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Die Monochroniken

01 :: Die Reise zum Südstern
von

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Suchende

Suchende
 

Loser Kies knirschte laut unter sieben Paar Stiefeln, der steinige Weg machte den Aufstieg schwer. Nicht lange und die Wanderer würden den Bergkamm erreicht haben. Von dort aus führte nur noch ein kurzes Stück auf dem Pfad, dann müssten sie ihn endgültig verlassen. In der Wildnis würden sie nur noch langsamer vorwärts kommen. Die Anstrengung liess allesamt sehr schweigsam werden. Bis auf einen. Aber keine Anstrengung konnte wohl groß genug sein, um diesen Kerl zum Schweigen zu bringen.
 

"Weißt du, Barthel.. ich habe kurz überschlagen, wie lange wir schon zurückhängen. Es sind drei Tage! Ganze drei Tage! Ich glaube nicht, dass wir rechtzeitig kommen, wenn das so weitergeht. Immerhin haben wir nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft!" ereiferte sich der dünne Hellhaarige und zog eine wichtigtuerische Schnute. Die Sätze waren an den Anführer unserer Gruppe gerichtet, der die Bemerkung seines jüngeren Cousins ohne Reaktion hinnahm. Als der Dünne keine Antwort bekam, zeterte er weiter über die zahlreichen Pausen und Zwischenfälle, die unsere Reise verzögert hatten. Der Angesprochene liess sich zu einem willkürlichen Nicken herab, um seinen Cousin wenigstens das Gefühl zu geben, dass er ihm zuhörte. Ich bewunderte Barthel, dass er so viel Geduld mit diesem ewig motzenden Kerl an den Tag legte, denn selbst mein Bruder, der mit mir das Schlusslicht bildete, verdrehte alle paar Minuten die Augen und ich wusste sehr genau, was er am Liebsten mit dieser Nervensäge angestellt hätte.
 

Die sieben Mitglieder auf unserer langen Reise hätten unterschiedlicher nicht sein können. Barthel führte die kleine Truppe an. Er war sehr groß und kräftig gebaut, wirkte von Nahem wie ein Bär und seine Stimme war tief und laut, was zu seinem Aussehen durchaus passte. Der Eindruck von einem groben Klotz aber täuschte gewaltig, denn Barthel war freundlich und ein ruhiger Zeitgenosse mit einem sanften Gemüt. Zudem war er einer der wenigen, die mich wirklich in der Gruppe akzeptiert hatten. Neben Barthel lief sein dürrer Cousin Filc, der an seinem Verwandten klebte wie ein Moskito an einer Milchkuh. Im Gegensatz zu seinem friedfertigen Cousin war Filc eine regelrechte Giftspritze. Er war nicht sehr groß und strohdürr, seine Arme waren kaum dicker als die Knochen und trotzdem hatte er die grösste Klappe, die ich je vernommen hatte. Das musste er uns täglich mehrmals unter Beweis stellen. Filc kommandierte gern herum, beleidigte uns schalkhaft oder sprach schlecht über die, die gerade nicht in Hörweite waren. Eigentlich tat er alles, um uns gegeneinander aufzuhetzen, aber er machte seine Sache schlecht und seine Lügen fielen auf keinen fruchtbaren Boden. Er bemerkte immer zu spät, wenn er eindeutig übertrieben hatte und flüchtete sich dann unter den Schutz seines respekteinflößenden Cousins, der jedes Mal die Sache schlichtete, bevor jemand wirklich handgreiflich werden konnte. Ein feiger Rotzlöffel dieser Filc, mochte man sagen. Doch aus dem Alter sollte er längt herausgewachsen sein. Mit seinen 22 Jahren war er der Jüngste nach mir in der Gruppe und führte sich regelmässig auf wie ein Kleinkind. Filc wurde in stillem Einverständnis weitgehend von uns ignoriert. Das schien der Junge nicht zu bemerken oder er wollte nicht, denn seine Stänkereien hörten nicht auf.
 

