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Passierschein A 38 (Autobahn von Bochum nach Dresden) Bericht

Autor:  halfJack

"Entschuldigung, aber Sie können sich nicht exmatrikulieren, wenn Sie noch Leistungsnachweise erhalten wollen. Sie sind dann nicht mehr in unserem System erfasst."
"Aber die Dozenten haben doch noch Monate Zeit, um die Nachweise herauszugeben. Ohne Exmatrikulation kann ich mich in der neuen Uni nicht immatrikulieren."
"Da müssen Sie mal bei denen nachfragen."
Als ob ich das nicht schon mehrmals getan hätte, dachte ich genervt, wobei mir voller Unmut der nächste Tag einfiel. Dann hätte ich die Chance, persönlich zu der neuen Universität in Dresden zu gehen. Gleichzeitig läge Bochum dann allerdings längst hinter mir. Immer mehr stellte sich mir die Frage, wie das funktionieren sollte. Wie hätte ich es auch innerhalb eines knappen Monats schaffen sollen, alle meine Hausarbeiten zu schreiben, obwohl ich zu dieser Zeit Stunden brauchte, um hinter meinen Modulbescheinigungen herzurennen, obwohl einige Dozenten spurlos das Land verlassen zu haben schienen, obwohl ich mit dem bevorstehenden Umzug genug zu tun hatte, später ohne Internetzugang sein würde und ohne die Möglichkeit, Bibliotheken zu besuchen? Ein knapper Monat unter diesen Umständen. Eigentlich hätte ich drei Monate Zeit gehabt. Doch jedes vorige Wochenende war dafür draufgegangen, unzählige Bücher, DVDs und CDs einzupacken, die von unseren Verwandten die lange Strecke vom Sauerland bis nach Merseburg gebracht wurden, 350 km weit.
Meine Freundin und ich hatten mit Sicherheit nicht die Idee, das alles ohne Umzugsunternehmen zu schaffen. Aber der Vater meiner Freundin schien zuversichtlich und meinte, er hätte Beziehungen, um an einen Transporter heranzukommen, der schon reichen würde, damit wir uns nicht für zwei Tage ein teures Unternehmen leisten mussten. Damit begann die Odyssee.
Auf den ersten Blick sah es in der Wohnung so aus, als seien die meisten Dinge schon zusammengeräumt. Wir waren davon ausgegangen, dass die Bücher den größten Stress bedeuten würden, belaufend ungefähr auf 3000 Stück. Es war Donnerstagmorgen. Meine Freundin musste noch zur Arbeit und ich bemühte mich, Kiste um Kiste mit unseren Habseligkeiten zu füllen. In weiser Voraussicht, die sich später als nutzlos herausstellen sollte, hatte ich bereits eine Tasche mit allen wichtigen Dingen gepackt, die ich in den kommenden Tagen der Heimatlosigkeit benötigen würde. Aus diesem Grund hatten wir eine ganze Ladung Wäsche gewaschen, die dummerweise noch immer nicht trocken war. Beim Einräumen war viel Müll angefallen, da wir in den letzten Wochen Zeitungen und Tüten gesammelt hatten, um die Bücher und den ganzen Rest sicher zu verstauen. Noch dazu war ich überrascht, wie viele Glasflaschen sich plötzlich angesammelt hatten. Leere Alkoholflaschen von den letzten Gelagen. Aber irritierenderweise auch ein kompletter Bierkasten (natürlich leer), den der Freund meiner Mutter, Wolfgang, im Keller "vergessen" hatte. Direkt neben einer Werkzeugtasche von ihm, die er jedes Mal aus Faulheit hatte stehen lassen, wenn er nach einem Besuch wieder abfuhr, bei der er uns jedoch stets vorhielt, dass sie sich noch immer in unserem Besitz befinden würde. Da meine Freundin jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fuhr, musste ich das alles zu Fuß erledigen. Dazu muss gesagt werden, dass unser Haus auf einem Berg lag. Im Sauerland gibt es bekanntermaßen viele Berge. Dagegen war unsere Erhebung sicher nur ein Hügel. Ein solcher Hügel kann sich allerdings erstaunlich schnell in den Kilimandscharo verwandeln, wenn man ihn ein paar Mal runter und wieder hoch gelaufen ist, während man mit mehreren Glasflaschen, wahlweise einem Bierkasten beladen ist, um zum Glascontainer und zur Leergutannahme des Einkaufszentrums zu gelangen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diesen Weg gehen musste, bis alles weggeschafft war. Zur weiteren Information, wir wohnten im dritten Stock, selbstverständlich ohne Aufzug.
Danach machte ich mich so schnell wie möglich daran, die Bettkästen unserer Polsterliegen auszuräumen. Gegen Mittag sollte der Vater meiner Freundin mit dem Transporter kommen. Da wir sowieso neue Liegen kaufen wollten, mussten die alten erst einmal weggebracht werden. Ich hatte in den Tagen zuvor mit der Caritas telefoniert. Die wollten unsere Betten allerdings nicht haben, wie erwartet. Sie hätten angeblich keine Lagerkapazitäten für solcherlei Möbelstücke. Ich erinnerte mich daran, dass wir einem solchen Umstand zwei Jahre zuvor unsere Küche verdankten. Eine komplette Einbauküche von verstorbenen Verwandten meinerseits, die von der Caritas nicht angenommen wurde, da sie deren Zustand nicht den hilfsbedürftigen Armen zumuten könnten. Für meine Freundin und mich war sie komischerweise noch gut genug, obwohl wir uns nicht als "hilfsbedürftig" bezeichnen würden. Wenn man sein Geld vom Staat bekommt, hat man womöglich andere, das heißt höhere Ansprüche. Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem Umzug von der Neuen Arbeit in Arnsberg gehört. Die hatten zwar keine Zeit, um die Liegen abzuholen, versicherten uns allerdings, dass sie diese auf jeden Fall annehmen würden. Ich bangte noch immer, während ich in aller Eile die Wäsche abnahm, gerade rechtzeitig, als der Vater meiner Freundin bereits klingelte. Mit der Küche war ich noch immer nicht fertig, was leider nicht meinen Erwartungen entsprochen hatte. Dagegen hatte ich allerdings erwartet, mehr Schwierigkeiten mit dem Heruntertragen der Betten zu haben. Desweiteren stellte sich meine Angst als unbegründet heraus, dass die Neue Arbeit die Polsterliegen vielleicht doch nicht haben wollen würde. Im Gegensatz zur Caritas waren die jedoch hellauf begeistert und nahmen unsere Betten mit Kusshand. Wir hätten keinerlei Zeit mehr gehabt, um für etwaige Entsorgungen einen Termin zu vereinbaren, auch die natürlich nur gegen ein entsprechendes Entgelt.
Gen Nachmittag waren schließlich auch meine Mutter und deren Freund anwesend, meine Freundin, sowie eine ihrer Arbeitskolleginnen und deren Freund. Ich hatte die Küche aufgegeben und räumte den Rest aus dem Arbeitszimmer zusammen, unsere gesamten Unterlagen. Im Treppenhaus hatte sich eine Kette gebildet. Selbst unser Nachbar half uns beim Tragen, wobei uns beispiels- und üblicherweise die Waschmaschine die größten Schwierigkeiten bereitete. Dabei fiel mir erst einmal auf, wie viel Elektronik wir besaßen: zwei Fernseher, zwei DVD-Player, sogar noch einen Videorekorder, zwei Musikanlagen - am meisten hatte ich mir um meinen Schallplattenspieler und um die Playstation 2 Sorgen gemacht. Eine Playstation 1 besaßen wir auch noch, die zweite Playstation 2 hatte ich schon zuvor einer Freundin auf "unbestimmte Zeit ausgeliehen".
Mir war bereits vorher aufgefallen, wie klein der Transporter ausfiel, in welchem der Vater meiner Freundin vorgefahren war. Doch noch hegte ich Hoffnung... bis die letzte Kleinigkeit im Wagen verstaut war und wir feststellen mussten, dass in der Wohnung dem Augenschein nach noch alles stand. Das bedeutete, dass der Transporter vorerst die 350 km nach Merseburg gefahren und entladen werden musste, um dann wieder 350 km zurück ins Sauerland für die nächste Beladung zu fahren. Der Vater meiner Freundin setzte sich mit einem Lächeln und ohne ein Wort in den Transporter und sollte erst am nächsten Tag wieder auftauchen.
Er hatte für die Nacht zwei Zimmer in einem Etaphotel gebucht. Bis 22 Uhr musste man eingecheckt haben, sonst bekam man keinen Code für die Türen und die Buchung verfiel trotz Bezahlung. Zwar war zu diesem Zeitpunkt noch genügend Spielraum zum Einchecken, doch meine Mutter hielt meine Freundin und mich dazu an, erst einmal das zu erledigen und dann zum weiteren Einräumen zurückzukommen. Eine bescheuerte und sprittverschwendende Idee, dachte ich anfangs. Bis sich herausstellte, dass das angeblich gebuchte Etaphotel im Osten von Dortmund gar nicht unseren Namen vermerkt hatte. Der Vater meiner Freundin hatte versehentlich einen Fehler gemacht und ein Hotel im Westen von Dortmund, kurz vor Bochum gebucht. Wir standen an der Rezeption, ich schaute verstört auf die Uhr. Und sagte kein Wort, während ich mich wieder ins Auto setzte und losfuhr. Das würden wir schon schaffen, es wäre nicht weit, versicherte ich meiner Freundin. Dabei wusste ich ganz genau, wo das Etaphotel liegen musste und dass die Strecke alles andere als zügig erreichbar sein würde. Zum Glück gehörte es noch nie zu meinen Stärken, mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten.
Fünf Minuten vor 22 Uhr kamen wir an. Und fuhren vom Zentrum des Ruhrgebiets sofort wieder zurück ins hochsauerländische Zentrum, wo wir meine aufgelöste Mutter antrafen. Sie hatte voller Grauen bemerkt, dass in der Küche noch fast alle Schränke voll waren, und sich so schnell wie möglich ans Ausräumen gemacht. Die gesamte Zeit, die wir für das Zurücklegen unseres Weges benötigt hatten, hatte sie mit dem Anhäufen von weiteren Kisten verbracht. In der Küche stand nur noch das Lebensnotwendigste: die Kaffeemaschine.
Komischerweise fanden wir an diesem Abend vor Erschöpfung jede Kleinigkeit sehr lustig. Weit nach Mitternacht kamen wir erst im Etaphotel an und wussten, dass wir am Morgen sehr früh aufstehen mussten. Die Wohnung hatten wir im Chaos hinterlassen. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Wohnungsübergabe sein...



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