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Vendetta - Blutrache

Vorläufiger Titel
von

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Tödliches Blut

Das Taxi glitt lautlos durch die Morgendämmerung. Es hatte die letzten Ausläufer Tokyos längst hinter sich gelassen. Schuldig betrachtete durch das geschlossene Fenster die vorbeiziehende Landschaft, aber theoretisch hätte er auch einem Baum beim Wachsen zusehen können. Das Treffen mit Kuroudo hatte einiges in ihm aufgewühlt. Nicht dass er damit nicht gerechnet hätte, aber dennoch hatten die Erinnerungen einen bitteren Nachgeschmack. Er drückte seine Stirn gegen das kühle Glas um seine Gedanken zu zwingen sich langsamer zu bewegen.

Damals vor drei Jahren existierte die Gruppe ,Schwarz' erst seit Kurzem und stand gerade seit ein paar Monaten im Dienst von Takatori. Bis jetzt hatten er und die anderen noch nicht sonderlich viel zu tun gehabt. Nur kleinere Aufträge, die kaum Mühe machten aber eine Menge Geld brachten. Schuldig war das mehr als recht, er war schon damals alles andere als ein Workaholic.

Zu der Zeit hatte er gerade das Anwesen außerhalb von Tokyo erworben um das ihn sicher der ein oder andere seiner Kollegen beneidete. Er war momentan dabei, es zu renovieren und zerbrach sich schon seit Tagen den Kopf darüber, wie er das Problem mit Farfarello lösen sollte. Weil er von allem immer noch am besten mit ihm klar kam hatte Brad Crawford, der Kopf von ,Schwarz', vorgeschlagen, dass Schuldig ihn zu sich nahm. Jetzt mußte er eine geeignete Unterkunft in seiner neuen Villa einrichten und sich um Aufsichtspersonal kümmern, ohne dabei allzu viel Aufsehen zu erregen, was sich als schwieriger herauszustellen drohte als er zuerst angenommen hatte. Wie richtete man einen ganzen Hochsicherheitstrakt im Keller eines 200 Jahre alten Hauses ein ohne dabei Mitwisser zu produzieren? Noch dazu mußte es möglichst schnell gehen, denn Farfarello war augenblicklich im Takatori-Building im Herzen von Tokyo untergebracht und zwar in einer provisorisch hergerichteten Abstellkammer. Einige von Takatoris Leuten bewachten ihn, was eine ernst zu nehmende Gefahr darstellte weil diese Männer für ihre Schießwütigkeit bekannt waren. Nicht gerade der beste Ort für ihn...

Die Malerarbeiten in seinem neuen Wohnzimmer zu beaufsichtigen war nicht gerade spannend. Schuldig lehnte am Türrahmen und gähnte ausgiebig. Er hatte die halbe Nacht damit verbracht, in einem edlen Nachtclub ebenso edlen (und vor allem halbnackten) Frauen Geldscheine zuzustecken und sich zu betrinken. Jetzt hatte er einen ausgewachsenen Kater und ein gehöriges Schlafdefizit. Seine orangenen Haare standen in alle Richtungen ab und sein Hemd sowie sein Gesicht sahen sehr zerknittert aus. Trotzdem strahlte er über das ganze Gesicht. Er liebte es, anderen bei der Arbeit zuzusehen und selbst nichts anderes tun zu müssen als Anweisungen zu geben.

Als sein Handy klingelte und er sah wer ihn da anrief überlegte er sich ernsthaft, ob er den Anruf überhaupt entgegennahm. Er steckte es sogar wieder zurück in seine Hosentasche doch das Vibrieren des Telefons war so unangenehm dass er es ein paar Sekunden später wieder herauszog, nach einem weiteren Zögern aufklappte und es sich ans Ohr hielt.

"Schuldig."

"Ich weiß." Crawfords Antwort kam völlig trocken.

"Nein, Schwarz."

"Der ist alt."

"Nicht so alt wie du."

"Halt's Maul."

Schweigen.

"Schuldig?"

"Hm?"

"Warum sagst du nichts mehr?"

"Ich dachte ich solls Maul halten?"

Crawford stieß einen entnervten Laut aus.

"Komm bitte so schnell wie möglich her."

"Warum?"

"Es gibt Arbeit."

Schuldig verzog das Gesicht.

"Ich hab keine Zeit."

"Die Maler werden dein Haus schon nicht gleich dem Erdboden gleichmachen wenn du mal kurz nicht da bist."

"Da bin ich mir nicht so sicher..."

"Ich erwarte dich in spätestens einer Stunde."

Klack! Aufgelegt.

Schuldig seufzte. Unter normalen Umständen war er nur durch die schlimmsten Androhungen von Gewalt dazu zu bewegen, zur Arbeit zu erscheinen, besonders wenn er etwas anderes zu tun hatte. Ihm war jede Ausrede recht, auch wenn speziell bei den Malern höchstens zu befürchten war, dass sie ihre Mittagspause um fünf Minuten verlängerten wenn er nicht anwesend war. Crawford und er kannten sich nun schon sehr lange und Brad durchschaute seine Tricks inzwischen so gut, dass er genau wußte wie er Schuldig dazu bekam das zu tun was er von ihm wollte.

Er sah auf die Uhr. Eine Stunde war in Tokyo knapp bemessene Zeit wenn man irgendwo hin wollte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Crawfords Befehl Folge zu leisten. Er würde sogar damit durchkommen, wenn er nicht erschien. Aber in der Stimme des Engländers hatte ein Ton gelegen der mehr als alles andere deutlich gemacht hatte, dass es diesmal um eine wirklich ernste Angelegenheit handelte.

