Act I: Und
plötzlich warst du
da
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"Im Fallen
Sind die Kirschblüten
Noch schöner. Ist irgendetwas von Dauer
In dieser schmerzerfüllten Welt?"
~aus den "Erzählungen von Ise" Kap. 82 (9.Jahrhundert)
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Akamatsu-san[1] beendete die zweite Unterrichtsstunde dieses
Tages und entließ ihre Schüler.
Shinju[2] nahm seine Schulsachen und packte sie zurück in seine
Tasche, dann erhob er sich beinahe lautlos und wollte seinen
Mitschülern aus dem Raum folgen, die bereits davon gestürmt
waren, um in der Pause auf ihre Zimmer oder nach draußen zu
gehen.
Jetzt im Spätfrühling waren die Gärten und Wälder auf dem
Grundstück des japanischen Internats wirklich wunderschön und
Shinju konnte sich gar nicht satt sehen an der bunten Pracht.
Doch unerwartet hielt die Lehrerin den stillen Schüler zurück.
"Sensei[3]?", fragte Shinju leise.
Er mochte die zierliche, noch recht junge Frau, die ihn unter
anderem mit großem Erfolg die japanische Sprache lehrte, zudem
seine Klassenlehrerin war und ihm nun eines ihrer sanften Lächeln
schenkte. "Ich wollte dir mitteilen, dass der neue Schüler dir
zugeteilt wird, Shinju-kun[4]."
"M-mir, Sensei?", vergewisserte sich Shinju ängstlich. Er war gerade
ein halbes Jahr lang im Internat: In der letzten Hälfte des
vorangegangenen Schuljahres war er in die Schule nahe der alten
Kaiserstadt Kyoto eingewiesen worden, als er mit seinem
japanischen Vater aus Europa zurück nach Japan, genauer gesagt
Tôkyô, gekehrt war, damit sein Vater die Firma, wegen der er mit
seiner Frau(die wenige Jahre später nach einer schweren Krankheit
gestorben war) und seinem Sohn viele Jahre im Ausland gelebt
hatte, von Shinjus Großvater übernehmen konnte.
Nun war es Anfang April und pünktlich mit der Kirschblüte hatte das
neue Schuljahr begonnen.
Wie nicht anders erwartet, hatte er keine Freunde gefunden und
würde sie auch in diesem Schuljahr ganz bestimmt nicht finden, was
allerdings wenigstens seinen Noten zugute kam, sodass sich Shinju
damit trösten konnte, überall der Beste oder wenigstens _einer_ der
drei Besten zu sein. Manche waren sogar nett zu ihm, doch näher
anfreunden mochte sich keiner und die meisten der Jungen
verspotteten und bedrängten ihn wegen seiner stillen Art und seiner
androgynen Schönheit, seinem trotz des regelmäßigen Sports fast
zierlichen, schlanken Körperbaus. Allein die Mädchen mochten ihn,
doch natürlich wurden die Mädchen und Jungen voneinander
getrennt untergebracht und unterrichtet. Außerdem konnte er
durch viele schlechte Erfahrungen einfach nicht mehr das Vertrauen
aufbringen, sich jemandem zu öffnen, und mied so gut als möglich
die nähere Gesellschaft anderer Leute, um nicht eines Tages von
ihnen verletzt zu werden, so wie es früher oder später immer
geschah. Er war wirklich froh darüber gewesen, dass er durch eine
Fügung des Schicksal ein Doppelzimmer ganz für sich allein bekam.
Und jetzt hatte er zugegebenermaßen Angst, dass ihm nun auch
noch die wenigen Stunden seiner Freizeit geraubt würden, in denen
er sich, ganz mit sich allein, dem widmen konnte, was ihm Freude
machte, in denen er fast immer jeglichem Ärger mit den anderen
Jungen aus dem Weg gehen und friedliche Stille genießen konnte.