Hinter Filc und seinem großen Mundwerk lief der wohl seltsamste Mann, den ich bisher gesehen hatte. Von ihm wussten wir alle nicht viel. Woher er kam, seinen Namen, Lebensweg, nichts. Selbst seine Statur liess sich schwer schätzen, denn er trug einen weiten dunklen Umhang, der alle Konturen unter sich verbarg, sogar das Gesicht lag versteckt unter der tiefen Kapuze, die er ständig übergezogen hatte. Ein einziges Mal bisher hatte ich sein Gesicht gesehen als er schlief. Es war blass und sah aus wie Porzellan und glänzte. Es war mir völlig unmöglich, sein Alter zu schätzen. Seine Haut war wie eine starre Maske. Ich hatte solch ein Wesen noch nie gesehen, die Gesichtszüge waren nur bedingt menschlich, eher unwirklich - fast wie aufgemalt. Ich hatte ihn lange angesehen und gemustert, bis ich bemerkte, dass er die Augen geöffnet hatte und mir entgegensah. Doch er sagte nichts, er sagte nie etwas, schlug nur die Kapuze wieder über sein Gesicht und schlief weiter. Der Mann war mir ein Rätsel, wie allen hier. Nun, Barthel hatte ihn mitgenommen, aber er schwieg sich über die Identität des seltsamen Mannes aus, sosehr ihn sein Cousin auch mit Fragen löcherte.
 

Nach dem Geheimnissvollen trotteten Yens und Gabriel. Erst nach mehreren Tagen konnte ich die beiden unterscheiden. Eineiige Zwillinge, gleich im Aussehen, in der Sprechweise, im Verhalten. Es waren ernste ehemalige Schmiedegesellen, die selten lachten und sich niemals mit unnützen Beschäftigungen die Freizeit vertrieben. Lieber lasen sie in Fachbüchern, übten oder reparierten etwas. Sie waren schon 26 und wohl zu alt, um Ruhe zu genießen oder sich eine Auszeit zu gönnen, vermutete ich. Allgemein waren sie eher kühl und manchmal konnten sie sehr berechnend und egozentrisch sein. Gerade Gabriel, der scheinbar etwas weniger ehrgeiziger als sein Zwillingsbruder schien, war zumindest in Gedanken radikaler als der stets etwas missgelaunte Yens. Die Zwillinge des Trübsinns, so hatte sie Filc genannt. Aber diese zwei waren leicht reizbar und Filc überlegte es sich inzwischen zweimal, ob er frech zu ihnen sein wollte.

Übrig blieben noch mein Bruder und ich, die den Schluss der kleinen Karawane bildeten. Kaleb war ein aussergewöhnlich gut aussehender junger Mann und ich konnte es nie verstehen, dass er ausgerechnet jetzt fort wollte von zuhause, wo eine wunderschöne Verlobte aus gutem Hause auf ihn wartete. Wäre er nur bei uns geblieben..
 

Mein Bruder ist 26, ganze acht Jahre älter als ich, aber wir verstehen uns trotzdem sehr gut. Es ist Zufall, dass ich auf dieser Reise dabei bin, unter normalen Umständen hätte mich Kaleb sicher nie mitgenommen. Aber am Tag seines Aufbruchs ist etwas sehr Seltsames passiert, an das ich nachträglich auch garnicht nachdenken will. Hauptsache, ich bin mit ihm zusammen auf einer langen Reise. Deren Ziel ich aber nicht kenne. Denn eigentlich hätte ich überhaupt nicht hier sein dürfen. Es gibt etwas, das die restliche Gruppe verbindet und das ich nicht besitze. Und das ist die Begabung für Magie.
 