Auf dem Weg in sein provisorisch eingerichtetes Schlafzimmer im ersten Stock zündete sich Schuldig eine Zigarette an. Er beeilte sich nicht besonders damit sich anzuziehen. An der Haustür kehrte er dann nochmal um, ging in die Küche und schluckte zwei Kopfschmerztabletten auf einmal. Sollte sich der ,Job' als kompliziert herausstellen war es besser wenn er einen klaren Kopf hatte. Das Taxi wartete bereits auf ihn als er das Haus verließ. Er hatte den Handwerkern noch ein paar gutgemeinte Ratschläge und Anweisungen gegeben und hatte jetzt gerade noch eine halbe Stunde Zeit um pünktlich im Takatori-Building zu erscheinen. Dass er das nie im Leben schaffen würde war ihm völlig klar, und genauso egal. Aber er musste sich eingestehen, dass er etwas neugierig war, was ihn erwartete...
 

* * *
 

Der Taxifahrer musste ihn schon mehrmals angesprochen haben denn seine Stimme klang schon etwas ungeduldig als Schuldig endlich aus seinen Erinnerungen hoch schreckte. Sie standen vor seinem Anwesen, das von der aufgehenden Sonne effektvoll beleuchtet wurde und noch imponierender wirkte als ohnehin schon. Er kramte in seinen Manteltaschen und zog ein Geldbündel von unverschämter Größe hervor. Er zählte ein paar Scheine ab die in etwa der Summe entsprachen, die die Uhr des Taxis anzeigte und noch etwas mehr und legte sie in die wartende Hand des Fahrers. Dieser schob das enorme Trinkgeld wortlos in einen gesonderten Geldbeutel und bedeutete Schuldig, dass er nun bitte seinen Wagen verlassen möge. Schuldig würde sich nie an die Unhöflichkeit mancher Menschen gewöhnen aber er hatte gelernt dass es in manchen Situationen einfach besser war, es so gut es ging zu ignorieren.

Der Kies unter seinen Schuhen knirschte erbärmlich laut als er den Weg zu seiner Villa hochging, der ihm heute besonders lang erschien. Unerklärlicherweise war er sehr erschöpft. Er war eigentlich in ausgezeichneter körperlicher Verfassung und konnte viele Stunden ohne Schlaf auskommen und mehrere Kämpfe überstehen ohne dass seine Leistungsfähigkeit nachließ. Vielleicht hatte ihn auch einfach nur das lange Reden erschöpft...

Die schwere eisenbeschlagene Ebenholztür fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Er ließ seinen Mantel einfach auf die Marmorfliesen fallen. Er hatte nicht mehr die Energie dazu, ihn ordnungsgemäß in den Wandschrank am anderen Ende der Eingangshalle zu hängen. Mit schweren Schritten und hängenden Schultern begab er sich in den Salon, obwohl man ihn eher ,Waffenkammer' nennen sollte. Überall standen, lagen, steckten und hingen die verschiedensten Klingen, teilweise an den unmöglichsten Orten. Er zog im Vorbeigehen einen kurzen Dolch aus dem Türrahmen und legte ihn auf einen kleinen storchenbeinigen Tisch der unter der ungewohnten Last beinahe auseinander brach.

Am Kamin angelangt, in dem ein munteres Feuer flackerte, warf er sich in einen der weichen, wenn auch etwas ramponierten Sessel und zog Hugin und Munin aus ihren Holstern. Die silbernen Intarsien fingen das warme Licht ein und warf tausende kleiner Lichtflecken an die Wände als er sie vorsichtig auf den Tisch neben dem Sessel legte. Dann griff er nach der Karaffe, die daneben stand und eine goldfarbene, erlesene Köstlichkeit enthielt, wie sie hierzulande nur schwer zu finden war.

Mit dem Whiskeyglas in der Hand starrte er in das Feuer und konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber gleich ins Bett gehen sollte oder vorher noch seinen Bericht für Schwarz, seine Organisation, fertig stellen sollte.

Noch während er grübelte, klopfte es sachte an der offen stehenden Tür. Sein noch müde wirkendes Hausmädchen hatte ihm einen Kaffee aufgebrüht und die Kanne und einen großen Becher zusammen mit der Post auf einem silbernen Tablett drapiert. Er nahm seine Pistolen mit einer trägen Bewegung vom Tisch und legte sie auf ein Kissen am Boden damit sie es neben ihn stellen konnte. Sie sprach kein Wort mit ihm, doch was Außenstehende vielleicht als unhöflich empfinden würden gehörte hier zum Alltag. Seine Angestellten wussten um seine telepathischen Fähigkeiten, daher sprachen sie nur wenn es notwendig war.

Nachdem sie etwas Kaffee eingegossen und den Salon mit einem unterdrückten Gähnen verlassen hatte, kippte er den restlichen Inhalt seines Glases kurz entschlossen in die Tasse. Das Gebräu schmeckte so furchtbar, dass sich seine Gesichtsmuskeln unwillkürlich verkrampften. Er hoffte inständig, dass sein Hausmädchen bald lernte, einen Kaffee zu kochen dessen Konsistenz ihn weniger an Teer erinnerte. Die drei Briefe auf dem Tablett bekamen ein paar Spritzer Kaffee ab als er die Tasse energisch zurück stellte. Der Oberste hatte einen schlichten weißen Umschlag, der nicht auf seinen Inhalt schließen ließ. Wie Schuldig richtig vermutete, handelte es sich um eine Bestätigung seines letzten Auftrags von Takatori in Form eines zusammengefalteten Zeitungsberichts. Ein Mann mittleren Alters hatte sich vom Dach eines Hochhauses gestürzt, hieß es dort. Dann folgte eine ausführliche Stellungnahme eines Psychologen, der in unnötig komplizierter Ausdrucksweise erklärte, dass er keinen Grund für diese Tat feststellen konnte, da die betreffende Person Chef einer gut laufenden Firma und Vater einer kleinen harmonischen Familie war und nachweislich nicht unter Depressionen litt. Schuldig konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

Auf einem gesonderten Blatt stand noch eine kurze Nachricht von Takatoris Sekretär:
 

Auftrag erfolgreich erledigt.

Wir sind froh, Sie zu unseren Mitarbeitern zählen zu dürfen.
 

