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Lilja 4-ever

Autor:  Kuckuckskind
   Es gibt Dinge, die lassen einen verstummen. Und gleichzeitig lassen sie dem Geist keine Ruhe ehe man mit jemandem darüber gesprochen hat. Der Film "Lilja 4-ever" löst genau dieses Gefühl aus.

   Eigentlich wollte ich ins Bett gehen, als der Film heute Nacht im Fernsehen begann. Schon die erste Szene fesselte mich, ich konnte nicht wegsehen. Ein Mädchen mit Verletzungen im Gesicht rennt verzweifelt und allein durch eine Stadt bis sie an einer Brücke stehen bleibt. Man kann sich denken, was passiert ist und was wohl passieren wird, aber man hofft, dass es nicht zutrifft. Das Mädchen ist etwas jünger als ich, erst 16.

   Lilja wächst in einer heruntergekommenen Gegend in Estland auf. Ihr Traum ist es von dort wegzukommen und sie sieht ihre große Chance, als der Geliebte seiner Mutter sie nach Amerika holen will. Aber nur sie, die Mutter. So bleibt Lilja allein zurück. Noch schlimmer kommt es, als Tante Anna, die sich um Lilja kümmern soll, sie zwingt, in eine heruntergekommene winzige Wohnung zu ziehen. Nach und nach geht das Geld aus, der Strom wird abgestellt und zusätzliche zu der Tatsache, dass Lilijas Mutter sich nicht meldet, kommt das Gerücht auf, Lilja sei eine Nutte, was sie total von den anderen isoliert.
   Nur ihr etwas jüngerer Freund Wolodja hält zu ihr. Er ist ihre einzige seelische Stütze, als sie sich verkaufen muss, um überleben zu können. Wolodja ist ein lieber Junge, der Lilja abgöttisch liebt und froh ist, bei Lilja schlafen zu können, wenn sein Vater ihn mal wieder vor die Tür gesetzt hat. Selbstverständlich wird er eifersüchtig, nachdem Lilja den älteren Andrej kennenlernt und sich in ihn verliebt.    
   Vom Sozialamt erfährt Lilja, dass ihre Mutter das Sorgerecht für ihre Tochter an das Amt abgetreten hat und sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen würde. Nun sieht Lilja ihre Chance in Andrej, der  ihr ein schönes Leben mit ihm zusammen und Arbeit verspricht, wenn sie ihn nach Schweden begleitete. Andrej erscheint wie ein Sonnenstrahl in Liljas ausweglosem und deprimierendem Leben, doch Wolodja traut der Sache nicht. Er will nicht, dass seine einzige Freundin sich in etwas verrennt und er sie verliert.
   Doch genau das trifft ein, nachdem Lilja mit einem gefälschten Pass, unter falschem Namen und ohne Andrej (der sie durch "seine todkranke Oma" vertröstet) nach Schweden einreist. Von nun hat sie einem Zuhälter als Prostituierte zur Verfügung zu stehen und keine Möglichkeit zu fliehen.
   Als Lilja stirbt, habe ich nur nicht angefangen zu weinen, weil ich schon die ganze Zeit am Heulen war. Der kleine Wolodja hatte sich nach Liljas Abreise mit Medikamenten umgebracht und erschien Lilja nun ab und an als Engel, um ihr Mut zu geben nicht aufzugeben.
   Anstelle eines großen, starken Engels (wie auf Liljas Bild) nimmt sie ein Junge an die Hand, der kleiner als sie und genauso hilflos in der Welt war, wie sie es ist. Eine Erkenntnis, die genauso schön und tröstend, wie traurig und deprimierend ist. Zwei vergessene Seelen.

Noch erschreckender macht diesen Film die Tatsache, dass er nach dem Schicksal eines realen Mädchens aufgezeichnet wurde. Wahrscheinlich macht es Euch mich nun unsympathisch wenn ich behaupte, dass mich weder die Hilflosigkeit noch die Vergewaltigung(en) oder die Ungerechtigkeit in diesem Film zum Nachdenken bringen.
   Es ist eher die Erkenntnis, dass wir Menschen zu bequem sind. Zu bequem, über unseren eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Solche Schicksale erleiden nicht nur Mädchen in Estland. Auch nicht nur in anderen Ländern und auch nicht nur Mädchen. Die stumme Verzweiflung, die Einsamkeit und Hilflosigkeit existiert überall. Auch bei uns. Und wir sehen sie nicht, wollen sie nicht sehen. Schließlich ist bei uns alles in bester Ordnung. Sowas gibt es bei uns nicht...
   Wirklich? Und was ist mit den Bettlern, an denen wir täglich vorbeirauschen, um noch die Bahn zu erwischen? Mit den Kindern, die von ihren Eltern misshandelt werden und das Jugendamt nur zuschaut, weil das Kind ja noch lebt? Mit den Jungen und Mädchen, die täglich Bücher mit in die Schule nehmen, um in den Pausen zu lesen und so ihre Einsamkeit nicht so deutlich spüren müssen? Und was ist mit den Menschen, die in Altersheime geschickt werden, damit sie kein Ballast sind und immer wieder zeigen, was auf einen selbst zukommt?
   Ich weiss, das klingt reichlich weltverbesserisch. Leute, die davon reden, wir müssten die Welt verbessern nerven. In den meisten Fällen deswegen, weil sie nur davon reden. Sie wollen Mädchen in Estland vor Menschenhändlern schützen, aber rennen täglich an den Bettlern vorbei, ignorieren die blauen Flecken weinender Kinder, lachen über die "Langeweiler" und gruseln sich vor alten Menschen, die orientierungs- und hilflos durch Altenheime irren.
   Wir Menschen in unserem ignoranten Wohlstand sollten endlich lernen, die Augen für Andere zu öffnen. Und manchmal reicht schon die seelische Unterstützung, einer weinenden Frau in der U-Bahn ein Taschentuch anzubieten, weil sie sich dann nicht so allein fühlen muss; oder einem Freund aufmerksam zuzuhören ohne wohlgemeinte, aber leere und phrasenhafte Ratschläge zu erteilen. 

   Ich werde noch viel erleben und noch viel mehr lernen müssen, but I'll do my very best.
                                                                           4-ever.