Mein Name ist Vates und zusammen mit meinem Bruder und seiner Reisegruppe waren wir nun schon ewig unterwegs, durch viele Länder und fremde Gebiete. Wochen schon dauerte die Reise, oder gar Monate? Ich wusste es nicht mehr. Mit dem Schiff über das Meer, weite Strecken durch die Wüste auf Dromedaren, dann zu Fuss durch die Berge. Ich hatte mich nie beklagt, nicht über die Übelkeit auf dem Schiff, nicht über die Hitze in der sengenden Wüstensonne, nicht über die Tortur der Bergwanderung oder die Kälte in den dünnen Zelten nachts. Trotzdem fühlte ich, wie täglich die Ablehnung gegen mich grösser wurde.
 

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Mein Bruder nennt es eine Gabe, für mich ist es eher ein großer Fehler. Gefühle von jedem Wesen, nicht sichtbar, nicht zu spüren für normale Menschen, liegen in meinem Kopf ausgebreitet wie ein Bilderbuch. Unsicherheit, Angst, Freude, Liebe, Trauer, alles was einen Menschen bewegt, jedes Gefühl dringt in mich ein und ich kann nichts tun, um mich davor zu verschliessen. Zwar sind es nur Schemen, die ich grob erahnen kann, aber sobald mich jemand berührt, fliessen all seine Gedanken, Gefühlseindrücke in meinen Kopf, ungebremst und ungefiltert, so klar, als würde ich die Gedanken selbst denken, die dahinter stehen. Deshalb mag ich es nicht, berührt zu werden. Mein Bruder stellt sich diese Gabe ungeheuer interessant vor. Natürlich fühle ich, wenn jemand lügt, ob jemand hinter einer Maske aus Freundlichkeit nur Hass im Herzen trägt. Und dass jemand, der laut, boshaft und gemein ist, im Grunde nur einsam ist und nach Aufmerksamkeit und Liebe schreit. Wenn es einem Menschen schlecht geht oder trauert, Todesängste aussteht oder verliebt sei, nichts bleibt mir verborgen - aber ich will es garnicht wissen, mir ist das alles viel zu viel. Ich bin lieber alleine in meinem Geist und meinem Körper.
 

Unsere Eltern merkten erst spät, dass ich anders war, als die Kinder, die sie kannten. Ich war oft scheinbar grundlos beleidigt, weinte oft, obwohl niemand mir etwas getan hatte. Oder ich tröstete meine Mutter, wenn sie Kummer hatte, den niemand, nicht ihr eigener Mann bemerkte. Ich konnte von klein auf in die Herzen der Menschen sehen und reagierte darauf, ohne darüber nachzudenken. Bis meine Mutter mir erklärte, dass ich das nicht machen durfte. Ich sollte nicht weinen, nur weil ich etwa glaubte, dass das Kind von nebenan schlechte Dinge über mich dachte. Ich sagte meiner Mutter, dass ich das nicht glaubte, sondern wusste. Natürlich gibt niemand etwas auf das Geschwätz von phantasievollen Kindern. Alle, bis auf meinen Bruder. Kaleb nahm mich oft bei der Hand und fragte mich, was ich spürte. Für ihn war es ein Spiel, das ich gerne mitspielte, denn er dachte oft an lustige Dinge, die uns beide zum Lachen brachten. Er war immer schon ein fröhlicher Kerl gewesen und in seiner Nähe fühlte ich nur Positives. Später nahm er mich mit zu seinen Mädchen. Nach dem Treffen sollte ich ihm sagen, was die Mädchen von ihm dachten und so blieben ihm einige peinliche Situationen erspart.

Irgendwann erkannten dann auch Mutter und Vater, dass ich nicht gelogen hatte, aber gleichzeitig mit dem Glauben in mich, bekamen sie Angst vor mir. Auch das spürte ich und fragte sie danach. Sie stritten das natürlich ab. Irgendwann merkte ich dann, dass es nicht gut war, anderen zu erzählen, was ich konnte. Freunde wollten nicht mehr mit mir spielen, weil sie nicht wollten, dass ich in ihren Kopf reinguckte. Aber die Kinder waren wenigstens ehrlich. Erwachsene lügen oft und lächeln dabei. Ich konnte nicht fassen, wie manche Leute sich so verstellen konnten und keiner etwas davon merkte.
 