"So ist es, Shinju-kun", lächelte Akamatsu-san. "Er wird im Laufe
des Tages beginnen, dem Unterricht beizuwohnen, da er erst heute
früh nach Schulbeginn angekommen ist und er erst noch ein
Gespräch mit dem Direktor führen und sich einrichten musste. Wir
konnten dich leider nicht früher darüber informieren. Durch ein
kleines Missverständnis haben wir ihn seinem Alter nach in der
elften Klasse eingestuft, doch er hat eine lange Krankheit hinter
sich, weswegen er noch einmal die Klassenstufe Zehn besuchen
wird. Und da du ein Doppelzimmer für dich allein hast, wird er nun
die andere Hälfte des Zimmers bekommen. Ich habe versucht mich
für dich einzusetzen, weil ich weiß, dass du lieber für dich allein
bist, doch es war abzusehen, dass es mir nicht gelingen würde. Es
wäre unrecht einzelne Schüler zu bevorzugen... Gomen ne[6],
Shinju-kun, aber ich habe bereits mit ihm gesprochen und Hisui[7]
Shiro[8] ist ein sehr charmanter, netter junger Mann. Er hat auf
mich einen zwar sehr selbstbewussten, aber ebenso freundlichen
und offenen Eindruck gemacht und ich denke nicht, dass ihr
Probleme bekommen werdet. Ich könnte mir sogar gut vorstellen,
dass du und er gute Freunde werdet." Sie fuhr ihm mit einer
mütterlichen Geste durch das Haar. Tatsächlich schien sie es sich in
den Kopf gesetzt haben, ihm die Mutter zu ersetzen, sobald sie
erfahren hatte, dass Shinjus leibliche Mutter immer viel zu
beschäftigt gewesen - wenn auch um ihm ein gutes Leben und vor
allem eine sehr gute Schule zu ermöglichen - und schließlich
verstorben war.
Shinjus Wangen und selbst seine Nasenspitze färbten sich rot vor
Verlegenheit. "Akamatsu-san", machte er errötend und tauchte
unter ihrer Hand weg.
"Gomen", lachte sie. "Jetzt habe ich deine Haare ganz
durcheinander gebracht."
Tatsächlich war es auf der Internatsschule auch Jungen erlaubt,
ihre Haare lang zu tragen, was Shinju sehr erleichtert hatte, denn
er trug sein Haar gerne lang, auch wenn er so noch androgyner
bzw. fast feminin wirkte.
"Nicht so schlimm", murmelte er.
Sie lachte nur hell und machte dann eine scheuchende Geste. "So,
ich habe dich nun lang genug von deiner wohlverdienten Pause
abgehalten, also mach, dass du an die frische Luft kommst und ein
bisschen Farbe bekommst!"
Shinju verbeugte sich nur leicht vor ihr, was zeigte, wie vertraut sie
miteinander waren. Die meisten der anderen Schüler verbeugten
sich viel tiefer, so wie bei einer Respektperson - eben etwa einem
Lehrer - üblich. Dann rückte er den Riemen seiner Tasche zurecht,
lächelte Akamatsu-san noch einmal schüchtern zu und verließ wie
geheißen den Raum.
Wie immer spazierte er zu dem kleinen See der von den malerisch
blühenden Sakurabäumen[9]umsäumt wurde.
Jeder wusste, dass man nur zu der großen Trauerweide gehen
musste, wenn man ihn suchte. Da Trauerweiden jedoch nach dem
alten japanischen (Aber-)Glauben oft von den Yurei, einer Art
Gespenster, wie z.B. Rachegeister und Widergänger, bewohnt
wurden, hatte Shinju unter der Trauerweide zumeist seine Ruhe,
weil die allermeisten diesen Baum mieden. Da er aber nun mal seine
Kindheit und Jugend größtenteils in Deutschland verbracht hatte,
und sie einmal eine wunderschöne Trauerweide im Garten gehabt
hatten, verstand er zumindest diesen Aberglauben überhaupt nicht
und kümmerte sich auch nicht weiter darum, denn er hatte a)
nichts gegen Vampire und Co., sondern fand sie im Gegenteil
wahnsinnig spannend b) hatte er keine Ehefrau, die er hätte
ermorden können und c) auch keine Geliebte, der er hätte untreu
werden können.
In einiger Entfernung konnte er schon seine geliebte Trauerweide
ausmachen, unter der er so manche stille Stunde mit Tagträumen
verbracht hatte. Von hier musste er nur noch auf dem Weg
geradeaus gehen, bis er die Wiese betrat, also schloss er genießend
die Augen und sog tief die frische, süßduftende Luft ein, nahm sie in
sich auf wie einen Teil seiner selbst.
Als er das weiche, grüne Gras betrat, öffnete er die Augen und
erlebte eine Überraschung: Er war nicht allein.
