotzdem ohne Umwege erreichbar gewesen. Vor ihm bot sich ein phantastischer Ausblick auf die Berge, die das Gewässer umrahmten - welchen er allerdings nicht wirklich genießen konnte.
Rei war schon dabei sein Handtuch in den Schatten einer großen Kiefer zu legen und sich seiner Sachen zu entledigen, während Kai einen misstrauischen Blick auf die dunkle Wasseroberfläche warf…