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25 Jahre Mauerfall: Von Treuhand zu Langfinger DDR

Autor:  halfJack

Warum der Osten nach dem Mauerfall keinen wirtschaftlichen Überschuss, sondern milliardenschwere Zuschüsse erforderte.

Hier geht es zu den zwei vorigen Beiträgen:
Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen
Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf

Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt

Nun kommt der dritte und letzte Beitrag zum Thema Mauerfall (zumindest werden maximal noch zwei Berichte zu passenden Sehenswürdigkeiten in Berlin folgen). Ich habe bereits von Vorurteilen zwischen "Wessis" und "Ossis" erzählt, vom Soli und den Renten, von der Wanderung des Humankapitals und davon, dass der Osten trotz niedrigeren Lebensstandards tatsächlich weniger verschuldet war als der Westen. Warum also sprechen einige noch immer von einer "Ost-Pleite" und warum hat der wirtschaftliche Aufbau Ost so viele Gelder verschlungen? Diesmal werde ich anhand einiger Beispiele zeigen, dass enorme Summen, die irgendwo im Osten versickert sein sollen, in Wirklichkeit häufig einen Weg in die Taschen der westlichen Verwalter fanden, der sogenannten Treuhand.

 

5.      Privatisierung: Ausnutzung statt Unterstützung

Der letzte Punkt ist ein Prozess der erst nach dem Mauerfall einsetzte und teils Erschrecken hervorruft. Nachdem die DDR als altersschwaches, krankes Tier interpretiert und in ein neues Gehege geschickt wurde, sollte die Treuhandanstalt dafür Sorge tragen, dass die schlechten und schwachen Betriebe des Ostens monetäre Unterstützung erhielten und privatisiert in die Hände westdeutscher Unternehmen gegeben wurden. Der Wille war da, aber die Theorie blieb derart unzureichend und ausnutzbar, dass in der Praxis die Fördergelder des Staates oftmals in die Taschen von Privatpersonen flossen. Dies berücksichtigend muss man das bereits erwähnte Verlustgeschäft der wirtschaftlichen Eingliederung der DDR nochmals in einem ganz anderen Licht betrachten. Die Liste der Beispiele ist lang; tatsächlich füllt Siegfried Wenzel in seiner Abhandlung über die Rolle der Treuhand mehrere dutzend Seiten mit Beispielen und erfasst damit nur die Spitze des Eisbergs.

Mein erstes Beispiel ist mir persönlich aus meiner Kindheit präsent. Im Jahre 1994 erhielten der ehemalige Chef des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall und sein Bruder die Rackwitzer Aluminium GmbH und das Folienwerk Merseburg. Dafür wurde eine "Anlaufhilfe" von weit über 150 Mio. DM für die Errichtung eines Alufolienwerkes gewährt. Zu jener Zeit arbeitete meine Mutter im Folienwerk Merseburg. Entgegen einiger Meinungen, dass die Produktionen im Osten aufgrund eines geringeren technischen Niveaus schlechter gewesen seien als im Westen, stellte dieses Werk Folien her, die sich durch eine sehr gute Qualität auszeichneten und deshalb weltweit exportiert wurden. Natürlich besaß man in ähnlichen Werken im Westen die Möglichkeit, billiger und schneller zu produzieren, um sich auf dem Markt im Schnitt besser zu behaupten, solange es nur um einfache Frischhaltefolien ging, die es im Supermarkt zu kaufen gab. Dazu sollte man wissen, dass Alufolien mikroskopische Risse und Löcher aufweisen je nach Reinheit des verwendeten Materials. Die Werke im Osten konnten vielleicht nicht so effektiv Massenware herstellen, machten ihr Defizit allerdings durch den höheren Reinheitsgehalt wett, sodass diese Folien zwar teurer, aber in Bereichen anspruchsvoller Industrieproduktion durchaus gefragt waren. Nach der Übernahme wurde diese Zielsetzung hinfällig. Ende 1996 musste Gottschol für die Stammgesellschaft in Ennepetal/Westfalen und Rackwitz Konkurs beantragen. Rackwitz ging Ende 1997 – verbunden mit einer wesentlichen Reduzierung der Beschäftigungszahl (von noch 390 auf 130; zu DDR-Zeiten waren es 2100) – an den norwegischen Konzern Norsk Hydro.