Schuldig rief sich kurz den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht des Toten in Erinnerung. Als er dessen Geist freigab und der Mann wieder einigermaßen klar denken konnte war es bereits zu spät um seinen Sturz vom Dach des fünfzehnstöckigen Bürogebäudes noch zu verhindern. Seine Gegenwehr gegen Schuldigs Telepathie war mehr als schwächlich gewesen.

Er lächelte als er den Brief zur Seite legte und den nächsten nahm. Diesen umgab der Duft eines einzigartigen Parfums. Schuldig wusste sofort, von wem er kam (von einer seiner Verehrerinnen) und legte ihn beiseite. Er würde ihn lesen wenn er sich etwas ausgeruht hatte.

Der dritte und letzte Brief auf dem silbernen Tablett steckte in einem gelblichen Umschlag, der sich bei genauerem Hinsehen als Vellum, sehr feines Pergament aus der Haut eines totgeborenen Kalbs, entpuppte. Schuldig rümpfte die Nase als ihm ein leichter Schwefelgeruch um ebendiese wehte.

Er war mit einer fein geschwungenen, kalligraphisch anmutenden Schrift an ihn adressiert, allerdings klebte keine Briefmarke darauf. Als er ihn umdrehte, sah Schuldig erstaunt, dass der Brief mit pechschwarzem Wachs versiegelt war.
 

[IMG]http://i22.photobucket.com/albums/b323/mangaartist/Fanfic/belialsiegel2.jpg[/IMG]
 

Die Buchstaben, die am Rand entlangliefen und offenbar einen Namen gebildet hatten waren aus irgendeinem Grund unleserlich. Neugierig geworden, wer ihm einen solch merkwürdigen Brief schickte, brach er das Siegel und zog ein eng beschriebenes Blatt (auch aus schwefeligem Vellum, wie er beiläufig bemerkte) hervor, das in der gleichen feinen Handschrift und in englischer Sprache verfasst worden war. Da stand:
 

Hochverehrter Schuldig,
 

Ich habe mir erlaubt, Ihnen einen Besuch abzustatten.

Zu meinem großen Bedauern habe ich Sie leider nicht an-

getroffen. Ich denke jedoch, dass ich Informationen von

größter Wichtigkeit angesichts der momentanen Lage für

Sie habe. Daher überlasse ich Ihrer reizenden

Haushälterin dieses Schreiben, in der Hoffnung, dass es

Sie noch rechtzeitig erreicht.

Wie Sie sicher bereits festgestellt haben, ist unsereins seines

Lebens oder wenigstens seiner wohlverdienten Ruhe

und Anonymität nicht mehr sicher. Gewisse Individuen, leicht

zu erkennen an ihrem Hang zu gleichartigen Anzügen,

beobachten uns und sollen auch zum Angriff übergegangen

sein.
 

Hier hielt er kurz inne. Woher konnte der Schreiber dieses Briefs schon nach so kurzer Zeit wissen, dass er eine Auseinandersetzung mit diesen Männern hatte? Vielleicht Zufall... Er las weiter:
 

Selbstverständlich ist dieser Zustand absolut inakzeptabel.

Ich werde Ihr Anwesen in Kürze erneut aufsuchen, in der

Hoffnung, mich mit Ihnen über dieses Problem beraten zu

können.

Des Weiteren denke ich, dass es angebracht wäre, wenn

der junge Mann, der sein Dasein ebenfalls in ihrem Haus

fristet, ebenfalls an der Unterredung teilnähme. Es dürfte

angesichts der ausnehmend wichtigen Sachlage kein

allzu großes Problem für Sie darstellen, ihm für eine kurze

Zeit den Aufenthalt in Ihren oberen Stockwerken zu

gestatten. Auch möchte ich sie bitten, ihm angemessene

Kleidung zukommen zu lassen. Es redet sich leichter, wenn

man etwas mehr Bewegungsfreiheit hat, als ihm im Moment

durch diese fürchterliche Jacke vergönnt ist.
 

Bis dahin verbleibe ich hochachtungsvoll...
 

Während des Lesens waren Schuldigs Augen immer größer geworden. Dass die Unterschrift fehlte nahm er schon nicht mehr wahr. Er war bereits aufgesprungen und auf dem Weg zum Zimmer seines Dienstmädchens.

Er klopfte zwar, wartete aber nicht bis er hereingebeten wurde sondern riss die Tür derartig gewaltsam auf, dass sie fast aus den Angeln fiel. Als er sein Dienstmädchen an den Schultern packte und auf sie einbrüllte, war sie so erschreckt, dass sie anstatt zu antworten nur abwehrend die Arme hob und die Augen fest zukniff.

Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass er auf die Art nichts erreichen würde. Seine Hände lagen nur noch leicht auf ihren Schultern. Dann besann er sich auf seine Fähigkeiten, ließ langsam Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit in ihren Geist fließen und als er sprach war seine Stimme leise und sanft:

"Also Yuko, hast du jemanden ins Haus gelassen?"

Yuko hatte nun einen leicht abwesenden Blick, doch ihr Atem ging ruhiger.

"Nein, niemanden, wie Sie es gewünscht haben..."

"Bist du dir ganz sicher? Ist vielleicht jemand im Haus gewesen ohne dass du es gemerkt hast?"

"Nein, Sir, absolut unmöglich. Die Hunde hätten angeschlagen..."

"Hast du jemandem erzählt, dass Farfarello hier lebt? Dem Fremden, der an der Pforte war?"

"Nein Sir. Welchen Fremden meinen Sie? Es war niemand da seit Sie fort gegangen sind."

Schuldig verlor die Geduld mit ihr. Er fuchtelte mit dem Brief vor Yukos Nase herum.

"Welcher Fremde Yuko?! Der, der dir diesen Brief gegeben hat! Er schreibt es sogar hier! Was ist nur los mit dir?!"

Sie betrachtete das Pergament kurz.

"Tut mir leid, Sir. Hier war niemand. Sie müssen sich irren..."

Schuldig ließ sie los und starrte sie ungläubig an. Der Fremde war hier gewesen, hatte mit ihr gesprochen. Daran bestand kein Zweifel. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Was hatte er mit ihr gemacht? Und vor allem: WER war er? Eines war jedenfalls klar. Schuldig würde keine Minuten ruhen, ehe er diesen Fragen auf den Grund gegangen war.
 

