Act I: Und
plötzlich warst du
da
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"Im Fallen
Sind die Kirschblüten
Noch schöner. Ist irgendetwas von Dauer
In dieser schmerzerfüllten Welt?"
~aus den "Erzählungen von Ise" Kap. 82 (9.Jahrhundert)
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Akamatsu-san[1] beendete die zweite Unterrichtsstunde dieses
Tages und entließ ihre Schüler.
Shinju[2] nahm seine Schulsachen und packte sie zurück in seine
Tasche, dann erhob er sich beinahe lautlos und wollte seinen
Mitschülern aus dem Raum folgen, die bereits davon gestürmt
waren, um in der Pause auf ihre Zimmer oder nach draußen zu
gehen.
Jetzt im Spätfrühling waren die Gärten und Wälder auf dem
Grundstück des japanischen Internats wirklich wunderschön und
Shinju konnte sich gar nicht satt sehen an der bunten Pracht.
Doch unerwartet hielt die Lehrerin den stillen Schüler zurück.
"Sensei[3]?", fragte Shinju leise.
Er mochte die zierliche, noch recht junge Frau, die ihn unter
anderem mit großem Erfolg die japanische Sprache lehrte, zudem
seine Klassenlehrerin war und ihm nun eines ihrer sanften Lächeln
schenkte. "Ich wollte dir mitteilen, dass der neue Schüler dir
zugeteilt wird, Shinju-kun[4]."
"M-mir, Sensei?", vergewisserte sich Shinju ängstlich. Er war gerade
ein halbes Jahr lang im Internat: In der letzten Hälfte des
vorangegangenen Schuljahres war er in die Schule nahe der alten
Kaiserstadt Kyoto eingewiesen worden, als er mit seinem
japanischen Vater aus Europa zurück nach Japan, genauer gesagt
Tôkyô, gekehrt war, damit sein Vater die Firma, wegen der er mit
seiner Frau(die wenige Jahre später nach einer schweren Krankheit
gestorben war) und seinem Sohn viele Jahre im Ausland gelebt
hatte, von Shinjus Großvater übernehmen konnte.
Nun war es Anfang April und pünktlich mit der Kirschblüte hatte das
neue Schuljahr begonnen.
Wie nicht anders erwartet, hatte er keine Freunde gefunden und
würde sie auch in diesem Schuljahr ganz bestimmt nicht finden, was
allerdings wenigstens seinen Noten zugute kam, sodass sich Shinju
damit trösten konnte, überall der Beste oder wenigstens _einer_ der
drei Besten zu sein. Manche waren sogar nett zu ihm, doch näher
anfreunden mochte sich keiner und die meisten der Jungen
verspotteten und bedrängten ihn wegen seiner stillen Art und seiner
androgynen Schönheit, seinem trotz des regelmäßigen Sports fast
zierlichen, schlanken Körperbaus. Allein die Mädchen mochten ihn,
doch natürlich wurden die Mädchen und Jungen voneinander
getrennt untergebracht und unterrichtet. Außerdem konnte er
durch viele schlechte Erfahrungen einfach nicht mehr das Vertrauen
aufbringen, sich jemandem zu öffnen, und mied so gut als möglich
die nähere Gesellschaft anderer Leute, um nicht eines Tages von
ihnen verletzt zu werden, so wie es früher oder später immer
geschah. Er war wirklich froh darüber gewesen, dass er durch eine
Fügung des Schicksal ein Doppelzimmer ganz für sich allein bekam.
Und jetzt hatte er zugegebenermaßen Angst, dass ihm nun auch
noch die wenigen Stunden seiner Freizeit geraubt würden, in denen
er sich, ganz mit sich allein, dem widmen konnte, was ihm Freude
machte, in denen er fast immer jeglichem Ärger mit den anderen
Jungen aus dem Weg gehen und friedliche Stille genießen konnte.
"So ist es, Shinju-kun", lächelte Akamatsu-san. "Er wird im Laufe
des Tages beginnen, dem Unterricht beizuwohnen, da er erst heute
früh nach Schulbeginn angekommen ist und er erst noch ein
Gespräch mit dem Direktor führen und sich einrichten musste. Wir
konnten dich leider nicht früher darüber informieren. Durch ein
kleines Missverständnis haben wir ihn seinem Alter nach in der
elften Klasse eingestuft, doch er hat eine lange Krankheit hinter
sich, weswegen er noch einmal die Klassenstufe Zehn besuchen
wird. Und da du ein Doppelzimmer für dich allein hast, wird er nun
die andere Hälfte des Zimmers bekommen. Ich habe versucht mich
für dich einzusetzen, weil ich weiß, dass du lieber für dich allein
bist, doch es war abzusehen, dass es mir nicht gelingen würde. Es
wäre unrecht einzelne Schüler zu bevorzugen... Gomen ne[6],
Shinju-kun, aber ich habe bereits mit ihm gesprochen und Hisui[7]
Shiro[8] ist ein sehr charmanter, netter junger Mann. Er hat auf
mich einen zwar sehr selbstbewussten, aber ebenso freundlichen
und offenen Eindruck gemacht und ich denke nicht, dass ihr
Probleme bekommen werdet. Ich könnte mir sogar gut vorstellen,
dass du und er gute Freunde werdet." Sie fuhr ihm mit einer
mütterlichen Geste durch das Haar. Tatsächlich schien sie es sich in
den Kopf gesetzt haben, ihm die Mutter zu ersetzen, sobald sie
erfahren hatte, dass Shinjus leibliche Mutter immer viel zu
beschäftigt gewesen - wenn auch um ihm ein gutes Leben und vor
allem eine sehr gute Schule zu ermöglichen - und schließlich
verstorben war.
Shinjus Wangen und selbst seine Nasenspitze färbten sich rot vor
Verlegenheit. "Akamatsu-san", machte er errötend und tauchte
unter ihrer Hand weg.
"Gomen", lachte sie. "Jetzt habe ich deine Haare ganz
durcheinander gebracht."
Tatsächlich war es auf der Internatsschule auch Jungen erlaubt,
ihre Haare lang zu tragen, was Shinju sehr erleichtert hatte, denn
er trug sein Haar gerne lang, auch wenn er so noch androgyner
bzw. fast feminin wirkte.
"Nicht so schlimm", murmelte er.
Sie lachte nur hell und machte dann eine scheuchende Geste. "So,
ich habe dich nun lang genug von deiner wohlverdienten Pause
abgehalten, also mach, dass du an die frische Luft kommst und ein
bisschen Farbe bekommst!"
Shinju verbeugte sich nur leicht vor ihr, was zeigte, wie vertraut sie
miteinander waren. Die meisten der anderen Schüler verbeugten
sich viel tiefer, so wie bei einer Respektperson - eben etwa einem
Lehrer - üblich. Dann rückte er den Riemen seiner Tasche zurecht,
lächelte Akamatsu-san noch einmal schüchtern zu und verließ wie
geheißen den Raum.
Wie immer spazierte er zu dem kleinen See der von den malerisch
blühenden Sakurabäumen[9]umsäumt wurde.
Jeder wusste, dass man nur zu der großen Trauerweide gehen
musste, wenn man ihn suchte. Da Trauerweiden jedoch nach dem
alten japanischen (Aber-)Glauben oft von den Yurei, einer Art
Gespenster, wie z.B. Rachegeister und Widergänger, bewohnt
wurden, hatte Shinju unter der Trauerweide zumeist seine Ruhe,
weil die allermeisten diesen Baum mieden. Da er aber nun mal seine
Kindheit und Jugend größtenteils in Deutschland verbracht hatte,
und sie einmal eine wunderschöne Trauerweide im Garten gehabt
hatten, verstand er zumindest diesen Aberglauben überhaupt nicht
und kümmerte sich auch nicht weiter darum, denn er hatte a)
nichts gegen Vampire und Co., sondern fand sie im Gegenteil
wahnsinnig spannend b) hatte er keine Ehefrau, die er hätte
ermorden können und c) auch keine Geliebte, der er hätte untreu
werden können.
In einiger Entfernung konnte er schon seine geliebte Trauerweide
ausmachen, unter der er so manche stille Stunde mit Tagträumen
verbracht hatte. Von hier musste er nur noch auf dem Weg
geradeaus gehen, bis er die Wiese betrat, also schloss er genießend
die Augen und sog tief die frische, süßduftende Luft ein, nahm sie in
sich auf wie einen Teil seiner selbst.
Als er das weiche, grüne Gras betrat, öffnete er die Augen und
erlebte eine Überraschung: Er war nicht allein.
Am Ufer des Sees stand unter der Trauerweide ein junger Mann,
der, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, die Uniform-
Jacke[10] geöffnet und das Hemd bis zur Brust aufgeknöpft, zwar
mit festem Blick über den See blickte und doch sehnsuchtsvoll in
fremde Fernen zu schauen schien, die nur er allein in seinen
Träumen besuchen konnte.
Er wusste nicht wieso, doch Shinju hatte das untrügliche Gefühl,
dass der Junge ebenso einsam war wie er, wenn vielleicht auch aus
einem ganz anderen Grund als er selbst.
Shinju wusste, dass er diesen jungen Mann nicht kannte, der trotz
seines gewiss nicht allzu hohen Alter fast seltsam erwachsen
wirkte. Sein langes Haar, das dem Jungen bis zu den unteren
Ansätzen der Schulterblätter reichte, bekam im Sonnenlicht
ungewöhnliche tiefblaue Reflexe und sein leicht kantiges Gesicht
und sein schlanker aber athletischer Körper waren so
ausdrucksstark und von solcher Eleganz, die man einfach nur als
japanisch bezeichnen konnte, dass ihn Shinju sicherlich jederzeit
wiedererkannt hätte. Außerdem informierte sich Shinju immer über
seine Schüler, damit er wusste, wem er aus dem Weg gehen
musste, und den Jungen vor sich hatte er noch nie zuvor gesehen.
/Ob er Hisui Shiro ist?/, überlegte Shinju und musterte die Gestalt
nachdenklich, während er sich vorsichtig näherte. Er wusste nicht
warum, aber er wünschte es sich. Der junge Mann strahlte eine
merkwürdige, fast melancholische, aber trotzdem erfrischende Aura
aus, vielleicht so wie ein sanfter Sommerregen, und was Shinju
verwirrte: der Fremde war ihm sofort sympathisch.
"Ein hübsches Plätzchen hast du dir ausgesucht, Kimura-kun",
bemerkte Shiro und drehte sich mit einem leichten Lächeln zu ihm
um, musterte ihn unverhohlen von oben bis unten und nickte dann
zufrieden.
Shinju dagegen blieb wie vom Blitz getroffen stehen, wurde
mucksmäuschenstill und wagte es nicht, etwas zu sagen. Er konnte
es sich nicht genau erklären, doch obwohl von Shiro - wenn er es
denn war - keine Bedrohung für ihn auszugehen schien, klopfte sein
Herz doch so kräftig, dass es sich anfühlte, als wolle es im
nächsten Moment seinen Brustkorb sprengen.
Shiro seufzte. "Aber sonderlich gesprächig bist du wirklich nicht",
ergänzte der Schwarzhaarige und streckte die Hand aus.
Shinju zuckte erschrocken zusammen und wartete zitternd und mit
eingezogenen Kopf, dass etwas geschah.
Doch es geschah nichts. Shiro sah ihn nur selbst leicht erschrocken
an, zog dann kopfschüttelnd seine Hand zurück. "Dann eben so",
sagte er schulternzuckend und verbeugte sich leicht vor ihm, so als
kannten sie sich schon ewig[11].
Zögernd tat Shinju es ihm gleich, verbeugte sich aber
unbeeindruckt in einem Fünfundvierziggradwinkel. "Shiro-kun, nehme
ich an? Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen", sagte er leise
und mit mehr Sicherheit in der Stimme als er tatsächlich verspürte.
Shiro hob fragend die Augenbraue, zuckte dann aber mit den
Achseln. "Ehre... na ja... Zumindest ist es _mir_ eine Freude... Aber
sag mal, ich dachte du hast in Deutschland gelebt? Dann müsstest
du es doch eigentlich gewohnt sein, wenn man dir die Hand gibt,
oder?"
Er blinzelte und wurde dann rot.
/Oh/, war das einzige, was Shinju denken konnte, doch dann
ärgerte er sich. /Aho[12]! Natürlich wollte er dich nicht schlagen -
er kennt dich doch überhaupt nicht!/
/Na und? Yokomitsu kennt dich _noch immer_ nicht und.../,
bemerkte eine andere Stimme in seinem Kopf.
Ärgerlich schüttelte Shinju den Kopf.
"Nicht?", fragte Shiro ungläubig.
"Äh, was?", machte Shinju verwirrt.
Shiro lachte nur, zog ihn in den Schwitzkasten und wuschelte ihm
durch die Haare. "Na du bist mir vielleicht einer! Erst unschuldige
Jungfrau spielen und dann nicht mal zuhören!"
Zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein und befreite sich
schnell aus der ungewöhnlichen Nähe, nahm unbewusst eine ihm
schutzbietende Abwehrhaltung ein. "Lass das!", fauchte er.
Shiro antwortete nicht, runzelte nur schweigend die Stirn ob seiner
defensiven Haltung. "Ist ja schön und gut, wenn du dich deiner
Haut erwehren kannst, Kleiner, aber _die_", er deutete auf Shinjus
geballte Fäuste, "wirst du bei mir nicht brauchen."
Der Kleinere knirschte mit den Zähnen, gab seine Hab-Acht-Stellung
auf und schob sich betreten eine vorwitzige Strähne der
seidigglatten und flaumweichen haselnussbraunen Haare hinter das
linke Ohr, die ein weiterer Grund für die ständigen Hänseleien waren.
"Ich mag dich nämlich, denke ich", lächelte Shiro gutmütig und
klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, bevor er sich
umdrehte und an den Stamm der Weide gelehnt hinsetzte.
Abwartend sah er zu Shinju auf.
Der konnte nur verwirrt zu dem eigentlich viel Größeren hinunter
blicken. /Meint er das im Ernst?/
Zögerlich kam er heran, stellte seine Tasche ab und lehnte sich im
Stehen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am Stamm
des uralten Baumes an, der ihm ein sonderbares Gefühl der
Sicherheit vermittelte. "Woher willst du das wissen?", fragte er
leise, blickte starr auf den See hinaus.
Shiro zuckte mit den Schultern. "Ich habe ja nicht behauptet, dass
ich es weiß. Aber ich denke es halt. Ist doch egal, warum!"
Shinju schüttelte bedächtig den Kopf, ließ sich aber doch neben
Shiro sinken. "Da bin ich-"
"... anderer Meinung, ich weiß", unterbrach Shiro ihn, ohne sich
dafür zu entschuldigen. "Aber das ist mir völlig egal! Wenn ich
jemanden mag, dann mag ich ihn halt. Basta! Was kann ich dafür,
wenn du mir gefällst?"
Schon wieder hatte er es geschafft: Shinju wurde rot.
"Und schließlich müssen wir uns von nun an ein Zimmer teilen, da
kann das doch nur von Vorteil sein, oder?", plauderte Mr. Mein-
Selbstbewusstsein-toppst-du-mit-deiner-Schüchternheit-ganz-
bestimmt-nicht ungezwungen weiter.
Der Braunhaarige nickte langsam, zuckte gleichzeitig mit den
Achseln. "Schon..."
"Na also!", kam es zufrieden von seiner Seite.
Shinju zog unwohl die Knie an und umschlang sie mit den Händen.
Andererseits schien Hisui Shiro wirklich anders als all die anderen -
nämlich _nett_ und _freundlich_ und vor allen Dingen
_unvoreingenommen_ - zu sein und Shinju wollte es sich nicht mit
ihm verscherzen. Besonders nicht, wenn man bedachte, wie Recht
der Junge neben ihm doch hatte: Es konnte nur von Vorteil sein,
sich mit seinem Zimmernachbarn zu verstehen - ganz besonders,
wenn man so einsam war wie Shinju. Also fragte er leise: "Warst du
etwa auch einmal in Europa? Oder Amerika?"
