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Der Glasgarten

von

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Traum und Sehnsucht

~ Traum und Sehnsucht ~
 


 

o~
 

…und eine dreiviertel Stunde später untermalte er AYAS Leid mit liebevollen Beschimpfungen. Ja, er hatte ihn betrogen mit seinem ‚kurz spazieren gehen’, ja es war kalt draußen, nein es regnete nicht, ja es schneite, nein die Heizung war nicht zu warm, sondern die Luft zu trocken und alles sowieso schlimm und nein, er hätte sich nicht darauf einlassen sollen, sich von Aya durch die Gegend fahren zu lassen in seinem Sportwagen.
 

Ja, Aya bereute seinen Entschluss.
 

Dann jedoch auch wieder nicht, denn solange Schuldig noch meckern konnte, gab es Hoffnung. Diese Hoffnung schürte die Zuversicht in Aya selbst, dass er das Richtige tat und dass sie auf dem Wege waren, selbigen aus dieser Situation herauszufinden.

„Wir sind gleich da“, lächelte Aya zuckersüß. Eine Viertelstunde noch…eine Viertelstunde.
 

„Das sagst du schon die ganze Zeit“, kläffte Schuldig und fingerte an der Heizung herum. „Ich dreh Mal ein Bisschen runter, mir brennen schon die Nasenhaare an“, veräußerte er bierernst und zog ein böses Gesicht.

Nur um gleich darauf zu Aya zu blicken und schon brach sein aufrechterhaltenes Moserkostüm. Ein ungestümes, zwar etwas zittriges aber dennoch lautes Lachen platzte aus ihm heraus als er Rans Blick gewahr wurde.

Er meckerte schon die ganze Zeit herum, wegen nichts im Prinzip. Und es hatte ihm Spaß gemacht, das Meckern, weil Ran so schön darauf reagierte. Ein kleiner Schlagabtausch in Ehren kann doch keiner verwehren. Am wenigsten sie beide.
 

Das ist nicht zum Lachen!, wetterte nun Aya in Gedanken. Seit einer dreiviertel Stunde…NEIN, schon vorher. Schon noch in der Wohnung…

„Wenn du noch mal einmal sagst, dass du es warm haben möchtest“, knurrte er dunkel, im Anführermodus. „Dir ist ja wohl klar, dass die Heizung auf der Rückfahrt auf Null stehen wird, oder? Aus RÜCKSICHT auf deine Nasenhaare!“

Als wenn er seine Drohung wirklich wahr machen konnte, wenn ihn diese Augen, diese verräterischen, grünen Augen so groß und flehend ansahen.
 

„Na, hey, wenn ich ersticke findest dus sicher auch nicht toll! Dann musst du dich damit abmühen meine Leiche wegzuschaffen. Das Räumkommando von Kritiker steht dir ja nicht mehr zur Verfügung also musst du selbst Hand anlegen!“, ereiferte sich Schuldig geduldig.

„Besser du hältst mich am Leben mit etwas Wärme und Atemluft und du hast weniger Arbeit!“
 

Genau das bezweifelte Aya gerade. Weniger Arbeit? Wenn sie auf dem Weg in die Einöden waren? Dort, wo niemand hinkommen würde? Er runzelte schweigend die Stirn. Wenn er sich geschickt anstellte und schnell machte…da sie momentan ja sowieso an den Klippen unterwegs waren…

Ein kleines, gemeines Lächeln breitete sich auf Ayas Lippen aus. Ja…das würde schnell gehen. Und ob das wirklich weniger Arbeit war…
 

Schuldigs Augen schmälerten sich als er die eintretende Stille ganz richtig deutete. Wie ein lauernder Jäger drehte er den Kopf und maß das Lächeln auf Rans Profil.

„So, ist das also. DAS war also alles geplant um mich um die Ecke zu bringen. Wo fahren wir hin? In eine einsame Gegend, wo kein Hahn nach mir kräht?“, wollte er entrüstet wissen, schraubte aber seine Stimme etwas herunter als ihm bewusst wurde, dass tatsächlich keiner nach ihm …krähen würde. Niemand. Es gab niemand außer Schwarz vielleicht, die wussten, dass er existiert hatte. Dass er heute hier hinaus gefahren war.

„Kein Hahn, hmm?“, lächelte er leise. „Ein Namenloser in einem Land ohne Gesichter, in einer Welt ohne Wärme“, murmelte er und blickte hinaus in die Schatten.

So schnell war ihm das Lachen also vergangen. Von Null auf Hundert und wieder zurück.
 

„Jetzt hör auf, Schuldig. Du bist weder namenlos, noch gesichtslos noch wird kein Hahn nach dir krähen, wenn du einmal den Abgang machen solltest. Du willst also sagen, dass ich keine Wärme ausstrahle? Dass es da nicht drei Verrückte gibt, die sehr wohl nach dir krähen würden, wenn ich dich um die Ecke bringe. Ich kenne da einen…der kommt aus Amerika, der würde ganz laut krähen. Und noch einen aus Japan, so einen rothaarigen Esel, der würde noch viel lauter krähen“, knurrte Aya, deutlich wütend. Wieso sagte Schuldig so etwas?

Doch…war es nicht das gleiche Selbstmitleid, das auch er an den Tag gelegt hatte, kurz nachdem er sich bewusst geworden war, dass seine Schwester gestorben ist?

„Du bist nicht allein“, sagte er schon weicher als vorher.
 

„Nein, bin ich nicht.“

Schuldig legte eine Hand auf Rans Oberschenkel. „Bin ich nicht, Ran. Du bist kein Esel, Idiot“, schickte er die Lippen mürrisch verziehend hinterher.

Er schwieg für Augenblicke in denen er dem leisen Fahrgeräusch lauschte. „Es passte nur gerade so gut zu mir … zu jedem von uns. Es ist noch nicht einmal auf meinem Mist gewachsen. Ich hab’s aus irgendeinem Kopf gefischt, vor kurzem. Es passte einfach.“

Die Finger seiner anderen Hand tanzten über die Beifahrerscheibe.
 

„Es passt nicht, denn das hat bestimmt kein Egoist gesagt. Egoisten erschaffen sich ihre Welt, ihre Wärme und ihre Gesichter selbst. Du bist Egoist. Ich auch. Wir alle. Wir alle wissen, dass es jeden Moment vorbei sein kann und wir leben danach.“

Seine rechte Hand ergriff die Schuldigs und drückte sie. „Und wenn du mich noch einmal Idiot nennst, Schuldig, dann setze ich dich ganz egoistisch auf dieser vollmondbeschienen, menschenleeren Landstraße aus.“ Er sah kurz zu Schuldig und lächelte zärtlich.
 

Schuldig lachte leise in sich hinein, nahm seine Hand zu sich und wandte den Kopf etwas ab.

„Du und ein Egoist. Ja, sicher“, sanft wehten diese Worte zu Ran. „Deshalb willst du mir auch helfen. Weil du ganz egoistisch bist. Deshalb umarmst du mich und lächelst mich an, du Egoist“, Schuldig atmete langsam aus.

„Weißt du … ich habe mir schon mehrmals Gedanken darüber gemacht, wie es wohl wäre, wenn ich mich aus den Gedächtnissen von Brad, Nagi und Jei löschen würde. Dann wäre ich unabhängig, niemand würde wissen, dass ich existiere. Ein Niemand in der Welt der Gedanken. Nur bei dir würde das nicht gehen, Ran. Du bist der Einzige, der es wüsste, ich könnte dir mich nicht nehmen…“
 

„Untersteh dich, es jemals zu versuchen, Schuldig“, erwiderte Aya ernst, auch wenn er wusste, dass Schuldig niemals die Gelegenheit dazu erhalten würde.

„Würdest du es wollen? Dich aus ihren Gedanken zu löschen, damit du unabhängig bist? Was würde dir das bringen?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Niemand, der dich kennt. Niemand außer ich…“ Wie erschreckend doch für ihn die Vorstellung war, dass jemand vollkommen losgelöst von der Gesellschaft existierte. Ohne dass jemand sich an ihn erinnerte.
 