* * *
 

Obwohl der Verkehr im Zentrum Tokyos an diesem strahlenden Sommermorgen vor drei Jahren nicht zäher floss als sonst, kam Schuldig fast eine ganze Stunde zu spät.

Brad bekam einen seiner gefürchteten Schreikrämpfe, als er dessen Büro betrat, und schien sich nie mehr beruhigen zu wollen.

Schuldig stellte auf Durchzug und lächelte Brad nur um Verzeihung heischend an. Brads Brüllerei war mit der Zeit zu einer Art ganz persönlichem Begrüßungs-Ritual zwischen ihnen geworden. Aus den wenigen Worten, die einigermaßen verständlich neben undefinierbaren Lauten aus Brads Mund drangen, entnahm er, dass Brad "Oracle" Crawford in einer seiner Visionen gesehen hatte, dass sich Schuldig wie so oft verspäten würde. Deshalb war er bereits in Rage, kaum dass ihr Telefonat beendet war.

Schuldig wartete gelassen und immer noch lächelnd, bis sich Crawford heiser geschrieen hatte und sich anschließend wie üblich einen Beruhigungstee kochen würde.

Soweit kam es diesmal aber nicht, denn knapp fünf Minuten nach seiner Ankunft klopfte ein brutal wirkender, riesiger Mann mit einer stark blutenden Platzwunde an der Stirn an der Bürotür und führte dann Farfarello herein.

Dieser steckte noch in seiner Zwangsjacke, warf Brad und Schuldig einen gleichgültigen Blick zu und ließ sich dann umstandslos auf dem kleinen ledernen Zweisitzer nieder, der in der hinteren Ecke des Büros stand. Brad hatte wohl beschlossen, es für heute gut sein zu lassen. Er seufzte und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.

"Gut, wenn wir jetzt endlich alle da sind, können wir ja mit der Besprechung beginnen, nehme ich an" sagte er nach einer kurzen Pause.

"Kommt bitte mit in den Konferenzsaal..."

"Einen Moment noch" bat Schuldig, ging zu Farfarello und befreite ihn mit schnellen, geübten Bewegungen aus seiner Zwangsjacke.
 

Der Raum, den Crawford als ,Konferenzsaal' bezeichnet hatte, war, nüchtern betrachtet, nur eine bessere Putzkammer, die fast zur Gänze von einem monströsen dunklen Eichentisch mit in der Mitte eingelassenem Overhead-Projektor eingenommen wurde.

An einem Ende saß Nagi Naoe, der Computerspezialist und einzige Japaner bei ,Schwarz', und hämmerte mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Tastatur des vor ihm stehenden Notebooks ein. Theoretisch hätte er seiner Finger dazu gar nicht benötigt, denn er besaß die seltene Gabe der Telekinese. Das bedeutete, dass er Gegenstände nur durch seinen Willen bewegen oder sogar zerstören konnte.

Crawford setzte sich ihm gegenüber, während Schuldig und Farfarello nebeneinander an der langen, der Tür zugewandten Seite des Tisches Platz nahmen.

Schuldig hatte dem Iren, nachdem er ihm seine Zwangsjacke abgenommen hatte, seine Messer wieder gegeben. Jetzt begann Farfarello, phantasievolle Muster ins Holz zu ritzen. Das brachte ihm einen bösen Blick von Crawford ein, der sich aber ohne entsprechenden Kommentar Nagi zuwandte.

"Können wir anfangen?"

Nagi hörte auf zu tippen, warf noch einen kurzen Blick auf seinen Monitor und nickte dann. Er klappte sein Notebook geräuschvoll zu und sah den Engländer abwartend an.

Brad räusperte sich:

"So, wie ihr ja bereits wisst, hat Takatori wieder Arbeit für uns. Tatsächlich handelt es sich dabei um den größten Auftrag, seit wir für ihn arbeiten."

Schuldig wurde hellhörig und beugte sich etwas nach vorne.

"Takatori ist im Besitz eines für ihn äußerst wertvollen Gegenstands -"

Brad drückte auf eine kleine Fernbedienung, woraufhin der Overhead-Projektor zum Leben erwachte und ein Bild auf die gegenüber liegende Leinwand projizierte. Darauf war ein filigranes, silbernes Objekt zu erkennen, das auf Schuldig den Eindruck machte, als sei es der Entwurf eines äußerst exzentrischen Uhrmachers.

Brad fuhr fort:

" - oder vielmehr WAR er in seinem Besitz. Vor zwei Tagen wurde es aus seinem Safe entwendet. Offenbar war dieser Diebstahl von langer Hand geplant und wurde von absoluten Profis durchgeführt. Wir vermuten, dass es sich dabei um einen strategischen Schachzug eines seiner politischen Gegner handelt, sicher ist hingegen nur die Tatsache, dass wir es unter allen Umständen zurückbringen müssen - "

"Warum ist ihm dieses Ding denn so verdammt wichtig?" wurde er von Schuldig unterbrochen.

"Ich meine, es sieht zwar aus als ob es nicht gerade billig war, aber Takatori schwimmt doch im Geld..."

Crawford zog die linke Augenbraue hoch, ein unverkennbares Anzeichen dafür, dass ihn die Unterbrechung verstimmt hatte.

"Er will, dass wir es wieder beschaffen, mehr brauchst du nicht zu wissen."

"Seit wann übernehmen wir denn Takatoris Botengänge?"

Brads Augenbraue zuckte gefährlich. Nagi ging vorsichtshalber schon mal in Deckung, aber das Donnerwetter, das er erwartete, brach nicht aus. Stattdessen starrte der Engländer wieder das Bild an und redete einfach weiter als sei er nie unterbrochen worden.

"Soweit wir wissen, befindet es sich momentan auf dem Weg nach Osaka, und zwar in den Händen von so genannten ,Transporting Agents'. Nagi konnte einiges über sie herausfinden. Wenn du uns bitte deine Ergebnisse mitteilen würdest?" wandte er sich an den jungen Computerspezialisten.