"Ich habe in England und in der Schweiz gelebt", gab Shiro
bereitwillig Auskunft. "Meine Eltern sind beide Japaner, aber mein
Vater war Diplomat, deshalb hab ich die wenigste Zeit meines
bisherigen Lebens hier in Japan verbracht." Er zuckte mit den
Achseln und seufzte. "Vor einem Jahr sind sie bei einem Autounfall
ums Leben gekommen und ich wurde schwer krank. Als ich wieder
gesund war, beschloss ich in mein Geburtsland zurückzukehren. Es
war zwar schön in England und der Schweiz, aber... na ja... die
Erinnerung... und so... du verstehst..."
Shinju zuckte zusammen und sah entgeistert zu dem
gutaussehenden Japaner neben ihm, der unterdessen die Augen
geschlossen hatte und nun traurig lächelte. "Und das sagst du mir
so einfach?", wollte er wissen und schnappte nach Luft.
Sein neuer Zimmernachbar zuckte nur mit den Schultern. "Warum
nicht? Ich hatte nicht das Gefühl, dass du ein gefühlloser Klotz bist
und dich darüber lustig machen würdest."
"Aber... aber..."
"Mund zu - es zieht", lachte Shiro. "ICH lebe noch, oder? Und was
einen nicht umbringt, dass macht einen stärker..."
"Aber...", machte Shinju hilflos.
Shiro lächelte ihm mit einem seltsamem Ausdruck zu, der ein Gefühl
der Wärme in Shinju aufsteigen ließ. Und noch während der Ältere
sagte "Du willst das sicher nicht hören, aber du bist wirklich
niedlich, weißt du das?", wurde Shinju klar, woher er den Ausdruck
kannte: Akamatsu-san legte ihn auf, wenn sie ihn mit einer ihrer
liebevollen, mütterlichen Gesten bedachte. Nur dass Shiro wohl
kaum Vatergefühle für ihn hegte. Was also war es, dass...
"Was haben wir eigentlich als nächstes?", unterbrach Shiro seine
Gedankengänge.
Verwirrt blinzelte Shinju. "Hast du denn keinen Stundenplan
bekommen?"
"Doch. Aber erstens hab ich ihn mir nach einmal draufschauen und
ihn dann in die Ecke schmeißen bestimmt nicht gemerkt, zweitens
machst du dir eindeutig zu viele Gedanken - worüber auch immer -,
sodass ich dich ja irgendwie ablenken musste und drittens war es
ein guter Grund, ein neues Gespräch anzufangen, bei dem du die
Farbe betreffend nicht gleich wieder den Sakura Konkurrenz
machst!", erwiderte der Größere nonchalant.
"Und wag es ja nicht, zu denken, ich würde mich über dich lustig
machen!", fügte er mit einem Blick auf den an seiner Unterlippe
kauenden Shinju zu. "Das war nämlich nicht meine Absicht!"
Der Kleinere gab es auf und seufzte nur ergeben: "Mathe."
"Wie?"
"Wir haben als nächstes Mathe."
"Oh, ach so... Was steht denn an, hast du ne Ahnung?"
"Wie wäre es, wenn du mal dein Buch aufschlägst?", schlug Shinju
augenrollend vor.
"Kein guter Vorschlag, wenn ich stattdessen auch deinen äußerst
charmanten Vorträgen lauschen kann", grinste Shiro.
Shinju wollte murrend aufstehen, doch Shiro hielt ihn zurück. "Hier
geblieben! Ich bin neu und als mein Zimmernachbar bist du
verpflichtet, mir alles zu zeigen und darauf aufzupassen, dass ich
nicht verloren gehe!"
"Hierher bist du ebenfalls ohne meine Hilfe gekommen und ich bin mir
sicher, dass du mich auch sonst nicht brauchen wirst - die
Mädchenumkleiden findest du ganz bestimmt allein!", versetzte
Shinju missgelaunt und sprang nun wirklich auf. Von wegen, sein
feiner neuer Zimmernachbar wollte sich nicht über ihn lustig
machen!
Der gab jedoch nur ein anerkennendes Pfeifen von sich. "Na hör mal
einer an. Da legt ja einer ganz schön Courage an den Tag..." Doch
plötzlich entfachte sich die Panik wie ein hellloderndes Feuer in ihm.
Unmerklich zitternd spürte Shinju, wie der andere näher kam. Mit
einem Mal bekam er Angst vor dem Jungen in seinem Rücken.
Unsicher wich er einen Schritt nach vorn, wollte sich dabei
umdrehen, damit er sehen konnte, wie der andere reagieren würde,
doch in diesem Moment hatte Shiro ihn auch schon bei einem
Handgelenk gepackt, zurückgezogen und mit seinem eigenen Körper
gegen den breiten Stamm der alten Weide gepresst.
Er _wusste_ einfach, dass man sein lautklopfendes Herz bis nach
Tôkyô hören konnte. Warum also kam niemand, und half ihm?
"Shiro-kun, ich..."
Ängstlich versuchte er sich unter dem muskulösen Körper
hervorzuwinden, doch die kräftigen, nichtsdestotrotz sehr schönen,
langen und feingliedrigen Finger hielten ihn unerbittlich dort wo er
war und Shinju konnte den gemächlichen Rhythmus spüren, der von
einer ganz bestimmten Stelle in Shiros harter Brust ausging.
Er war Nähe nicht gewöhnt und bis auf Akamatsu-san hatte der
sowohl körperliche als auch soziale Kontakt zu einem anderen
Menschen nie etwas Gutes für ihn zu bedeuten. Umso nervöser
machte ihn Shiros straffe aber weiche Haut auf seiner eigenen,
umso furchtsamer ließ ihn Shiros maskuliner mit einem gut
riechenden Männerparfüm vermischter Geruch werden und auch die
langen seidigen Strähnen, die von der Stirn des Größeren, der sich
nun zu ihm herunterbeugte, in Shinjus Gesicht fielen und ihn so sehr
kitzelten, bis ihn nur noch ein Reflex rechtzeitig aus dem Bann
dieser unglaublichen schwarzen Augen reißen und davor bewahren
konnte, Shiro mitten ins Gesicht zu niesen.
"Gesundheit, Kimura-kun", sagte Shiro leise und etwas im Ton
seiner Stimme ließ den Jüngeren erschauern. Ob im positiven oder
negativen Sinne wusste er selbst nicht mehr zu sagen.
"Danke, Shiro-kun", antwortete er leise, ohne ihn anzusehen.
Eine starke Hand schloss sich um sein Kinn und zwang ihn mit
sanfter Gewalt dazu, ihren Besitzer wieder anzusehen. "Nicht Shiro-
kun! Wenn, dann _Hisui-kun_!", wies er ihn streng zurecht.
Atemlos nickte er und wünschte sich gleichzeitig einfach nur ganz
schnell an einen anderen Ort, wo er allein und in Sicherheit war.
Sein Gegenüber kniff abschätzend die Augen zusammen, doch dann
nickte er schließlich leicht und Shinju wollte bereits erleichtert
aufatmen und sich vorsichtig losmachen, als er plötzlich...
...als er plötzlich noch einmal aufblickte und erneut von den
schwarzen Iriden[13] gefangengenommen wurde.
"Hisui-kun, ich...", machte Shinju verunsichert. In die Augen des
Schwarzhaarigen war plötzlich ein seltsam verlangender, ja
_erregter_ Blick getreten, der ihm Angst machte. Besonders, als er
spürte, wie der Blick der zwei schwarzen Tiefen begann, über die
feingeschnittenen Konturen seines Gesichts, seines Mundes und
schließlich über einen Punkt seitlich an seinem Hals zu gleiten.
Und was immer er auch glaubte, dass sein, wie er gestehen musste,
sehr attraktives - ja _schönes_ - Gegenüber nun tun würde, er
hatte plötzlich das konfuse aber unmissverständliche Gefühl, Shiro-,
nein Hisui-kun von etwas abhalten zu müssen.
Und ehe er sich versah hatte Shinju es auch schon getan...
...indem er seine leicht vor Aufregung und _Angst_ zitternden
Lippen auf den fremden, doch sonderbar einladend wirkenden Mund
legte und ihn zaghaft küsste.
Hisui gab einen überraschten Laut von sich und unwillkürlich
versteifte sich Shinju, harrte eines Schlages oder etwas ähnlich
Schmerzhaftem.
Doch stattdessen fühlte er im nächsten Moment, wie Hisuis Hände
Shinjus Handgelenke freigaben, damit die eine in seinen Nacken
finden und der andere Arm sich um seine Hüfte legen konnte,
sodass Shinju eng umschlungen und besitzergreifend an Hisui
gepresst wurde. Gleichzeitig öffneten sich die hungrigen Lippen des
Schwarzäugigen und eine heiße, weiche Zunge fuhr feuchte Spuren
über seine Unterlippe, ließ Shinjus Wangen vor Scham erröten, als
sie sanft anfing, die empfindlichen Mundwinkel zärtlich zu necken.
Shinju sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, doch
anstatt ihn in Ruhe zu lassen, nutzte Hisui die Gelegenheit und glitt
in die feuchtwarme Höhle seines Mundes, berührte und erforschte
das weiche, unbekannte Fleisch, umspielte neugierig die immer
wieder vor ihm zurückschreckende Zunge.
Ein amüsierter Laut war von Hisui zu vernehmen, als er seine Hand
in Shinjus weiches Nackenhaar vergrub und vorsichtig so daran zog,
dass sich ihm Shinjus Gesicht noch etwas mehr zuwandte, dann
begann er den fremden Nacken zu kraulen, während er mit seiner
Zunge fragend und doch spielerisch kitzelnd über Shinjus Gaumen
strich und so noch mehr Schamesröte in sein Gesicht trieb.
Und von einem Moment auf den anderen hatte Shiro Shinjus Zunge
geschickt in die Enge getrieben, sie gestellt und fing schamlos an,
sie zu umschmeicheln, sie werbend mit der eigenen zu umfahren.
Shinju wurde schwindelig und er fühlte sich, als hätte ihm jemand
den Boden unter den Füßen weggezogen, geradeso als hätte er
eben noch auf einer Tatami[14] gestanden. Doch wie er sich
errötend klar wurde, hatte dieses wortwörtlich erschreckend schöne
Gefühl bestimmt nichts damit zu tun, dass er allmählich keine Luft
mehr bekam.
Als ihm die Luft jedoch wirklich zu knapp wurde und Hisui immer
noch nicht gewillt war, aufzuhören, schaffte er es mit Müh und Not
seine Hände gegen die starke, steinerne Brust zu stemmen und ihn
mehr schlecht als recht von sich zu drücken.
"Hisui ich... kriege... keine... Luft... mehr", keuchte er.
"Tut mir Leid", schnurrte der mit reumütiger Stimme, sah aber ganz
und gar nicht so aus, als würde er seine Worte tatsächlich ernst
meinen.
Während sich Shinjus Lungen langsam beruhigten, klopfte sein Herz
nur noch schneller. Er... er hatte tatsächlich einen Mann geküsst...
Er hatte sich nicht "nur" küssen _lassen_ - er hatte ihn _von sich
aus_ geküsst!
Shinju riss die Augen auf als er sich der Tragweite seiner Gedanken
klar wurde.
"I-ich... oh Gott, ich...", stammelte er.
"Sh...", machte der Schwarzhaarige und küsste ihn kurz auf die
bebenden Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. "Hat es dir
gefallen?"
Der Kleinere schluckte hart, doch Kraft der Ungerechtigkeit dieser
Welt hatte er noch nie gut lügen können und selbst, wenn hätte er
es unter dem alles durchdringenden Blick der nun so unendlich
sanften, schwarzen Augen nicht gekonnt. Am ganzen Körper
zitternd, mit laut pochendem Herzen und aufgerissenen Augen
nickte er, weil seine Kehle plötzlich zugeschnürt war und seine
Wangen fühlten sich an als stünden sie in Flammen.
"Dann ist es gut", flüsterte Shiro leise lächelnd und vergrub sein
Gesicht genießerisch in der fast weißen Haut des Jüngeren.
In jenem Moment schoss plötzlich, ausgehend von seiner
Halsschlagader, ein unglaublich erregendes Gefühl von Leidenschaft
durch ihn, machte ihn in seiner verzückenden Sinnlichkeit trunken,
entführte ihn in eine entrückte, berauschende Welt voller bunter
Farben und so wunderschöner Empfindungen, wie Shinju sie nicht
einmal zu träumen gewagt hatte und er wünschte sich, dass dieser
unglaubliche Moment nie, nie zu Ende ginge.
Doch zu seinem Bedauern nahm es nur allzu schnell wieder ab und
noch gefangen zwischen Rausch und Wirklichkeit, meinte er zu
spüren, wie Hisui den einsamen Tropfen irgendeiner Flüssigkeit wie
etwa Blut oder Schweiß von der Länge seines Halses leckte.
Als Shinju jedoch über seinen Hals fühlte, ertastete er nur eine
warmfeuchte Spur über unversehrter, weicher Haut. Keine Wunde,
kein Schweißfilm.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
- - - - -
[1] "-san" ist das japanische Äquivalent zum deutschen
Herr/Frau/Fräulein, wobei es als Suffix _nach_ den Namen gesetzt
wird
[2] japanisch für: "Perle"
[3] japanisch für: "Lehrer"
[4] "-kun" ist eine weniger formelle Form des "Herr" und wird
ebenfalls als Suffix gebraucht. Es wird außerdem von Erwachsenen
zur Anrede jüngerer (Jugendlicher oder Kinder) benutzt aber die
,junge Generation' spricht sich auch gegenseitig damit an. Für
Mädchen wird jedoch oft auch "-chan"[5] verwendet.
[5] Namensuffix für Kleinkinder, niedliche Personen, Haustiere,
Kuscheltiere, etc. und oft auch Mädchen
[6] "Gomen ne" heißt "Tut mir Leid", ist also informell und "Gomen
nasai" ist die höflich-neutrale Version, also in etwa "Es tut mir
(sehr) Leid".
[7] japanisch für: "Jade"
[8] Shiro hat zwei Bedeutungen im japanischen (jedenfalls soweit
mir bekannt - und noch mal danke an Shu, die mich drauf
hingewiesen hat, dass ich beinahe vergessen hätte, das zu
übersetzen): Weiß oder Burg/Schloss
[9] Sakura wird die japanische Zierkirsche genannt, die in den
Farben weiß bis sattrosa äußerst schön blüht, jedoch keine
essbaren Kirschen hervorbringt, wie die hierzulande üblichen
Kirschbäume.
[10] Das Internat auf das Shinju geht, ist natürlich eine
Privatschule und bei Privatschulen in Japan ist es üblich, eine
Uniform zu tragen. Tatsächlich gibt es jedoch entgegen der
allgemein vorherrschenden Meinung auch einige staatliche Schulen,
bei denen das Tragen einer Uniform keine Pflicht ist.
[11] Für das Verbeugen, dass nicht nur zur Begrüßung sondern
auch zum Bedanken und anderen Gesten dient, gibt es in Japan
zahlreiche Regeln, doch im Allgemeinen verbeugt man sich im
Stehen vor einer sehr gut vertrauten Person, wie etwa
Familienmitgliedern oder engen Freunden in einem Winkel von ca.
15°, ansonsten ist in den meisten Fällen eine Verbeugung von etwa
45° angebracht. Mit 90° verbeugt man sich normalerweise nur bei
Zeremonien, wie etwa bei Besuch eines Schreins oder eines
buddhistischen Tempels. Dabei hält man Rücken und Kopf in einer
geraden Linie. Wenn man sitzt streckt man die Arme nach vorn vor
die Knie, setzt die Fingerspitzen etwa 10cm voneinander entfernt
ab und beugt den Oberkörper von der Taille völlig gerade nach vorn,
sodass - wie im Allgemeinfall angebracht - der Abstand zwischen
Boden und Kopf etwa 20cm beträgt. Dabei ist auch die Atemtechnik
wichtig. Am üblichsten und einfachsten ist dabei reisansoke (drei
Atemzüge): Während des Herunterbeugens einatmen, in der
Beugung ausatmen und beim Aufrichten wieder einatmen.