„Was es mir bringen würde…“, sinnierte Schuldig und brauchte ein paar Momente um darüber nachzudenken. „Ich hätte wohl keinen Sinn für Grenzen mehr. Macht würde mir das bringen. Und ich würde wohl… ich hätte …

Brad sagte das mal… dass wir nie allein agieren sollten, da wir den Sinn für das Menschsein verlieren würden. Wir brauchen eine gewisse Steuerung, damit wir erkennen, dass wir nicht anders sind, nur befähigter.“
 

„Stimmst du ihm zu? Oder würdest du das Vergessen dem Erinnert werden vorziehen? Würdest du die Macht wählen?“, fragte Aya noch einmal und sah kurz zu Schuldig. „Was hätte diese Macht für dich für einen Reiz?“ Nur befähigter…das klang anders als zu Schwarz’ Zeiten. Milder. Nicht ganz so arrogant. Auch sie waren Menschen, auch sie litten, freuten sich, teilten Schmerz, Kummer, Leid…Glück.
 

Schuldig schwieg erneut.

„Sieh mich an, Ran. Bin ich nicht vor der Erinnerung stärker gewesen? War das Vergessen nicht etwas, dass mich stark werden ließ? Meine Hände werden feucht, wenn ich mich erinnere, sie zittern, mein Körper verkrampft sich und ich bin nicht mehr zu gebrauchen. Das ist Schwäche auf ganzer Linie.“
 

„Momentan ist es das, ja“, erwiderte Aya und fuhr auf den dunklen Parkplatz. Sie waren da. Er ließ den Wagen ausrollen und stellte den Motor ab. „Aber das wird nicht für immer so sein. Nicht, wenn du es nicht willst. Du bist stark. Auch wenn du dich erinnerst. Gerade wenn du dich erinnerst.“ Er nahm eine der zittrigen Hände und führte sie an seine Lippen, während er einen sanften Kuss darauf hauchte. „Oder wärst auch dann stärker gewesen, wenn du mich damals vergessen hättest?“, fragte er sanft, ja sogar liebevoll um die Gratwanderung in seinen leisen Worten zu überspielen.
 

Unsicher hob Schuldig den Kopf. „Das …wäre ganz schlimm gewesen“, antwortete er in fast schon kindlicher Schlichtheit.

„Wenn Brad mich nicht erinnert hätte“, fügte er nüchtern hinzu. Brad war es, der Ran gerettet hatte, nicht er und seine Unfähigkeit. Nicht er.

Schuldig befreite sich vom Gurt und stieg aus. Er brauchte frische Luft.
 

Aya stieg ebenso aus und schloss den Wagen ab, bevor er zu Schuldig kam. „Aber du hast dich selbst schließlich erinnert und das hat dich stärker gemacht, nicht geschwächt. Und so wirst du auch diese Erinnerung als das nehmen, was sie ist. Eine Erinnerung, Schuldig. Es WIRD nie wieder passieren. Dieser Mann ist tot. Er lebt nicht mehr, denn du hast ihn umgebracht.“
 

„Ja, er ist tot. Aber ich muss trotzdem an ihn denken“, zischte Schuldig und sog hörbar die Luft in die Lungen. Seine Stimme hallte laut in der klaren nächtlichen Luft wider und um sie herum war es dunkel. Nur der klare Nachthimmel und die Himmelskörper spendeten ihnen Licht.
 

Aya hakte sich bei Schuldig ein, zum einen weil ihm kalt war, zum anderen, weil er nicht wollte, dass ihm der andere Mann abhanden kam, wenn sie hier spazieren gingen. Er war die sanfte Fessel für den Telepathen, die verhinderte, dass er sich diesem Gespräch entzog.

„Ja, das musst du. Aber was fühlst du, wenn du an ihn denkst?“, fragte er und setzte sich in Bewegung, der Kies des Weges unter seinen schweren Stiefeln knirschend.
 

Am Liebsten hätte sich Schuldig nun der Nähe von Ran entzogen. Sie war ihm plötzlich unangenehm. „Was soll ich schon fühlen?“, reagierte er etwas gereizt und stierte mit gewittrig zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Seine Zähne kauten auf der Innenseite der Unterlippe herum um sich abzulenken.
 

„Das frage ich dich, Schuldig. Du wirst am Besten wissen, was dir durch den Kopf geht, wenn du an ihn denkst“, blieb Aya vollkommen ruhig, war er in diesem Moment doch der Gegenpol zu Schuldigs Wut. Natürlich war der andere Mann gereizt, er konnte es ihm nicht verdenken…nicht nachdem was passiert war.
 

„Psychologenquatsch“, erwiderte Schuldig im gleichen Tonfall wie auch schon zuvor. Er fühlte sich in die Enge getrieben und er wusste nicht, wie er Ran seine Gefühle beschreiben sollte. Wie sollte er sie Ran erklären? Wie konnte er sie rechtfertigen?
 

Nein, Aya konnte es Schuldig wirklich nicht verdenken.

„Ist es denn nicht wahr?“, fragte er und sah zur Seite, direkt Schuldig ins abweisende Profil. Doch das war das Einzige, was Aya sagte, bevor er in Schweigen verfiel. Er wollte seine Worte erst einmal wirken lassen, in der Hoffnung, dass Schuldig ihm irgendwann antwortete.
 

Irgendwann fiel dann auch eine Antwort, aber sie bestand in einem gemurmelten deutschen Fluch, bevor die Stille wieder eintrat und lediglich die Geräusche der frühen Nacht und ihrer Schritte zu hören waren.

„Ich versteh’s doch selbst nicht, wie soll ich’s dir denn dann erklären?“, gab sich Schuldig dann doch geschlagen.
 

„Dann sag mir, was du nicht verstehst. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung?“, schlug Aya vor und ließ seinen Blick über die sie umsäumenden Bäume streifen. Sie waren alleine hier…niemand anderes. Sie konnte reden, ehrlich sein…doch war das nicht gerade das Schwere an der ganzen Sache?

Aya überlegte sich etwas. Es war…gefährlich. Nahezu ein Drahtseilakt, aber einen Versuch wert. Er hatte sich daran erinnert, was Crawford ihm über Kitamura erzählt hatte und über diese…Session in dem Raum. Er zog Vergleiche an das, was Schuldig gefühlt hatte.

„Er hat dich dazu gebracht, es zu mögen“, sagte er so neutral und ruhig wie möglich, doch sein Blick ruhte stur geradeaus.
 

„NEIN, ich mag es nicht, verstehst du! Wie kann ich so etwas mögen?“, schrie Schuldig, und wollte sich losreißen. Er hatte sich nicht halb so gut im Griff, wie er es gerne gehabt hätte und seine Stimme brach. Unsicherheit und Schutzlosigkeit ließen ihn an Flucht vor diesem inquisitorischen Gespräch denken.

„Ich habe es nie gewollt! Nie. Und immer…ich meine…nein…ich…“, zunächst unruhig, wusste er nun nicht mehr was er sagen wollte. Es stimmte was Ran sagte, aber wie konnte er dem zustimmen, vor RAN, vor ihm? Wie stand er dann da?
 

Aya wusste….sah in diesem Moment, dass er Recht gehabt hatte. Er erkannte das Problem.

Seine Augen kehrten zurück von ihrer stummen Betrachtung des Weges und er löste sich von Schuldig. Einen Augenblick später jedoch stellte er sich vor den anderen Mann, mit dem Rücken zu ihm und ergriff dessen Hände, die er mit den seinen verschränkte und um sich schlang.

Er zog den Telepathen an sich heran und bettete seinen Hinterkopf an dessen Schulter.

„…und immer hat er dich dazu getrieben zu kommen“, beendete Aya den Satz für Schuldig.
 

Einer Marionette gleich ließ dieser sich bewegen und stand nun da als wüsste er nicht, was er tun sollte, als diese Worte durch die klare Nacht schallten. Sie waren leise ausgesprochen worden, aber in seinem Inneren hörte er sie als befremdend laut.

Als hätte er sich diese Geste anerlernt und als wäre sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen schloss er Ran in die Arme und schmiegte den Mann an sich. So war alles gut, so hatte er …Ran bei sich und so würde Ran ihn nicht für schwach halten, denn ER tat die beschützende Geste, nicht andersherum…nicht anders herum…

Seine Lider schlossen sich und betteten sich an Rans Halsbeuge.

