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One-way Ticket Into My Arms

Die Krähe und der Sichelmond
von

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Sichelmond.

Leichenblass und dünn wie eine Rasierklinge. Ein faszinierender Anblick, wenn ich ihn dort so am mitternachtsblauen Himmel betrachte, zwischen all den funkelnden Sternen. Fast wirkt er wie der König des Firmaments... keiner macht ihm seine Position als schönster Himmelskörper streitig, keiner wagt es, sich mit seinem mystischen Glühen, seinem fahlen Schein und dem unbeschreiblichen, bleichen Licht zu messen.

Mein Blick schweift weiter über das Gelände. Ein ehemaliges Kraftwerk, das schon lange aufgegeben wurde, nachdem es vor ein paar Jahren bei einem Feuer bis auf die Grundmauern abgebrannt ist. Jetzt stehen nur noch die Ruinen in der Landschaft, weit außerhalb der Stadt, mitten in einer Staub- und Steinwüste. Das Gelände wird von dem hohen Drahtzaun begrenzt, auf dem ich sitze. Ich schließe die Augen und atme durch die Nase tief die Nachtluft ein.

Nacht... ein wunderbares Element. Sie verzaubert selbst diesen Ort der Zerstörung, macht ihn zu einem schattenreichen, geheimnisvollen Labyrinth aus Stein, Metall, Draht und Staub, erschafft mit ihrem lauen Wind unsichtbare, heisere Stimmen, die sich über die Trümmer hinweg im Flüsterton zu unterhalten scheinen. Und die ganze Szenerie beleuchtet vom einsamen Erdtrabanten.

Wieder sehe ich zu eben diesem auf. Meine Stirn kräuselt sich, ich streiche mir eine lange schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Ist er das denn wirklich? Schönster Himmelskörper, König des Firmaments? Dieses magische Glühen, das fahle Licht, das ihn so außergewöhnlich erscheinen lässt... eigentlich reflektiert er doch nur das Feuer der Sonne. Das ist wie bei den Menschen. Nur die wenigsten von ihnen strahlen aus eigener Kraft. Das, was wir sehen, wenn wir den meisten von ihnen gegenübertreten und sie ansehen, wie ich jetzt den Mond ansehe, ist nichts weiter als die Erwartungen der anderen Menschen, die sich in einem Körper, einem Gesicht, einem Lächeln wiederspiegeln. Betrug. Heuchelei.

Ein Schluchzen.

Eine sanfte Brise wirbelt den salzigen Duft von Tränen zu mir herauf, vermischt mit dem eigentümlich stechenden Geruch nach Metall. Ich blicke beiläufig nach unten. Dort auf dem Boden, an einen rostigen Container gelehnt, sitzt eine zierliche Jungengestalt. In seiner Hand sehe ich etwas aufblitzen.

Ah, ein Messer also. Damit hat er vor einer halben Stunde noch nicht gespielt. Ich grinse, betrachte das Häufchen Elend von oben her. Sein Gesicht muss ich nicht mal sehen, um zu wissen, dass es außerordentlich hübsch ist. Ich habe es so viele Jahre lang fast tagtäglich beobachtet, bin ihm gefolgt, wohin ich nur konnte. Ich habe es geliebt, oh ja. Was ist nun daraus geworden?

"Eine wunderschöne Mondnacht, nicht wahr?", sage ich.

Er zuckt zusammen, verschluckt sich an seinen eigenen Tränen, als er erschrocken herumfährt und zu mir nach oben starrt. Mit Genugtuung sehe ich, wie sich seine Augen weiten.

"Karasu...!", höre ich meinen Namen, voll Ungläubigkeit in den Wind gehaucht. Für einen Moment schließe ich die Augen und genieße es. Es ist das erste Mal, dass er mich beim Namen nennt, mich direkt anspricht. Ich lächle, stoße mich vom Zaun ab und lande vor seinen Füßen. Er weicht zurück, konfus und verängstigt. "Aber... aber wie... du... lebst...?"

Nachdenklich lege ich den Kopf schief, fahre mit den glasartigen Fingernägeln meiner linken Hand über meine bleichen Lippen. "Wo ist deine Ausstrahlung geblieben?", frage ich ihn, seinen eigenen Einwurf ignorierend, meine entflammten Lichter provokant auf ihn gerichtet. Von seiner Heulerei, die ich mir jetzt schon eine ganze Weile lang angehört habe, sind seine rehbraunen Augen so gerötet, dass es sogar ein normaler Mensch in der Dunkelheit erkannt hätte. Seine makellosen hohen Wangen sind nass von den Tränen, die sich einen Weg an seinem schlanken Hals herab bahnen, unter den Kragen seines Hemdes. Seine Schultern zittern. Meine Zunge fährt unkontrolliert über meine Lippen.