Ich war gerade 6 Jahre alt. Mein Vater feierte Geburtstag. An diesem Tag war mir schon seit dem Morgen übel, doch trotzdem half ich dann, die Gäste zu bewirten. Mein Vater hatte viele Freunde und Bekannte eingeladen, darunter auch einen Nachbarn, der sonst eher selten bei uns gesehen wurde. Als er zum Fest stieß, gab er meinem Vater die Hand. Ich hatte kaum hingesehen, doch in diesem Moment drückte mir etwas auf die Brust. Ich erschrak, ich konnte das Gefühl nicht zuordnen. Ich sah zu meinem Vater, doch beide lachten, der Nachbar übergab meinem Vater ein Geschenk. Ich sollte es auf den Küchentisch stellen, also nahm ich das Geschenk und da war wieder dieses Gefühl, das mir die Luft aus der Lunge drückte. Der Nachbar wich meinen torkelnden Schritten aus und stupste mich dabei an. In diesem Moment machte ich die grausigste Erfahrung meines bisherigen Lebens. In diesem winzigen Bruchteil der Berührung fühlte ich Hass, tiefster, blanker Hass. Alles in mir schrie nach Verachtung, Feindseligkeit und der Drang nach Rache gegen meinen Vater. Es war das Grässlichste, was ich je in meinem Leben gefühlt hatte, mir wurde speiübel und schwindlig von der Wucht dieser Eindrücke, ich stolperte und hielt mich am Hosenbein desNachbarn fest. Dieser blickte auf mich hinunter, hob mich hoch und lachte mich an: Na? Hast du deine Nase in den Weinkrug gesteckt? Hehe! Nein, so ein hübscher Junge!
 

Haut an Haut berührte ich ihn, doppelt so intensiv waren die Gefühle, der unendliche Hass dieses Mannes. In dem Augenblick war es auch mein Hass. Und plötzlich verschob sich dieser Hass. Nicht mehr mein Vater war es, den ich durch die zornesblinden Augen des Nachbarn sah. Ich blickte auf mich selbst. Ich hasste mich mehr als alles andere auf der Welt. Ich wurde kalkweiss, als ich die Mordlust zwischen meinen Gedanken entdeckte. Ein Bild, voller Gierde, einfach zuzudrücken und meinem Leben ein Ende zu setzen, lag so deutlich vor meinen Augen, dass ich die Wirklichkeit mit diesem irren Gedanken verwechselte. Das Geschenk fiel klirrend zu Boden, ich fing an zu strampeln, zu weinen und schrie in Todesangst nach meiner Mutter. Der Nachbar ließ mich verschreckt los, meine Mutter zerrte mich sofort ins Haus, schrie mich an und sperrte mich auf den Dachboden, bis das Fest vorbei war. Ich klebte solange am Fenster, mit klopfendem Herzen, voller Angst und beobachtete den Nachbarn. Er lachte und feierte mit den anderen Gästen, als ob nichts gewesen wäre. Ich konnte das nicht verstehen. Ich hatte Furcht, der Nachbar könnte meinem Vater oder meiner Mutter etwas antun, aber nichts geschah. Nach dem Fest kam mein Vater ins Haus und prügelte mich windelweich.
 

Sehr zum Leidwesen meiner Eltern geschah es noch öfter, dass ich es nicht verstand, wenn mich ein böser Gedanke erwischte. Es war nicht die Wirklichkeit. Es waren nur Gedanken. Nur ein Gedanke, weiter nichts. Es war nicht schlimm, wenn jemand einmal etwas Schlechtes dachte, ich sollte es ignorieren. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich alles für mich behalten, was ich danach gespürt hatte, egal wer es war und was es war. Ich versuchte mir mit der Zeit jegliche auffällige Reaktion abzugewöhnen, wenn ein erschreckender Gedanke mich erreichte und ging bald jeder Berührung aus dem Weg. Und langsam aber sicher hatte ich mich völlig aus dem lebhaften Alltag meiner Altersgenossen zurückgezogen.