Am Ufer des Sees stand unter der Trauerweide ein junger Mann,
der, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, die Uniform-
Jacke[10] geöffnet und das Hemd bis zur Brust aufgeknöpft, zwar
mit festem Blick über den See blickte und doch sehnsuchtsvoll in
fremde Fernen zu schauen schien, die nur er allein in seinen
Träumen besuchen konnte.
Er wusste nicht wieso, doch Shinju hatte das untrügliche Gefühl,
dass der Junge ebenso einsam war wie er, wenn vielleicht auch aus
einem ganz anderen Grund als er selbst.
Shinju wusste, dass er diesen jungen Mann nicht kannte, der trotz
seines gewiss nicht allzu hohen Alter fast seltsam erwachsen
wirkte. Sein langes Haar, das dem Jungen bis zu den unteren
Ansätzen der Schulterblätter reichte, bekam im Sonnenlicht
ungewöhnliche tiefblaue Reflexe und sein leicht kantiges Gesicht
und sein schlanker aber athletischer Körper waren so
ausdrucksstark und von solcher Eleganz, die man einfach nur als
japanisch bezeichnen konnte, dass ihn Shinju sicherlich jederzeit
wiedererkannt hätte. Außerdem informierte sich Shinju immer über
seine Schüler, damit er wusste, wem er aus dem Weg gehen
musste, und den Jungen vor sich hatte er noch nie zuvor gesehen.
/Ob er Hisui Shiro ist?/, überlegte Shinju und musterte die Gestalt
nachdenklich, während er sich vorsichtig näherte. Er wusste nicht
warum, aber er wünschte es sich. Der junge Mann strahlte eine
merkwürdige, fast melancholische, aber trotzdem erfrischende Aura
aus, vielleicht so wie ein sanfter Sommerregen, und was Shinju
verwirrte: der Fremde war ihm sofort sympathisch.
"Ein hübsches Plätzchen hast du dir ausgesucht, Kimura-kun",
bemerkte Shiro und drehte sich mit einem leichten Lächeln zu ihm
um, musterte ihn unverhohlen von oben bis unten und nickte dann
zufrieden.
Shinju dagegen blieb wie vom Blitz getroffen stehen, wurde
mucksmäuschenstill und wagte es nicht, etwas zu sagen. Er konnte
es sich nicht genau erklären, doch obwohl von Shiro - wenn er es
denn war - keine Bedrohung für ihn auszugehen schien, klopfte sein
Herz doch so kräftig, dass es sich anfühlte, als wolle es im
nächsten Moment seinen Brustkorb sprengen.
Shiro seufzte. "Aber sonderlich gesprächig bist du wirklich nicht",
ergänzte der Schwarzhaarige und streckte die Hand aus.
Shinju zuckte erschrocken zusammen und wartete zitternd und mit
eingezogenen Kopf, dass etwas geschah.
Doch es geschah nichts. Shiro sah ihn nur selbst leicht erschrocken
an, zog dann kopfschüttelnd seine Hand zurück. "Dann eben so",
sagte er schulternzuckend und verbeugte sich leicht vor ihm, so als
kannten sie sich schon ewig[11].
Zögernd tat Shinju es ihm gleich, verbeugte sich aber
unbeeindruckt in einem Fünfundvierziggradwinkel. "Shiro-kun, nehme
ich an? Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen", sagte er leise
und mit mehr Sicherheit in der Stimme als er tatsächlich verspürte.
Shiro hob fragend die Augenbraue, zuckte dann aber mit den
Achseln. "Ehre... na ja... Zumindest ist es _mir_ eine Freude... Aber
sag mal, ich dachte du hast in Deutschland gelebt? Dann müsstest
du es doch eigentlich gewohnt sein, wenn man dir die Hand gibt,
oder?"
Er blinzelte und wurde dann rot.
/Oh/, war das einzige, was Shinju denken konnte, doch dann
ärgerte er sich. /Aho[12]! Natürlich wollte er dich nicht schlagen -
er kennt dich doch überhaupt nicht!/
/Na und? Yokomitsu kennt dich _noch immer_ nicht und.../,
bemerkte eine andere Stimme in seinem Kopf.
Ärgerlich schüttelte Shinju den Kopf.
"Nicht?", fragte Shiro ungläubig.