„Ich sitze da und die Erinnerungen kommen ungefragt, als würden sie mir plötzlich passieren und … und… ich werde scharf dabei…verstehst du?“

Verzweiflung sprach aus den letzten beiden Worten.
 

„Ja, das verstehe ich.“

Es war tatsächlich so. Aya konnte sich ausmalen, was in Schuldig vorging. Die Lust war wie ein Reiz antrainiert worden. Demütigung vermischt mit Lust und dieser Reiz funktionierte seit Jahren immer noch. Es war grausam in Ayas Augen, die er zwar vor der Dunkelheit, aber nicht vor der Wahrheit verschließen konnte.

Genauso stand er hier, die Lider geschlossen, sein Körper entspannt gegen den des größeren Mannes gelehnt. Kitamura hatte Schuldig gleichzeitig gequält und Lust bereitet. Immer und immer und immer wieder. Solange, bis der Körper des Deutschen darauf reagiert hatte. Er hatte den Gehorsam und die Belohnung anerkannt, die aufeinander folgten.

„Dein Körper, Schuldig. Er hat es dir antrainiert“, veräußerte Aya seine Gedanken. „Du siehst dein Leid und kannst einen Nachhall der Lust spüren, die er dir zugefügt hat. Du hattest keine Chance, dich dagegen zu wehren. Was hättest du denn auch schon tun sollen, Schuldig?“
 

Darauf wusste Schuldig nichts zu sagen. Er fühlte nur, wie Ran sich an ihn lehnte und zog daraus seine Kraft.

„Ich versteh, wie du es siehst und will… es…auch so sehen, aber ich …die Bilder kommen und …ich hasse diese Gefühle die dabei entstehen. Ich will mich nicht hassen, ich will ihn hassen, aber es kehrt sich alles um, Ran…“
 

Diese schrecklich verzweifelten Worte drangen an Ayas Ohr, während seinen Nacken Feuchtigkeit kitzelte. Die Hände des rothaarigen Mannes drückten fester zu, versichernder. Ich werde dich dem nicht überlassen, Schuldig. Ich bin hier, hieß das.

Er wollte ebenso wenig wie Schuldig selbst, dass dieser starke, zuweilen teuflisch zynische Mann sich selbst hasste. Das war nicht Schuldig…das schien so fern der Realität, dass es schmerzte.

„Lass diese Dinge einfach durch dich hindurchfließen, Schuldig. Wehr dich nicht dagegen, was sich deiner Kontrolle entzieht. Was denkst du…kannst du wieder stark sein? Ich denke ja. Und weißt du auch warum? Weil ich dich als zynischen, gemeinen, sadistischen Mistkerl kennen gelernt habe, der so stark war, dass ich ihn immer verflucht habe. Das bist auch du. Da wirst du wieder sein – natürlich ohne das gemein und sadistisch.

Die Erinnerungen erregen dich? Dann ziehe das aus ihnen heraus, was du jetzt noch Positives gewinnen kannst. Aber halt dir immer dabei vor Augen, dass der Verursacher dessen tot ist. Durch deine Hand gestorben.“
 

„Du meinst, es ist nicht schlimm, wenn das jetzt passiert?“, drang eine matte Stimme an Rans Ohr. Schuldigs rechter Arm lag um die Taille und sein linker stahl sich nun quer über Rans Brust zur anderen Schulter und presste Ran fest an sich.

„…natürlich ohne gemein und sadistisch…aber das Mistkerl schon, wie?“, nuschelte er und zwickte Ran mit seinen Zähnen leicht in die Haut.
 

„Au!“, protestierte Ran pro forma und lächelte leicht. „Da dreht man dir den Rücken zu und schon kommt der Mistkerl hervor…“, maulte er, lehnte sich jedoch an jenen Fiesling zurück. „Aber den hat’s ja mit dazu gegeben…der geht nicht mehr weg.“

Er seufzte und öffnete seine Augen.

„Schuldig. Es ist nicht schlimm, wenn du dich davon…erregt fühlst. Denn es ist nicht die Grausamkeit des anderen Mannes, es sind seine Handlungen. Hätte er dir Schmerz zugefügt, würde das nicht der Fall sein. Er hat dir Lust zugefügt, das hat dich so darauf reagieren lassen. Nicht er. Du hasst ihn. Was du nicht hasst, was dich anmacht, ist deine Lust und nur sie.“
 

„Schon“, räumte Schuldig ein und platzierte anschließend einen sanften Kuss auf die zuvor liebevoll malträtierte Stelle auf Rans Haut, bevor er den Mantelkragen des Japaners hoch schlug und Ran seitlich an sich zog.

Ihm war nach laufen.

„Du trennst diese zwei Punkte. Irgendwie fällt mir das schwer eine klare Linie zu sehen“
 

Aya sah zu Schuldig hoch und gemeinsam liefen sie wieder ein Stück, bis das Rauschen des Wasserfalls, den Aya schon immer so geliebt hatte, näher und näher kam.

„Du bist noch zu nahe dran. Du hast erst gestern deine Erinnerung wiedererlangt. Da kannst du keine Wunder erwarten…du kannst nur auf die Hilfe von japanischen Blumenkindern hoffen, die hinterhältig und gemein sind.“
 

„Mistkerlen wie mir bleibt wohl nichts anderes übrig, aber immerhin gibt’s solche, die auf Mistkerle stehen…“, sagte er wie abwesend, als hätte er es gar nicht zu Ran sondern zu sich selbst gesagt. „Gestern erst…mir kommt’s so lange vor…so verdammt lang…“, sagte er grüblerisch.
 

„Es ist lange her. Sieben Jahre. Sieben Jahre - und du hast ein Leben ohne das Wissen daran geführt. Du empfindest Lust, du hast Sex, du bist in der Lage, ein normales Leben zu führen. Was denkst du, wird sich jetzt ändern?

Schuldig…auch wenn du diese Erinnerungen jetzt besitzt, so sind sie das, was ich gerade gesagt habe: Erinnerungen.

Ich kann nicht in deinen Kopf sehen, ich kann die Bilder nicht sehen, die du vor deinen Augen hast. Doch was ich sehe, ist das Hier und Jetzt, in dem du HIER stehst und lebst und dein Blumenkind ärgerst. Du lebst, Schuldig.“
 

„Du bezeichnest dich selbst als Blumenkind.“

Schuldigs Mund wurde breiter und er grinste unverschämt und mit etwas Stolz bei dieser Erkenntnis. „Ja….“, kam er auf das Thema zurück und sein Tonfall wurde wieder ernster. „das weiß ich ja und ich halte es mir vor Augen, dass es lange her ist. Ich will nur nicht, dass …sich jetzt alles ändert, dass ich jetzt gar keinen Sex mehr haben kann ohne daran zu denken, dass …“

Er verstummte.

Dass was? Dass es geiler wäre wenn es zusätzlich noch mit Schmerz verbunden wäre? Dass es lustvoller wäre ausgeliefert zu sein?
 

„Aber das sind Sorgen, die du dir nicht zu machen brauchst“, erwiderte Aya. „Wir lassen es langsam angehen. Und gehen Schritt für Schritt ab. Du wirst nicht ihn vor dir sehen, Schuldig. Du wirst mich sehen. Und wenn ich merke, dass deine Aufmerksamkeit abgleitet, hole ich sie zu mir zurück. Oder hast du daran irgendwelche Zweifel?“

Er fuhr mit seiner freien Hand über den Rücken des anderen Mannes und strich liebevoll über den dicken Mantel.
 

„Das…meine ich nicht…“, zögerte Schuldig und fing Rans Hand ein. Er musste es anders erklären.

„Ich hatte nie das Bedürfnis …solange ich mich erinnern kann…also vor den Erinnerungen an Kitamura…, dass ich scharf wurde, wenn heftigere Schmerzen oder Erniedrigung und Auslieferung eine Rolle gespielt haben. Verstehst du? Ich habe einfach Zweifel…vielleicht geht’s ohne gar nicht mehr? Und was dann?“
 

„Schuldig…du hattest doch sicherlich in der Zwischenzeit auch Sex. Wie war er? Hast du dich dominieren lassen? Demütigen? Quälen? Nein, oder?“ Aya konnte es sich zumindest nicht vorstellen, dass das der Fall war. Nicht bei dem Schuldig, den er kennen gelernt hatte.