Nur mein Bruder hat immer zu mir gehalten. Er verstand es, wenn ich trotzdem Angst hatte vor Menschen, die erschreckende Gedanken hatten, obwohl sie nie etwas Böses im Leben tun würden. Er hatte keine Scheu vor mir und meiner seltsamen Begabung, er war neugierig und es machte ihm Spass, mein "Talent", wie er es nannte, für Spiele einzusetzen. Das machte mir nichts aus, da ich selbst meinen Spass damit hatte. Ich spürte manchmal, dass er sogar ein bisschen eifersüchtig war, weil ihm selbst diese Fähigkeit verwehrt war. Dafür hatte er doch ganz ähnliche Begabungen.
 

Kaleb war selbst etwas Besonderes und wurde von vielen in unserem Dorf deshalb etwas schräg angesehen. Man traute ihm nicht. Kaleb war magiebegabt und einige Jahre auf einer Magierakademie gewesen. Obwohl niemand in unserer Familie je etwas mit Magie zu tun gehabt hatte, waren also gleich zwei sonderbare Kinder entstanden. Mein Bruder Kaleb, der gutaussehende, sehr erfolgreiche junge Mann, der gut bei Frauen ankam und vor allem auch einen Großteil des Geldes in die Familie brachte. Mit kleinen Magiedemonstrationen und Tricks erschlich er sich charmant die Herzen der feinen Damen im Schloss des Herzogs und in Edelhäusern und wurde reichlich beschenkt, genoss einen hervorragenden Ruf und verlobte sich schliesslich mit der bildhübschen Tochter eines schwerreichen Bauunternehmers. Der älteste Sohn meiner Eltern war in der Stadt zumindest überall bekannt und beliebt, was meine Eltern unendlich stolz machte, auch, wenn die Dorfleute den Magiebegabten nicht trauten und Kaleb am liebsten in der Ferne auf Reisen sahen. Und das sahen sie oft, denn mein Bruder war ein rechter Abenteurer. Er reiste lange und sehr weite Strecken, kam immer mit Bergen von Mitbringseln nach Hause, exotische, seltsame Dinge und Früchte, die noch nie jemand gesehen hatte.

Mir brachte er Bücher mit. Er wusste, dass ich sie liebte und jedes einzelne von ihnen verschlang. Kam Kaleb nach Hause, war es jedesmal wie ein Fest. Kaleb kam und alles war wieder gut. Meine Eltern waren selten fröhlich und gut gelaunt, wenn Kaleb nicht zuhause war - es fehlte einfach der gute Geist im Hause. Kaleb war ein Gute-Laune-Garant, in seiner Nähe wurde es nie langweilig. Er hatte eigentlich alles, was man sich für einen Sohn wünscht. Gutes Aussehen, kräftige Arme, einen schlauen Kopf, Charme, Humor, gepflegte Umgangsformen, ein schmelzendes Lächeln und ein stattliches Selbstbewusstsein. Zudem war er weltoffen, abenteuerlustig, stets gutgelaunt und spendabel, der perfekte Sohn.
 

