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Woran man merkt, dass man alt wird ... Persönliches

Autor:  halfJack

Wenn Menschen, die einen ein Leben lang begleitet haben, plötzlich nicht mehr da sind.

Als ich vor ein paar Tagen den letzten Band von Dragonball Super las, ahnte ich noch nicht, dass Akira Toriyama bereits tot war. Es sind in den letzten Jahren viele bedeutende Menschen gestorben, deren Tod mich traurig gemacht hat. Personen, deren Werke und Denken mich geprägt haben. Als 2020 einer meiner Lieblingsregisseure Kim Ki-duk an Corona starb, konnte ich es kaum glauben. Weniger überraschend war der Tod von Gorbatschow 2022, dessen "Perestroika" bei allem Scheitern für mich eine friedliche Weltpolitik darstellte. Und dann war da noch Umberto Eco, der mit seiner belletristischen Historik wie kaum ein anderer intelligent die psychologischen Mechanismen von Verschwörungstheorien und Rassismus analysierte.

Es gibt viele verschiedene Menschen, die unsere Vorstellungen und somit unsere Persönlichkeit beeinflussen. Vielleicht sind es Politiker oder große Literaten. Oder es sind Mangaka, die ihre Zeichnungen und Erzählkunst dazu nutzen, eine Botschaft zu vermitteln. Wie Kentaro Miura, der Erschaffer von "Berserk", dessen Geschichte nach außen wie ein harter Shonen-Titel wirkt, aber in Wirklichkeit erstaunlich feinfühlig und emotional ist. Oder Kazuki Takahashi, von dem ich "Yu-Gi-Oh!" zwar in meiner Kind las, das für mich jedoch erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewann, weil meine beste Freundin dazu eine in die Tiefe gehende Fanfiction schrieb und schreibt. Miura und Takahashi sind mittlerweile schon seit zwei, drei Jahren tot.

Obwohl es sich für mich anfühlt, als wäre das alles kaum ein Jahr her, starb Eco bereits 2016. Im selben Jahr, als mein Stiefpapa verschied. Das ist jetzt acht Jahre her.
Und am Samstag vor zwei Wochen habe ich meine Mutter beerdigt.

In meiner Kindheit hatte ich das Gefühl, der Tod sei mein ständiger Begleiter. Mein leiblicher Vater starb, als ich 12 war, nach jahrelanger Krankheit. Sein Hirntumor ließ ihn irgendwann vergessen, wie mein Name richtig geschrieben wurde. Alle meine Großeltern erkrankten an Krebs. Mein Onkel starb an einem Herzinfarkt. Noch bevor ich die Schule abschloss, war ich bereits auf einem halben Dutzend Beerdigungen gewesen, und das ist eine präzise Angabe. Ich konnte fast schon die Reden des Bestatters mitsprechen.
Bei dem zweiten Mann meiner Mutter, meinem Stiefpapa, wurde zu dieser Zeit ein Nasennebenhöhlenkarzinom festgestellt. Er hat lange damit gelebt, die Therapien waren erfolgreich. Doch während meines Studiums kam der Krebs zurück, befiel den gesamten vorderen Kopfbereich, den Präfrontalkortex. Ein Auge musste entfernt werden. Wir haben versucht, wegen seiner Augenklappe Scherze über Piraten zu machen. Aber es fällt schwer, darüber zu lachen. Ich werde wohl nie die Bilder von ausgemergelten Menschen im Krankenbett vergessen, die vor Schmerz wimmern.

Auch eine meiner Tanten starb an Krebs. Mein Onkel wurde depressiv und erhängte sich. Wenige Monate später, im Jahr 2018, brach meine Mutter bei einem epileptischen Anfall zusammen. Auch bei ihr wurde, wie bei meinem leiblichen Vater, ein Hirntumor festgestellt.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Leben selten die Dinge bereut, die man getan hat, sondern nur diejenigen, die man nicht getan hat. Darum setzte ich 2019 alles daran, mit meiner Mutter nach Japan zu reisen, solange sie noch konnte. Ich bin mit meiner Freundin jedes Jahr nach Japan gereist und diesmal nahmen wir meine Mutter mit. Es war die richtige Entscheidung, denn wenige Monate nach unserer Rückkehr, hatte der Tumor gestreut. Meine Mutter konnte sich kaum mehr bewegen, ihre halbe Gesichtshälfte war gelähmt und sie konnte das Auge nicht schließen. Ihre Augenklappe hat mich unangenehm an meinen Stiefpapa erinnert.
Es kam mir wie ein Teufelskreis vor. Als würde jemand immer und immer wieder den gleichen Witz erzählen. Ein schlechter Witz, der schon beim ersten Mal nicht lustig war.

Im Dezember 2023 wurde es zunehmend schlimmer. Meine Mutter hat nicht mal richtig mitbekommen, dass Weihnachten war. Sie entwickelte eine Art Demenz, verwechselte Tage, Personen, Geschehnisse. Sie lebte in ihrer eigenen Welt. Ständig erzählte sie von Familienmitgliedern, die ins Krankenhaus kamen oder gestorben seien. Sie verstand nicht, dass sie selbst es war, die im Krankenbett lag und starb. Während ich ihr die Windeln wechselte, wünschte ich mir, dass mein Vater oder mein Stiefpapa bei mir wären oder meine Großeltern.

Aber Fakt ist: Ich bin kein Kind mehr. Ich bin jetzt schon 36 Jahre alt und diese Erfahrungen sind normal. Die Jahre vergehen schneller und schneller. Menschen verlassen uns einer nach dem anderen. Das muss man akzeptieren.

Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal selbst die Beerdigung organisiert, eine Urne ausgewählt, die Traueranzeige verfasst und die Rede geschrieben. Es war ein seltsames Gefühl, persönlich das Lokal zu reservieren, in dem wir immer die Trauerfeiern veranstalteten. Meine Mutter besaß Immobilien, sie hat vermietet, konnte sich um all das jedoch nicht mehr kümmern. Im Moment lenkt es noch ab, sich mit dem bürokratischen Chaos und der Nachlassverwaltung herumzuschlagen.

Doch mit Schrecken denke ich an die jüngere Schwester meiner Mutter, die gerade gegen ihren Lungenkrebs kämpft. Sie hätte es nicht wissen wollen, da sind wir uns einig.
Ich war schon seit Jahren nicht mehr bei einem Arzt, weil ich nicht erfahren will, ob ich vielleicht irgendetwas in mir trage. Ob irgendetwas in mir wächst und mich innerlich auffrisst. Es wäre mir lieber, einfach plötzlich tot umzufallen, als meinen Verstand und meine Fähigkeiten einzubüßen. Meine Erinnerungen zu verlieren. Die Menschen um mich herum nicht mehr zu erkennen und den Verfall am eigenen Leib zu spüren.

Eigentlich wollte ich längst wieder Weblogeinträge verfassen. Meine Nengajo von 2024 zeigen. Einen Jahresrückblick schreiben. Es fehlte die Zeit dazu. Animexx begleitet mich seit meiner Kindheit und es ist immer noch mit Bruchstücken von Nostalgie behaftet. Ich würde gern sagen: Aus einer unbeschwerteren Zeit. Aber diese Zeit gab es nie. Der Blick auf die Vergangenheit ist immer verklärt oder entstellt.

Normalerweise verfasse ich solche privaten Weblogeinträge wie diesen hier nicht. Wen interessiert das schon? Ich bin gerade nur wehleidig und ziellos und sehne mich nach Banalität. Aber was ist schon banaler als der Tod?



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