"Äh, was?", machte Shinju verwirrt.
Shiro lachte nur, zog ihn in den Schwitzkasten und wuschelte ihm
durch die Haare. "Na du bist mir vielleicht einer! Erst unschuldige
Jungfrau spielen und dann nicht mal zuhören!"
Zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein und befreite sich
schnell aus der ungewöhnlichen Nähe, nahm unbewusst eine ihm
schutzbietende Abwehrhaltung ein. "Lass das!", fauchte er.
Shiro antwortete nicht, runzelte nur schweigend die Stirn ob seiner
defensiven Haltung. "Ist ja schön und gut, wenn du dich deiner
Haut erwehren kannst, Kleiner, aber _die_", er deutete auf Shinjus
geballte Fäuste, "wirst du bei mir nicht brauchen."
Der Kleinere knirschte mit den Zähnen, gab seine Hab-Acht-Stellung
auf und schob sich betreten eine vorwitzige Strähne der
seidigglatten und flaumweichen haselnussbraunen Haare hinter das
linke Ohr, die ein weiterer Grund für die ständigen Hänseleien waren.
"Ich mag dich nämlich, denke ich", lächelte Shiro gutmütig und
klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, bevor er sich
umdrehte und an den Stamm der Weide gelehnt hinsetzte.
Abwartend sah er zu Shinju auf.
Der konnte nur verwirrt zu dem eigentlich viel Größeren hinunter
blicken. /Meint er das im Ernst?/
Zögerlich kam er heran, stellte seine Tasche ab und lehnte sich im
Stehen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am Stamm
des uralten Baumes an, der ihm ein sonderbares Gefühl der
Sicherheit vermittelte. "Woher willst du das wissen?", fragte er
leise, blickte starr auf den See hinaus.
Shiro zuckte mit den Schultern. "Ich habe ja nicht behauptet, dass
ich es weiß. Aber ich denke es halt. Ist doch egal, warum!"
Shinju schüttelte bedächtig den Kopf, ließ sich aber doch neben
Shiro sinken. "Da bin ich-"
"... anderer Meinung, ich weiß", unterbrach Shiro ihn, ohne sich
dafür zu entschuldigen. "Aber das ist mir völlig egal! Wenn ich
jemanden mag, dann mag ich ihn halt. Basta! Was kann ich dafür,
wenn du mir gefällst?"
Schon wieder hatte er es geschafft: Shinju wurde rot.
"Und schließlich müssen wir uns von nun an ein Zimmer teilen, da
kann das doch nur von Vorteil sein, oder?", plauderte Mr. Mein-
Selbstbewusstsein-toppst-du-mit-deiner-Schüchternheit-ganz-
bestimmt-nicht ungezwungen weiter.
Der Braunhaarige nickte langsam, zuckte gleichzeitig mit den
Achseln. "Schon..."
"Na also!", kam es zufrieden von seiner Seite.
Shinju zog unwohl die Knie an und umschlang sie mit den Händen.
Andererseits schien Hisui Shiro wirklich anders als all die anderen -
nämlich _nett_ und _freundlich_ und vor allen Dingen
_unvoreingenommen_ - zu sein und Shinju wollte es sich nicht mit
ihm verscherzen. Besonders nicht, wenn man bedachte, wie Recht
der Junge neben ihm doch hatte: Es konnte nur von Vorteil sein,
sich mit seinem Zimmernachbarn zu verstehen - ganz besonders,
wenn man so einsam war wie Shinju. Also fragte er leise: "Warst du
etwa auch einmal in Europa? Oder Amerika?"
"Ich habe in England und in der Schweiz gelebt", gab Shiro
bereitwillig Auskunft. "Meine Eltern sind beide Japaner, aber mein
Vater war Diplomat, deshalb hab ich die wenigste Zeit meines
bisherigen Lebens hier in Japan verbracht." Er zuckte mit den
Achseln und seufzte. "Vor einem Jahr sind sie bei einem Autounfall
ums Leben gekommen und ich wurde schwer krank. Als ich wieder
gesund war, beschloss ich in mein Geburtsland zurückzukehren. Es
war zwar schön in England und der Schweiz, aber... na ja... die
Erinnerung... und so... du verstehst..."