Vielleicht hätte ich eifersüchtig sein müssen, aber das war ich wirklich nur sehr selten und selbst wenn, hat er meine kleinen Anflüge von Minderwertigkeitsgefühlen schnell im Sande verlaufen lassen. Kaleb war einfach wunderbar. Wie schnell brachte er es immer fertig, mich auf andere Gedanken zu bringen, wenn ich gerade anfing an mir zu zweifeln. Wie schnell hat er mir dann bewiesen, dass er mich mag und braucht und ich keinen Grund habe, soetwas zu denken. Nein, neidisch konnte man da einfach nicht sein. Eher voller Stolz, so einen Bruder zu haben. Ich bewunderte Kaleb wie meinen persönlichen Helden. Für mich war er bester Freund, Vater und Vorbild in einem. Er war einfach genau so, wie man sich nur wünschen kann. Ein Ideal. Und er gab mir nie das Gefühl, weniger wert zu sein als er. Keinen Menschen mochte ich lieber, nicht einmal meine Eltern. Aber das wussten sie.
 

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Und seit einer langen Zeit nun sind wir beide auf Reisen. Ich erinnere mich, wie Kaleb die Familie besucht hatte, ein letztes Mal, wie er mir damals anvertraut hatte. Danach wollte er weit weg gehen - für immer. Für mich ein schwerer Schlag, denn mir war klar, dass ich ohne Kaleb zuhause nicht glücklich werden würde. Ich bettelte, er solle mich doch mitnehmen. Und letztendlich hat er es getan. Nur.. eine seltsame Geschichte, an die ich mich nicht gerne erinnere. Vielleicht hatte es etwas mit der Reise zu tun, von der er damals zurückkehrte. Er war irgendwie nicht mehr derselbe gewesen, obwohl für jemanden ausser mir diese Veränderung wohl kaum bemerkbar gewesen wäre. Er hat mich damals sehr erschreckt.
 

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Die Wolken hingen tief und schwer zwischen den Berggipfeln. In nebeligem Dunst zerfaserten sie stellenweise und liessen die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne durchblitzen. Meine Füsse brannten höllisch, die Stiefel waren für solch steinige Klettereien ausserhalb der Wege nicht gemacht worden und irgendwann spürte ich jeden spitzen Kiesel unter den Fußsohlen. Doch ich hütete mich, ein Wort darüber zu verlieren, denn das würde vor allem Filc einen tollen Anlass geben, wieder auf mir herumzuhacken. Ich war ihm die ganze Zeit ein Dorn im Auge und er ließ keine Möglichkeit aus, mich zu ärgern oder vor den anderen runterzuputzen. Zum Glück hatte ich schon lange verlernt, mich über Derartiges aufzuregen und so Filc seinen Triumph zu gönnen. Ich verstand nicht ganz, warum er so wild darauf war mich loszuwerden, denn ich war bisher sicher der Unauffälligste in dieser Gruppe gewesen. Vielleicht lag es ja wirklich allein an dem ersten Tag unserer Reise, als mein Bruder mich den anderen vorgestellt hatte:
 

"Ja.. das ist also Vates. Das ist Barthel, das Filc, da drüben stehen Yens und Gabriel." Ich fühlte mich von Barthel's Größe etwas eingeschüchtert und hob kaum den Blick, als ich ihn formlos begrüßte. Filc grinste breit und hob die Augenbrauen.

"Na super, ein neues Lämmchen, was?" lachte er keck und ergriff meine Hand um sie zu schütteln, worauf sich sofort ein heftiges Pochen im Kopf bemerkbar machte. Wirre und derart intensive Gedanken verursachen mir immer schnell Kopfweh und ich ließ schnell die Hand wieder los, die mir solch ein Chaos an verschiedensten Gedanken und Gefühlen offenbart hatte.

"Lämmchen?"

"Es ist mein Bruder, Filc!" zischte Kaleb böse und zuckte wütend vor, als der Junge nur unschuldig mit den Schultern zuckte.

"Ja, und?"

"Filc!" Barthel's Stimme erscholl wie ein Donnergrollen über mir und der Blick meines Bruders spiesste den schlacksigen Jungen förmlich auf. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging und war nicht darauf erpicht, der Grund eines Streites zu werden. Ich sah weg und begegnete dem Blick der Zwillige, die jetzt zu uns herübersahen, wie auch ein anderer Mann, den ich zuvor übersehen hatte und der mir auch nicht vorgestellt worden war. Eben der Kapuzenmann. Die Diskussion brach danach aprupt ab und die Reise begann.
 