„Sollte es wirklich der Fall sein, dass es gar nicht mehr ohne geht, dann hätte sich schon längst dein Unterbewusstsein eingeklinkt. Dann hättest du schon längst dieser Gier nachgegeben.

Wenn es allerdings gar nicht anders geht…“ Der rothaarige Japaner seufzte. Ja, was dann? Was würde er selbst dann machen? Er wollte Schuldig weder quälen, noch demütigen noch ihn wehrlos machen. Fessel- und Dominanzspiele, ja. Er hatte sie oft genug mit Youji getrieben um sie nicht zu mögen, jedoch die ganze Zeit? Zu dieser Extreme?

„..ich weiß nicht, ob ich das kann.“
 

Schuldig blieb unvermittelt stehen und drehte sich zu der Schattengestalt neben sich um. „Ich will das nicht, Ran. Wenn ich durch diesen Bastard nicht sein kann wie früher… wie vorher dann …“, er wusste nicht was er sagen sollte. Er wollte Ran, wollte endlich Sex mit ihm, wollte ihn spüren, wollte sehen wie er sich bewegte, wollte …wollte so viel…
 

„Was dann, Schuldig? Wirst du nie wieder Sex haben? Nein, das wird es nicht sein“, schüttelte Aya nur traurig den Kopf.

„Aber weißt du, es ist müßig, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Warten wir das nächste Mal ab, warten wir ab, wie es sich entwickelt und was geschehen wird. Und wenn, probieren wir einfach aus, was dir gefällt und was mir gefällt, was hältst du davon?“
 

„Hmmm.“

Nie wieder Sex? Das konnte er sich nun überhaupt nicht vorstellen. Aber kein Sex mit Ran war schon vorstellbar und grausig dazu.
 

Das war keine wirklich aufschlussreiche Antwort, beschloss Aya, sagte jedoch nichts dazu. Sie würden es ausprobieren, da war er sich sicher.

Er lehnte sich schweigend an Schuldig und ohne Worte gingen sie beide weiter durch die dunkle Landschaft.
 

„Wo sind wir hier?“, fragte Schuldig reichlich verspätet, als sie auf eine Brücke kamen und der Wasserfall in der Nähe schien. Er zog Ran an sich und fuhr mit der einen Hand sanft über die Haare die er am Hinterkopf fühlen konnte, der Rest der seidig langen Pracht steckte nämlich unter dem Mantel.

„Du hättest die Schuldig-Spezial- Mütze aufziehen sollen, jetzt wirst du mir vielleicht noch krank“, lächelte er als er sich an seinen Auftritt nach Rans Friseurtermin erinnerte.
 

„Wir sind hier in Nikko.“

Aya lachte ebenso. Ja, er erinnerte sich daran.

„Hör mal, ich bin kein Kind, ich werde nicht so leicht krank“, erwiderte er und stupste spielerisch tadelnd auf die kalte Nase des anderen Mannes. „Außerdem hängt die Schuldig-Spezial-Mütze noch ganz unschuldig bei uns auf dem Garderobenständer und wurde hoffentlich nicht von Youji beschlagnahmt.“

Wie es diverse Kleidungsstücke getan hatten: vor allen Dingen Schals und andere, wärmende Dinge im Winter, die – versehentlich unten vergessen – schnell zum Allgemeineigentum deklariert worden waren.

„Aber du hättest dir etwas Wärmeres anziehen sollen, Schuldig“, murmelte er besorgt und strich seinem Gegenüber über den Mantel und Strenge legte sich in seinen Blick.
 

„Was, du hast meine Lieblingsmütze einfach so bei euch gelassen?“, überhörte Schuldig - wie stets taub für gut gemeinte Ratschläge - Rans letzten Satz, doch …die Sache mit seiner Mütze…

Schuldigs Mundwinkel rutschten nach unten und der anklagende Blick traf das von den Himmelskörpern beschienene Gesicht des Japaners. „Und jetzt sind die blonden Haare des Schnüfflers zwischen den Wollfäden?“
 

„Vermutlich ja…wenn es nur die sind, kannst du dich glücklich schätzen“, erwiderte Aya teuflisch seufzend. „Einfach so. Ha! Das stellst du dir so einfach vor. Sie war wahrscheinlich unter eifersüchtiger Beobachtung, als ich zum letzten Mal dort war!“

Als er seine Tasche gepackt hatte und selbst dafür nicht wirklich einen Kopf hatte.
 

„Stimmt“, sagte Schuldig leise und sein Gesicht näherte sich Rans, berührte samtig weich mit den Lippen Rans, als würde er nur ertasten, erfühlen wollen, bevor er den Druck verstärkte und ihn sinnlich küsste.
 

Aya fühlte sich geborgen durch die Lippen des anderen Mannes, durch den Kuss, den sie nun teilten.

Er öffnete seine Lippen, hieß Schuldig willkommen in der warmen, gemütlichen Höhle. Er selbst jedoch knabberte an denen des anderen Mannes, nippte und saugte spielerisch an ihnen. Ganz zart nur, so als hätte er Angst, den Telepathen von sich zu verschrecken.
 

Doch wie stets wenn sie sich küssten, blieb es nicht bei dieser Zartheit und wurde langsam aber stetig leidenschaftlicher, forderten mehr, brauchten mehr voneinander. Es zeigte Schuldig, dass sie schon zu weit waren, sie waren reif, reif füreinander und scharf aufeinander.

Bei diesem Gedanken musste er grinsen und er löste den Kuss, Ran fest an sich haltend.
 

Ein leises Knurren begleitete Schuldigs Lösen, das jedoch schnell verebbte, als Aya die Nähe des anderen Mannes in seine Finger bekam. Ja, und ob sie weit und reif genug waren, um es ein weiteres Mal zu versuchen. Nicht heute, nein. Aber bald. Sehr bald.

Das einzig Traurige an der Sache war für Aya, dass er den anderen Mann so schnell nicht toppen würde, aus Rücksicht auf dessen Vergangenheit. Doch das bekam er hin…oder?

Er schlang die Arme um seinen Deutschen und wiegte ihn sanft.
 

„Willst du noch weiter oder sollen wir zurück?“

Schuldig bettete die Wange seitlich an Rans Schopf und lauschte dem Wasserfall. Es war noch kalt und Schuldig wünschte sich langsam den Frühling herbei. Aber öfter raus konnten sie deswegen trotzdem nicht. Kritiker lauerten noch immer auf Ran und somit war der Winter doch eine bessere Ausrede um drinnen zu verweilen.
 

„Lass uns noch ein kleines Stückchen weiter gehen, bis zum Wasserfall“, erwiderte Aya, innerlich froh darum, dass sie an der frischen Luft waren. Er sah, dass Schuldig vermutlich zurück wollte, er selbst jedoch wollte nur noch ein Mal den Frieden des Wasserfalls in sich aufnehmen, wie er es so oft getan hatte, als Aya noch gelebt hatte. Hier hatte er Ruhe gesucht und gefunden.

Ruhe, die ihm in diesem Apartment sehr nützlich sein konnte.
 

Schuldig platzierte einen Kuss als Zustimmung auf Rans Schläfe und sie nahmen den Weg wieder auf.
 


 

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Zugegeben, Aya mochte den Duft des Shampoos, der seinen frisch gewaschenen Haaren anhing. Der Kur, die er nach einigem Suchen wieder gefunden und aufgetragen hatte. Mandelduft, immer noch.

Alles in allem fühlte er sich außerordentlich wohl, wie sie hier im Bett lagen, sie beide, nach ihrem ausgiebigen Spaziergang...

Frisch geduscht und in seinem Fall endlich rasiert, umgeben von sanfter Musik, von minimalem, weichen Licht. Ein Fest für die Sinne. Sie waren sich nah, auf mehr als eine Art und Weise. Hielten sich in sanfter Umarmung, in kleinen, leichten Gesten voller Vertrauen.
 

Das hier war Frieden. Friede, den sich Aya nie gewünscht hatte, weil er sowieso nicht an ihn geglaubt hatte. Und doch war er eines Besseren belehrt worden. Durch die aufmerksamen, grünen Augen vor sich.
 

Schuldig strich mit dem Finger über Rans Wangenknochen, zeichnete die Braue nach.