"Privatisierungshilfen" in jeweils dreistelliger Millionenhöhe wurden auch für die Übernahme der Heckert Werkzeugmaschinenbau GmbH Chemnitz durch die Schwäbische Traub AG sowie der Niles Werkzeugmaschinen GmbH Berlin-Weißensee durch die Rothenberg AG-Tochter Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG in Berlin-Marienfelde gewährt. In beiden Fällen sind die westdeutschen "Mütter" inzwischen in Konkurs gegangen. Die ostdeutschen Unternehmen gingen nach erneut drastischer Reduzierung der Arbeitsplätze an die Startag AG aus Rohrschaden/Schweiz bzw. an die Coburger Kapp GmbH.

Ein Paradebeispiel machte über Jahre Furore und deckte immer neue, in einem zivilisierten Land nicht für möglich gehaltene Seiten krimineller Energie und beamtenmäßiger Vertuschung auf: 1992 bzw. 1993 übernahm die Bremer Vulkan Verbund AG die MTW Meerestechnik Schiffswerft Wismar, die Volkswerft Stralsund, die Neptun Industrie Technik Rostock und das Dieselmotorenwerk Rostock. Dafür flossen Zahlungen der Treuhandanstalt in Höhe von insgesamt 3 472,8 Mio. DM an den Verbund. Inzwischen ist der Verbund in Konkurs gegangen. Im Rahmen des sogenannten "zentralen Cash-Managements" waren 854 Mio. DM aus den für die ostdeutschen Werften bestimmten Beihilfen in den westdeutschen Teil der Vulkan geflossen. Dieses Geld ist mangels Konkursmasse unwiderruflich verloren. Seit wann wussten THA/BvS von dem Beihilfemissbrauch und warum reagierten sie nicht rechtzeitig? Die Europäische Kommission hat die Bundesregierung beschuldigt, zumindest fahrlässig Subventionsmissbrauch zugelassen zu haben. Inzwischen sind die Werften in Stralsund und Wismar sowie die Neptun Industrie Rostock – verbunden mit erneuten Arbeitsplatzverlusten – wieder an ausländische bzw. westdeutsche Investoren privatisiert. BvS und das Land Mecklenburg-Vorpommern mussten noch einmal knapp 1,2 Mrd. DM "nachschießen".

Das Dieselmotorenwerk Rostock wurde von der Ostseebeteiligungsgesellschaft (51% BvS, 49% Land) übernommen; eine erneute Privatisierung ist bisher nicht gelungen. Die Rückforderung von 118,35 Mio. DM unzulässiger ("wettbewerbsverzerrender") Beihilfen durch die EU-Kommission im April 1999 bedroht die Existenz des DMR mit seinen mehr als 300 Beschäftigten in Rostock und Bremen. Für September 1999 war ein Prozess vor dem Bremer Landgericht gegen den ehemaligen Vulkan-Vorstandsvorsitzenden Hennemann und drei ehemalige Vorstandsmitglieder angekündigt. Die Bremer Staatsanwaltschaft ermittelt in diesem Zusammenhang auch gegen leitende Mitarbeiter der Treuhandanstalt und deren Nachfolgerin BvS, schrieb die Berliner Zeitung vom 15. 6. 1999.