Shinju zuckte zusammen und sah entgeistert zu dem
gutaussehenden Japaner neben ihm, der unterdessen die Augen
geschlossen hatte und nun traurig lächelte. "Und das sagst du mir
so einfach?", wollte er wissen und schnappte nach Luft.
Sein neuer Zimmernachbar zuckte nur mit den Schultern. "Warum
nicht? Ich hatte nicht das Gefühl, dass du ein gefühlloser Klotz bist
und dich darüber lustig machen würdest."
"Aber... aber..."
"Mund zu - es zieht", lachte Shiro. "ICH lebe noch, oder? Und was
einen nicht umbringt, dass macht einen stärker..."
"Aber...", machte Shinju hilflos.
Shiro lächelte ihm mit einem seltsamem Ausdruck zu, der ein Gefühl
der Wärme in Shinju aufsteigen ließ. Und noch während der Ältere
sagte "Du willst das sicher nicht hören, aber du bist wirklich
niedlich, weißt du das?", wurde Shinju klar, woher er den Ausdruck
kannte: Akamatsu-san legte ihn auf, wenn sie ihn mit einer ihrer
liebevollen, mütterlichen Gesten bedachte. Nur dass Shiro wohl
kaum Vatergefühle für ihn hegte. Was also war es, dass...
"Was haben wir eigentlich als nächstes?", unterbrach Shiro seine
Gedankengänge.
Verwirrt blinzelte Shinju. "Hast du denn keinen Stundenplan
bekommen?"
"Doch. Aber erstens hab ich ihn mir nach einmal draufschauen und
ihn dann in die Ecke schmeißen bestimmt nicht gemerkt, zweitens
machst du dir eindeutig zu viele Gedanken - worüber auch immer -,
sodass ich dich ja irgendwie ablenken musste und drittens war es
ein guter Grund, ein neues Gespräch anzufangen, bei dem du die
Farbe betreffend nicht gleich wieder den Sakura Konkurrenz
machst!", erwiderte der Größere nonchalant.
"Und wag es ja nicht, zu denken, ich würde mich über dich lustig
machen!", fügte er mit einem Blick auf den an seiner Unterlippe
kauenden Shinju zu. "Das war nämlich nicht meine Absicht!"
Der Kleinere gab es auf und seufzte nur ergeben: "Mathe."
"Wie?"
"Wir haben als nächstes Mathe."
"Oh, ach so... Was steht denn an, hast du ne Ahnung?"
"Wie wäre es, wenn du mal dein Buch aufschlägst?", schlug Shinju
augenrollend vor.
"Kein guter Vorschlag, wenn ich stattdessen auch deinen äußerst
charmanten Vorträgen lauschen kann", grinste Shiro.
Shinju wollte murrend aufstehen, doch Shiro hielt ihn zurück. "Hier
geblieben! Ich bin neu und als mein Zimmernachbar bist du
verpflichtet, mir alles zu zeigen und darauf aufzupassen, dass ich
nicht verloren gehe!"
"Hierher bist du ebenfalls ohne meine Hilfe gekommen und ich bin mir
sicher, dass du mich auch sonst nicht brauchen wirst - die
Mädchenumkleiden findest du ganz bestimmt allein!", versetzte
Shinju missgelaunt und sprang nun wirklich auf. Von wegen, sein
feiner neuer Zimmernachbar wollte sich nicht über ihn lustig
machen!
Der gab jedoch nur ein anerkennendes Pfeifen von sich. "Na hör mal
einer an. Da legt ja einer ganz schön Courage an den Tag..." Doch
plötzlich entfachte sich die Panik wie ein hellloderndes Feuer in ihm.
Unmerklich zitternd spürte Shinju, wie der andere näher kam. Mit
einem Mal bekam er Angst vor dem Jungen in seinem Rücken.
Unsicher wich er einen Schritt nach vorn, wollte sich dabei
umdrehen, damit er sehen konnte, wie der andere reagieren würde,
doch in diesem Moment hatte Shiro ihn auch schon bei einem
Handgelenk gepackt, zurückgezogen und mit seinem eigenen Körper
gegen den breiten Stamm der alten Weide gepresst.
Er _wusste_ einfach, dass man sein lautklopfendes Herz bis nach
Tôkyô hören konnte. Warum also kam niemand, und half ihm?
"Shiro-kun, ich..."