[12] japanisch für (in etwa): "Dummkopf"
[13] Mehrzahl von Iris (=Regenbogenhaut um die Pupille)
[14] Tatami sind Matten aus Reisstroh, welches mit einem Geflecht
aus Binsen überzogen ist. Die Ränder sind mit einer Paspel, meist
aus Streifen feiner Seide, gesteppt. Die Größe ist genormt, ähnlich
wie bei uns Matratzen und ähnliches. Ihr Format beträgt etwa
180cmx90cm. Tatamis dienen zur Gliederung der Raumgrundfläche
und auch als Untergrund für das Futon[15]. Wer zu Besuch in Japan
ist, sollte es unterlassen auf die Ränder einer Tatami zu treten. Das
gehört einfach zur Etikette und hat wohl auch einen sehr alten
Hintergrund - allerdings habe ich den bis jetzt noch nicht wirklich
erfahren können ^.^
[15] Steppendeckenähnliches, japanisches Bettzeug, bestehend
aus Ober- und Unterdecken, dass als Schlafgelegenheit auf den
Tatami ausgebreitet wird und tagsüber in Wandschränken verstaut
wird. Übrigens nicht zu verwechseln mit den Futonbetten, die es
hierzulande zu kaufen gibt (also diesen großen und breiten Betten
mit breitem Rand und den Riesenmatratzen), aber auch sehr
bequem sind *ihr Freund eins haben und sie es lieben tut* ^.^
Act II: Drangst ein
in mein Leben
.
.
.
"I cannot find a way to describe it
It's there inside
All I do is hide
I wish that it would just go away
What would you do
You do if you knew
What would you do
(...)
I feel like I'm all alone
All by myself I need to get around this
My words are cold
I don't want them to hurt you
If I show you
I don't think you'd understand
'Cause no one understands" [1]
~ "Take me away" von Avril Lavigne aus dem Album "Under my
skin" ~
.
.
.
Gedankenverloren spielte er mit dem wunderschönen,
haselnussfarbenen Haar, das wie Seide durch seine langen Finger
glitt, sich nicht ein einziges Mal in ihnen verfing und dabei ein kühles
aber sonderbar... _weiches_ Gefühl auf den Innenseiten seiner
Finger zurückließ.
Ihm war klar, dass Shinjus ehemalige und jetzige Mitschüler wohl
kaum dasselbe Verzücken wie Hisui ob dieses unglaublich süßen und
warmen Blutes verspürten, denn Hisui bezweifelte, dass je einer von
ihnen versucht hatte, davon zu kosten. Doch während das fremde
Blut in ihn floss und seinen Körper, sein Herz wärmte, war auch ein
Teil von Shinjus Wesen in Hisui übergegangen. Ein Teil seines
Wesens und damit all seine Erinnerungen, seine Gedanken. Und Hisui
Shiro konnte einfach nicht verstehen, wie man einen so
wundervollen Menschen nicht mögen konnte.
Eine leichte, aber noch recht frische Nachtbrise, letzter Bote des
fast vergangenen eher kühlen Frühjahrs, umspielte ihn. Leise stand
er auf, um die Shôji[2] zuzuschieben, die bis eben einen
atemberaubenden Blick auf die Gärten und den See geboten hatte.
Sämtliche Wohngebäude des Internats waren noch von der
traditionellen Art und lagen in mehreren Ebenen, die durch zahllose
alte Holztreppen und Pfade miteinander verbunden waren, verstreut
auf einem Hang. Das alles entbehrte natürlich nicht eines gewissen,
einfach nur japanisch zu nennenden Charmes...
...doch Hisui hatte nichtsdestotrotz nur Augen für seinen neuen
Zimmernachbarn, hatte die Aussicht kaum beachtet, die nun durch
das dünne Reispapier verwehrt wurde.
Zugegebenermaßen war Hisui doch leicht erschrocken, als Shinju
plötzlich ohnmächtig in seine Arme gefallen war und für einen
unendlichen Moment hatte er ernsthaft befürchtet, zuviel getrunken
zu haben, obwohl er doch nur wenige Schlucke genommen hatte,
gerade genug, um das Feuer seines Verlangens nach diesem
scheinbar geschlechtslosen Knaben endgültig zu entfachen und
Shinjus Wesen in sich aufzunehmen, damit er den Jungen näher
kennen lernen konnte. Schließlich hatte er sich, was Blut und
Lebenswärme anging, bereits ausgiebig bei einem unglücklichen
Studenten im Zug nach Kyoto bedient, dem er im Tausch gegen
sein rotes Leben den ewig währenden Traum einer wundervollen
Unendlichkeit geschenkt hatte, nachdem Hisui selbst schon
tagelang kein Blut mehr zu sich genommen hatte. Tatsächlich war
dies auch nicht nötig. Das Blut hielt sich eine ganze Weile in seinem
Körper, je nach den Umständen eine Woche und mehr. Was jedoch
immer wieder erneuert werden musste, damit er wie ein ganz
normaler Mensch leben, schlafen, essen und trinken konnte, das
war die Körperwärme, die sein toter Körper nicht mehr - oder nicht
im ausreichenden Maße - selbst herstellen konnte, weil jegliche von
ihm selbst produzierte Wärme wie von einem schwarzen Loch
angesogen einfach in der Leere verschwand.
Mittlerweile war ihm natürlich klar geworden, dass es einfach nur
zuviel des Guten für den armen Kleinen gewesen war.
Entschuldigend strich er über die im Schlaf vollkommen glatte,
entspannte Stirn, war allerdings doch zufrieden mit sich, weil er mit
Fug und Recht behaupten konnte, dass es nur zuviel des _Guten_
für "Kimura-kun" gewesen war und es ihm somit gefallen hatte.
"Gib mir etwas Zeit", flüsterte er Shinju ins Ohr, der wie schlafend
in seinem Futon auf den Tatamiboden lag, sorgfältig mit der
Oberdecke des schlichten, schwarzen Bettzeugs zugedeckt. "Ich
verspreche dir... Bald wirst du mir gehören... mir ganz allein..."
Zur Antwort begannen Shinjus Lider zu flattern. Er träumte.
Doch sicher war er bald wach. Es war schon spät und die
Nachtruhe bereits eingetreten. Nur bei ihnen brannte noch das
ruhige, sanfte Licht einiger im Zimmer aufgestellter Windlichter. Der
Schularzt hatte sich Shinju noch einmal angesehen, ihnen beiden
das Abendessen auf das Zimmer bringen lassen und sich dann
verabschiedet. Und Hisui hatte indessen, wie der Schulobrigkeit und
sich selbst versprochen, an seinem Lager gewacht - und weiter den
bannenden Anblick der wunderschönen, beinahe weißen Haut und
dieser feingeschnittenen Züge in sich aufgenommen...
Vor einiger Zeit hatte sich dann die Ruhe des Schlafs über das
gesamte Internatsanwesen gelegt, doch in dem kleinen Haus, in
dem ihr Zimmer lag, herrschte von jeher eine zauberhafte Stille, die
nur durch das leise Murmeln eines klaren Baches vor der Terrasse
untermalt wurde. Sie beide ganz allein waren hier untergebracht,
was zum vielleicht gar nicht so hohen Preis einer gewissen
Einsamkeit den Vorteil mit sich brachte, dass sie das Ganze ohnehin
nur sehr kleine Haus für sich allein hatten, ja selbst das Bad mit der
kleinen Onsen[3]. Wenn man die normalen Gegebenheiten in Japan
betrachtete, so war die Privatsphäre, die sie so erhielten und Zufall
und Einsamkeit gemeinsam geschaffen hatten, ein wahres Kleinod.
Mochte sein, dass der Weg bis zum eigentlichen Schulgebäude oder
dem Essensaal und überhaupt allen "wichtigen" Orten auf dem
Anwesen von hier im Vergleich gesehen sehr weit entfernt waren,
aber dafür konnte wohl nicht einmal der Schuldirektor von sich
behaupten, mehr Intimsphäre zu besitzen - denn die nächsten
menschlichen Lebewesen waren mindestens 15 Meter weit entfernt,
getrennt durch eine schmale hölzerne Treppe und einige, wenn
auch nicht sehr tondämpfende Wände.
Ja, jetzt waren sie ganz allein und der einzige, der sie noch
beobachten mochte, war der helle Vollmond hoch oben am
Firmament...
Shinju blinzelte leicht und stöhnte leise, während er die Augen
aufschlug und ihn verwirrt ansah.
Hisui dagegen lächelte.
"...Hisui-kun? Wo bin... was ist passiert?", nuschelte Shinju
schläfrig und mit schwerer Stimme, als wäre er noch immer in
seinem Traum gefangen.
Der Vampir[4] beugte sich mit einem schmalen Lächeln zu Shinju
hinab, drückte seine Lippen sachte etwas unterhalb des verlockend
pulsierenden Ohrläppchen auf die noch schlafwarme Haut und
hauchte dem Erwachenden leise ins Ohr: "Du bist ohnmächtig
geworden..."
"Ohnmächtig?", wiederholte Shinju leicht verstört und drückte ihn
weg, jedoch nur um ihm in die Augen sehen zu können, denn als
sich Hisui aufrichten wollte, hinderten ihn zwei schlanke, vom Schlaf
entkräftete Hände, die sich im Stoff seines Hemdes vergraben
hatte, daran.
"Ohnmächtig", bestätigte Hisui leicht belustigt aufgrund des
verdutzten Gesichtsausdruckes.
Mit schlafroten Wangen kniff Shinju die Augen zu und fuhr sich
angestrengt durch das Haar, was jedoch nicht viel half. "Ich weiß
gar nichts mehr... totaler Black-out...", flüsterte er und man musste
kein Vampir sein, um die Beunruhigung in seiner Stimme
herauszuhören. "Nur noch, dass ich...", seine Stimme senkte sich
furchtsam zu einem bloßen Hauch, "dass ich dich beleidigt habe..."
Hisui lächelte weiterhin, brachte den armen Shinju so vollends aus
dem Konzept. "Soll ich dir ein bisschen auf die Sprünge helfen,
Shinju?"
Der Jüngere schielte unsicher aus seinen azurblauen Augen unter
einer langen, braunen Haarsträhne hervor. Ja, er hatte durchaus
japanische Züge, besonders die Augenform, doch ansonsten hatten
sich die Götter wohl in den Farbtöpfen vergriffen. Hisui für seine
Wenigkeit hatte jedenfalls noch nie einen _vollblütigen_ Japaner mit
hellbraunen Haaren und hellblauen Augen gesehen, wenn er nicht
mit Haarfärbemitteln und Kontaktlinsen nachgeholfen hatte.
Behutsam strich er die kecke Haarsträhne hinter Shinjus Ohr. "Nun?"
Zaghaft ob Hisuis verwirrender Freundlichkeit nickte der Kleinere,
kam etwas höher, indem er sich mit den Ellbogen auf seinem
Bettzeug abstützte, sodass sein - um das Atmen zu erleichtern -
bis zum Bauch geöffnetes Hemd verrutschte.
Nonchalant wanden sich Hisuis Hände streichelnd an Shinjus
entblößten Seiten vorbei und verschränkten sich in seinem Rücken,
umschlangen seine Arme den zarten Körper und hoben ihn sich
entgegen, sodass sein Mund zu dem begehrten Tor aus rosenem
Blütenschaum fand, sich zärtlich darauf legte.
Shinju gab einen leisen, unartikulierten Laut der Überraschung von
sich und Hisui legte den plötzlich aller seiner Kräfte beraubten
Jungen schon nach kurzer Zeit zurück in sein Bettzeug. Er wollte die
Lust in sich nicht erneut wecken - noch nicht... Erst musste sich
Shinju erinnern.
Auch den letzten Hauch dieses Kusses genießend, fuhr sich der
Ältere mit der Zunge über seine Lippen, fragte leicht amüsiert: "Und
nun? Weißt du es nun wieder?"
Er wurde hilflos aus zwei himmelfarbenen Perlen angeblickt.
Als könne er es nicht fassen, fuhr sich Shinju über seine Lippen,
tastete fast vorsichtig seinen Mund ab. "Du... du hast mich ja
geküsst!", entfuhr es ihm bestürzt.
Hisui lachte amüsiert. "Ja, allerdings..."
"A-Aber...", die Augen des Kleinen wurden groß unter der
plötzlichen Erinnerung. "und... ich dich auch..."
Mit einem fast gefährlich lasziven Blick beugte sich der Vampir über
Shinju, zog vorsichtig das Hemd aus der Hose des Jüngeren, strich
ohne ihren Blickkontakt zu unterbrechen mit seinen Lippen liebevoll
über die schöne Wölbung eines zarten Hüftknochens.
Shinju wagte es nicht einmal mehr unter seinen Berührungen zu
atmen und Hisui spürte wie der Kleinere leicht erschauerte, seine
Hüfte leicht zu zittern begann.
"Was... was machst du da?", fragte Shinju schwach.
Hisui antwortete nicht, fuhr stattdessen weiter nach oben, neckte
zärtlich die hübsche Vertiefung seines Bauchnabels, streichelte mit
seinen Lippen, die sich in ahnungsvoller Erwartung aufrichtenden
Brustwarzen, umwarb die zerbrechliche Linie des fein
geschwungenen Brustbeins.
"Magst du das?", fragte Hisui leise, war selbst ein wenig erstaunt
über den leicht angerauten Ton seiner sonst so samtigweichen,
fließenden Stimme.
"Ja...", hauchte Shinju bebend, nicht fähig sich von den magischen
Rabenaugen des Vampirs abzuwenden.
Trunken von dem lieblichsüßen Duft des Knaben unter ihm, ließ er
eine Hand unter Shinjus Becken gleiten, hob es leicht an, bis der
Jüngere von selbst den Rücken durchbog und sich hilflos und nur
einer leisen inneren Stimme folgend an den über ihn gebeugten
jungen Mann drückte. Sachte ließ der seine Zunge über die gesamte
Länge des mondlichthellen Halses, über das schöne Ohrläppchen,
die einladend vollen Lippen streichen, knabberte schließlich leicht an
jenen, ohne sie jedoch des warmen Blutes zu berauben, dass unter
ihnen lag.
"Hisui-kun", kam es wie ein schwacher Hauch an sein Ohr
geschwebt, "Das... wir dürfen das nicht tun..."
"Aber es gefällt dir", wandte Hisui leise ein. "Warum sollten wir es
dann nicht tun dürfen, Shinju, warum nicht?"
"Weil...", machte Shinju, hielt inne, als Hisui aufhörte ihn so zu
berühren, ihn nur noch aufmerksam betrachtete und einer
kommenden Antwort lauschte. Der Jüngere senkte mit brennenden
Wangen den Blick.
"Nicht aufhören...", flehte er wispernd wie ein leichter Windhauch.
Hisui lächelte liebevoll und schüttelte den Kopf. "Nein", erwiderte
er. "Ich werde nicht aufhören, wenn du es nicht möchtest..."
Fast wie von selbst glitt der dünne Stoff des leichten
Sommerhemdes von der seidigglatten Haut des Jüngeren. "Komm
her..."
Matt lächelnd schmiegte Shinju seine erhitzte Wange an die breite,
nackte Brust des Größeren.
Noch immer fast ehrfürchtig strich der Jüngere über die flache
Bauchdecke mit den sichtbar ausgeprägten aber nicht unschön
protzigen Bauchmuskeln, was sich ihr Besitzer gerne gefallen ließ.
Diese Fingerkuppen waren wirklich so geschmeidig wie angewärmte
Perlen und fuhren in ihrer Leichtigkeit einem Windhauch gleich über
seine Haut.
"Du bist so schön", flüsterte Shinju beinahe erstaunt. "Obwohl du
viel größer und muskulöser bist als ich, bist du schlank und
geschmeidig wie ein Weidenzweig. Und deine Haare sind wie
schwarze Silberfäden..."
Hisui lachte leise. "Du weißt nicht, was du da redest, Shinju - ich
bin nur makellos und anziehend, aber das hat nichts mit wahrer
Schönheit wie der deinen zu tun."
Shinju stemmte sich einen Moment in die Höhe, um verwirrt den
Blick der verträumt geschlossenen Augen zu suchen. "Wie meinst du
das?", wollte er wissen.