Im Jahre 1993 übernahm die BASF-Tochter Kali & Salz AG die Mehrheitsbeteiligung (51%) und die Geschäftsführung der Mitteldeutschen Kali AG (MDK); die BvS behielt 49% der Anteile. Verbunden war dies mit der Stilllegung ostdeutscher Produktionsstätten, darunter Bischofferode in Thüringen. Die THA leistete eine Bareinlage von 1044 Mio. DM für Investitionen, Reparaturen und Planverluste der Jahre 1993 – 1997. Weitere 270 Mio. DM wurden für die "Bereinigung der Bilanz der MDK" gezahlt ("Altlasten"-Entschuldung). Die EU hatte 1993 insgesamt Beihilfen der THA in Höhe von 1,5 Mrd. DM genehmigt. 1996 wurden Verhandlungen über den Verkauf des BASF-Anteils an die Kanadische Potash Corporation (PCS) bekannt, die wegen Wettbewerbsbeschränkung 1997 vom Bundeskartellamt und später auch vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt untersagt wurden. (Der Vertrag in Höhe von 250 Mio. DM war bereits unterschrieben!) Danach verkaufte BASF 25% seiner Anteile an K+S an "eine Reihe von Finanzinvestoren", sodass der BASF-Anteil an der börsennotierten Holding Kali- und Salz-Beteiligungs-AG Kassel auf knapp unter 50% sank, der durch weitere Verkäufe noch gesenkt werden soll. Die K+S erwarb im Juli 1998 den 49%-Anteil der BvS rückwirkend zum 1. 1. 1998 für 250 Mio. DM. Bereits 1997 war die Gewinnschwelle erreicht. Erstmals seit 1984 zahlte die K+S ihren Aktionären wieder eine Dividende – die Ergebnissteigerung sei maßgeblich auf den Wegfall der Gewinnanteile der BvS als bisherige Mitgesellschafterin zurückzuführen, schreibt die FAZ vom 12. 3. 1999. Schon früher war bekannt geworden, dass die K+S einen erheblichen Teil der Bareinlagen der BvS nicht für Investitionen in ostdeutschen Betriebsstätten, sondern für zinsgünstige Geldgeschäfte am Kapitalmarkt nutzt. Allein für 1995 wurden Zinseinnahmen von knapp 20 Mio. DM genannt. Von den 15.000 ostdeutschen Beschäftigten vor der Fusion sind noch 3.000 übriggeblieben. Anfang 1999 hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen die BvS eröffnet, ob der o.g. Verkaufspreis von 250 Mio. DM dem Marktwert entspricht, da das Finanzhaus Goldman Sachs einen Preis von 400 Mio. DM ermittelt habe.

Zum Teil wurden für die Sanierung ostdeutscher Unternehmen vorgesehene Beihilfen und Fördermittel von den neuen Eigentümern in die westdeutschen Mütterhäuser umgeleitet bzw. in den Sand gesetzt. In solchen Fällen besteht der begründete Verdacht, dass der Erwerb der ostdeutschen Unternehmen nur mit dem Ziel erfolgte, Fördermittel zu erhalten und zugleich unliebsame Konkurrenz auszuschalten bzw. verlängerte Werkbankkapazitäten zu besitzen, mit denen man – je nach Konjunktur – "arbeiten" kann; bis zur Schließung im Osten, aber bei Erhalt der Produktionsstätten in den alten Bundesländern.

Ein weiterer Fall – der "Spiegel" spricht von einem "offenbar generalstabsmäßig geplanten Wirtschaftskrimi" – ist die Werkstoff-Union GmbH Lippendorf bei Leipzig. Das Unternehmen wurde 1991 auf dem Gelände des abgewickelten Treuhandbetriebes Ferrolegierungswerk Lippendorf von dem Schweizer Kaufmann Gerhard Fischer und seiner Firma Intercept mit dem Ziel gegründet, Europas modernstes Metallverarbeitungswerk zu errichten. Im März 1996 wurde Antrag auf Gesamtvollstreckung gestellt. Inzwischen waren 225 Mio. DM staatliche Beihilfen in Form von Fördermitteln und Bürgschaften geflossen. Der "Spiegel" spricht von 336 Mio. DM, die die Staatsanwaltschaft Leipzig sucht, wobei sie davon ausgeht, dass der Investor niemals vorgehabt habe, die Werkstoff-Union überhaupt in Betrieb zu nehmen.