Ängstlich versuchte er sich unter dem muskulösen Körper
hervorzuwinden, doch die kräftigen, nichtsdestotrotz sehr schönen,
langen und feingliedrigen Finger hielten ihn unerbittlich dort wo er
war und Shinju konnte den gemächlichen Rhythmus spüren, der von
einer ganz bestimmten Stelle in Shiros harter Brust ausging.
Er war Nähe nicht gewöhnt und bis auf Akamatsu-san hatte der
sowohl körperliche als auch soziale Kontakt zu einem anderen
Menschen nie etwas Gutes für ihn zu bedeuten. Umso nervöser
machte ihn Shiros straffe aber weiche Haut auf seiner eigenen,
umso furchtsamer ließ ihn Shiros maskuliner mit einem gut
riechenden Männerparfüm vermischter Geruch werden und auch die
langen seidigen Strähnen, die von der Stirn des Größeren, der sich
nun zu ihm herunterbeugte, in Shinjus Gesicht fielen und ihn so sehr
kitzelten, bis ihn nur noch ein Reflex rechtzeitig aus dem Bann
dieser unglaublichen schwarzen Augen reißen und davor bewahren
konnte, Shiro mitten ins Gesicht zu niesen.
"Gesundheit, Kimura-kun", sagte Shiro leise und etwas im Ton
seiner Stimme ließ den Jüngeren erschauern. Ob im positiven oder
negativen Sinne wusste er selbst nicht mehr zu sagen.
"Danke, Shiro-kun", antwortete er leise, ohne ihn anzusehen.
Eine starke Hand schloss sich um sein Kinn und zwang ihn mit
sanfter Gewalt dazu, ihren Besitzer wieder anzusehen. "Nicht Shiro-
kun! Wenn, dann _Hisui-kun_!", wies er ihn streng zurecht.
Atemlos nickte er und wünschte sich gleichzeitig einfach nur ganz
schnell an einen anderen Ort, wo er allein und in Sicherheit war.
Sein Gegenüber kniff abschätzend die Augen zusammen, doch dann
nickte er schließlich leicht und Shinju wollte bereits erleichtert
aufatmen und sich vorsichtig losmachen, als er plötzlich...
...als er plötzlich noch einmal aufblickte und erneut von den
schwarzen Iriden[13] gefangengenommen wurde.
"Hisui-kun, ich...", machte Shinju verunsichert. In die Augen des
Schwarzhaarigen war plötzlich ein seltsam verlangender, ja
_erregter_ Blick getreten, der ihm Angst machte. Besonders, als er
spürte, wie der Blick der zwei schwarzen Tiefen begann, über die
feingeschnittenen Konturen seines Gesichts, seines Mundes und
schließlich über einen Punkt seitlich an seinem Hals zu gleiten.
Und was immer er auch glaubte, dass sein, wie er gestehen musste,
sehr attraktives - ja _schönes_ - Gegenüber nun tun würde, er
hatte plötzlich das konfuse aber unmissverständliche Gefühl, Shiro-,
nein Hisui-kun von etwas abhalten zu müssen.
Und ehe er sich versah hatte Shinju es auch schon getan...
...indem er seine leicht vor Aufregung und _Angst_ zitternden
Lippen auf den fremden, doch sonderbar einladend wirkenden Mund
legte und ihn zaghaft küsste.
Hisui gab einen überraschten Laut von sich und unwillkürlich
versteifte sich Shinju, harrte eines Schlages oder etwas ähnlich
Schmerzhaftem.
Doch stattdessen fühlte er im nächsten Moment, wie Hisuis Hände
Shinjus Handgelenke freigaben, damit die eine in seinen Nacken
finden und der andere Arm sich um seine Hüfte legen konnte,
sodass Shinju eng umschlungen und besitzergreifend an Hisui
gepresst wurde. Gleichzeitig öffneten sich die hungrigen Lippen des
Schwarzäugigen und eine heiße, weiche Zunge fuhr feuchte Spuren
über seine Unterlippe, ließ Shinjus Wangen vor Scham erröten, als
sie sanft anfing, die empfindlichen Mundwinkel zärtlich zu necken.
Shinju sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, doch
anstatt ihn in Ruhe zu lassen, nutzte Hisui die Gelegenheit und glitt
in die feuchtwarme Höhle seines Mundes, berührte und erforschte
das weiche, unbekannte Fleisch, umspielte neugierig die immer
wieder vor ihm zurückschreckende Zunge.