Der Vampir öffnete lächelnd die Augen. "Nicht so wichtig", erwiderte
er und hob sich das hübsche Gesicht zu einem flüchtig-zarten Kuss
entgegen, zog die schmale Gestalt dann wieder an sich und schlang
die wärmespeichernde Decke etwas fester um sie beide.
"Du _bist_ schön", widersprach Shinju nachdrücklich. "Wie eine
Kyotopuppe: Deine Haut ist weiß wie Porzellan, deine Augen sind
wie zwei Perlen aus poliertem Obsidian und du hast ganz feine, rote
Lippen, fast wie angemalt... Man sagt, Kyotopuppen sind irgendwie
unheimlich, aber du bist nicht unheimlich - nur schön..."
"Dann musst du aber ein Engel sein", neckte Hisui ihn und strich mit
seinen Lippen ziellos über das weiche Haar, die glatte Stirn, einzig
und allein in dem schlichten Bestreben, soviel wie möglich von dem
jungen Knaben in seinen Armen zu erhaschen.
Shinju sah ihn neugierig an. "Du kennst mich doch gar nicht!"
Hisui lächelte. "Vielleicht doch..."
Der Jüngere schüttelte ausdrücklich den Kopf. "Wir haben uns ganz
bestimmt noch nie zuvor gesehen!"
Ein wissender Ausdruck schlich sich in seine schwarzen Augen. "In
der Realität sicher nicht, aber... vielleicht in einem Traum?"
"Du bist komisch...", Shinju blies lautlos seufzend die Luft aus
seinen Lungen und strich wie suchend über Hisuis Halsbeuge, "aber
lieb."
Der Vampir lachte leise. "Ja, vielleicht bin ich das."
"Bist du", nickte Shinju und fügte leiser hinzu: "Deswegen mag ich
dich so."
Der Ältere drückte ihn schweigend an sich. "Du solltest noch ein
wenig schlafen, Shinju - morgen müssen wir sehr früh aufstehen."
Shinju schmollte leicht, gab aber klein bei und nachdem er ihm einen
Gute-Nacht-Kuss auf den roten Mund gehaucht hatte, schmiegte er
sich mit einem leisen "Oyasumi"[5] zufrieden an seinen großen
Freund und war bald darauf eingeschlafen.
War eingeschlafen, ohne es bemerkt zu haben.
Hisui setzte sachte einen Kuss auf die Stirn des Schlafenden. Nein,
er hatte es nicht gemerkt, hatte nicht gemerkt, dass Hisui kein
Mensch war - nicht mehr...
Leise und vorsichtig stand er auf um Shinju nicht zu wecken.
Obwohl der Kleine den ganzen Tag durchgeschlafen hatte, hatte er
die Erholung doch noch immer bitter nötig und Hisui wollte sie ihm
gewiss nicht rauben.
Shinju murrte leise im Schlaf und suchte seine Wärmequelle zu
halten, doch der Schlaf hatte ihn gänzlich seiner Kraft beraubt und
so fiel es dem Vampir nicht schwer, die schmalen Finger von seinem
Unterarm zu lösen.
So leise wie die japanische Schiebetüre geöffnet wurde, so leise
wurde sie auch wieder geschlossen und Hisui trat tief einatmend auf
die Terrasse.
Kein Laut, und sei er noch so leise, war zu hören, als sich Hisui von
der Kante der Veranda niederließ und baren Fußes die wenigen
Meter über das grüne Frühlingsgras bis hin zu dem kleinen lieblichen
Bach lief. Vollkommen nackt ließ er sich am Ufer des Bächleins auf
die Knie sinken, starrte auf das Spiegelbild des stummen, silbernen
Wächters hoch oben am dunklen Schleier der Nacht. Er wollte die
Oberfläche des klaren, kühl dahinfließenden Wassers berühren und
konnte es doch nicht, blickte stattdessen in das spiegelnde Nass
und konnte sich selbst doch nicht erkennen.
/Natürlich nicht... Baka[6]! Ein Vampir hat kein Spiegelbild, das weiß
doch jedes Kind.../, dachte er bitter und riss sich die Jadeperle, die
von jeher an einem schmalen schwarzen Lederband um seinen Hals
gehangen hatte, vom Leib, zerstörte damit dieses Bildnis einer
japanischen Nacht. Denn obwohl er doch in ein fließendes Gewässer
geschaut hatte, floss das Wasser des Bächleins so langsam dahin,
dass die Oberfläche so vollkommen glatt war wie diejenige des
Spiegels an der Wand.
Hisui zog die Knie an und umschloss sie mit den Armen, wiegte sich
scheinbar gleichgültig und empfindungslos zu dem Wiegenlied des
Nachtwindes, der ihn besorgt mit seinen sanften Armen
umschmiegte, dieses bekümmerte Kind der Nacht zu trösten suchte.
Und so sehr Hisui auch versuchte sie zurückzuhalten, die blutigen
Tränen fielen eine um die andere zu Boden, benetzten das kühle
Gras auf dem er saß.
/Selbst als man mich wider meines Willens zum Vampir machte, habe
ich nicht geweint. Nun weine ich... Wie lange schon habe ich nicht
mehr geweint?/, dachte er traurig. /Ja... ich muss damals noch ein
Kleinkind gewesen sein. Ich weiß es und weiß es doch nicht. Noch
vor wenigen Monaten hätte ich es ganz genau sagen können, nun
verblassen die Erinnerungen, werden immer flüchtiger und alles, was
ich nicht aufgeschrieben habe, wird bald für immer vergessen sein...
vergessen von mir und der ganzen Welt... Ist er das? Der Fluch des
Vampirs? Das Vergessen...? Kann ich deshalb mein Spiegelbild nicht
sehen? Damit ich vergesse, wer ich bin und vor allem anderen: wer
ich _war_? Oder ist es nur, damit ich mich nicht selbst in meine
abscheuliche Makellosigkeit verlieben kann, so wie einst der
unglückliche Jüngling Narziss?/
Hisui wurde kalt. Je länger er seinen Blick über das silberglänzende
Wasser gleiten ließ, desto durchlässiger wurde es, desto stärker fiel
ihm die Jadeperle ins Auge, die er doch nicht sehen wollte!
Und je schärfer das Bild wurde, je deutlicher er sie sah, desto mehr
hatte er das Gefühl seine eigene Seele zu sehen. Seine Seele,
gefangen in dem kugelrunden Stück Jadestein, das erste Geschenk
seines Vaters an seine Mutter, welches Hisui schließlich seinen
Namen gegeben hatte.
"Nein!", schrie Hisui und fuhr mit seiner Hand wütend über das
Wasser als wolle er es zerschlagen, doch die Tränen erstickten
seine Stimme und alles was aus seinem Munde kam war ein leises
Keuchen, das ungehört in die weite Dunkelheit entfloh. Tatsächlich
aber schien es ihm unter dem weißsilbernen Schein des Mondes, als
zerspränge das unruhige Wasser in tausend splittrige Scherben, die
am Grunde des Baches zerschellten, vom Fall unbarmherzig
zerschmettert wurden.
Scherben seiner selbst... Ja, sein Leben, wenn man es denn noch
unvermessen so nennen durfte, es lag in Scherben. Und schon ihr
Anblick war zu scharf, schnitt zu sehr in sein Herz, seine Seele, als
dass er es wieder hätte zusammensetzen können. Zu klein war
jeder Splitter, als dass ein einziger noch hätte wichtig erscheinen
könnte, zu klein, sodass ihm sein vergangenes, sein wahrhaftiges
_Leben_ nun unbedeutend und nichtig vorkam... Und doch war es
seine Vergangenheit, die ihn geformt hatte, war es jede einzelne
kleine Erfahrung, die er als Mensch gemacht hatte, die aus ihm das
geschaffen hatte, was dieser vollkommene, nur wenige Meter weit
von ihm entfernt schlafende Jüngling so sehr verehrte, so sehr...
"...liebte", hauchte er leise.
Ja, es war wahr. Hisui wusste nicht, wie lange Shinju das Schicksal
der Einsamkeit mit ihm geteilt haben mochte, doch ohne es einfach
nur so dahingesagt zu haben, hatte diese Perle der Menschheit ihm
seine Liebe gestanden, sie ihm... versprochen.
Nicht einen Tag lang hatten sie sich gekannt und doch hatte Shinju
mit ausdrücklicher Bestimmtheit bejaht, als Hisui ihn leise gefragt
hatte, ob er sich dessen ganz sicher sei.
Was war es, das Shinju so für Hisui eingenommen hatte, dass er ihm
mit ruhiger Gewissheit geschworen hatte, ihm überallhin zu folgen,
wohin er auch gehen mochte?
Es konnte nicht Hisuis Schönheit sein - sie war nur schöner Schein,
ein schönes Blendwerk, um über seine hässliche Seele
hinwegzutäuschen.
Es konnte nicht die Faszination des ewigen "Lebens" sein - Shinju
wusste nicht um Hisuis Unsterblichkeit, hatte nicht bemerkt, dass
Hisuis Herz nicht aus eigener Kraft schlug, dass es nicht sein
eigenes Blut war, welches durch diesen perfekten, fehlerfreien
Körper floss, dass es nicht Hisuis eigene Wärme war, die Shinju vor
dem Auskühlen durch die kalte Nacht bewahrte.
Und er glaubte auch nicht, dass Shinju so naiv war, sein Herz nur
wegen einer wunderschönen Liebesnacht zu verschenken.
Nein, Hisui konnte es beim besten Willen nicht erraten, dieses
Etwas, das ihn so besonders für Shinju machte, und doch war es
da, irgendwo tief in ihm versteckt. Und hatte sich von Shinju finden
lassen, bescherte Hisui damit das größte Glück, das er je hätte
erfahren können: Liebe.
Obwohl er nur ein erbärmlicher toter Körper mit einer geradezu
kranken Seele war, nur lebte, weil andere unglücklich waren und für
ihn und den wunderbaren ewigen Traum, den er ihnen schenkte,
starben, trotz alledem wurde er von diesem reinen Herz mit Liebe
nur so überschüttet.
Hisui stand auf und ging lautlos zurück, huschte ungesehen,
ungehört, zurück in das kleine Haus und legte sich wieder neben
den schlafwarmen, träumenden Shinju, der leicht erschauerte, ob
Hisuis vom Nachtwind ausgekühlter Haut, und sich doch näher an
ihn drängte, als wolle er Hisui wärmen und ihn mit seiner
wundervollen Wärme über all seine bittertraurigen Gedanken
hinwegtrösten.
"Ich liebe dich auch, Shinju", flüsterte Hisui und küsste ihn zärtlich.
Und der im Schlaf lächelnde Shinju war das Letzte, was Hisui in
dieser Nacht sah.
- - - - -
[1]
"Ich kann keinen Weg finden um es zu beschreiben
Es ist da drin
Alles was ich tue ist verstecken
Ich wünschte, dass es einfach weggehen würde
Was würdest du tun
Du tun, wenn du wüsstest
Was würdest du tun
(...)
Ich fühle mich als wäre ich ganz allein
Ganz allein mit mir, ich muss darüber hinwegkommen
Meine Worte sind kalt
Ich möchte nicht, dass sie dich verletzen
Wenn ich es dir zeigen würde
Ich denke nicht, dass du es verstehen würdest
Weil es niemand versteht"
[2] Schiebetüren, die mit durchscheinendem Reispapier bespannt
sind, dass noch genügend Außenlicht in die Zimmer dringen lässt,
weshalb solche Türen oft zum hauseigenen Garten hinausgehen.
Leider muss das Reispapier häufig erneuert werden. Wenn sich
Regen oder scharfer Wind ankündigt werden die so genannten
"Amado" vorgehängt. Dies ist eine Schiebetüre aus Holz - ohne
jegliches Fenster, da sie ja die Shôji schützen soll. Dadurch wird es
bei traditionellen japanischen Häusern - wie dem Internat - dann
jedoch auch ziemlich finster, wenn man nicht für andere
Lichtquellen sorgt... *buuh* ^.^
[3] Natürliche heiße Quelle, als Badegelegenheit genutzt und bei
den Japanern sehr beliebt. Manchmal gibt es in den Onsen auch ein
rotemburu (in dem Manga "Love Hina" ist es Schauplatz vieler
lustiger Szenen -.^), was praktisch die Freiluftversion ist. Vorher
wird sich nur schnell (aber gründlich!!) eingeseift und abgespült
(wobei das obligatorische Höckerchen nicht fehlen darf ^.^) und
dann geht's ab in das oft sehr heiße Wasser *plansch plansch* Und
wenn man Glück hat, gibt es auch noch eine schöne Aussicht zu
bestaunen, während man relaxt ^.^
[4] Aaah, jetzt ist es raus -.^ Was für eine Überraschung *gg* Das
hättet ihr jetzt echt nicht gedacht, eh?
[5] "Gute Nacht"
[6] das japanische Wort für "Idiot"
Act III: Brachst die
Mauern um mich
nieder
.
.
.
"Einander kennen lernen heißt lernen, wie fremd man einander ist."
~Christian Morgenstern (Schriftsteller (1871-1914))~
.
.
.
_Leicht_ genervt verließ Hisui die Turnhalle. Der Sportlehrer hatte
ihn noch zu einem Gespräch dabehalten und sich mit ihm über seine
Kampfkünste unterhalten. Der Lehrer hatte so lange auf ihn
eingeredet, bis Hisui sich schließlich widerwillig dazu hatte
überreden lassen, an einer Vorführung beim Schulfest teilzunehmen
(und nur damit sie sich richtig verstanden: ganz allein sein geliebter
Shinju war es gewesen, der ihn zur Zustimmung bewogen hatte!!).
Die anderen waren schon längst zurück ins Klassenzimmer
gegangen, um dem Nachhilfeunterricht beizuwohnen, da es bei
ihnen keine extra Juku[1] dafür gab.. Shinju hatte zwar auf ihn
warten wollen, aber Hisui hatte ihn dann doch losgeschickt, denn er
wollte nicht, dass der Kleine seinetwegen vielleicht Ärger bekam.
Schließlich hatte _er_ eine Entschuldigung, sein Geliebter aber
nicht.
"Shiro-sempai[2]!", rief plötzlich eine helle Mädchenstimme hinter
ihm.
Verblüfft drehte er sich um und sah von weitem ein ihm noch
unbekanntes Mädchen, das auf ihn zurannte. Abwartend blieb er
stehen.
Leicht keuchend kam das Mädchen vor ihm zum Stehen, verbeugte
sich dann hastig vor ihm. "Tut mir Leid, wenn ich dich aufhalte,
aber ich versuche schon seit heute Morgen mit dir oder Shinju-kun
zu reden. Ich bin übrigens Hanako."
Mit fragend gehobener Augenbraue sah er nach unten in das leicht
gerötete Gesicht des Mädchens. Schnell kramte sie in ihrer
Schultasche und förderte dann zwei Stapel Briefe zu Tage, drückte
sie ihm in beide Hände.
"Die sind für dich und die hier für Shinju-kun. Ich sollte sie euch
übergeben, weil ich letztes Jahr mit Shinju-kun zusammen in der
Kalligraphie-AG war."
Stirnrunzelnd betrachtete er die Briefe in seinen Händen. "Was soll
das sein?"
Das Mädchen kicherte. "Aber Shiro-sempai! Das sind Liebesbriefe!"
Hisui starrte sie verdutzt an. "Liebesbriefe?", echote er ungläubig.
/Weiber! Ich bin nicht mal eine Woche hier, hab kein einziges Wort
mit ihnen gewechselt und die schicken mir Liebesbriefe!! Haben die
Hühner nen Knall oder haben die nen Knall?/
Hanako lachte. "Oh, das ist gar nicht so ungewöhnlich. Shinju-kun
bekommt andauernd welche."
Das ließ ihn aufmerken. "Tatsächlich?"
Sie nickte und begann mit nicht wenig Begeisterung zu erklären:
"Ja. Bei den meisten Mädchen ist er sehr beliebt, weil er so gut
aussieht, mit allen immer sehr höflich und freundlich umgeht und so
schön sensibel ist." Ihre Wangen röteten sich leicht und Hisui
verwettete seine nächste Ration Blut dafür, dass unter den Briefen
an Shinju auch einer mit Hanako unterschrieben war.