"Kommst du eher nach deiner Mom? Oder deinem Vater?", fragte er plötzlich in die warme Atmosphäre. Sein Arm lag unter dem Kissen und hielt Ran so an sich.

Er fing den wohlschmeckenden Atem Rans mit seinen Lippen ein, während er sprach.
 

Aya genoss für Momente schweigend diese Zuneigung. Er erwiderte den Kuss, erwiderte die Wärme, die ihm zuteil wurde.

Seine Gedanken schweiften zurück zu seinen Eltern, riefen sie sich beide ins Gedächtnis. Ein schwieriges Thema, immer noch. Damals, als er noch nicht gedacht hatte, was sich für Abgründe in seinem Leben auftun konnten, war er beinahe am Tod der Beiden zerbrochen. Wäre Aya nicht gewesen, für die er gekämpft und gelebt hatte, hätte er sich diese eine Brücke hinuntergestürzt, an der er so oft gestanden und überlegt hatte, sich dort hinunter fallen zu lassen.
 

Hoch genug wäre es gewesen. Den Aufprall hätte er nicht überlebt. Ein Sprung in die Tiefe und es wäre vorbei gewesen. Doch er hatte weiter gelebt. Hatte sich gequält. Wie oft war er nicht aufgestanden? Wie oft war er liegen geblieben und hatte apathisch an die Decke des kargen Zimmers gestarrt, das er sich vom Erbe seiner Familie geleistet hatte?

Solange, bis er schließlich Arbeit fand?
 

Solange, bis er sich an dem Menschen gerächt hatte, der seine Schwester und seine Familie auf dem Gewissen hatte.
 

Aya war sich mit der Zeit erst bewusst geworden, wie tief der Abgrund gewesen war, auf den er zugesteuert hatte und aus dem ihm schließlich Weiß hinaus geholfen hatten. Sie hatten ihm gezeigt, was es hieß, zu leben. Ein Leben danach zu führen und sich nicht aufzugeben. Nach und nach hatten sie ihm Ruhe vermittelt. Notwendige Ruhe.
 

Er blinzelte. Wieso schweiften seine Gedanken immer gleich in die Vergangenheit ab? Wo sie doch geschehen war. Die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, mit nichts. „Die Hände habe ich von meiner Mutter…und die Gesichtszüge von meinem Vater“, erwiderte er schließlich und konnte die Trauer nicht gänzlich aus seiner Stimme tilgen.
 

Wollte Schuldig, dass Ran traurig wurde? Nein wollte er nicht, also warum stellte er ihm solch eine Frage? Führte Schuldig ein innerlichen Disput mit sich selbst, als er die leise Antwort vernahm, die Trauer in den Gesichtszügen las.

Er suchte Rans Hand und fand sie auf seiner Flanke, führte sie an seine Lippen. "Deine Mutter also", sagte Schuldig und lächelte warm, schloss das Thema somit ab, indem er die Augen schloss und versuchte sich die Frau vorzustellen. Er scheiterte daran, kam immer wieder zu Rans Schwester Aya zurück.
 

„Aya kommt…kam sehr nach ihr. Sie war ihr Ebenbild“, erwiderte Aya unwissentlich, dass Schuldig eben diesen Vergleich zog. Seine Hand strich leicht über die Lippen des Deutschen, doch seine Gedanken gingen ein weiteres Mal auf Wanderschaft. Zurück zu ihr, zu ihrem Lächeln. Ein Lächeln, das für ihn auf immer erloschen war. Nein, dafür hatte es sich nicht gelohnt zu töten. Ganz und gar nicht. Dafür hatte es sich nicht gelohnt, sich Birmans Drohung zu beugen und Weiß beizutreten. Oder Crashers.
 

Auch wenn er dort Freunde gefunden hatte. Auch wenn diese Freunde ihn immer noch unterstützten. Das Töten hätte er nicht anfangen müssen, wenn er gewusst hätte, dass es so enden würde.
 

Schuldig öffnete die Augen bei diesen Worten, fixierte Rans mit einem forschenden Blick.

Hatte er durch Zufall Rans Gedanken gelesen? War er deshalb auf Rans Schwester gekommen? Er verzog die Lippen unwillkürlich in Gedanken bei dieser Möglichkeit weilend, tastete er sich schrittweise in Rans Gedankenwelt vor, wurde aber schon wieder durch die undurchdringliche Mauer abgeblockt.
 

Aya erwiderte den stummen Blick des anderen Mannes, als er mit einem Male glaubte, etwas zu spüren, das so unter seine Schädeldecke nicht hingehörte. Wie ein Streichen, ein Umherschleichen kam es ihm vor, dieses Gefühl. Als wäre da etwas, das an einer Tür kratzte und um Einlass bat.

Durch die anhaltende Stille wurde ihm erst jetzt bewusst, dass es Schuldig war, der das sein konnte. War das Telepathie?

Sein Daumen strich zart über die Lippen des Telepathen, während sein stummer Blick den anderen Mann liebevoll maß. Liebevoll, aber aufmerksam. „Du versuchst meine Gedanken zu lesen, oder?“, fragte er mit wachem Blick.
 

Einen Kuss auf den Daumen platzierend nickte Schuldig leicht.

"Ja. Es ist nur weil ...", versuchte er sich zu rechtfertigen, denn es kam ihm so vor, als täte er etwas Verbotenes, etwas, was er sich selbst vielleicht verbieten wollte.

" ... vorhin habe ich versucht, mir deine Mutter vorzustellen, bin aber ständig beim Bild deiner Schwester gelandet. Deshalb dachte ich ... ich hätte zufällig deine Gedanken gelesen...", grübelte er weiterhin.
 

Aya brachte das ebenso zum Grübeln. War es wirklich möglich, dass diese festen Barrieren, die laut Manx’ Vermutungen seiner eisernen Selbstbeherrschung entsprangen, durchlässig? Lag es an dem direkten Kontakt, den sie hatten? Das konnte nicht sein, oder?

Fakt war, dass Aya es nicht genau sagen konnte, eben weil er keine Ahnung hatte. Er konnte diese Barriere nicht aktiv abbauen. Wollte es auch nicht. Ja, er hatte Angst davor, war es ihm doch immer eine Erlösung gewesen, wenigstens in seinen Gedanken alleine zu sein. Zumal er zu misstrauisch war. Auch wenn Schuldig sich sein Vertrauen wirklich verdient hatte, so wollte er diese Blockade doch nicht ablegen…noch nicht. Um sein Innerstes zu schützen, das so…verletzlich war.
 

„Ich denke nicht“, erwiderte er schließlich. „Ich habe zumindest nicht das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Kopf nachgegeben hat.“ Aya lächelte leicht. Wie war das? Hätte Schuldig gewusst, wie sich das Problem beheben ließ, hätte er es schon längst getan. Doch war es wirklich ein Problem? „Macht es dir so viel aus, meine Gedanken nicht lesen zu können?“
 

"Manchmal ... wo ich dir nahe sein wollte ... und du es nicht zugelassen hast ... da wollte ich es. Oder wo es dir schlecht ging ... und kaum zu dir dringen konnte, ich hätte deine Gedanken umkost, sie weniger düster wirken lassen. Aber ob das gut gewesen wäre? Du warst so verzweifelt, Ran." Er verstummte für einen Moment des Nachdenkens.

"Aber gerade weil es nicht geht, fühle ich mich bei dir freier, weil ... nun weil ich mit dir reden musste, habe ich dich anders kennen gelernt. Deine Stimme ... samtig, warm", er küsste Ran auf den freiliegenden Hals, hinab zum Kehlkopf.

"Das Violett deiner Augen ... oft schärfer als dein Schwert", lachte er dunkel und suchte den Blick in die Augen. "Telepathie verschluckt dies alles, lässt es in den Hintergrund treten, weil Gedanken oft entlarvender sind als die vermeintlichen Masken."
 

Ayas Blick strömte über die lächelnden Gesichtszüge des anderen Mannes. Er nahm ihn in sich auf, die Worte des Telepathen, den Ausdruck in dem bekannten und vertrauten Gesicht. Was sollte er auf diese Art von Wahrheit erwidern? Konnte er überhaupt etwas sagen? Ja…er konnte. Und er wollte. Weil dieses Thema für ihn ebenso wichtig war wie für Schuldig selbst.
 

