Zum Inhalt der Seite



Autor:  Sora33
An einem sonnigen Morgen stößt ein 'Jemand' innerhalb seiner Wohnung auf ein amtliches Schreiben: Es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Wie es dahin kam, ist ungewiss. Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung:
"Sie haben sich" befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier "am 5. November des laufenden Jahres morgens um Acht Uhr in der Herrentoilette des Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Für Sie ist Kabine 18 vorgesehen. Bei Nichtbefolgungdieser Aufforderung kann auf dem Wege der verwaltungsdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren."
Wenig später taucht der solchermaßen Betrogene verzagt bei seinen Freunden auf. Getränke und Imbiß lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur ernstes und bedeutungsvolles Kopfschütteln. Ein entschiedener Hinweis, ein Hilfsangebot bleibt aus. Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch begrenztLebendigen die Tür wieder zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öfnen. Lohnt es denn, wer weiß was alles auf sich zu laden für einen Menschen, von dem in Zuunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begiebt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird, eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) auf jeden Fall einzuhalten, um Repressalien auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof hört sich doch ganz erträglich und vernünftig an. Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Hinrichtung?Warscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei 'Einrichtung' gemeint. Warum nicht? Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, dass man von seinem frischgebackenen Klienten verlangt, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muss Vertrauen haben!Vertrauen ist das Wichtigste. Daheimwälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine durchfeuchteten Laken. Erfüllt von brennenden Neid lauscht er dem unbeschwerten Summen einer Fliege. Die lebt! Die hat keine Sorgen! Was weiß die schon vom Zentralfriedhof?! Man weiß ja selber nichts darüber...Mitten in der Nacht läuft er an der Tür des Nachbarn. Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig, ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf löst.

Pünktlich um Acht Uhr morgens betritt er am 5. November den Zentralfriedhof, fröstelnd in einem kurzärmlichen Sporthemd und eine Leinenhose, das Leichteste, was er an derartiger Bekleidung besitzt. Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser Gepäckträger. Der Bodenwird gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine 18 entdeckt er sofort. Er scheibt eine Münze ins Schließwerk der Tür, die aufschwingt, und tritt ein. Wild zuckt in ihm die Gewissheitauf, dass gar nichts passieren wird. Gar nichts! Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Gleicht wird es vorüber sein, und er kann wieder nach Hause gehen. Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er das Schlß zu und setzt sich. ...


... Eine viertel Stunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus, um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralfriedhofes zu schaffen, von dem jeder wusste, dass ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über seinem Dach Rauch angeblicher Lokomotiven hing.


Zum Weblog