Langsam nickte Hisui und das Mädchen, das offensichtlich schon
Freizeit hatte, wollte sich verabschieden, um ihn nicht länger zu
stören, doch er hielt sie zurück. "Könntest du mir etwas sagen?",
bat er sie.
Das Mädchen mit der dunkelblauen Satinschleife im Haar sah ihn
erstaunt an, stimmte aber zu.
Er zögerte noch einen kurzen Moment, dann fragte er: "Weißt du,
wieso die anderen Jungs Shinju immer ärgern?"
Hanako nickte vorsichtig. "Ich habe zumindest eine starke
Vermutung, was der Grund oder besser _die Gründe_ dafür sein
könnten."
Ungeduldig bedeutete der Schwarzhaarige ihr, weiterzusprechen.
Das Mädchen zog ihn nach kurzem Zögern zu einer nahen Bank,
setzte sich dann darauf und wartete, bis er es ihr gleich getan
hatte. Bedrückt rang sie sich die Hände in ihrem Schoß, bevor sie
leise aufseufzte und traurig begann: "Es ist eigentlich seine ganze
Art. Shinju ist sehr verträumt, oft geistig abwesend, manchmal
auch vergesslich und irgendwie... irgendwie _durchscheinend_, als
wäre er nicht von dieser Welt...
Er hört das Gras wachsen, wenn du verstehst was ich meine, und
er arbeitet viel eher mit Intuition und Gefühl als mit Verstand und
gelangt so auf von anderen nur sehr schwer nachvollziehbare Art
und Weise zu Einsichten, dass er oft im ersten Moment nicht ernst
genommen wird. Ganz plötzlich sieht er Lösungen klar vor sich, die
allen anderen entgangen sind oder er gibt rätselhafte Warnungen
und Ratschläge... und wenn sich seine Ahnungen bestätigen - was
nicht selten der Fall ist -, dann wirkt das natürlich sehr unheimlich,
gerade so, als hätte er in die Zukunft oder unsere Köpfe schauen
können.
Gleichzeitig ist er sehr sensibel und fast ein wenig zu weich,
weswegen ihn die _harten_ Jungen oft verspotten. Ich glaube,
manchmal ist ihm die harte Wirklichkeit ein bisschen _zu_ real und
dann flüchtet er sich wieder in seine Tagträumereien. Außerdem
wird er von vielen Mädchen gemocht und das zieht natürlich auch
Eifersucht nach sich. Ganz zu schweigen davon, dass er sowohl viel
intelligenter als auch attraktiver als die meisten der anderen Jungen
ist.
Trotzdem gibt es selbst bei den Jungen viele, die ihn eigentlich
mögen, weil er so hilfsbereit und mitfühlend ist, aber sie haben
Angst, etwas anderes als die "Anführer" zu sagen, die in ihm
vermutlich schwere Konkurrenz sehen. Sowohl was die schulischen
Leistungen, als auch die Mädchen angeht.
Wäre er nicht so verträumt und könnte er seine Angst vor diesen
Schlägertypen besser verbergen, dann würde er vermutlich sogar
hohe Anerkennung erfahren, schließlich ist er doch ein ziemlich
guter Kampfsportler und kann sich in einem fairen Kampf auch
durchaus wehren. Aber er hat wohl einfach schon zu viele
schlechte Erfahrungen in seinem Leben gemacht, nimmt sich alles
sehr schnell zu Herzen und lässt keinen mehr an sich ran..."
"Fast keinen", korrigierte Hisui sie leise.
Das Mädchen sah erstaunt zu ihm auf, nickte dann leicht lächelnd.
"Stimmt. Dich scheint er sehr zu mögen. Wir haben Shinju-kun wohl
noch nie so fröhlich und aufgeweckt gesehen, wie in dieser
Woche..."
Langsam stand Hisui auf, verneigte sich leicht vor ihr. "Arigatou
gozaimasu[3]."
Sie schüttelte den Kopf. "Gern geschehen."
Er nickte ihr noch einmal zu und ging dann zu seinem
Klassenzimmer, um den ganzen Stoff von heute noch einmal über
sich ergehen zu lassen.
Als er jedoch das Schulgebäude betrat, hörte er schon wieder
jemanden nach sich rufen.
Dieses Mal war es jedoch Akamatsu-san, die ihm vom anderen Ende
des Ganges fröhlich zuwinkte und ihm bedeutete, auf sie zu warten.
"Sensei?", machte Hisui erstaunt. "Ich dachte, Sie haben jetzt
frei?"
Die junge Lehrerin nickte. "Habe ich auch, aber der Direktor möchte
sich wegen der Organisation des Schulfestes mit Hirano-san
beraten und ich soll ihn inzwischen vertreten."
"Oh", machte Hisui. Es musste wohl ziemlich wichtig sein, wenn der
Direktor den Lehrer mitten in einer Stunde zu sich rufen ließ.
Akamatsu-san lachte über sein Gesicht und setzte sich dann in
Bewegung. Hastig folgte der Vampir ihr.
"Schon so viele Verehrerinnen, Shiro-kun?", lächelte die Lehrerin,
als sie die Briefe in seinen Händen sah, die er noch immer nicht
eingepackt hatte, was er nun hastig nachholte.
"Die sind ja nicht alle für mich", erwiderte er leicht verlegen.
Sie lachte und fragte dann aus heiterem Himmel: "Du magst Shinju
auch sehr, nicht wahr Shiro-kun?"
Hisui blinzelte erstaunt, nickte ganz automatisch. Natürlich mochte
er Shinju - mehr als das!
Seufzend schob sich die junge Frau eine Strähne hinter das rechte
Ohr, sah ihn plötzlich um einiges ernster an. "Und du wirst ihm auch
nicht weh tun, nein?"
Beinahe empört schüttelte Hisui den Kopf. "Aber Akamatsu-san! Ich
würde Shinju _niemals_ weh tun! Wieso sollte ich denn so etwas
machen?"
Akamatsu-san zuckte hilflos mit den Schultern. "Ich weiß es nicht.
Genauso, wie ich nicht weiß, warum die anderen Jungen Shinju
unablässig geärgert haben, bevor du dich zu seinem Beschützer
erklärt hast."
Hisui schwieg traurig, dachte an das Gespräch, das er eben mit
Hanako geführt hatte.
Plötzlich jedoch beugte sich die Lehrerin vor, strich ihm sanft über
die Wange, so wie er es sie einige Male bei Shinju hatte tun sehen.
"Danke, dass du ihn beschützt und auf ihn aufpasst. Und danke,
dass du ihn glücklich machst. Ich bin zwar nicht seine Mutter, aber
ich bin trotzdem sehr erleichtert darüber, dass Shinju jemanden
gefunden hat, dem er bedingungslos seine Liebe schenken kann und
der auch das Gleiche für ihn empfindet und seine Gefühle erwidert."
Hisuis Gesicht gefror, entgeistert starrte er sie an. Überrascht
machte der Schwarzhaarige den Mund auf und brachte doch kein
Wort hervor.
Sie lächelte ihn zufrieden an und nickte leicht. "Ja, ich weiß, dass
ihr euch liebt - _Und_ ich freue mich sehr für euch."
"Aber... woher...?", machte Hisui völlig aus dem Konzept gebracht.
Akamatsu-san lachte hell. "Also nun mal ehrlich, Shiro-kun! Ich bin
weder kurzsichtig noch verkalkt! Man muss sich ja nur anschauen,
wie ihr miteinander umgeht und redet, wie ihr gemeinsam lacht und
schweigt! Man müsste schon blind und emotionslos sein, um nicht
zu bemerken, wie viel ihr euch bedeutet - ihr seid ja schlimmer als
eineiige Zwillinge! Aber ich gebe zu, es war auch sehr
aufschlussreich, als ich euch gestern unter der alten Weide kleine
Zärtlichkeiten austauschen sah. Das einzige, was mich doch sehr
überrascht hat, war, dass sich Shinju dir so schnell geöffnet hat,
wo er sonst doch immer eher vorsichtig und verschlossen ist."
Hisui starrte sie noch einen Moment verblüfft an, dann musste er
leise lachen beim Anblick der breit grinsenden Lehrerin.
"Und wehe du bringst ihn zum Weinen, du großer Beschützer! Dann
bekommst du ein Jahr lang jeden Tag Strafarbeiten!", sie sah ihn
gespielt finster an.
Der Schüler schüttelte lächelnd den Kopf. "Ich werde gut auf ihn
aufpassen, Akamatsu-san."
Die Lehrerin nickte zufrieden, dann erreichten sie nach kurzer Zeit
das Klassenzimmer.
Hisui entschuldigte sich schnell und höflich, nannte den Grund
seiner Verspätung und ging nach einem stummen Kopfnicken des
Lehrers an seinen Platz.
Oder zumindest hatte er das vorgehabt, _bevor_ er Shinjus
verwaisten Stuhl erblickte.
Fragend drehte er sich zu Hirano-sensei um, doch dessen
Aufmerksamkeit galt im Moment Akamatsu-san.
Verwirrt und besorgt setzte sich Hisui auf seinen Platz, tastete
unsicher über die kalte Sitzfläche des Stuhles neben sich, als könne
er erst dann glauben, dass Shinju nicht da war. Er hatte sich in
dieser kurzen Woche, die sie sich nun schon kannten, einfach so
sehr daran gewöhnt, Shinju bei sich zu haben, dass er sich nun
irgendwie verloren vorkam und sich die leise Angst vor der
Einsamkeit wieder an ihn heranschlich.
In diesem Moment erklärte der Lehrer, dass Akamatsu-san ihn
vertreten müsse und verließ, nachdem er seiner Kollegin noch mit
gedämpfter Stimme etwas mitgeteilt hatte, das Zimmer.
Diese wartete, bis Hirano-san gegangen war, und wandte sich dann
mit strenger, ärgerlicher Miene ihrer Klasse zu.
"Weiß zufällig einer von euch, warum Kimura-kun nicht zum
Unterricht erschienen ist?", fragte sie und ihre eben noch freundlich
glänzenden Augen blitzten nun gefährlich.
Niemand antwortete.
"Wenn ich herauskriege, wer von euch daran Schuld ist, wird
derjenige sich vor mir der Verantwortung stellen müssen...", sagte
sie schließlich und ihre beherrschte Stimme war noch viel schlimmer,
als wenn sie geschrieen hätte.
Ja, es war ganz eindeutig, dass Akamatsu-san sich ein Herz für den
stillen Schüler gefasst hatte, auch wenn sie ihn im Unterricht
natürlich nicht bevorzugen durfte.
Hisui wollte aufspringen, doch die Lehrerin hielt ihn sofort mit einem
stummen Blick zurück, als hätte sie es bereits geahnt.
Frustriert sank er in seinen Stuhl zurück. "Kuso[4]", fluchte er leise.
Indessen stellte ihnen vorn Akamatsu-san eine Aufgabe, die sie für
den Rest der Stunde beschäftigen würde, doch Hisui hörte nicht zu,
bewegte sich nicht, starrte nur wütend auf sich selbst die
Tischplatte an, während er mit geballten Fäusten versuchte sich
wieder zu beruhigen, sich aber gleichzeitig schwor, den- oder
diejenigen, die Shinju so sehr verletzt hatte(n), dass er vom
Unterricht weggeblieben war, allermindestens schön langsam mit
einem stumpfen Kodachi[5] zu foltern.
"Shiro-kun...", hörte er Akamatsu-san plötzlich leise vor sich.
Zornig und aufgebracht sah er zu ihr hoch. "Hai[6]..."
"Bitte Shiro-kun, reiß dich zusammen. Ich will nicht, dass das Ganze
zuviel Aufmerksamkeit erregt, bevor wir herausgefunden haben, was
passiert ist, sonst könnte es am Ende Shinju sein, der schlecht
dasteht, verstehst du?"
Der Vampir schluckte und atmete tief durch, dann nickte er
langsam. "Arigatou", flüsterte er leise. Es war gut, dass die Lehrerin
ihn wieder zur Besinnung gebracht hatte - Vampire waren eben
doch nur sehr lebendige tote Menschen[7].
"Nichts zu danken", erwiderte sie grimmig.
Sobald der Nachhilfeunterricht vorbei war und er seine
Hausaufgaben gemacht hatte, stürmte Hisui aus dem Raum, was
ihm zwar einen missbilligenden Blick von seinem Lehrer einbrachte,
aber ihm egal war. Er hatte Shinju schon viel zu lange mit sich allein
gelassen, dabei hatte er seinem Koibito[8] doch versprochen, immer
für ihn dazu sein - und wenn er ihn noch lange allein ließ, da war er
sich sicher, würde er Shinjus Vertrauen wieder verloren haben.
Und verdammt noch mal nein, das wollte er nicht!
Ohne auf die ihm entgegenkommenden Schüler zu achten, flog er
geradezu über die vielen Treppen, rannte in das kleine Haus hinein,
riss dann die Fusuma[9] einfach auf, anstatt sie so zu öffnen, wie
es die japanischen Etikette verlangten[10].
"Shinju!", rief er.
Und stockte. Stille schlug ihm entgegen wie ein schwarzer Panther
mit geschärften Krallen.
"Shimatta![11]", schrie er wütend. "Shinju, wo bist du?"
Nach dem Kleinen rufend lief er durch das ganze Haus, doch er war
nicht da. Einen Moment lang war ihm ehrlich zum Heulen zumute,
dann riss er sich zusammen und begann Shinju auf dem ganzen
Schulgelände zu suchen.
Der Gesuchte währenddessen saß nur wenige Meter weit vom Haus
entfernt mit angezogenen Knien an der Quelle des Bächleins und
schien dieser Konkurrenz machen zu wollen, konnte einfach nicht
aufhören zu weinen.
Nachdem er lange auf Hisui gewartet hatte und jedoch niemand
gekommen war, hatte er sich in dem kleinen Doppelzimmer gefühlt,
als würde er gleich von den Wänden erdrückt und hatte sich hierher
geflüchtet, wo er immer wieder Hisuis Namen flüsterte und doch
nicht erhört wurde.
Nein. Hisui war nicht gekommen, wie Shinju inständig gebetet hatte.
Stattdessen war er in der Nachhilfe geblieben, hatte dann noch
seine Hausaufgaben gemacht, vermutlich nicht einmal einen
einzigen Gedanken an ihn verschwendet.
Und als er nun endlich gekommen war und nach Shinju gerufen
hatte, da... da hatte seine Stimme versagt.
Denn als Shinju ihn am meisten gebraucht hatte, war Hisui trotz all
seiner leidenschaftlichen Versprechungen nicht für ihn da gewesen.
Zitternd und schwankend stand er auf. Plötzlich kam ihm der eben
noch sanft streichelnde Wind so unglaublich kalt vor.
"Was hast du denn geglaubt?", sprach Shinju bitter zu sich selbst.
"Hast du wirklich angenommen, jemand könnte einen Schwächling
wie _dich_ lieben?"
>>>>>>>>>>>>Shinju verließ als letzter die Turnhalle. Abgesehen
von Hisui und ihrem Sportlehrer natürlich. Schmollend schob er die
Unterlippe ein wenig vor. Der Sportlehrer hatte sie die ganze Stunde
lang wie Jagdhunde über den anliegenden Sportplatz gehetzt bis sie
kurz vor dem Zusammenbruch standen. Und dabei war er trotz
seiner zierlichen Figur alles andere als unsportlich, von Hisui ganz zu
schweigen!
Shinju fand, dass er sich nun einen Kuss als Trostpflaster vor der
nächsten Stunde unbezahlter Sklavenarbeit redlich verdient hatte,
aber natürlich waren er und sein liebenswürdigster, heiß verehrter
Lieblingslehrer bedauerlicherweise mal wieder ganz und gar nicht
einer Meinung. Und dummerweise hatte _er_ dabei den kürzeren
Strohhalm gezogen... Es war ja nicht so, als würde sich Shinju nicht
freuen, dass er seine Kata nun höchstwahrscheinlich doch nicht
mehr ganz allein unter all den viel trainierter aussehenden Jungen
zum Schulfest, zu dem alle Eltern eingeladen waren, vorführen
musste, aber...
"Baka!", murrte er trotzig, bog dann um die Ecke.