„Vielleicht war es besser so, dass du sie nicht lesen konntest. Wer weiß, wie wir uns entwickelt hätten, wie sich dieses alles hier entwickelt hätte, wenn du von Anfang an in der Lage gewesen wärest, sie zu lesen. Vielleicht hätte ich dich dafür gehasst, wer weiß das schon? Vielleicht hätte ich dich dann für deine Einmischung gehasst, weil ich das Gefühl gehabt hätte, dass ich einen wichtigen Abschnitt nicht alleine hätte bewältigen können.“ Er seufzte leise, beinahe unhörbar.
 

"Ja es war besser so."

Denn wenn er die Gedanken von Ran lesen hätte können... Schuldig war sich beinahe sicher, dass sie es nie bis hierher geschafft hätten. Nicht zusammen. Er hätte Ran vernichtet... wurde ihm mit einem Mal klar, denn auch ohne Telepathie sah er, wie verletzlich Ran war, wie stark aber auch. Doch nur durch diese Verletzbarkeit sah er die Stärke. Er hätte mit diesen Gedanken jongliert und sie durcheinander gewirbelt ...bis völliges Chaos vorgeherrscht hätte.

Schuldigs Gesichtsausdruck wurde sorgenvoll und er zog die Brauen leicht zusammen, die Lippen wurden minimal zusammengepresst.
 

Ayas Hand schlich sich verstohlen zu den Gesichtszügen des Deutschen und strich sanft über die angespannten Linien. Er hätte nicht gedacht, dass dieses Thema sie letztendlich beide so beeinflussen konnte. Dass es wirklich so schwer auf ihnen lastete.

Aber vielleicht…irgendwann würde sein Vertrauen über sein Misstrauen siegen und Schuldig war in der Lage, auch diesen Bereich zu erforschen. Irgendwann, wenn er es wollte.
 

„Na komm…das ist Vergangenheit. Wir haben genug versucht, uns die Köpfe einzuschlagen“, lächelte er schwach und strich über die in ernsten Falten geworfene Stirn.
 

"Ja“ Schuldig legte sein altbewährtes Grinsen auf, eine schwache Version jedoch... "Vergangenheit... wie so vieles", nickte er und barg sein Gesicht an Rans Halsbeuge. Als wolle er in ihn hineinkriechen.
 

Und Aya ließ ihn. Zog ihn so nahe es ging zu sich und barg ihn mit seinem Körper. Er strich schweigend über die weichen Haare, über die ebenso stumme Gestalt. Worte waren nicht mehr nötig für den Trost, den er hier spendete. Nein, nicht mehr.

Er legte sich sanft in eine bequemere Position und schloss die Augen. Sie würden einschlafen…schließlich. Würden ruhen für ein paar Momente. Für Stunden, die wichtig waren, um ihnen Kraft zu geben.
 


 

o~
 


 

Schuldig zuckte zurück, sein Herz raste. Noch einmal zuckte er zurück, vor der vollkommenen Schwärze, die seinem Innern bedrohlich entgegenflog. Bis er keuchend die Augen aufschlug. Sie auf die Umgebung fokussierte.

Ein Kissen. Beruhige dich. Ein Traum. Es war nur ein Traum.
 

Er kuschelte sich noch etwas in die Decke ein, lauschte auf die Umgebung und genoss es noch etwas liegen bleiben zu können. Auch wenn derjenige, der mit ihm diesen Genuss teilen hätte sollen, nicht mit im Bett war. "Frühaufsteher", nuschelte Schuldig etwas beleidigt in sein Kissen hinein und drehte sich auf den Rücken. Rieb sich dann über die Augen um den Schlafsand zu entfernen.

Einen Arm unter den Kopf gelegt schloss er die Augen und ließ sich treiben, es war ruhig im Raum.
 

Zu ruhig, wie ihm auffiel. Na ... Ran macht sowieso nicht so viel Krach, grübelte er vor sich hin und machte sich auf die Suche nach diesem blinden Fleck in seiner telepathischen Wahrnehmung. Aber als er die vermeintliche, hohe Mauer suchte, fand er keine. Sie war weg und Szenerien liefen vor seinen geschlossenen Augen ab.

Er riss erschrocken die Augen auf. Er war durch! Er war durch!

Keine Schranken mehr. Er war in Rans Gedankenwelt!
 

Aufgeregt nahm er sich jedoch zurück, war er doch etwas hineingeplatzt und drehte sich nun neugierig herum, blieb aber am Eingang stehen. Es war nichts Bildliches, aber sein Gehirn stellte es in Bildern dar, setzte die Signale in Bilder für ihn um.

So sah er jetzt ein kleines Mädchen ... vielleicht vier Jahre alt ... auf dem Arm ... es schlief, hatte den leuchtenden Haarschopf an seinen Hals gebettet und das Ärmchen um den Hals gelegt.

‚... die gleichen, roten Haare...eine Mischung aus uns beiden...', las Schuldig und wusste im ersten Moment nicht die Gedanken einzuordnen.

Die nächste Szene tauchte aus den vermischten Bildern heraus auf, wurde klarer und er sah deutlich wie Schuldig und das Mädchen ...mit Buntstiften ... eine Wand bekritzelten ... was stand zwischen den vielen Blumen darauf...? Wir haben Papa lieb?

‚...vermutlich würde sie mich zusammen mit Schuldig in den Wahnsinn treiben und das mit Freude.

Und ich würde es mir auch noch gefallen lassen. So was...'

Wieder huschte ein nächstes Bild heran. Die frechen Augen des Mädchens wandten sich Ran zu und das Mädchen setzte ein unschuldiges Lächeln auf, kuschelte sich an Schuldig während Ran vor dem ‚Gemälde’ der beiden stand.
 

Schuldig fühlte wie die Wärme der Gedanken ihn durchzog, wie Wohlwollen ihn durchzog. Er kannte diese Regung. Ran lächelte in seine Gedanken hinein.
 

Er versuchte die Verbindung zu halten, öffnete die Augen und setzte sich gelinde geschockt auf, sah sich um. Ran war nicht zu sehen. Vermutlich saß er bei der Sitzgruppe an der Fensterbank. Sich durch die Haare fahrend wusste er jetzt nicht was er mit dieser neuen Erkenntnis anfangen sollte. Ein Kind? Ran und er ...ein Kind zusammen? Was dachte das Blumenkind da nur? Er schälte sich aus dem Bett heraus und öffnete den Schrank, zog sich ein Hemd über ohne es zu schließen und schlüpfte in eine schwarze, weiche, leicht ausgestellte Hose. Barfüssig ging er zur Sitzgruppe, sah Ran tatsächlich dort auf der Fensterbank sitzen.

Er hatte Schuldigs Teddy in der Hand und reparierte ihn mit Nadel und Faden. Sehr sorgfältig wie Schuldig befand, so genau wie Ran arbeitete.

Noch immer hielt er sich in dessen Gedanken auf, konnte jedoch vor lauter Unverständnis über das Gesehene kaum darauf reagieren. Wollte es schlicht nicht kommentieren, sagte deshalb auch nichts zu Ran.
 

Ran war ein Familienmensch, wie er aus dessen Worten herausgehört hatte. Vielleicht war es gar nicht so weit her geholt, dass er sich eine Familie wünschte. Schuldigs Stirn legte sich in Sorgenfalten und Wehmut kam in ihm auf.

Er ging näher, blieb vor Ran stehen, starrte auf den Teddy. Schon wieder der alte Knirps, lächelte er und streckte dem Stofftier leicht die Zungenspitze raus. Er hob die Hand und berührte Ran zärtlich an der Stirn, fuhr über die Schläfe, bis zum Haaransatz.

"Heey", meinte er sanft. "Was denkst du ...nur für Sachen?" Wärme in seinen Worten und in seinem Blick, in seiner Geste.
 

Wärme, die Aya zunächst entging, als er völlig aus seinen Gedanken gerissen hochschrak und sich selbst die spitze Nadel in den Finger trieb. Sein Blick ruckte zu Schuldig, zu dem Mann, der so plötzlich neben ihm stand. Den er nicht hatte kommen hören, so in Gedanken wie er war.