Seit jenem Tag, das einzige Mal übrigens, an dem Barthel seine Stimme erhoben hatte, war ich auf Filcs Abschussliste nach ganz oben gerutscht. Ich blockte zwar immer wieder die Sticheleien ab, aber etwas genervt war ich nach einiger Zeit schon. Vor allem, da ich mir absolut nicht erklären konnte, wieso er so einen Zorn auf mich hatte, denn alleine ein scharfes Wort konnte das nicht bewirkt haben. Von meinem Bruder erfuhr ich, dass Filc schon auf der letzten Reise mit dabei gewesen war und sich etwas darauf einbildete. Es gab ja solche und solche Menschen. Solange er mich nicht tätlich angreifen wollte, konnte ich damit leben.
 

Es war der dritte Tag, nachdem wir den Weg verlassen hatten. Das Gelände war immer unwegsamer geworden. Hohes Gras, steinige Hänge und meterlange Dornbüsche stellten sich uns in den Weg und wir kamen nur sehr langsam voran. Wir rasteten am Rand einer irrsinnig großen Schlucht, deren Umgehung uns noch ettliche Tage kosten würde. Die Stimmung am Feuer war gedrückt, alle wussten, dass weitere Verzögerungen den Zeitplan empfindlich stören würden.

"Warum gehen wir denn nicht einfach durch die Schlucht? Wie letztes Mal?" fragte Filc seinen Cousin, während er auf einem Stück harten Brotes kaute. Ich hörte mit halbem Ohr zu.

"Viel zu gefährlich. Es würde uns zwar eine Menge Zeit sparen aber du weißt, dass uns nichts passieren darf auf dem Weg. Vor allem dir! Du weißt ja, was letztes Mal.."
 

Ich spürte, wie Filc seine Aufmerksamkeit in meine Richtung verlagerte. Ich starrte weiter in die Glut und spitzte die Ohren. Vielleicht würde ich ja jetzt endlich erfahren, warum Filc so verdammt wütend auf mich war.

"Wir sind einer mehr diesmal, vergiß das nicht" sagte Filc nur, als ob dies die Lösung aller Probleme sei. Einer mehr? Meinte er mich damit? Sicherlich. Aber was hatte das damit zu tun, ob etwas gefährlich war oder nicht?

"Ja, Filc, ich weiß.. nur.." sagte Barthel und ich spürte große Trauer in seinen Worten. Er war hin- und hergerissen. Er hatte Furcht. Und trotzdem war da etwas, das dagegen hielt. Ich stocherte weiter in der Glut und fühlte die Blicke beider Verwandten auf mir ruhen. Ich fühlte mich unwohl dabei und fragte mich wieder, warum Filc das gesagt hatte. War es denn wichtig für die Reise, wieviele Personen unterwegs waren? Oder ankamen? Der Gedanke machte mir Angst und ich zog mich vom Feuer zurück neben meinen Bruder, der sich schon in seine Decke gehüllt hatte.
 

"Was ist los?" murmelte er, als ich mich lautlos neben ihm einwickeln wollte. Manchmal glaube ich, mein Bruder hatte ebenso ein feines Gespür wie ich. Zumindest merkte er immer, wenn mit mir etwas nicht stimmte. Aber diesmal wollte ich ihn nicht beunruhigen. Ich schüttelte den Kopf und kuschelte mich in die dünne Decke. Ich dachte an die Schlucht und das, was Filc gesagt hatte. Der Giftzwerg konnte mich ja noch nie leiden. Aber jetzt schien er doch froh zu sein, dass ich da war. Obwohl er mich nicht mochte. Absolut unverständlich.

"Kaleb..?"

"Hm?"