...und wäre beinahe in Fukusawa-kun hineingelaufen.
"Gomen nasai", stotterte Shinju und wollte hastig weitergehen,
doch was für ein Grund sollte es für diesen wunderschönen Tag
geben, sich zu bessern? Eben!
Und noch während sich dieser Gedanke in Shinjus Kopf formte,
hatte Fukusawa ihn auch schon schmerzhaft fest am Handgelenk
gepackt und im nächsten Moment sah er sich von dessen hartem,
muskulösen Körper gegen die kalte Steinmauer des eigentlichen
Schulgebäudes gedrückt.
"Fukusawa-kun?", machte Shinju ängstlich und sah etwas
undefinierbares in den Augen seines Gegenübers aufblitzen. Es
machte ihm Angst.
"Hast du heute schon deine Beine für ihn gespreizt?", fragte der
Ältere lauernd, quetschte ihn so quälend fest zwischen sich und der
Wand ein, das Shinju leicht würgen musste, während er entsetzt
die Augen aufriss.
Fukusawas Stimme wurde verächtlich. "Ich habe ja schon immer
gewusst, dass du erbärmlich bist, aber du erstaunst mich immer
wieder. Nicht einmal ich hätte dich für so notgeil gehalten..."
Tränen stiegen ihm in die Augen. "Yame[12]!", flehte er leise.
"Bitte..."
"Was ist? Macht es dich an, meinen Körper auf deinem zu spüren?",
fragte er kalt und gnadenlos, stieß mit seiner Zunge zwingend hart
in Shinjus Mund, ließ dabei eine Hand in seine Hose gleiten und
fasste so fest zu, dass Shinju gequält und erschrocken - nein,
entsetzt! - aufschrie.
Angsterfüllt biss er in Fukusawas Zunge, dass jener aufheulend von
ihm abließ. Shinju zitterte am ganzen Körper heftig wie Espenlaub
und ihm war so entsetzlich übel, dass er glaubte im nächsten
Moment ohnmächtig zu werden oder sich übergeben zu müssen,
doch er hatte keine Zeit für Schmerz! Sein einziger Gedanke galt
der Flucht: Er musste hier weg. Sofort. Sofort!!
Und er rannte, rannte erstickt keuchend, tränenüberströmt und
Fukusawas Blut auf den Lippen, rannte so schnell er konnte, bevor
er in seinem Zimmer zusammenbrach und die Götter darum anflehte,
dass Fukusawa ihm nicht folgen möge.
"Hisui... komm her... Hisui, _bitte_", flüsterte er schluchzend,
wünschte sich gleichzeitig tot zu sein.
Doch weder der Tod noch seine Schwester Ohnmacht hatten
Erbarmen mit ihm...<<<<<<<<<<<<
Es war eine halbe Stunde vor Nachruhe als Hisui schließlich
verzweifelt und halb wahnsinnig vor Angst seine Suche nach Shinju
aufgab. Ein einziges Mal würde er es noch mit ihrem Zimmer
versuchen und wenn Shinju dann nicht da war, würde er zu
Akamatsu-san gehen, notfalls den Direktor höchstpersönlich aus
dem Bett schmeißen!!
Doch noch hielt ihn etwas davon ab: Auf dem Weg, den Hang
hinauf kam ihm Fukusawa-kun entgegen und er begann abfällig zu
grinsen, als er Hisui sah.
"Und? Hat der Ritter in der weißen Rüstung seine arme Prinzessin
schon vor dem großen bösen Drachen gerettet?"
Ehe sein Mitschüler und Hisui selbst sich versehen hatten, hatte der
Vampir Fukusawa auch schon hart gegen einen nahen Baumstamm
gepresst, trieb ihm so die Luft aus den Lungen.
"Du warst es!", zischte er. Ja, er musste nur in die Augen dieses
arroganten Arschlochs sehen, um es sicher zu wissen. Und plötzlich
verspürte er den Drang, seine Fangzähne, die schon bei dem
_Gedanken_ an frisches Blut erschienen, schön schmerzhaft in
Fukusawas Halsschlagader zu stoßen. Weniger aus Blutdurst, auch
wenn er nun schon eine Woche lang kein rotes Leben mehr zu sich
genommen und heute auch noch kein einziges Quäntchen von
Shinjus Körperwärme abgezweigt hatte, sondern mehr aus reiner,
ursprünglicher Rachelust, diesem Urtrieb, einem verhassten Feind
noch größere Schmerzen zuzufügen, als man selbst einstecken
musste.
Fukusawas Augen verengten sich zu Schlitzen. Der harte Aufprall
hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben und die Hand an seiner
Kehle sorgte sehr zweckmäßig dafür, dass seine Lungen den
Sauerstoff auch nicht wiederbekamen. Hisui konnte die Angst
förmlich riechen, als Fukusawa klar werden musste, dass er im
Moment und wohl auch sonst keine Chance gegen "Shiro-kun"
hatte.
"Shiro-kun!", keuchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. "Du
erwürgst mich!"
Hisui sah ihm mit hasserfüllt Blick in die Augen. "Vielleicht ist das ja
auch das Beste, was ich mit dir tun kann... was meinst du,
Fukusawa-kun?" Sein letztes Wort wurde durch den verächtlichen
Ton zu einer unverhohlenen Beleidigung.
Fukusawa begann blau anzulaufen und versuchte hysterisch sich
loszumachen, doch die Blutgier und sein Hass verwandelten die
Hand des älteren in einen stählernen Schraubstock.
Als Fukusawa fast ohnmächtig war, hörte er auf, sich an dem
Anblick dieses winselnden rückgratlosen und verdammt erbärmlichen
Muttersöhnchen zu laben, rammte stattdessen seine Fangzähne in
Fukusawas Hals und trank so rücksichtslos wie ein _Tier_ im
Blutrausch.
Das eine Jahr, das er nun schon ein Vampir war, hatte er sich
Sekunde für Sekunde geschworen, nie so triebgesteuert wie seine
Artgenossen zu sein, um den _lebenden_ Menschen nicht weh zu
tun und ihnen nicht nur während des Bluttrinkens ein Gefühl der
Ekstase und Lust zu vermitteln, sondern ihnen im Tod auch einen
ewigwährenden Traum des Glücks zu schenken. Es war nicht nötig
und er hatte bis jetzt auch von keinem anderem Vampir gehört (was
allerdings nicht viel heißen musste), der diese Fähigkeit ebenso wie
Hisui nutzte, doch nun war ihm alles egal. Er _wollte_ Fukusawa
weh tun, er _wollte_ ihn vor Todesangst in den Wahnsinn treiben.
Er wollte _Rache_ - Rache für das, was Fukusawa Shinju heute und
noch unzählige andere Male angetan hatte.
Kurz bevor sein Mitschüler jedoch die Schwelle zur Endlosigkeit, zum
Tod überschritt, wurden seine Gedanken wieder etwas klarer, er ließ
von Fukusawa ab. Nein, nun da er das Blut getrunken hatte und
_es_ wusste, würde er diesem jämmerlichen Menschen den Tod
nicht gönnen. Weder mit noch ohne Traum, und mochte es auch ein
ALPtraum sein.
Wenn Fukusawa wieder aufwachte, würde er alles vergessen haben
- aber die Angst, diese Todesangst, die er verspürt hatte, würde
ihn sein ganzes Leben lang verfolgen. Und genau das war es auch,
was Hisui wollte. Nie wieder sollte sich Fukusawa sicher fühlen, nie
wieder sollte er seines Lebens froh werden.
Nun, da er ihn nicht mehr festhielt, sank Fukusawa leblos zu Boden.
Er würde ewig brauchen, bis er zumindest körperlich wieder der Alte
war.
Hisui starrte auf das leichenblasse Bündel zu seinen Füßen. "Warum
verletzen Menschen, was sie lieben - sag mir warum? Deine wahre
Liebe und trotzdem tust du ihm weh, nur weil du zu kleinkariert bist,
um zu akzeptieren, dass du einen Mann liebst!? Warum gestehst du
ihm und dir nicht die Wahrheit und entschuldigst dich für das, was
du ihm angetan hast und doch nie antun wolltest? Es ist so
einfach... nur 3 Worte: "Gomen ne"... "Aishiteru[13]" Und doch
wirst du sie nie aussprechen..." Verächtlich spuckte er vor dem
bewusstlosen Schüler aus. "Das ist so erbärmlich, dass du selbst mir
Leid tust..."
Fühlend, wie die gestohlene Wärme das geraubte Blut in seinen
Adern pulsieren ließ, noch das Blut seines Feindes schmeckend
verschmolz der Vampir mit den Schatten und verschwand wie ein
solcher in der undurchdringlich schwarzen Nacht...
- - - - -
[1] Nachhilfeschule. In Japan geht praktisch jeder, der in die
Oberstufe und später vielleicht noch an die Uni will bzw. der eher
weniger gute schulische Leistungen hat, zur Nachhilfe. Diese darf
man sich allerdings nicht wie Nachhilfeunterricht bei uns vorstellen.
In Japan ist es nämlich tatsächlich eine NachhilfeSCHULE, die
ebenso wie die normale in Klassen eingeteilt wird. Man geht
sozusagen nach der Schule noch mal in die Schule. Dort wird der
Stoff wiederholt und man bereitet sich auf Prüfungen vor. Dabei
schreibt man auch Tests wie in der "echten" Schule und mitunter
ist der Leistungsdruck bei der Nachhilfe sogar noch größer (was ich
ein wenig merkwürdig finde, aber gut...). Das hört sich jetzt wie ein
Horrormärchen (J-chan: Ist es auch!!!) an, aber für japanische
Schüler ist das ganz normal und auch wenn der eher geringere Teil
wirklich davon begeistert ist, kommt der Wunsch nach Lernen doch
zumeist von den Schülern selbst (mit vielen deutschen Schülern
also nicht vergleichbar, wenn ich das mal so behaupten darf - das
allerbeste Beispiel sitzt nämlich in meiner Klasse, zwei Reihen vor
mir...). Übrigens kann man in Japan nicht sitzen bleiben. Wessen
schulische Leistungen bedenklich sind, der hat halt zu dieser
Nachhilfe zu gehen und (verdammt noch mal) besser zu werden. Der
japanische Unterricht geht übrigens 50 Minuten lang und ist im Stil
mit einer Univorlesung zu vergleichen: Keine Diskussionen und nix
(dafür ist es aber oft erlaubt, im Unterricht zu Schlafen, wenn man
meiner Erinnerung glauben will und Ethan mich nicht auf den Arm
genommen hat o.o ) und praktisch nur reines Auswendiglernen.
[2] "-sempai" ist die höfliche Anrede nicht nur für Oberstufenschüler
sondern allgemein für Schüler, die älter sind, als man selbst. Kann
auch Jahre später noch benutzt werden, wenn man z.B. mal im
selben Kurs saß ^^°
[3] Nur arigatou ist ein informelles "Danke", mit gozaimasu hinten
dran wird's höflich-neutral also in etwa "Danke sehr"
[4] japanische Version vom deutschen "Scheiße" allerdings die
etwas entschärftere Version. Richtig happig wird's mit "chikusho"
[5] So eine Art Zwischending aus Schwert und Dolch.
[6] Im deutschen ein Fisch mit Killerimage, im japanischen schlicht
und einfach ein höfliches "Ja" ^__^
[7] J-chan versteht es wieder einmal echt wunderbar sich
auszudrücken -.-°
[8] Gibt es überhaupt jemanden, der das Wort nicht kennt?
(*flüster* Japanisch für "Geliebter" ^__^)
[9] japanische Schiebetüre
[10] Der richtige Weg so eine Schiebetür zu öffnen bzw. zu
schließen besteht aus drei Schritten. Man setzt sich im formellen
Stil, seiza genannt, vor die Tür, zieht sie etwa handbreit auf, fasst
dann bei etwa 30cm mit der linken Hand zu, schiebt sie weiter und
mit der rechten Hand dann ganz auf. Was dabei einem Europäer
ziemlich langwierig und kompliziert anmuten wird, wo man doch nur
eine Tür öffnen will, gibt einem in Japan, wo es oft ziemlich eng
zugeht und kaum einer viel Privatsphäre hat, die Möglichkeit, sich
auf das Eintreten der Person einzustellen, wird also nicht einfach so
überfallen. Bei einer stinknormalen europäischen Tür erübrigt sich
das ganze natürlich dann wieder...
[11] "Verdammt!"
[12] Befehls- bzw. Aufforderungsform von yameru, was soviel wie
"aufhören, einhalten" bedeutet.
[13] "Ich liebe dich!" ^-^
Act IV: Beraubtest
mich all meiner Liebe
.
.
.
"I hold your hand in mine
I hold your hand and you're so lonely
Oh so lonely
Your eyes have lost their light
Your eyes have lost their light and you're empty
Oh my God you're so empty
(I'm in love with you)
You are my heaven tonight x2
Trying to find the heart you hide
Trying to find the heart you hide in vain
Oh in vain
And you're my haven in life
And you're my haven in death, Baby
Life and Death my Darling
(I'm in love with you)
You are my heaven tonight x4
(I'm in love with you)
That's right x4" [1]
~ "Heaven tonight" von Ville Valo/HIM (Album: "Razorblade
Romance")
.
.
.
Fingernägel, schimmernd und zerbrechlich wie Glas, streichelten mit
sanftem Druck die weiche Haut, die sich unter seinem Kiefer bis
über den Hals spannte, als er sich Tränen schreiend wand unter
dem unsäglichen Schmerz, den ihm die rabenfederschwarze Nacht
mit ihrer einsamen Dunkelheit bereitete.
Er glaubte, auf qualvoll süße Weise sterben zu müssen.
"Shinju", seufzte Hisui leise und zog ihn rücklings auf seinen Schoß,
hielt den Jüngeren fest und streichelte beruhigend über dessen
glatte Bauchhaut.
Shinju jedoch versteifte sich, krallte seine Finger in Hisuis Hände,
wissend, dass er ihm weh tat, und vielleicht... vielleicht _wollte_ er
ihm ja auch weh tun, ihm zeigen, wie sehr Hisui _ihm_ weh getan
hatte. Und der Ältere ließ es schweigend geschehen, blieb still und
zuckte nicht zusammen, protestierte nicht gegen die Schmerzen,
die ihm zugefügt wurden, intensivierte im Gegenteil noch die
Berührungen seiner streichelnden Finger.
"Wo warst du?", fragte Shinju mit einer teilnahmslosen Kälte, die ihn
selbst schreckte. Doch er würde ihn nicht anschreien, nicht noch
größere Schwäche vor dem anderen zeigen.
Er erzitterte leicht, als er einen Kuss in seinen Nacken gehaucht
spürte.
"Weißt du es nicht?", fragte Hisui leise zurück, zupfte mit seinen
Lippen an der schlaffweichen Haut in Shinjus Genick.
Bebend presste Shinju die Lider zusammen. Er wollte Hisui jetzt und
hier, an Ort und Stelle das Herz aus der Brust reißen, es mit seinen
eigenen Händen zerquetschen, er wollte schreien, wollte die ganze
Welt ertauben lassen.
Stattdessen schluchzte er nur erstickt, bis ihm seine eigenen
Tränen die Kehle hinabliefen und versuchten ihn zu ersticken.
"Ich habe auf dich gewartet... Und du bist _nicht_ gekommen!",
warf er ihm immer lauterwerdend vor. "WO WARST DU?"
Er riss sich aus Hisuis Umarmung los, schlug mit seinen Fäusten
verzweifelt und wütend auf dessen Brust ein, die sich weiterhin nur
ruhig hob und senkte, ohne dass der Größere einen Versuch
machte, Shinju davon abzuhalten.
"Wo warst du?", hauchte er aufgelöst, blickte in ein Gesicht, das
nicht nur so blass und glatt wie weißer Marmor war, sondern auch
so erstarrt und undeutbar.
Wortlos zog ihn der Andere wieder in seine Arme, so fest, dass
Shinju, sein Gesicht in Hisuis Halsbeuge vergraben, fast keine Luft
mehr bekam.
"Ich habe dich gesucht", sagte er statt eine Antwort zu geben,
versuchte mit keinem Wort sich zu entschuldigen, geschweige denn
sich zu rechtfertigen.