Sag, wo ist sie geblieben, deine Ausstrahlung? Diese Ausstrahlung, der ich so maßlos verfallen war, all die Jahre...? Es ist nichts mehr davon übrig. Das Feuer deiner Augen ist erloschen, glüht so viel schwächer als die Klinge des Messers in deiner Hand. Dein atemberaubendes Lächeln, es scheint in den Flammen der Erkenntnis zu einer Miene aus Schmerz und Selbstmitleid zerschmolzen zu sein. Dieser leere Blick, mit dem du mich jetzt ansiehst, als wäre ich ein Gespenst. Bist du es tatsächlich noch? Der Junge, an den ich mein törichtes Herz verschenkte?

Er schluchzt abermals, klebt mit seinen ungläubigen Augen an meiner Gestalt.

Ja, sieh mich an! Sieh, was aus mir geworden ist! Aus mir, dem unscheinbaren, schüchternen Oberschüler, den du seit seinem Beitritt in deine Schule vor fünf Jahren ignoriert hast! Natürlich, ich war unauffällig. Hielt mich im Hintergrund. Ich hatte keine Freunde und niemanden, der mir etwas Selbstbewusstsein hätte antrainieren können. Trotzdem habe ich immer wieder versucht, deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Vergeblich. Du hast so getan, als ob es mich nicht gäbe. Wozu hättest du also ausgerechnet mich beachten sollen? Jetzt sieh her! Du zitterst, mein Augenstern. Zitterst vor Verwirrung und Erregung, als du mich im blassen Licht des Sichelmondes stehen siehst, mit deinen Blicken meine schlanke, hoch gewachsene Figur nachfährst, die unter engen, schwarzen Kleidern versteckt ist und von dem langen schwarzen Ledermantel betont wird, der sich im Wind offen an meinen Körper schmiegt. In einer Mischung aus Neid und Verlangen betrachtest du meine wilden, schwarz umrandeten Augen, das selbstsichere Lächeln auf meinem schmalen Gesicht und den schönen Lippen, meine schneeweiße Haut und die langen Haarsträhnen, die sich im Wind aufbauschen.

Herausfordernd sehe ich auf ihn herab. "Wo ist sie geblieben?", wiederhole ich meine Frage wispernd.

Seine Miene verzerrt sich beim Klang meiner Stimme noch mehr. "Ich", bringt er atemlos und unter Tränen hervor, "Ich kann nicht mehr... Gott, ich kann nicht länger so weiterleben, Karasu! Jeder... jeder erwartet etwas anderes von mir, für alle soll ich mich verbiegen..."

Die Hand mit dem Messer nähert sich bedrohlich seinem Handgelenk. Mit einer raschen, bestimmten Bewegung schlage ich ihm die Klinge aus der Hand, falle vor ihm auf die Knie in den Staub.

Entsetzen breitet sich auf seinem Gesicht aus, als ich nur noch ein paar Zentimeter von ihm entfernt bin und er das Höllenfeuer in meinen Augen erkennen kann. Still lege ich einen süßen Schleier aus Zuneigung darüber, indem ich die Hand nach ihm ausstrecke und sanft seine Wange berühre. Langsam beruhigt sich seine Atmung, als er sich an meine kühlen Fingerspitzen, die zärtlich über seine Haut streichen, gewöhnt hat. Ich lächle, als er die Augen schließt.

Mein armer Geliebter. Du hast es also doch noch eingesehen.

Er gibt einen leisen, verzweifelten Laut von sich, als ich ihn in die Arme schließe.

Du hast verstanden, dass der Mond nicht von selbst leuchten kann. Dass er im Grunde immer nur so erscheint, wie die anderen ihn haben wollen, wie sie ihn in ihren funkelnden Träumen am Nachthimmel vor sich sehen.

Als meine Finger seinen Nacken kraulen und ich mich vorbeuge, meine Lippen an seinen Hals lege, zieht er scharf die Luft ein. Instinktiv will er Widerstand leisten. Ich durchbreche seine Instinkte mit Zärtlichkeiten und er fügt sich. Wieder lächle ich.

Davon habe ich immer geträumt. Nur davon.

Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wie du auf dem Schulhof standest, gleich einem Marmorengel mit weißen Schwingen, und in meine Richtung schautest, habe ich es mir gewünscht.