Ein amüsierter Laut war von Hisui zu vernehmen, als er seine Hand
in Shinjus weiches Nackenhaar vergrub und vorsichtig so daran zog,
dass sich ihm Shinjus Gesicht noch etwas mehr zuwandte, dann
begann er den fremden Nacken zu kraulen, während er mit seiner
Zunge fragend und doch spielerisch kitzelnd über Shinjus Gaumen
strich und so noch mehr Schamesröte in sein Gesicht trieb.
Und von einem Moment auf den anderen hatte Shiro Shinjus Zunge
geschickt in die Enge getrieben, sie gestellt und fing schamlos an,
sie zu umschmeicheln, sie werbend mit der eigenen zu umfahren.
Shinju wurde schwindelig und er fühlte sich, als hätte ihm jemand
den Boden unter den Füßen weggezogen, geradeso als hätte er
eben noch auf einer Tatami[14] gestanden. Doch wie er sich
errötend klar wurde, hatte dieses wortwörtlich erschreckend schöne
Gefühl bestimmt nichts damit zu tun, dass er allmählich keine Luft
mehr bekam.
Als ihm die Luft jedoch wirklich zu knapp wurde und Hisui immer
noch nicht gewillt war, aufzuhören, schaffte er es mit Müh und Not
seine Hände gegen die starke, steinerne Brust zu stemmen und ihn
mehr schlecht als recht von sich zu drücken.
"Hisui ich... kriege... keine... Luft... mehr", keuchte er.
"Tut mir Leid", schnurrte der mit reumütiger Stimme, sah aber ganz
und gar nicht so aus, als würde er seine Worte tatsächlich ernst
meinen.
Während sich Shinjus Lungen langsam beruhigten, klopfte sein Herz
nur noch schneller. Er... er hatte tatsächlich einen Mann geküsst...
Er hatte sich nicht "nur" küssen _lassen_ - er hatte ihn _von sich
aus_ geküsst!
Shinju riss die Augen auf als er sich der Tragweite seiner Gedanken
klar wurde.
"I-ich... oh Gott, ich...", stammelte er.
"Sh...", machte der Schwarzhaarige und küsste ihn kurz auf die
bebenden Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. "Hat es dir
gefallen?"
Der Kleinere schluckte hart, doch Kraft der Ungerechtigkeit dieser
Welt hatte er noch nie gut lügen können und selbst, wenn hätte er
es unter dem alles durchdringenden Blick der nun so unendlich
sanften, schwarzen Augen nicht gekonnt. Am ganzen Körper
zitternd, mit laut pochendem Herzen und aufgerissenen Augen
nickte er, weil seine Kehle plötzlich zugeschnürt war und seine
Wangen fühlten sich an als stünden sie in Flammen.
"Dann ist es gut", flüsterte Shiro leise lächelnd und vergrub sein
Gesicht genießerisch in der fast weißen Haut des Jüngeren.
In jenem Moment schoss plötzlich, ausgehend von seiner
Halsschlagader, ein unglaublich erregendes Gefühl von Leidenschaft
durch ihn, machte ihn in seiner verzückenden Sinnlichkeit trunken,
entführte ihn in eine entrückte, berauschende Welt voller bunter
Farben und so wunderschöner Empfindungen, wie Shinju sie nicht
einmal zu träumen gewagt hatte und er wünschte sich, dass dieser
unglaubliche Moment nie, nie zu Ende ginge.
Doch zu seinem Bedauern nahm es nur allzu schnell wieder ab und
noch gefangen zwischen Rausch und Wirklichkeit, meinte er zu
spüren, wie Hisui den einsamen Tropfen irgendeiner Flüssigkeit wie
etwa Blut oder Schweiß von der Länge seines Halses leckte.
Als Shinju jedoch über seinen Hals fühlte, ertastete er nur eine
warmfeuchte Spur über unversehrter, weicher Haut. Keine Wunde,
kein Schweißfilm.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
- - - - -
[1] "-san" ist das japanische Äquivalent zum deutschen
Herr/Frau/Fräulein, wobei es als Suffix _nach_ den Namen gesetzt
wird
[2] japanisch für: "Perle"
[3] japanisch für: "Lehrer"
[4] "-kun" ist eine weniger formelle Form des "Herr" und wird
ebenfalls als Suffix gebraucht. Es wird außerdem von Erwachsenen
zur Anrede jüngerer (Jugendlicher oder Kinder) benutzt aber die
,junge Generation' spricht sich auch gegenseitig damit an. Für
Mädchen wird jedoch oft auch "-chan"[5] verwendet.