"Aber du warst nicht da...", schluchzte Shinju hilflos. Er wollte,
dass es aufhörte. Wollte nicht innerlich zerreißen, weil sein Geliebter
einerseits sein Versprechen gebrochen hatte, aber andererseits...
andererseits _jetzt_ da war und ihm mit seinen stillen Gesten
zeigte, dass er ihm trotz allem nicht gleichgültig war.
Stumm bettete Hisui ihn auf das bereits ausgebreitete Futon,
öffnete bedächtig das Hemd des Kleineren und zog es von dessen
Schultern, rieb etwas Schmutz von seinem Hals und betrachtete
eine Weile lang nur stillschweigend die blauen Flecke an Shinjus
Handgelenk.
Der Blauäugige schloss seine Lider und drehte das Gesicht weg, ließ
es wehrlos geschehen, dass der andere ihn auszog, bis er nackt auf
dem Schlaflager lag.
"Mach schon", flüsterte Shinju mit bebenden, enganliegenden
Nüstern, während Tränen unter seinen dichten Wimpern
hervorquollen. Dazu war er also noch immer gut genug... "Tu es!"
Doch Hisui strich nur zärtlich seine nackte Haut, schien jeden
Zentimeter berühren zu wollen. "Es tut weh, nicht wahr?", wisperte
er plötzlich in sein Ohr, drückte seine Lippen kurz und sanft auf sein
Ohrläppchen.
Shinju lachte bitter. "Nein."
Hisui ließ sich nicht beirren, fuhr fort, ihn am ganzen Körper zu
streicheln und antwortete schließlich leise und seltsam gefasst:
"Wenn es schmerzt, warum schmerzt dann dein ganzer Körper?"
Verunsichert öffnete er die Augen, vergaß für einen Moment alles
andere.
"Solange wir leben, liegt im Blut unsere Seele geborgen, Shinju.
Deswegen schmerzt es überall in deinem wunderschönen Körper -
denn dein Blut ist überall in dir und in ihm deine Seele. Und mit ihr all
deine Erinnerungen, deine Gedanken, dein... ganzes Leben - und...
deine Liebe. Du schenktest mir deine Liebe und so möchte auch ich
dir etwas geben, damit du glücklich wirst, wenn ich anders kein
Lächeln mehr in deinen Augen entfachen kann...", antwortete er
sich selbst, ruhig und ohne in seinen Berührungen innezuhalten,
malte Kreise und geschwungene Linien auf Shinjus Haut, als wolle er
seine Worte so noch unterstreichen.
Der Jüngere starrte ihn aus geweiteten Augen an. "Hi...sui?"
"Ich bin nicht das, was du von mir glauben magst, das ich bin. Auch
in meinen Adern pulsiert Blut, doch es ist nicht... mein eigenes Blut.
Ich bin ein Vampir, Shinju." Die letzten Worte waren leiser als ein
leichter Windhauch, doch ihm kam es vor, als hätte der... der
_Vampir_ sie geschrieen.
"Was... was meinst du damit?", fragte er hilflos, klammerte sich
plötzlich an Hisui. Er hatte noch immer Angst, doch seine Angst
hatte sich gewandelt. Er hatte Angst, doch nicht mehr um sich
selbst, nein... er hatte Angst um die tiefschwarzen Augen, das
rabenfederweiche, nachtfarbene Haar, das blutrote Herz, das
gemächlich in Hisuis Brust pulsierte.
"Es ist ein Traum, Shinju", erwiderte der andere mit geschlossenen
Augen, verstärkte leicht den Druck auf seiner Haut, um den
Jüngeren noch intensiver zu fühlen. "Ein schöner, ewig währender
Traum. Und ich kann ihn dir geben, wenn das dein Wunsch ist... Nie
wieder wirst du in dieser schmerzhaften Realität erwachen - du
wirst stattdessen glücklich sein und nichts wird dein Glück fortan
noch zerstören können... Das... das ist mein Geschenk an dich, weil
du mir ohne zu zögern dein ganzes Herz geöffnet hast, weil du...
mich geliebt hast..."
"Hi-Hisui, was... wovon redest du?", fragte Shinju ängstlich.
Der Angesprochene öffnete die Augen und sah ihn lange
schweigend an. Dann beugte er sich über ihn und küsste ihn sanft
und zärtlich. Und dieser Kuss, er... schmeckte nach Abschied.
"Hab keine Angst. Es wird nicht weh tun... Wenn du dich nicht
dagegen wehrst, ist es sehr schön... Ich werde dir den schönsten
Traum schenken, den je ein Mensch geträumt hat... Und in diesem
Traum... werden wir glücklich sein. Ich werde dich nie mehr
enttäuschen und alles tun was du willst. Und ich... ich werde dich
ein letztes Mal lächeln sehen."
Shinju schluckte, sah ihn völlig verunsichert an. Doch plötzlich
erschien Fukusawa vor seinem geistigen Auge, hörte er wieder diese
kalte Stimme. Er blinzelte heftig, um die quälenden Bilder zu
vertreiben, sah dann erst in Hisuis Augen.
Tatsächlich. Er meinte es ernst.
Langsam nickte er. "Das... das wäre schön", flüsterte er zaghaft.
Für immer mit Hisui glücklich sein, und wenn auch nur in einem
Traum... ja, das war besser als sich jahrelang zu quälen und immer
neuen Mut zu schöpfen, nur um wieder enttäuscht zu werden.
Hisui lächelte traurig, strich ihm sanft über die Wange, küsste ihn
ein letztes Mal, dann hauchte er sanft: "Schließ die Augen, Shinju.
Ich möchte, dass du mich als "Mensch" in Erinnerung behältst -
Vampire haben nichts in deinem Träumen zu suchen..."
Er tat wie geheißen und auf einmal spürte er, wie sich etwas
veränderte. Die Atmosphäre im Raum wandelte sich. Sie wurde
sonderbar... _dunkler_, aber es war eine Geborgenheit und Wärme
ausstrahlende Dunkelheit. Gleichzeitig aber wurde er auch erregter.
Die Luft schien auf seiner Haut zu prickeln und er musste leise
seufzen, als er Hisuis warme Lippen an seinem Hals spüren konnte.
,Wenn du dich nicht dagegen wehrst, ist es sehr schön...' - Shinju
verstand nicht, wieso man sich gegen solch wunderbare Gefühle
wehren sollen wollte? Und wenn das erst der Anfang war, wie war
dann erst der "Traum"?
Völlig entspannt zog er Hisui in seine Arme, strich gedankenverloren
durch seine Haare, wollte ein letztes Mal in seinem Leben die
angenehme Schwere auf sich spüren, bevor er für immer schlief.
Ein Windhauch trug die letzten Worte, die er hören sollte, an sein
Ohr, kitzelten es zärtlich, geradeso wie Hisuis schlanke Finger.
"Vergiss mich nicht..."
Es war, als würde man ihn an einen fremden Ort entführen, als
würde er ganz allmählich und doch plötzlich im Paradies selbst
erwachen. Er konnte spüren, wie die Sonne warm auf ihn nieder
schien und merkte, dass er rücklings von starken aber sehr
behutsamen Armen gehalten wurde, während eine schlanke Hand
beständig und sehr zärtlich durch sein Haar fuhr, ihm liebevoll über
den Kopf streichelte.
Shinju lächelte warm. Hisui konnte einfach nicht die Finger von
seinem Haar lassen. Und das, obwohl sie nun schon seit zwei Jahren
zusammen waren. Aber wenn er ehrlich war, dann wollte er auch
nicht, dass das Gegenteil eintrat - dafür genoss er diese
Streicheleinheiten einfach zu sehr und Shinju wusste ganz ernsthaft
nicht mehr, was er ohne seinen Liebling getan hätte.
Er hörte, wie ihm Hisui ein inniges Liebesgeständnis in sein Ohr
hauchte, das Ohrläppchen dann zärtlich mit seiner Zunge und ganz
leicht auch mit seinen Zähnen malträtierte, bis Shinju nur noch
abwechselnd seufzen und leise stöhnen konnte.
"Ich liebe dich auch", flüsterte er leise und drehte sich mit
genüsslich geschlossenen Augen um. "Mehr als das."
Langsam öffnete er die Augen, um seinem Geliebten
entgegenzublinzeln.
Und erstarrte scharf zischend mitten in der Bewegung.
"Schatz?", machte Hisui besorgt und wollte ihm über die Wange
streichen, doch da war Shinju auch schon wie vom Blitz getroffen
zurückgewichen. "Schatz, was hast du? Ich bin es doch - Hisui."
Kein Zweifel, er hörte sich nicht nur so an, _er sah auch aus_ wie
Hisui. Und einmal ganz davon abgesehen, dass er sich beim besten
Willen nicht erinnern konnte, wer der "echte" Hisui überhaupt sein
sollte, war dies hier nur eine perfekte Kopie. So perfekt, dass sie
ihm Angst machte.
Shinju schien es, als sprängen ihn all seine gesammelten Ängste
seines vergangenen Lebens mit einem Mal an. Er taumelte unter der
Last, glaubte einen Moment lang auf der Stelle sterben zu müssen,
und wusste doch nicht einmal, woher diese Ängste kamen. Seit er
sich erinnern konnte war er _immer_ glücklich gewesen, genau
genommen hatte er bis eben noch nicht einmal _gewusst_, dass es
das Wort "Unglück" überhaupt _gab_!!
In Shinju begann sich alles zu drehen. Nein, das war doch absurd.
Niemand konnte glücklich sein, wenn er nicht auch das Unglück
kannte. Woher sollte man wissen, dass man "glücklich" war, wenn
man doch gar nicht wusste, dass es noch einen anderen Zustand
gab? Das war ja genauso, als wolle man einem von Geburt an
Blinden beschreiben, wie die Farbe rot aussah!
Blitze aus reinem Schmerz schlugen überall in und auf seinem Körper
ein, ließen ihn sofort zusammenbrechen.
"Shinju! Hör auf damit! Du darfst dich nicht erinnern! Willst du etwa
alles kaputt machen, was wir haben? Ich liebe dich und du liebst
mich! Das kannst du nicht machen!", schrie "Hisui" und wollte Shinju
packen und durchschütteln, doch er prallte wie gegen eine
unsichtbare Mauer gerannt von ihm ab, ohne ihn nur auch berührt
zu haben und im nächsten Moment begann er so laut zu kreischen,
dass Shinju einen Schock bekam.
Völlig erstarrt, nicht einmal mehr die Schmerzen wahrnehmend
wurde er Zeuge, wie Hisuis Haut überall aufplatzte wie eine
überreife Frucht, wurde mit dunkelrotem Blut bespritzt, während der
andere schreiend von innen her zerrissen wurde.
Dann fiel Shinju in eine gnädige Ohnmacht.
Hisui weinte bitterlich und konnte nicht mehr aufhören, _wollte_
nicht aufhören, wollte sich in seinen eigenen Tränen auflösen und
für immer ausgelöscht werden, ohne jegliches Bewusstsein, wollte
zum völligen Nichts werden.
Es tat so weh, Gott, es tat so weh! Warum konnte er nicht
sterben, jetzt auf der Stelle?
Schluchzend wiegte er den leblosen Shinju in seinen Armen,
während er trank bis der unnatürlich blasse Junge in seinen Armen
endgültig gestorben war und gurgelnd ließ er von dem schlanken
Hals ab, musste würgen, konnte es nur verhindern, indem er sich
auf die Unterlippe biss und dabei ungewollt seine Fangzähne in sie
grub.
Im nächsten Moment küsste er Shinju leidenschaftlich, versuchte
alles mögliche, damit die Lippen ihn zurück küssen würden, doch die
nun kalten und fahlen Lippen ließen nur geschehen und bewegten
sich nicht von selbst.
"Shinju", schluchzte er. "Shinju, bitte... ich kann nicht... ich kann
dich nicht umbringen."
Im nächsten Moment riss er sich mit seinen Zähnen brutal die
Pulsader auf und presste sie an Shinjus Mund. "Wach auf!!", schrie
er, half nach, damit Shinjus toter Körper das Blut schluckte.
Stunden vergingen... erst zwei, dann drei, auf die vierte folgte die
fünfte...
Nichts geschah.
"Das kannst du mir nicht antun, Shinju, ich liebe dich doch, ich
wollte nur dich, mehr nicht, bitte, lass mich nicht allein, Shinju,
wach auf, bitte, Shinju....", stammelte er immer wieder, wagte es
nicht mehr den leblosen Körper zu berühren, aus Angst die Kälte zu
spüren. Die Kälte des Todes.
"Shinju..."
Starr blickte er auf Shinjus wortwörtlich leichenblassen Körper
hinab. Selbst jetzt, nach zwei unendlichen Monaten, wusste er
noch nicht, was schief gelaufen war.
Shinju war tot. Und doch wieder nicht. Er war weder Vampir, noch
Mensch und sein Zustand war am ehesten mit einer Art Koma zu
vergleichen, das gleichzeitig die Zeit für diesen Körper stillstehen
ließ. Denn noch immer sah Shinju aus wie an seinem letzten
Lebenstag, noch immer nicht hatte die Verwesung eingesetzt, ja
nicht einmal die Leichenstarre! Nichts! Rein gar nichts! Hätte Shinju
noch geatmet, man hätte vermutet, er schliefe nur.
"Hisui", flüsterte Akamatsu-san hinter ihm leise. Der zweite Vampir
im Bunde. Ja, tatsächlich. Ihre unschuldige Lehrerin war ein Vampir
und nebenbei schon unzählige Jahrhunderte alt. Sie war es auch,
die einige Beschwörungen vorgenommen hatte, damit den Menschen
um sie herum nichts auffiel.
Er drehte sich nicht zu ihr um.
"Hisui, du musst etwas trinken! Du hast schon wieder tagelang kein
Blut zu dir genommen. Bitte, tu es für Shinju! Wie willst du ihn
beschützen, wenn du stirbst - _endgültig_ stirbst??"
Ohne den Blick von Shinju zu lassen, schlug er alles andere als sanft
seine Zähne in das angebotene Handgelenk und trank gerade soviel
Blut wie nötig. Gleichgültig. Ihm war alles gleichgültig, außer Shinju
- seine Umwelt interessierte ihn nicht mehr.
Jede Sekunde seines Lebens flehte er darum, dass Shinjus Körper
sein Blut aufgenommen haben mochte und somit zum Körper eines
Vampirs wurde. Dass schon zwei Monate vergangen waren,
kümmerte ihn nicht, verzweifelt klammerte er sich daran, dass er
selbst fünfeinhalb lange Monate im wortwörtlichen Todeskampf
verbracht hatte, weil er _nicht_ zum Vampir hatte werden wollen,
sein Vampirvater ihn jedoch nicht sterben ließ und Hisui schließlich
zu geschwächt gewesen war, um sich noch zu wehren.
Nur wenige überlebten die Wandlung zum Vampir, das wusste er,
doch bei Shinju _musste_ es klappen. Nach zwei Monaten ohne
Schlaf, auf einen Schlag völlig erschöpft, sank er über Shinju
zusammen, vergrub sein Gesicht in dem flachen, so schönen und
doch eiskalten Bauch.
Blutige Tränen hinterließen ihre schwarzroten Spuren auf der
blassen Haut, bildeten einen unmöglich anmutenden Kontrast.
Warum? Warum konnte er Shinju nicht zum Vampir machen? Warum
weigerte sich Shinju ganz offensichtlich dagegen? Er wollte seinen
Geliebten wieder, wollte wieder das schüchterne Lächeln sehen,
erregte Laute aus seinem Mund dringen hören.
/Gott, wenn es dich gibt, dann... erhör mich nur dieses eine Mal...
BITTE!!!/, dachte er verzweifelt, nein eigentlich schon längst
wahnsinnig.
Und dann verlor er endlich die Besinnung.
"Wo bin ich...", stöhnte Shinju leise. Nur noch vage konnte er sich
an diesen Alptraum erinnern.
"In einem Traum, du bist in einem Traum", wisperte eine seltsam
körperlose Stimme.
Erschrocken fuhr Shinju auf. "Wer spricht da?"
"Ein Geist. Der Geist des Traumes", kam die gewisperte Antwort,
schien sich mitten aus dem leichten Wind herauszulösen.