"Wir sind doch schon so lange mit den anderen unterwegs und.."

"Du weißt, ich darf dir nicht sagen, wohin wir gehen.." murmelte Kaleb bedauernd.

"Ich weiß, ich will nur.. ich frage mich nur, warum sie mich so verabscheuen.."

"Wer sagt das? Oder wer denkt das?"

"Alle.. naja, ausser dir.. und Barthel.."

"Ach, so ein Quatsch!"

"Du weißt genau, dass ich das besser beurteilen kann als du", nuschelte ich.

"Jaja, du hast schon Recht.. aber ich weiß doch auch nicht, wieso!"

"Na sicher!" sagte ich streng.

"Hör auf, in mich reinzugucken" meckerte er, rollte sich auf die Seite und setzte nach: "Ich kann dir auch nicht helfen."

"Also weißt du doch Bescheid! Sag es mir! Es ist mir so unangenehm!"

"Nein, das werde ich nicht!"

"Warum nicht?! Dann könnte ich vielleicht etwas dagegen tun!"

"Nein.. das könntest du nicht. Ignorier sie einfach und gib ihnen keinen Grund, dich anzugreifen. Dann werden sie dich irgendwann auch akzeptieren."

"Wann denn? Wir sind doch schon wochenlang unterwegs. Dabei falle ich euch doch kaum zur Last. Oh Kaleb! Kannst du es mir nicht sagen, ich will es wenigstens probieren!"

"Nein!"

"Ich will es doch nur wissen! Das macht mich so unsicher!"

"Besser das, als.. was anderes."

"Als was?"

"Ruhe jetzt! Lass mich schlafen!" Er legte demonstrativ die Decke halb über den Kopf und seufzte ein letztes Mal.

"Du sagst es nicht, weil es mir wehtun würde, nicht wahr? Ist es nur, weil ich nicht so bin wie ihr? Oder weil du mich gegen ihren Willen mitgenommen hast?"

"Schlaf endlich.. morgen wird ein langer Tag. Um die Schlucht zu gehen wird uns verdammt lange aufhalten und Barthel wird ein heftiges Tempo vorlegen."

"Wir gehen durch sie hindurch."

Kaleb fuhr wie von der Biene gestochen in die Senkrechte und starrte mir ins Gesicht. "Wer behauptet das?!" wollte er wissen und ich erzählte ihm, was ich am Feuer gehört hatte. Allerdings ließ ich den letzten Teil weg, der mich so erschreckt hatte.

"So. Durch die Schlucht also. Dann will er tatsächlich die Abkürzung nehmen..." Seine Miene war wie versteinert, als er das sagte und seine Gedanken wurden kühl. Ich versuchte es zu ignorieren, aber Kaleb merkte es trotzdem. Ich erschrak, als er mich plötzlich bei den Armen packte und herzog.

"Vates.. ich darf das eigentlich nicht sagen, was ich dir jetzt.. also.. aber wenn wir wirklich durch die Schlucht gehen.. Vates, hör zu! Niemals..! Niemals darfst du über den Rand sehen, wenn wir am Fluss da unten vorbeilaufen! Hörst du? Niemals! Egal wer sagt, du sollst reinschauen! Nicht einmal ich! Verstanden?!"
 

Ich konnte nur noch nicken. Was war da unten so Schauerliches, dass niemand hineinschauen durfte? Aber wenn selbst Kaleb solche Angst davor hatte, dann musste es furchtbar sein! Er legte die Finger auf die Lippen und nötigte mir einen Schweigeschwur ab, dann wurde er wieder ruhiger.

"So.. und jetzt leg dich schlafen. Hab keine Angst, ja? Denk immer dran, dass ich bei dir bin. Dir kann nichts passieren." Er lächelte aufmunternd und wartete, bis ich mich wieder zusammengerollt hatte. Dann legte er sich wieder hin, aber ich fühlte, wie er noch lange voller Sorge nachdachte.
 

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