Auf Brads auffordernde Geste hin verband dieser seinen Laptop mit dem Projektor und klappte den PC auf. Dann gab er einige Befehle ein und auf der Leinwand erschien das Bild eines Mannes, der selbst auf dem Schwarz-Weiß-Foto riesig wirkte.

Brad nahm Platz und Nagi setze den Vortrag fort.

"Wir haben es mit drei Agents zu tun. Das hier ist der Erste, sein Name ist Ryudou ,Undead' Hishiki. Er gehörte früher zu den ,Ultimate', einer berüchtigten Gang, die den Yakuza kaum nachsteht, und hat mindestens sieben Menschen auf dem Gewissen. Trotzdem ist er nicht vorbestraft. Seinen Beinamen ,Undead' hat er nicht umsonst, denn er ist schwer zu verletzen und unmöglich endgültig loszuwerden. Im Grunde ist er ein hirnloser Schläger, aber er ist sehr nachtragend. Die beste und sicherste Strategie ist, ihn als Ersten auszuschalten und zwar, indem man ihn ins Land der Träume schickt. Zudem wäre es von Vorteil, wenn er euch dabei nicht zu Gesicht bekommt."

Nagi drückte eine Taste und das Bild von Hishiki verschwand und machte dem einer hübschen, jungen Frau mit kurzen Haaren Platz.

Schuldig stieß einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

"Himiko ,Lady Poison' Kudou. Ihr harmloses Äußeres täuscht, sie stellt sogar eine größere Gefahr dar als Hishiki. Sie ist kein Nahkämpfer wie er sondern greift ihre Gegner aus der Ferne an. Zu diesem Zweck trägt sie sieben ihrer Spezial-Parfüms bei sich. Welche genau sie diesmal dabei hat konnte ich nicht herausfinden weil sie hunderte verschiedene besitzt. Allerdings scheint sie Favoriten zu haben. Zum einen wäre da das Feuerparfüm. Wer eine volle Dosis davon abbekommt, verbrennt innerhalb von Sekunden von innen heraus. Des Weiteren ist da noch das Retard-Parfüm, das die Degenierung des Gehirns zur Folge hat.

Ein Weiteres ist das Marionetten-Parfüm, mit dessen Hilfe sie jeden beliebigen Menschen zu ihrer Marionette machen kann, wie der Name schon sagt, und dafür sorgen, dass er sich gegen seinen Willen selbst gegen seine eigenen Verbündeten wendet.

Wenn ihr gegen sie antretet, solltet ihr also darauf achten, dass ihr nicht gegen den Wind steht und versuchen, möglichst nahe an sie heran zu kommen."

Ein weiterer Bildwechsel. Diesmal war es das verschwommene Bild einer Überwachungskamera. Es zeigte einen schlanken Mann mit schwarzem Mantel und einem breitkrempigen Hut, der zwar groß, aber nicht so riesig wie Hishiki wirkte.

"Der dritte im Bunde. Kuroudo Akabane, auch bekannt als ,Dr. Jackal'. Über ihn existieren so gut wie keine Informationen. Er kämpft vorrangig mit Skalpellen, das ist alles. Über seine sonstigen Waffen, seine Vergangenheit, seine Strategie falls er eine hat ist nichts bekannt."

Damit endete Nagis Vortrag. Beim letzten Satz hatte seine Stimme einen nörgelnden Ton angenommen. Dass er trotz seines überragenden Talents gewisse Informationen nicht beschaffen konnte empfand er als persönliche Beleidigung. Er verschränkte die Arme und schmollte vor sich hin.

Schuldigs Grinsen indes war mit jedem Wort stetig breiter geworden.

"Na, das hört sich doch nach einer Menge Spaß an" meinte er kichernd.

"Du solltest die Sache lieber ernst nehmen" sagte Brad, ohne ihn anzusehen.

"Oh, keine Sorge Brad. Ich nehme sie sogar TODernst"
 

* * *
 

Zurück in der Gegenwart erwachte Schuldig aus einem unruhigen Schlaf. Verschwommene Fetzen eines fernen Traumes trieben an seinem geistigen Auge vorbei, als er sich missmutig im Spiegel betrachtete. Er erkannte sich selbst kaum wieder, obwohl erst wenige tage seit seinem Zusammentreffen mit Akabane und dem Erhalt des beunruhigenden Briefes verstrichen waren. Zudem plagten ihn hartnäckige, drückende Kopfschmerzen, das Resultat schlafloser Nächte und ständiger, sich im Kreis drehender Gedanken.

Es war mitten in der Nacht. In etwas mehr als fünf Stunden würde er sich auf den Weg zu den Pforten von Mugenjou machen und es war sinnlos, sich bis dahin noch mal ins Bett zulegen. Er würde sowieso keinen schlaf finden. Stattdessen warf er sich seinen Morgenmantel über und ging leise in die Bibliothek hinunter. Nur weil er keinen Schlaf fand, musste er deshalb seinen Bediensteten nicht das Gleiche antun.

Um sich abzulenken begann er, längst überfällige Berichte vergangener Aufträge für ,Schwarz' endlich fertig zu stellen. Das wollte schon was heißen, denn eigentlich hasste er solchen Papierkram und drückte sich in der Regel mehr oder weniger erfolgreich davor. Konzentrieren konnte er sich nicht, dafür spukten ihm zu viele Fragen, den geheimnisvollen Briefeschreiber betreffend im Kopf herum. Bisher war er noch nicht wieder aufgetaucht und hatte auch sonst nichts verlauten lassen...
 

Der Vollmond schien durch die hohen Fenster der Bibliothek, als es an der Tür läutete. Schuldig war über seinen Berichten eingenickt und fuhr aufgrund des plötzlichen Lärms so heftig zusammen, dass einige Blätter vom Tisch gefegt wurden und zu Boden flatterten. Noch etwas orientierungslos bückte er sich, um sie wieder aufzuheben und erstarrte mitten in der Bewegung.