Aya blinzelte, während seine Lippen sich automatisch zu einem Begrüßungslächeln verzogen. Bis…ja bis er sich der Worte des Telepathen bewusst wurde.

„Was mache ich?“, fragte er schließlich stirnrunzelnd und zog den schmerzenden Daumen zu sich um das austretende Blut mit den Lippen abzusaugen. Er hatte doch sicherlich laut gedacht, oder?
 

Schuldig schmunzelte und gab Ran einen Kuss auf die Schläfe, kraulte sanft dessen Nacken.

‚Du machst gar nichts. Ich kann nur in deine Gedanken hinein. Du hast mich reingelassen', sagte er in eben diese hinein und umstrich Rans Geist sanft und beruhigend, zog sich dann aber wieder zum Eingang zurück. "Hast du geträumt, Ran?"
 

Geträumt? Er hatte Schuldig in seine Gedanken gelassen? Anscheinend…ja, wie es ihm dieses ungewohnte Gefühl vermittelte. Wie es die Stimme in seinem Kopf ihm vermittelte! Ein leichter Druck in der Tiefe seines Kopfes, ein angenehmes Gefühl und dennoch wallte in diesem Moment Angst in Aya hervor. Angst vor der Macht des Mannes an seiner Seite, die trotz aller Sanftheit und Wärme durchschien.

Es war das Thema, das sie gestern schon hatten…nur heute war er in so direktem Maße damit konfrontiert, dass er sich unwillkürlich zurückzog. Nicht körperlich, nein. Geistig. Er schreckte zurück vor dieser fremden Kraft, die ihn seiner Intimsphäre beraubte, wie es noch nie geschehen war.
 

Aya schüttelte abwesend seinen Kopf, zog unbewusst alle Wälle seiner Selbstbeherrschung nach oben. Alle Wälle des Misstrauens und der Angst. Sein Blick suchte den Schuldigs, mit so vielen Emotionen in ihm, dass er es beinahe selbst nicht aushielt.
 

Und der Telepath sah bereits wie die Wand sich um ihn herum aufbaute, er zog sich zurück und ließ die Hand von Rans Schopf gleiten, strich noch einmal behutsam darüber. Stumm.

Das wollte er nicht. Das hatte er nicht gewollt. Er wollte nicht, die Angst, die Ablehnung, das ... ja das verratene Vertrauen in diesen Augen sehen. Zitternd zog er die Hand zurück, machte einen Schritt zurück, wich vor Ran zurück. Sein Gesicht völlig maskenhaft. Er hatte alles zerstört.

Ran sah ihn jetzt genauso wie alle anderen... wie alle anderen ... wie alle anderen.

Er murmelte etwas von ... er müsse noch einkaufen gehen ... und strebte seinen Schrank an, zog sich in Windeseile seine Kleidung über und griff sich die Schlüssel.

Natürlich brauchten sie nichts zum Einkaufen, natürlich hatten sie genug da...ja ...natürlich...

Er musste weg, weg von diesen Augen, die er so sehr verletzt hatte ... mit seinem Ich, mit seinem Wesen ... mit dem was er war...
 

Für einen Moment gelähmt, wurde sich Aya darauf umso deutlicher seines Fehlers bewusst. Er sah das aufkommende Entsetzen und die Abschottung des anderen Mannes. Der Telepath floh vor ihm, vor dieser Situation und das war alleine Ayas Schuld. Eben weil er so kopflos und misstrauisch reagiert hatte.

Er konnte nicht zulassen, dass Schuldig ebenso kopflos floh und sich einem wichtigen Gespräch entzog. Seiner Dummheit entfloh.
 

Doch Aya wollte nicht mehr dumm sein. Er wollte Schuldig zeigen, dass er falsch gehandelt hatte…und dass er sich dessen bewusst war. Dass er bereute. Dass der Andere nicht vor ihm zu fliehen brauchte.

Es dauerte Sekunden, in Ayas Augen viel zu lange Sekunden, bis er endlich reagieren konnte und Schuldig nachsetzte, ihn noch an der geöffneten Tür einholte und sie zuwarf. Er stellte sich mit dem Rücken zu ihr…Schuldig zugewandt.
 

„Nein.“ Ein festes, entschlossenes Nein zur Unsicherheit des Telepathen. Zum Fluchttrieb. Er wollte es Schuldig erklären, wollte ihnen beiden Raum geben zur reden.
 

Schuldig konnte dem anderen Mann nicht in die Augen sehen, sein Blick ruckte zum Türgriff, die Schlüssel bohrten sich in seine angespannte Faust. "Ich ... komme gleich wieder ... ich ...", sagte er und griff zum Türgriff. Innerlich völlig haltlos aufgewühlt gab er sich die Schuld und wollte jetzt nicht hier bleiben, wollte nicht in der Nähe dieser anklagenden, verletzten Augen bleiben.

Sein Gesicht wirkte als ob er es noch immer nicht fassen konnte, was er getan hatte, was geschehen war. Wäre doch die Mauer dagewesen, wäre er doch nie hineingegangen, wäre...
 

„Du bleibst hier.“
 

Worte wie Stein drangen zu Schuldig, als ebenso unnachgiebige Finger die Hand des Deutschen vom Türknopf lösten, sie in der Seinen hielten und nicht nachgaben. Aya wusste, dass sich Schuldig ihm entziehen wollte, dass er vor ihm fliehen wollte. Aber er war derjenige, der einen großen Fehler gemacht hatte. Nicht Schuldig. Er hätte erkennen müssen, wie sehr das den Deutschen schmerzte. Er hätte nicht nur auf seine Angst achten sollen…nicht nur er existierte. Auch Schuldig. Und auch Schuldig hatte Gefühle, die er so rücksichtslos verletzt hatte.
 

Seine Hände umschlossen sanft das abgewandte Gesicht, drehten es zu sich. Dirigierten den Blick der verzweifelten grünen Augen zu sich. „Du bleibst hier, bei mir, Schuldig“, sagte Aya mit festem Ton, mit einer Sänfte in der Stimme, die in diesem Moment wohl ihresgleichen suchen mochte. „Wir müssen darüber reden, hörst du?“
 

"Bei ...dir?", fragte Schuldig und er schüttelte den Kopf. Nein, wie konnte er hier bleiben? Etwas in ihm wollte nach oben greifen, wollte sich verteidigen, wollte sich wehren, gegen diese Bestimmtheit, die Ran an den Tag legte, die ihm befahl. Aber es schaffte nicht den Weg an die Oberfläche, ging wieder unter, als Schuldig sagte: "Aber ich habe ... ich wollte das nicht ... nicht wenn es dir wehtut, ich dachte es wäre nicht schlimm, ich habe ja nichts gemacht, ich wollte dir nicht wehtun, ich tu’s nie wieder ... nie wieder", beteuerte er, das Gesicht leicht verzweifelt zeigte es die Aufgewühltheit, das Flackern in den grünen Augen.
 

„Schuldig…nein. Nein, es ist nicht schlimm, hörst du?“, fuhr Aya sanft dazwischen und schüttelte vehement den Kopf. Die langen, roten Strähnen flogen dabei. „Ich habe zu voreilig reagiert, hörst du? Ich hatte…Angst davor, ganz plötzlich. Das war kopflos. Ich habe keine Angst vor dir, Schuldig. Nicht vor dir…es war nur das Gefühl, nicht mehr alleine hier oben zu sein.“ Er neigte leicht den Kopf zur Seite um das zu verdeutlichen, während seine Daumen sanft über die zittrige Kinnpartie des Deutschen strichen. „Es tat mir nicht weh, ich habe mich nur erschrocken. Nur erschrocken, hörst du? Dich trifft keine Schuld!“
 

Und langsam schwand die Unfassbarkeit, der Schock aus dem Gesicht und Sorge breitete sich aus, zog die Brauen zusammen, verzog minimal die Lippen. Er war noch nicht stabil genug um über solche Situationen hinweg sehen zu können. In jeder anderen Zeit hätte er Ran beruhigen können, oder hätte damit anders umzugehen gewusst als wegzulaufen. Aber jetzt ... jetzt hielt die Erinnerung an Kitamura sein Nervenkostüm in festem Griff. Im Unterbewusstsein machte es ihn verletzlich und griff ihn weiterhin an, höhlte ihn von innen aus und er ... er bemerkte es noch nicht einmal. Nur in Situationen wie diesen, sah man wie labil er war.
 