Auch im Handel war die Privatisierung in einem offenbar breiten Umfang mit persönlicher Bereicherung verbunden. Im Mai 1995 berichteten die Medien über einen "Millionen-Betrug" bei der HO-Abwicklung. Insgesamt 6 Führungskräfte der Treuhandanstalt standen im Verdacht, 2,4 Mio. DM veruntreut zu haben. Verhaftet seien Wolf-Rüdiger Fink – im September 1991 zum Geschäftsführer der Exho-Immobilien-Verwaltungsgesellschaft mbH berufen, die mit der Vermarktung von rd. 4.300 HO-Immobilien beauftragt war, und bis zu seiner fristlosen Entlassung Mitte März 1995 Leiter der Rechtsabteilung der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) – sowie Werner Simianer – ehemaliger  Ministerialdirigent im Bonner Ministerium für Familie und Senioren, dann ab September 1991 Geschäftsführer der FREHO-Immobilien-Verwaltungsgesellschaft mbH, die rd. 1.400 nicht betriebsnotwendige HO-Grundstücke zu verkaufen hatte, und schließlich Controler in der Privatisierungsbehörde. Im Januar berichteten die Medien erneut – diesmal ohne die Nennung von Namen: Die Berliner Staatsanwaltschaft habe gegen beide Anklage wegen Millionen-Untreue zum Nachteil der Treuhandanstalt erhoben. Bei einem Monatsgehalt von 17.000 DM habe der frühere Ministerialdirigent (also Simianer) veranlasst, dass ihm 790.000 Mark an überhöhten Geldern gezahlt wurden. "Bei Fink geht es um 771.000 Mark. Den 'Rest' teilten sich vier weitere Mitglieder der Unternehmensleitung." Im Juni 1998 fand vor dem Berliner Landgericht der Prozess statt. Die Staatsanwaltschaft forderte Haftstrafen von jeweils 4 Jahren wegen Untreue in Millionenhöhe. Das Gericht sprach jedoch beide vom Vorwurf der Untreue frei. Nach Überzeugung der Richter hatten beide Anspruch auf ihre selbstgenehmigten Honorare.

Nebenbei bemerkt: Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, dass ein Liquidator eines solchen "Unternehmens" wie der Wirtschaft der DDR – vor allem, wenn er sich Treuhänder nennt – ständig die Waren, die er zu akzeptablen Konditionen verkaufen soll, lautstark mit Begriffen wie "marode", "veraltet", "am Markt nicht gefragt", "unkalkulierbare Altlasten" herunter redet.

Die von ihren bisherigen Leitern – man könnte nach westdeutschem Sprachgebrauch auch sagen: der Elite, die man verteufelte, verdächtigte, auswechselte – entblößten Wirtschaftsunternehmen wurden den mächtigen, erfahrenen und nur den Gesetzen des Profits folgenden Konkurrenten praktisch zum Fraß vorgeworfen. Hier galten weder das Brüder- und Schwestern-Gerede noch irgendwelche "patriotischen Erwägungen". Die Motorradsparte von BMW fusionierte mit Motorradproduzenten in Österreich und Italien, während die MZ-Werke in Sachsen versuchten, Käufer in Südostasien zu finden und heute praktisch nicht mehr existieren. Der potente Kühlschrankproduzent in Scharfenstein (Sachsen), der nach der Wende den ersten FCKW-freien Kühlschrank entwickelte und vor der Wende bedeutende Lieferungen an Quelle durchgeführt hatte, wurde durch raffinierte Kniffe ins Abseits manövriert und als Konkurrent ausgeschaltet. Frau Breuel fuhr zu Werbeveranstaltungen nach New York, eröffnete in Tokyo ein Büro und unternahm weltweite Reisen, um Betriebe der ehemaligen DDR irgendwie an den Mann zu bringen.

Aber hier in diesem nun angeschlossenen Land das Wüten der blinden Gesetze des Marktes wenn schon nicht auszuschalten, so doch zu kanalisieren und damit die aufgrund der Blindheit der Marktgesetze unvermeidbaren Fehlentwicklungen zu verhindern, dazu wurde wenig oder fast nichts getan. Dazu hätte es einer durchdachten, längerfristig angelegten Strategie bedurft. Das ist die eigentliche Ursache des "Schuldenberges" der Treuhandanstalt. Das sprunghafte Ansteigen der Verschuldung des Staates kam nicht in erster Linie dem notwendigen Aufbau Ost, sondern den westdeutschen Vermögenden und der westdeutschen Wirtschaft zugute. Der damalige Wirtschaftsminister und spätere Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Harald Ringstorff, hatte bereits Anfang April 1996 festgestellt, dass die Förderung der ostdeutschen Wirtschaft zu 80 % an Unternehmen und Unternehmer im Westen zurückfließt. Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Henning Voscherau sagte es am Jahresende 1996 so: "In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat."



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