Wer stand um diese nachtschlafende Stunde vor seiner Tür und begehrte Einlass?

Er erwartete niemanden, soweit er wusste...

Er hörte, wie Yuko, vom Läuten geweckt, ihrer Pflicht nachkam und die Tür öffnete. Dann vernahm er ihre Stimme, wusste, dass sie nach dem begehr des Besuchers fragte. Die Tür zur Bibliothek lag nahe am Eingang und war nicht völlig geschlossen, trotzdem konnte er nicht verstehen, was der Besucher antwortete.

Langsam richtete er sich wieder auf und lauschte weiter, aber nun war nicht einmal mehr Yukos Stimme zu hören. Er wollte schon aufstehen und nach dem Rechten sehen als es klopfte und sein Dienstmädchen kurz drauf die Tür aufzog.

"Sir, ein Gast ist eingetroffen. Er wünscht, Sie zu sprechen."

Irgendwas stimmte mit ihr nicht. Sie sah Schuldig zwar geradewegs in die Augen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass sie in Wirklichkeit durch ihn hindurch sah.

"Wer ist es?" fragte er misstrauisch.

Bevor sie antworten konnte, legte sich aus dem Schatten hinter ihr eine weiß behandschuhte Hand auf ihre Schulter. Eine samtig weiche Stimme sagte:

"Es ist gut, ich danke dir. Geh jetzt schlafen."

Auf Yukos Stirn leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf, gerade lang genug um das Siegel wieder erkennen zu können, aber zu kurz, um die Buchstaben zu entziffern, die es umgaben.

Dann drehte sie sich um und kehrte ohne ein weiteres Wort zu verlieren in ihr Zimmer zurück. Schuldig zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie sich wieder in ihr Bett gelegt hatte.

Im Türrahmen lehnte die seltsamste Gestalt, die Schuldig je gesehen hatte (mit Ausnahme einiger weniger in Shibuya).

Im ersten Moment hielt er sie für eine Frau, dann erinnerte er sich an die Stimme und schloss daraus, dass es sich wohl doch um einen Mann handeln musste.

Unter dem pechschwarzen Hut leuchteten feuerrote Haare, die sich bis zum Kinn wellten. Weil der Mann seinen Kopf nach vorn geneigt hatte, war vom Gesicht kaum mehr als der Mund zu erkennen, aber Schuldig fiel dennoch die ungewöhnlich blasse Farbe seiner Haut auf. Mit einer Hand stütze er sich auf einen langen, schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf und ebensolcher Spitze. Unter einer schwarzen Weste trug er ein weißes Hemd mit weiten, an den Handgelenken geschnürten Ärmeln, das irgendwie antiquiert anmutete. Dazu eine schlichte schwarze Hose und geschnürte Schuhe. Alles in allem machte er einen sehr eleganten Eindruck.

Nach und nach dämmerte es Schuldig, dass es sich um denselben Mann handeln musste, der auch den fraglichen Brief verfasst hatte.

Er war so darin vertieft, sein Gegenüber ausgiebig zu mustern, dass er gar nicht auf die Idee kam, etwas zu sagen geschweige denn, seinen Gast zu begrüßen oder nach seinem Namen zu fragen.

"Willst du mich denn nicht herein bitten?" fragte der Fremde mit einer Freundlichkeit in der Stimme, die ebenso falsch klang wie eine Katze, die zu bellen versuchte.

Schuldig blinzelte und sagte einen weiteren Augenblick gar nichts. Dann wurde ihm langsam bewusst, wer da in seiner Bibliothek stand. Nach einem weiteren Moment stand er auf.

"Mit wem habe ich das Vergnügen?" Das war natürlich nur eine rein rhetorische Frage. Er tastete heimlich nach seinen beiden Waffen, die neben den Berichts-Formularen auf dem Tisch lagen. Der Andere stieß sich vom Türrahmen ab und kam zwei Schritte näher.

"Oh, verzeih. Wir wurden einander noch nicht vorgestellt."

Er zog schwungvoll seinen Hut, der bis jetzt sein Gesicht verdeckt hatte und verbeugte sich in der gleichen Bewegung.

"Mein Name ist Mad Hatter. Ich komme direkt aus She-ôl."

Als er sich wieder aufrichtete und den Hut wieder auf seine flammenden Haare setzte, verdeckte er sein Gesicht nicht mehr. Schuldig war erneut sprachlos.

Sein Gegenüber, der sich als ,Mad Hatter' vorgestellt hatte, war geschminkt wie ein Pierrot: Das Gesicht weiß, mit Ausnahme der Augen, die schwarz umrandet und darunter auf der linken Seite eine Träne und auf der rechten Seite dünne Strahlen gemalt worden waren. Skurril war gar kein Ausdruck...

"Was zur Hölle ist She-ôl?!" fragte Schuldig barsch, als er die Sprache wieder gefunden hatte. Langsam begann er zu glauben, dass es sich um einen schlechten Scherz handle.

"Genau das mein Freund..." sagte Mad Hatter, ging aber nicht näher darauf ein sondern fragte:

"Willst mich immer noch nicht herein bitten?"

Schuldig machte eine vage Geste in Richtung der Sitzgruppe. Der Gast aber ging geradewegs zum Kamin und stellte sich dicht vor das flackernde Feuer.

"Also, was willst du von mir?" Schuldig war nur selten in seinem Leben so misstrauisch gewesen wie jetzt.

"Hast du denn meine Nachricht nicht erhalten?" fragte Mad Hatter über seine Schulter hinweg.

"Sag, was du zu sagen hast, Mad Hatter! Und dann verschwinde wieder dahin wo du hergekommen bist!"

"Sag doch bitte Mad zu mir. Wir wollen die ganze Sachen nicht komplizierter machen, als sie es ohnehin schon ist."

Mad sah sich kurz um, bevor er weiter sprach:

"Ich würde mein Anliegen ungern doppelt erklären. Könntet du bitte zuerst deinen weißhaarigen Freund herbringen lassen?"