Ich ziehe ihn dichter zu mir, fahre mit meiner kalten linken Hand unter sein Hemd, spüre, wie sich die Härchen sein Rückgrat hinauf aufstellen und ein Schauer durch seinen Körper zieht.

Als du von den anderen umringt warst und mit deiner perfekten Maske aus Freundlichkeit und Lebensfreude alle auf einmal täuschtest, dich dabei immer und immer wieder selbst verrietst, habe ich es mir gewünscht.

Ein überraschtes Keuchen, als meine zweite Hand in seinem Schritt landet und dort fordernd mit den Nägeln über den Stoff seiner Jeans streicht. Während ich mit den Zähnen zaghaft über seine weiche Haut schabe, höre ich das Blut in seiner Halsschlagader pulsieren.

Als du mich anstarrtest, als wäre ich unzurechnungsfähig, nachdem ich dir meine Liebe gestanden hatte, und dich danach wortlos umdrehtest und gingst, habe ich es mir gewünscht.

Ich höre seine heisere Stimme an meinem Ohr stöhnen und kann mich nicht mehr beherrschen. Meine Reißzähne bohren sich in seinen Hals und ich spüre, wie seine Nägel sich augenblicklich in meinen Rücken krallen, während die ersten Tropfen seines heißen Blutes über meine Zunge laufen.

Als ich verdammt noch mal an derselben Stelle wie du jetzt saß und auch eins dieser Scheißmesser in der Hand hielt, fieberhaft an dich dachte, als mir eine große dunkle Gestalt die Waffe abnahm und mich auf die gleiche Art und Weise biss wie ich dich jetzt, habe ich es mir gewünscht.

Seine Hände zittern wieder, er protestiert kraftlos mit einem kehligen Laut, als ich das Leben fast gänzlich aus ihm heraussauge. Nur widerwillig löse ich mich von ihm, lasse es zu, dass sein geschwächter Körper halbtot zusammenklappt und in meinen Schoß sinkt. Ein paar wertvolle Sekunden verstreichen, in denen ich ihn durch meine ruhelosen Augen betrachte. Den wirren Haarschopf, die zarten Arme, die schönen Hände, den Körper, nach dem ich mich all die Jahre über so gesehnt habe.

Verstehst du es, Geliebter? Verstehst du diese Welt?

Ich wende den Blick zur Seite, sehe das Messer im Staub liegen, die Klinge das Licht des Sichelmondes reflektieren. Seufzend hebe ich es auf und starre es an.

Wird es immer so weitergehen? Wird die Nacht wieder und wieder den Mond verschlingen, das gestohlene Glänzen von seiner Haut wischen und ihn bloßstellen?

Mein Blick wandert noch einmal zum Himmel hinauf. Er wimmert in meinem Schoß, wird gleich sterben, wenn ich mich nicht beeile.

Zeit für Neumond.

Mit dem erlösenden Geräusch der Verdammnis gräbt sich die Klinge in meinen Unterarm.
 

† Endlich gehörst du mir †



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2007-03-13T18:52:35+00:00 13.03.2007 19:52
du hast die Gefühle von ihm sehr gut rüber gebracht
bin grad ein wenig mies drauf und da hilft deine story mir wirklich.
danke das du sie geschrieben hast
Von: abgemeldet
2007-02-02T15:53:46+00:00 02.02.2007 16:53
schönschön wie du das beschreiben hast ist der reinste wahnsin
die gefühle so rüber zubringen*klatsch*
schreib weitere so`ne Storys*liebguck*

bye brina
Von: abgemeldet
2005-08-13T15:26:18+00:00 13.08.2005 17:26
haha,
super ... gefällt mir ... du kannst sehr gut beschreiben und die stimmung kommt dadurch beim leser gut rüber ^_____________________^
werd ich weiter empfehlen
Von: abgemeldet
2005-03-02T12:31:12+00:00 02.03.2005 13:31
dito, sehr geiles Stückchen. Ich würde mir zwar wünschen, dass du am Spiegel weiterschreibst, aber einen so bei Laune zu halten ist auch sehr nett ^^
Von: abgemeldet
2005-02-28T15:29:48+00:00 28.02.2005 16:29
Böse ryu, ganz böse ryu! Weißt du, was man nachts eigentlich machen sollte, vor allem wenn man am montag neben einer sehr wachen fin sitzt? schlafen....

Aber zu der Geschichte... T_______T Ich find sie toll, sehr gefühlsvoll geschrieben und zum Heulen schön!
Hach, schreib mehr so one-shots!!!

fin


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