[5] Namensuffix für Kleinkinder, niedliche Personen, Haustiere,
Kuscheltiere, etc. und oft auch Mädchen
[6] "Gomen ne" heißt "Tut mir Leid", ist also informell und "Gomen
nasai" ist die höflich-neutrale Version, also in etwa "Es tut mir
(sehr) Leid".
[7] japanisch für: "Jade"
[8] Shiro hat zwei Bedeutungen im japanischen (jedenfalls soweit
mir bekannt - und noch mal danke an Shu, die mich drauf
hingewiesen hat, dass ich beinahe vergessen hätte, das zu
übersetzen): Weiß oder Burg/Schloss
[9] Sakura wird die japanische Zierkirsche genannt, die in den
Farben weiß bis sattrosa äußerst schön blüht, jedoch keine
essbaren Kirschen hervorbringt, wie die hierzulande üblichen
Kirschbäume.
[10] Das Internat auf das Shinju geht, ist natürlich eine
Privatschule und bei Privatschulen in Japan ist es üblich, eine
Uniform zu tragen. Tatsächlich gibt es jedoch entgegen der
allgemein vorherrschenden Meinung auch einige staatliche Schulen,
bei denen das Tragen einer Uniform keine Pflicht ist.
[11] Für das Verbeugen, dass nicht nur zur Begrüßung sondern
auch zum Bedanken und anderen Gesten dient, gibt es in Japan
zahlreiche Regeln, doch im Allgemeinen verbeugt man sich im
Stehen vor einer sehr gut vertrauten Person, wie etwa
Familienmitgliedern oder engen Freunden in einem Winkel von ca.
15°, ansonsten ist in den meisten Fällen eine Verbeugung von etwa
45° angebracht. Mit 90° verbeugt man sich normalerweise nur bei
Zeremonien, wie etwa bei Besuch eines Schreins oder eines
buddhistischen Tempels. Dabei hält man Rücken und Kopf in einer
geraden Linie. Wenn man sitzt streckt man die Arme nach vorn vor
die Knie, setzt die Fingerspitzen etwa 10cm voneinander entfernt
ab und beugt den Oberkörper von der Taille völlig gerade nach vorn,
sodass - wie im Allgemeinfall angebracht - der Abstand zwischen
Boden und Kopf etwa 20cm beträgt. Dabei ist auch die Atemtechnik
wichtig. Am üblichsten und einfachsten ist dabei reisansoke (drei
Atemzüge): Während des Herunterbeugens einatmen, in der
Beugung ausatmen und beim Aufrichten wieder einatmen.
[12] japanisch für (in etwa): "Dummkopf"
[13] Mehrzahl von Iris (=Regenbogenhaut um die Pupille)
[14] Tatami sind Matten aus Reisstroh, welches mit einem Geflecht
aus Binsen überzogen ist. Die Ränder sind mit einer Paspel, meist
aus Streifen feiner Seide, gesteppt. Die Größe ist genormt, ähnlich
wie bei uns Matratzen und ähnliches. Ihr Format beträgt etwa
180cmx90cm. Tatamis dienen zur Gliederung der Raumgrundfläche
und auch als Untergrund für das Futon[15]. Wer zu Besuch in Japan
ist, sollte es unterlassen auf die Ränder einer Tatami zu treten. Das
gehört einfach zur Etikette und hat wohl auch einen sehr alten
Hintergrund - allerdings habe ich den bis jetzt noch nicht wirklich
erfahren können ^.^
[15] Steppendeckenähnliches, japanisches Bettzeug, bestehend
aus Ober- und Unterdecken, dass als Schlafgelegenheit auf den
Tatami ausgebreitet wird und tagsüber in Wandschränken verstaut
wird. Übrigens nicht zu verwechseln mit den Futonbetten, die es
hierzulande zu kaufen gibt (also diesen großen und breiten Betten
mit breitem Rand und den Riesenmatratzen), aber auch sehr
bequem sind *ihr Freund eins haben und sie es lieben tut* ^.^