Schuldigs Gesicht brannte als er fragte:

"Woher weißt du von ihm?"

"Ich habe gute Quellen. Alles Weitere soll vorerst mein Geheimnis bleiben."

Mad lächelte und klopfte mit der Spitze seines Stocks gegen seinen zylinderähnlichen Hut.

Schuldig schnaubte, sah aber ein, dass eine weitere Diskussion zwecklos wäre und ging zur Haussprechanlage neben der Tür. Über einen Code, der eine spezielle, abhörsichere Frequenz freischaltete, bat er die diensthabenden Pfleger, Farfarello umzuziehen und ihn zu ihm zu bringen. Sie waren nicht gerade begeistert, dennoch versprachen sie, sich zu beeilen.

Mad ging währenddessen langsam an den Regalen entlang, strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken, zog hier und da eines heraus und blätterte darin, bevor er es wieder zurückstellte. Dabei summte er leise vor sich hin.

Schuldig beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und fragte sich insgeheim, wie lange Farfarello wohl brauchen würde, um aus dem fragil wirkenden Mad Hatter mit bloßen Händen Hackfleisch zu machen.
 

* * *
 

"Halt dir wenigstens die Hand vor den Mund" nörgelte Crawford.

Schuldig saß auf einem Stein und gähnte gerade ausgiebig. Nagi saß auf dem Rücksitz der geräumigen, schwarzen Limousine und spielte irgendein Computerspiel. Auf einem Baum in der Nähe saß Farfarello in einer Astgabel, ließ die Beine baumeln und beobachtete die Straße, die an den Felsen vorbeiführte, hinter dem sie sich versteckt hielten.

An dieser Stelle wollten sie den Truck der Transporting Agents abfangen.

"Wie lange müssen wir denn noch warten?" gähnte Schuldig und machte ein paar Dehnübungen, um die müden Glieder zu lockern.

"Können wir ihnen nicht entgegen fahren?"

Bevor Crawford einen neuerlichen Anfall bekommen konnte, meldete sich eine Stimme über ihren Köpfen.

"Sie kommen" war alles, was Farfarello sagte. Seine gleichgültige Feststellung der Ereignisse auf der Straße wäre fast ungehört geblieben, aber Nagi reagierte, etwas verspätet, und hackte sich in das GPS-System des Trucks. Nach einer weiteren Kontrolle nickte er.

"Er hat Recht. Das sind sie."

"Natürlich hat er Recht, er ist doch nicht blind!" ereiferte sich Schuldig.

"Nur halb" ergänzte der einäugige Farfarello ausdruckslos.

Crawford sparte sich jeglichen Kommentar.

"Du weißt ja, was zu tun ist, Nagi" sagte er stattdessen.

"Klar!" kam umgehend die Bestätigung und schon war Nagi flink wie ein Wiesel auf einen größeren Stein geklettert, von dem aus er die Felswand im Blick hatte, die die Straße auf der anderen Seite begrenzte. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Als der Truck nahe genug heran war, ließ er seine angesammelte telekinetische Energie frei und sprengte so einige Felsbrocken aus der Wand heraus, die die Straße auf voller Breite blockierten.

Der Truck bremste, kam ins Schlingern und prallte gegen einen der großen Steine. Beißender Rauch kringelte sich aus der Motorhaube.

Phase eins ihres Plans war geglückt. Nun wurde es kritisch.

Inzwischen stand ,Schwarz' gut sichtbar auf der anderen Seite und wartete darauf, dass die Insassen des Trucks aussteigen und ihnen entgegentreten würden.

Nichts geschah.

Nach einer Weile wurde Schuldig des Wartens überdrüssig.

"Na gut, wenn die so schüchtern sind, dann machen eben wir den ersten Schritt."

Zusammen mit Farfarello und Nagi ging er auf die Fahrertür zu.
 

Crawford blieb nachdenklich zurück. Er traute der Sache nicht. Es war zu einfach gewesen...

Gerade, als er seine Bedenken mit einem Kopfschütteln abtun und sich in Bewegung setzen wollte, um den anderen zu folgen, überkam ihn eine seiner Visionen.
 

Farfarello streckte gerade die Hand nach dem Türgriff aus, in der anderen Hand ein zum Angriff erhobenes Messer. Schuldig und Nagi standen hinter ihm und schauten ihm gespannt über die Schulter.
 

Crawfords Gesicht nahm einen panischen Ausdruck an. Er erkannte ihren Fehler, aber noch war sein Geist in der Vision gefangen.
 

Die Tür öffnete sich, Farfarello hob sein Messer, Schuldig seine Pistole.
 

Der Bann löste sich und Crawford begann, laut und hektisch nach den dreien zu rufen, versuchte, sie zu warnen.
 

Schuldig und Nagi sahen zu ihm hin und versuchten, zu enträtseln, was er von ihnen wollte. Farfarello hatte es inzwischen geschafft, die klemmende Tür des Trucks ganz aufzuziehen und nun starrte er das Ding an, das da statt des erwarteten Fahrers auf dem Sitz lag.

"Scheiße."

Die beiden anderen fuhren herum und endlich verstanden sie, was Brad von ihnen gewollt hatte.

Es war eine große, kompliziert aussehende Bombe und auf ihrem roten Display lief gerade der Countdown ab.
 

00:03
 

"Den Roten oder den Blauen?" fragte Farfarello lakonisch.
 

00:02
 

Schuldig erwachte aus seiner Starre und packte Farfarello am Arm ,um ihn herumzuzerren.
 

00:01
 

Crawford wandte den Blick ab.
 

00:00
 

Die Welt versank in einem Meer aus Flammen und umherzischenden Metallteilen.
 

Etwa eine Meile entfernt, oberhalb der Felswand, ließ Hishiki das Fernglas sinken. In den Gläsern seiner dunklen Sonnenbrille spiegelte sich der gewaltige Feuerball, der über dem explodierenden Truck aufstieg. Eine Sekunde später drang der alles übertönende Knall an sein Ohr und ließ den dunklen Jeep, an dessen Steuern er saß, erzittern. Hinter ihm erklang ein hocherfreutes Kichern, gefolgt von einem leisen, metallischen Klappern.