"Tra-Traum?", wiederholte Shinju ängstlich.
"Ein endloser Traum, geschaffen von einem Vampir für sein Opfer,
geschaffen für die Ewigkeit..."
Shinju starrte einfach nur in die Leere, war schlicht und einfach
gelähmt. Er befand sich in einer düsteren Welt voller
Nebelschwaden und unangenehmer Gerüche, alles war in
geisterhaftes Zwielicht getaucht.
Erneut drang die Stimme zu ihm. "Er wollte dir einen wunderschönen
Traum schenken, aber du hast dich gewehrt. Du hast dich gewehrt,
weil es nicht dein wahrer Wunsch war zu sterben."
Shinjus Kopf ruckte herum. Jemand hatte seinen Namen gerufen.
Jemand, den er kannte, jemand der...
"Geh und finde heraus, was dein wahrer Wunsch ist. Nur wenn du
deinen wahren Wunsch kennst, kommst du zurück", drängte ihn die
Stimme und ein heftige Windböe ließ Shinju die ersten Schritte
vorwärts taumeln.
Es war, als höre er einen Ruf, der seinen Geist durch die
Nebelschwaden dieser endlosen Finsternis geleitete. Doch
gleichzeitig war es, als wäre das Ding, von dem der Ruf ausging, tief
in ihm drin und er konnte spüren, wie es glühend heiß wurde und
das Wasser, von dem es umschlossen war, begann zu pulsieren,
schließlich zu kochen.
Wasser?
Ja, Wasser...
Und mit einem Mal stand er an einem kleinen schmalen Bächlein,
dass sich geschmeidig einen Hang hinunterwand. Er kannte ihn, es
war der Bach vor dem kleinen Haus indem er zusammen mit Hisui
(Hisui??) wohnte. Er ließ sich auf die Knie nieder und griff nach dem
schlecht erkennbaren Gegenstand. Obwohl das Wasser kochte,
verletzte es ihn doch nicht, nein, es war nur angenehm warm, aber
nicht so heiß, dass es ihn verbrüht hätte. Seine Finger schlossen
sich fast liebkosend darum und er holte es hervor.
Nach einiger Zeit in der er nur schweigend diese Wärme, die sich
immer schneller in ihm auszubreiten begann, genoss, öffnete er
langsam die Hand und betrachtete stumm die kleine,
glattgeschliffene Perle aus grünem Jadestein.
Er... er kannte sie. Shinju wusste es genau. Und nur das war es,
was seinen Geist unruhig umher wandern und keine Ruhe finden ließ.
Sie war der einzig vorhandene und gleichzeitig einzig nötige Hinweis
auf seinen wahren Wunsch.
Doch zu was (oder zu... wem?) gehörte diese Perle, was bedeutete
ihm selbst jetzt noch soviel, dass es ihm diese Rastlosigkeit
bescherte?? Irgendetwas war noch da draußen, das er nicht
verlassen konnte...
Er hatte geglaubt, jemand, auch wenn er nicht mehr wusste wer
(der Vampir??), hätte ihm seinen größten und letzten Wunsch erfüllt
- oder es zumindest versucht. Aber... war es wirklich sein _wahrer_
Wunsch gewesen? War es wirklich das gewesen, was sein Herz und
seine Seele, seinen Geist und seinen Körper völlig erfüllte?
Nein... nein, da draußen war noch etwas - nein jemand!, der auf ihn
wartete, den er nicht verlassen konnte, nicht verlassen wollte...
"Hisui", flüsterte er leise und eine blutige Träne stahl sich über
seine Wange als er die Augen aufschlug und das wunderschöne
Antlitz seines geliebten Gefährten erblickte.
- - - - - -
[1]
"Ich halte deine Hand in meiner
Ich halte deine Hand und du bist so allein
Oh so allein
Deine Augen haben ihr Licht verloren
Deine Augen haben ihr Licht verloren und du bist leer
Oh mein Gott du bist so leer
(Ich bin in dich verliebt)
(Du bist mein Himmel heute Nacht)
Versuche das Herz zu finden, das du versteckst
Versuche das Herz zu finden, dass du vergeblich versteckst
Oh vergeblich
Und du bist mein Himmel im Leben
Und du bist mein Himmel im Tod, Baby
Leben und Tod, mein Liebling
(Ich bin in dich verliebt)
Du bist mein Himmel heute Nacht
(Ich bin in dich verliebt)
Das ist richtig"
Act V: Und machtest
mich Süchtig... nach dir
.
.
.
"In dieses Lebens ewigen Kümmernissen
Weiß ich ein Schloss, Chateau d'amour genannt
Von Rosen rings umsponnen und Narzissen
Träumt dort ein einsam stilles Wunderland,
Das durch den Tag lässt keine Fahnen hissen,
Scharlachen brennend wie der Herzensbrand.
Nachts, wenn im blauen Schein die Berge hängen,
Horcht Eros kichernd auf den Marmorgängen.
Und schöne Paare wandeln auf den Steigen,
Von Amoretten selig überflogen,
Versteckte Lauben üben sich im Schweigen,
Von kleinen Silberwolken überzogen,
Ein Schumannlied von hundert sanften Geigen
Klingt aus den Sälen durch die Säulenbogen
Und schwarz verhüllte, schwergeschiente Ritter
Behüten streng des Gartens goldne Gitter...
Was ist die Liebe? Ist's ein heller Stern
Der plötzlich leuchtet, den wir nie geschaut?
Ist's ein Erinnern, das unnennbar fern
Uns deucht und nun in unsre Seele taut,
Jäh aus der Schale springt und einen Kern
Uns zeigt, so voller Süße, dass uns graut?
Ich bin dir gut. Du bist mir gut. Nichts weiter.
Dann klimmen wir hinauf die Himmelsleiter.
~Aus "Poggfred" von Detlev von Liliencron (1844 -1909)"
.
.
.
Leise steckte er die Kappe wieder auf seinen Füller und legte ihn
beiseite. Da er wirklich außergewöhnlich schnell schrieb und die
Ideen jedes Mal nur so aus ihm heraussprudelten, war er trotz dass
er viel mehr als alle anderen geschrieben hatte, wie immer auch
schon viel früher fertig.
Es war später Nachmittag, der Nachhilfeunterricht bereits vorbei
und nun machten sie ihre Hausaufgaben, was hier eigentlich fast
wie eine normale Unterrichtsstunde gehandhabt wurde und somit
Pflicht war. Zufrieden lehnte sich Shinju auf seinem Stuhl zurück
und blickte nach rechts, sah Hisui, der, weil sie zusammenwohnten,
auch neben ihm saß, verliebt lächelnd beim Schreiben zu. Der Ältere
hatte eine wirklich sehr schöne Handschrift, die Akamatsu-san
sofort für ihn begeistert hatte. Sein geliebter Nachbar runzelte kurz
die Stirn, schien über etwas nachzudenken, und schrieb dann mit
konzentriertem Gesichtsausdruck weiter. Hisui schien das Schreiben
ebenfalls großen Spaß zu machen, auch wenn er dabei etwas
gemächlicher und wahrscheinlich auch aufmerksamer zu Werke ging.
Wieder runzelte jener die Stirn und begann ungeduldig mit seiner
linken Hand auf den Tisch zu tippen.
Unwillkürlich wurde Shinjus Lächeln breiter als er die schlanke Hand
mit langen, feingliedrigen Fingern in seine viel kleinere nahm und sie
leicht drückte.
Hisui blickte überrascht auf, erwiderte dann sein Lächeln mit einer
_spürbareren_ Wärme. Kurz blickte er sich um und ehe sich Shinju
versehen hatte, hatte der Ältere ihm auch schon einen flüchtig-
sanften Kuss auf die Lippen gedrückt.
Shinjus Wangen färbten sich vor Verlegenheit rot und er war
wirklich froh, dass sie ganz allein in der hintersten Reihe saßen und
Akamatsu-san gerade mit einem Schüler sprach, auch wenn sie
natürlich alles wusste. Doch gleichzeitig fühlte er wieder dieses
angenehm kribbelnde Flattern in seinem Bauch, das ihn seit nunmehr
einem Vierteljahr einfach nicht mehr verlassen wollte, fühlte sich
glücklich und mochte die Hand des Größeren nicht loslassen.
Der hatte nichts dagegen, nahm mit einem weiteren Lächeln wieder
seine Arbeit auf, spielte dabei selbstvergessen und doch sehr
zärtlich mit Shinjus zierlicher Hand.
Vor Glück wurde Shinju noch etwas röter. Sechzehn Jahre lang war
er schrecklich einsam gewesen, immer wieder gedemütigt und
enttäuscht worden, doch nun schien es ihm ein geringer Preis für
sein noch junges Glück zu sein. Mit geschlossenen Augen rief der
Kleinere sich die drei Monate vor Augen, die sie sich nun schon
kannten, rief sich jede Berührung und jedes einzelne Wort in
Erinnerung, erschauerte wohlig unter dem Ansturm dieser warmen
Gefühle in sich.
Seit er Hisui kannte war alles anders geworden. Niemand verlor
noch ein schlechtes Wort über ihn oder versuchte Shinju weh zu
tun, denn der Ältere hatte allen ausdrücklich klar gemacht, dass er
von nun an Shinjus Beschützer war und jeder, der Shinju etwas tun
wollte, es mit ihm zu tun bekam. Shinju begann sogar allmählich und
ein wenig zaghaft Freundschaft mit anderen zu schließen!
Ja, er wollte für den Rest seines... "Lebens" mit Hisui zusammen
sein, dessen war er sich sicher, war sich so sicher wie nie zuvor
über irgendetwas.
Er wollte, wie erst heute wieder in ihren Pausen, mit Hisui
ungesehen und ungestört unter der Trauerweide sitzen, in seine
Arme geschmiegt mit dem anderen zusammen träumen und ab und
zu eine Zärtlichkeit von dem Größeren erhaschen. Er wollte sich in
jeder Nacht mit Hisui vereinigen, ihn in sich fühlen und ihre ganz
besondere Verbindung spüren, dabei den liebevollen Worten seines
Geliebten lauschen und sie ebenso zärtlich erwidern. Er wollte jede
Nacht in Hisuis Armen einschlafen und an jedem Morgen wieder in
diesen starken Armen aufwachen, noch ein wenig die Wärme
genießen und still vor sich hinlächeln, bevor der Alltag an die Tür
klopfte. Mehr nicht.
Shinju wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann
nickte Hisui zufrieden und packte seine Sachen zurück in seine
Tasche und nur ein oder zwei Minuten später war die Stunde auch
schon vorbei, womit endlich ihre Freizeit begann.
Erfreut und äußerst lebendig sprang Shinju auf, machte sich, Hisui
einfach mit sich mitschleppend, auf, das Zimmer zu verlassen.
Der Jüngere freute sich sehr, denn heute würden sie beide wieder
zusammen ausreiten. Er liebte es einfach mit dem Älteren durch die
nähere Umgebung zu reiten und die beiden lieben Tiere, die sie
immer auswählten, waren auch jedes Mal sehr erfreut gewesen.
Shinju selbst hatte sich schon immer gut mit Tieren verstanden und
die Pferde hatten sich wie er selbst geradezu in den
Schwarzhaarigen verliebt.
Hisui war aus dem Sattel gestiegen und führte nun sein Pferd und
Shinju auf seinem schönen Fuchs zwischen den Bäumen hindurch zu
einer kleinen, zauberhaften Lichtung, die sie bei ihrem letzten
Ausritt entdeckt hatten.
Immer wieder suchte und fand er den Blick des Jüngeren, lächelte
ihm liebevoll zu, ohne dabei ein Wort verlieren zu müssen.
Er war glücklich und er musste nur in die beiden blauen Perlen
blicken, um zu wissen, dass Shinju ebenso fühlte.
Als sie beide aufeinandergetroffen und sich gefunden hatten, hatte
Hisui es bis dahin trotz seiner Einsamkeit und mehr als genügend
willigen Menschen nie gewagt, jemanden zu seinem Gefährten zu
machen. Er hatte viel zu große Angst gehabt, dass etwas schief
ging und hatte geglaubt, niemals jemanden zu so einem Monster zu
machen, wie er es war.
Ja, er hatte sich zutiefst verabscheut, für das, was er gegen seinen
Willen geworden war, wäre lieber gestorben, statt als Untoter über
die Erde zu wandeln und nicht einmal die Tatsache, dass er seinen
Opfern zum Dank für ihr Leben einen schönen Traum schenkte, wie
er es auch Shinju gelehrt hatte, hatte ihn damals beruhigen können.
Nun jedoch war er überglücklich und wusste, dass es gut so war,
musste seinem "Vater", den er so gehasst hatte, letztendlich
danken.
Am dankbarsten jedoch war er Shinju für die unendliche Liebe, die
er dem älteren Vampir entgegenbrachte: Heute wussten sie beide,
dass es nicht Shinjus Wunsch gewesen war, zu sterben, ebenso
wenig wie Hisui _wirklich_ bereit gewesen war, Shinju für immer zu
verlieren, nachdem sie erst kurz zuvor zueinander gefunden hatten.
Ja, ihre größte Gemeinsamkeit war wahrlich der Wunsch, dem
anderen nahe sein zu können und genau deshalb war auch Shinju
jetzt ein Vampir und nicht endgültig tot - weil sie sich liebten...
Und er freute sich für seinen Kleinen, denn auch für ihn war von nun
an vieles leichter. Fukusawa hatte sich bei ihm entschuldigt, ihm
seine Liebe gestanden und war fünfzehn Minuten später abgereist,
um dem Internat und Japan für immer den Rücken zu kehren. Und
von da an wurde Shinju nicht nur offen Sympathie gezeigt, ja er
wurde wirklich _akzeptiert_.
Ohnehin schienen die Menschen wie bei dem Älteren auch
unbewusst zu spüren, dass Shinju jene Träume der Ewigkeit vergab,
nach denen sich jeder Mensch mehr oder weniger oft sehnte, und
viele suchten instinktiv seine Geborgenheit suggerierende Nähe,
wenn sie ihn nicht sowieso schon immer sehr gemocht hatten.
Sie waren an der Lichtung angelangt und Hisui löste sich aus seinen
Gedanken, streckte seine Arme nach Shinju aus, der gerade aus
dem Sattel steigen wollte, fing ihn in einer Umarmung auf.
Fest presste er den Jüngeren an sich, hätte ihn am liebsten nie
wieder losgelassen.
/Gott, wie ich dich liebe.../
Die Pferde trabten zum Rand der Lichtung und zupften ein wenig an
dem saftiggrünen Gras, während die beiden Vampire unter den
Schatten uralter Bäume sanken, Hisui seinen persönlichen Engel
vorsichtig auf die grüne Wiese bettete und sich zärtlich an dessen
sanftgeschwungenem Schlüsselbein entlang küsste als müsse er auf
der Stelle sterben, wenn er Shinju nicht zeigte, wie viel jener dem
schwarzhaarigen Vampir bedeutete.
Sich nach jedem Zentimeter der blassweichen Haut verzehrend,
fuhr er den schlanken Hals hinauf, ritzte leicht die Haut über der
Halsschlagader um einen einzigen Blutstropfen aufzulecken und die
Wunde sorgfältig wieder zu schließen.
Es mochte sein, dass sie das rote Leben der Menschen brauchten
um weiterhin zu existieren, doch "Shinjus" Blut war noch immer das
süßeste von allen, würde es immer bleiben...
Langsam strich er mit seiner Zunge den Unterkiefer entlang und in
den linken Mundwinkel des Braunhaarigen hinein.
Ja, er war vollkommen allein gewesen, hatte in seiner Angst vor sich
selbst die Einsamkeit _gesucht_, so sehr sie auch schmerzte... und
dann hatte er den Jüngeren gefunden und zum ersten Mal in seinem
ganzen Leben hatte er seine Einsamkeit mit jemandem teilen
können...
... bis sie schließlich in ihrer Liebe zueinander ganz verschwand...
"Ich liebe dich", flüsterte Hisui dem jungen Mann mit den blauen
Perlenaugen ins Ohr und zog Shinju in einen langen, liebevoll
verlangenden Kuss.