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Buchvorstellung: Kafkas Puppe Buchvorstellung, Literatur

Autor:  halfJack

„Verbraucht alle Kohle, leer der Kübel, sinnlos die Schaufel!“ Franz lächelt, als sie wieder auf der Straße gehen.

„Was sagst du?“

„Wir werden nicht erfrieren!“

„Was macht dich plötzlich so sicher, Lieber? Du hast gehört, was für eine Angst die Leute vor dem Winter haben.“

„Wenn unser Ofen kalt ist, nehmen wir den Kübel und reiten darauf zum Händler!“

„Was ist das für ein merkwürdiges Rätsel?“, lacht Dora.

„Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, reiten wir die Treppe hinab, vorbei am staunend aufgerissenen Maul unserer Wirtin. Unten aber steigen wir auf in den silbernen Himmel, prächtig dahinfliegend quer über die dunkle Stadt hin zum Kohlenhändler.“

„Wir reiten zum Kohlenhändler? Wie auf einem fliegenden Teppich?“

„Der Mann wird aus seinem Keller herausstürzen  und rufen, oh, unsere beste Kundschaft! Immer pünktlich bezahlt! Was darf es sein? Und schon beeilt er sich, unseren Kübel mit Kohle zu füllen, voll bis an den Rand, und noch eine Schaufel oben drauf. Nein, wir werden nicht frieren, ganz sicher nicht! Mit unserem Kübel reiten wir hin, wann immer es notwendig ist, und besorgen uns alles, was wir brauchen. Nicht auf dem fliegenden Teppich. Mit unserem wunderbaren Kohlenkübel reiten wir, liebste Dora.“

„Was du immer für Ideen hast! Komm, lass uns nach Hause gehen, zu unserem wunderbaren Kübel, und den Ofen heizen!“

„Ja“, erwiderte Franz. Er sagt ihr allerdings nicht, dass seine Geschichte vom Kübelreiter, im vorigen Jahre geschrieben, als er Dora noch nicht kannte, gar kein gutes Ende nimmt: abgewiesen vom Kohlenhändler und dessen Frau, die ihn gar mit der Schürze fortwedelt, fort aus dem Hof; nicht einmal eine Schaufel mit der schlechtesten Kohle, nur gefüllt mit ihrem Staub sozusagen, nicht einmal das ist zu haben für jemanden, der nicht sogleich bezahlen kann. Die Schürze der Frau scheucht den armseligen Reiter und seinen Kübel im Nu wieder fort und er steigt auf in die Regionen der Eisgebirge und verliert sich auf Nimmerwiedersehen.

„Wenn dieser schöne Herbst vorbei ist und die Kälte kommt“, sagt Franz, „haben wir, wenn der Kübel wirklich leer ist, immer noch viel Papier, um den Ofen anzuheizen.“

„Papier?“

„Einen Koffer voll Erzählungen, Notizen, Briefe. Die vielen tausend Seiten müssen zu etwas gut sein!“

„Deine Manuskripte willst du verbrennen?“

„Sie werden uns wärmen, Dora, sie werden uns in den kalten Nächten, die noch kommen, vor dem Erfrieren retten.“

„Aber...“

„Kein Aber, Liebste. Jahrelang habe ich vergebens versucht, mich an meinem Schreiben zu erwärmen. Doch Wärme wird es nur geben, wenn das Papier im Ofen landet.“

„Ich werde nichts verbrennen!“, sagt sie, fasst seinen Arm fester und beschleunigt den Schritt. Doch sie würde es sicher tun, wenn sie Franz Kafka damit auch nur eine Nacht lang retten könnte.

 

Gerd Schneider

Kafkas Puppe

 

Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, dass es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: „Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.“ Das kleine Mädchen ist etwas misstrauisch: „Hast du ihn bei dir?“ „Nein, ich habe ihn zu Haus liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.“ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen, und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.

„Mein Leben mit Franz Kafka“ von Dora Diamant

 

Fiktiv, wenn auch mit vielen biografischen Inhalten angereichert, wird in „Kafkas Puppe“ diese Begegnung geschildert. Es ist eines jener traurigen Kinderbücher, die von der Suche nach dem Glück handeln, von der Einsamkeit im Heim und von dem noch unbekannten Leiden der Erwachsenen. In dieser Hinsicht erinnert es an Klassiker wie „Mio mein Mio“ oder „Der kleine Lord“, in seiner Härte manchmal an „Huckleberry Finn“. Es gibt etliche Beispiele und viele enden in irgendeiner Weise mit einem Lichtblick. Viele, aber eben nicht alle; manche auch nur mit einer düsteren Ahnung davon, dass es vielleicht doch nicht das erträumte Land und die liebenden Eltern gibt, sondern nur die Kälte draußen vor der Tür oder lediglich den Trost, eine Kinderseele sei besonders geliebt worden, wenn sie frühzeitig stirbt, wie in „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna“.

„Kafkas Puppe“ geht anders an die Sache heran, das eigentlich Tragische bleibt unterschwellig nicht dem Kind vorbehalten. Damit erinnert diese Geschichte eher an den Ursprung für Barries Peter Pan, an seinen stellenweise autobiografischen Roman „Kleiner weißer Vogel“ oder den Film „Finding Neverland (Wenn Träume fliegen lernen)“.

Ich glaube, es geht etwas verloren, wenn man manche Bücher, Filme oder ähnliches nicht im frühen Alter kennen lernt. Auf der anderen Seite eröffnet der Blick des Erwachsenen gerade jene Rezeption, die einen wünschen lässt, etwas eher gelesen zu haben. Als Kind hätte ich dieses Buch mit Sicherheit geliebt. Genauso sicher hätte ich es zum Schluss wenig hoffnungsvoll gefunden. Die Geschichte kann man nun einmal nicht umschreiben.

Es ist 1923, als Kafka das Mädchen trifft und ihr fortan täglich im Park einen Brief ihrer Puppe überreicht. Zu dieser Zeit ist er bereits schwerkrank. Im folgenden Jahr wird er an seiner Lungentuberkulose sterben, womit ihm im Gegensatz zu seiner Familie erspart bleibt, ins Konzentrationslager deportiert zu werden. Seine Briefe an das kleine Mädchen sind bis heute verschollen.



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