"Das wars dann wohl." meinte er.

"Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Du weißt, mit wem wir es zu tun haben." wies ihn Himiko zurecht, die neben ihm saß.

"Es wäre doch auch schade, wenn sie nicht mehr zu bieten hätten." kicherte Jackal aus dem hinteren Teil des Wagens.

"Dieses Vergnügen würde ich mir nur ungern entgehen lassen."

Dann spielte er weiter mit seinen Skalpellen.

Dem war nichts hinzuzufügen.

Der Jeep setzte sich in Bewegung und fuhr oberhalb des brennenden Trümmerhaufens, der einmal ein Truck gewesen war, in Richtung Osaka davon.
 

Brad starrte das brennende Wrack fassungslos an. So eine Explosion konnte niemand überlebt haben, das war ihm klar. Trotzdem weigerte sich sein Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren. Er taumelte benommen über die Straße und machte sich heftige Vorwürfe. Hätte er doch nur die Vision früher gehabt, dann würden seine Freunde vielleicht noch leben...

Plötzlich sah er etwas auf der Straße liegen. Seine Hände verkrampften sich, als er das ehemals weiße, jetzt mit Blut durchtränkte Stirnband aufhob, das Schuldig so sehr geliebt hatte.

Crawford spürte, wie seine Augen zu brennen begannen und presste das zerfetzte Stück Stoff gegen seine Lippen. Auch wenn er es nie zugeben würde, so waren Schuldig, Farfarello und Nagi doch mit der Zeit so etwas wie eine Familie für ihn geworden.

Weder brachte er es über sich, nach ihren zerschmetterten Körpern zu suchen, noch konnte er den Anblick des brennenden Haufen Schrotts länger ertragen. Er wandte sich um und ging mit unsicheren Schritten zurück in Richtung der Limousine. Sein Kopf war wie leergefegt.

Er hörte hinter sich, wie die Wrackteile ein Stück in sich zusammenrutschten, und das Geräusch jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er ignorierte es, so gut es ging, und wankte weiter.

Dann wiederholte sich das Zusammenrutschen.

Bevor Crawford es als Zufall abtun konnte, kam immer mehr Bewegung in das heiße Metall. Er blieb wie angewurzelt stehen.

Bestimmt nur Einbildung, sagte er sich. Geboren aus dem Wunsch, die Zeit zurückdrehen und seine Freunde retten zu können.

Um sich davon zu überzeugen, atmete er tief ein und drehte sich ein letztes Mal um.
 

Genau in dem gleichen Moment tauchte ein Hand unter einem Metallteil auf, das vielleicht ehemals eine Radkappe gewesen sein mochte und drückte es beiseite. Dann folgte ein wirrer, orangener Haarschopf und gleich danach ein äußerst ungehalten dreinblickendes Gesicht, dessen Stirn ein stark blutender, aber nicht sehr tiefer Kratzer zierte.

Kaum hatte sich Schuldig lautstark fluchend bis zur Hüfte aus den Trümmern hervorgearbeitet, als links von ihm Farfarellos Augenklappe mit dem zugehörigen Körper hinter dem Truck auftauchte. Der Weißhaarige ließ sich auf einem verkohlten Reifen nieder und klopfte mit der linken Hand seine verrußte und zerrissene Hose ab. Sein rechter Arm war am Ellbogen in einem absurden Winkel verdreht und war somit für diese Arbeit im Moment unbrauchbar, was ihn aber anscheinend nicht weiter störte.

Unterhalb von Schuldig, der sich inzwischen ganz befreit hatte, kroch Nagi aus einer Art Höhle, die er sich wohl mithilfe eines telekinetischen Schutzschildes erschaffen hatte. Er hatte, zumindest soweit Crawford das beurteilen konnte, keine sichtbaren Blessuren davongetragen.

Schulidg hatte sich den Trümmerberg hinuntergearbeitet und kam nun schnurstraks auf Crawford zu. Unterwegs löschte er mit der flachen Hand ein kleines Flämmchen, das an seinen Haarspitzen züngelte.

Bei Brad angekommen, rupfte er ihm das Stirnband aus der Hand. Nach einer eingehenden Inspektion warf er es zu Boden und fluchte noch lauter. Als er begann, vor Wut kochend darauf herumzutrampeln, mischte sich Farfarello ein, indem er von seinem Reifen aus rief:

" Du führst dich auf wie Rumpelstilzchen auf Speed..."

Schuldig schnaubte, fuhr herum, zog seine Pistole und legte auf ihn an.

"Sag das noch mal!"

"Ich denk nicht dran."

Crawford hatte seine Starre endlich überwunden und fiel Schuldig von hinten um den Hals.

"Gott sei dank, ihr lebt..." murmelte er.

Eine Sekunde später bohrte sich der Lauf von Hugin in seine Wange.

"Finger weg, du perverser alter Sack!" fauchte Schuldig.

Brad hob langsam die Hände aber er steckte die Waffen schon wieder in ihr sehr in Mitleidenschaft gezogenes Holster. Dann marschierte der Deutsche zu Farfarello, ohne Brad noch weitere Beachtung zu schenken, und machte sich daran, dessen Arm wieder in seine eigentliche Stellung zurück zu biegen und anschließend zu schienen.

"Aua." machte Farfarello ohne den Hauch von Schmerz.

Schuldig zuckte zusammen, verpasste dem schmerzunempfindlichen Iren aber gleich darauf eine Kopfnuss, obwohl das natürlich sinnlos war.

Nagi hatte sich währenddessen unbemerkt an Crawford vorbeigeschlichen, saß schon wieder in der Limousine und bearbeitete die Tastatur seines PCs.

"Das werden sie mir büßen!" schrie Schuldig gerade und betitelte Akabane, Himiko und Hishiki mit nicht druckreifen Ausdrücken.

Alles wieder beim Alten, dachte Brad erleichtert.
 

* * *



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