Langsam kam er näher und neigte sich vor, legte die Arme um Ran und legte den Kopf auf dessen Schulter. Wortlos schloss er die Augen.
 

"Ich bin so leicht aus der Ruhe zu bringen, Ran", sagte er leise in den Pullover hinein, wurden seine Worte dadurch gedämpft.
 

„Nein, Schuldig…es war meine Schuld. Ich habe falsch reagiert, nicht du. Ich hätte mehr Rücksicht nehmen sollen…“, erwiderte Aya und küsste den verborgenen Schopf, sanft über den Rücken streichelnd. „Es wird besser werden…ich helfe dir dabei, hörst du? Es wird besser werden und du wirst deine Ruhe zurückfinden…wieder zu deinem alten Ich zurückfinden.“ Mutige Worte, selbst in Ayas Ohren. Selbstsicher. Zu selbstsicher. Würde es wirklich besser werden? Er hoffte es – aber war das auch die Realität?
 

Er wollte es glauben und deshalb nickte Schuldig. Genau wissend, dass es für diesen Gewaltakt nur Zeit brauchte, Zeit und ein gewisses Maß an Ruhe und ... ja ...auch Ran, der ihm gut tat.

Eine Weile ließ er sich halten, umschlang selbst Rans schmale Gestalt und genoss es, Ran nicht gänzlich verloren zu haben, sondern ihn wieder im Arm halten zu können. Du hast ihn nicht weggetrieben, wiederholte er in Gedanken um sich zu vergewissern und auch zu beruhigen.

"Hast du den alten Bär geflickt?", fragte er und wandte den Kopf etwas, strich mit der Nase über Rans weiche Haut unterhalb des Ohres.
 

Aya lächelte leicht und nickte schließlich. „Er hat mir Leid getan…so wie er dort saß. So verloren und erstochen.“ Er stupste spielerisch tadelnd in Schuldigs Seite, konnte er sich doch denken, woher diese ‚Verletzung’ stammte. Seine Arme hielten den Mann, als wollten sie ihn aufhalten, irgendwo hinzugehen. Als wenn das der Fall wäre…

„Aber sag mir…was hast du in meinen Gedanken gelesen?“, fragte er schließlich sanft und ging alles durch, was es hätte sein können, das der Telepath gelesen hatte.
 

"Hee", muckte Schuldig ob des Tadels und löste sich von Ran. "Komm wir gehen zu dem Stück Stoff mit unverschämt harmlosen Knopfaugen", zog er Ran mit sich und strebte die Fensterbank an. "Können wir gleich darüber sprechen ... ich mach mir nur einen Kaffee, ja?", lenkte er ab und verschwand gleich in der Küche.

"Willst du auch etwas, Tee?", fragte er nebenher, öffnete bereits einen der Schränke und malte sich frische Kaffeebohnen, machte dabei geschäftigen Höllenlärm.

Er musste jetzt kurz darüber nachdenken, wie er Ran das jetzt näherbringen sollte.
 

Aya betrat diesen Höllenlärm zusammen mit dem Teddybären in seiner Hand und ließ sich in dieser mächtigen Geräuschkulisse auf einen der Barhocker nieder, um Schuldigs Frage mit einem „Ja.“ zu beantworten. Er sah ihn vertrauensvoll an, während seine Finger mit den pelzigen Armen des Teddys spielten und ihn Salti schlagen ließen.

Seine Augen glitten über die emsige Gestalt, die so plötzlich so viel zu tun hatte. Zuviel…wie Aya misstrauisch bemerkte. Was in aller Welt hatte Schuldig gesehen? So viele dunkle Geheimnisse hatte er doch gar nicht, stellte er lachend in Gedanken fest.
 

Gemächlich richtete Schuldig Kaffee und Tee an, überlegte sich in Ruhe, was er sagen wollte und kam in seiner inneren Debatte zu keinem Schluss. Er scheiterte schon daran, wie er es Ran sagen sollte. Vor allem nach der vorhergehenden Szene wollte er jetzt nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Schlussendlich stellte er die Heißgetränke auf den Tresen, kam zu Ran und setzte sich auf den Hocker daneben, spitzte die Lippen leicht und verzog dann den Mund grübelnd. Die Stirn völliger Ausdruck höchster Konzentration. Bevor er das alles sein ließ und aufseufzend meinte: "Ich habe Bilder gesehen von einem Mädchen ... rote Haare ... klein ... hatte gute Ideen ... und du hast gedacht ... wie ein Kind von uns Beiden wohl aussehen würde....", schloss er seinen unzusammenhängenden, telegrammartigen Report ab und sah Ran mit gehobenen Brauen an. Die Augen fragend und ehrlich interessiert ob solcher Gedanken. Um ein Kind hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Er hatte sich von ihnen immer großräumigst ferngehalten.
 

Ayas Augen weiteten sich überrascht, während seine Finger den Teddy abrupt still hielten. Mit überfahren geöffneten Lippen starrte er Schuldig an, als er schließlich mit einem vielsagenden „Oh.“ auf diese Neuigkeiten reagierte. Ausgerechnet das hatte Schuldig…? Na wenn er schon mal Pech hatte, dann aber auch richtig. Was musste Schuldig jetzt von ihm denken? Sie hatten noch nicht einmal miteinander geschlafen - nicht wirklich zumindest - und er dachte schon an die Familienplanung. Ja, ihm hatte der Gedanke gefallen, doch was Schuldig darüber dachte…
 

„Das war nur…ich habe da nur ein Gedankenspiel…nichts Ernstes. Das war nur Spaß…also nicht wirklich Familienplanung…“, brachte er Worte, genauso unordentlich wie seine Gedanken, hervor, wollte sich mit ihnen herausreden.
 

Ran sah in Schuldigs Augen etwas überfahren aus und Schuldig veranlasste dieser Anblick zu einem warmen Lächeln. Solche Gedanken hatten meist Verliebte, wie er festgestellt hatte. Sie malten sich oft aus, und wenn es nur harmlose Gedankenspiele waren, wie es wohl wäre mit ihrem Partner ein Kind zu haben. Es waren oft nur Bruchteile von Sekunden, die solche Gedanken vorbeiziehen ließen, aber sie waren da, wie bei Ran eben auch.

Es war also die Bestätigung für Schuldig ... dass der Mann wirklich etwas für ihn empfand? Mehr als nur körperliche Anziehung? Aber hatte er diese Bestätigung nicht schon längst auf unzählige Art die letzten Stunden und ... ja auch Tage inzwischen gefunden?

Nur war dies hier viel ... niedlicher...? Er suchte noch nach der richtigen Bezeichnung für dieses Gefühl, welches sich in ihm ausbreitete... Nein. Es war liebevoller.
 

Er stand auf und stellte sich vor den anderen Hocker, zwischen Rans Beine, streichelte Rans Flanke und suchte die blass gewordenen Lippen um sanft mit seinen darüber zufahren. "Der Gedanke ist mir noch nie gekommen, Ran. Viel zu abwegig bisher für mich." Er hielt inne, suchte den Blick in das Violett. "Klar war es nur ein Gedankenspiel", bestätigte er Rans Worte. "Aber ein liebes", lachte er neckend.
 

Kurz schien es, als würde Aya wirklich schmollen, doch dieser Ausdruck verschwand und Aya war dankbar dafür, dass Schuldig seine Gedanken in diesem Moment nicht lesen konnte. Zu abwegig war für ihn ein Kind nicht…er wollte später eine Familie haben, hatte immer davon geträumt. Bis…seine Familie getötet wurde und er begriffen hatte, dass nichts, aber auch absolut gar nichts von Dauer war. Er hatte die letzten Jahre danach gelebt, nur um jetzt einen kleinen Vorgeschmack darauf zu bekommen, wie es wohl wäre, wenn…
 

Es war ein schöner Gedanke gewesen. Ein kitschiger, aber ein schöner Gedanke. Aya seufzte leise. „Ein sehr liebes…“, gab er schließlich zu und nickte, bettete seine Stirn an die breite Brust. Er dachte an die Kleine, wie sie ihn zusammen mit Schuldig auf die Palme trieb…wie die beiden sich so ähnelten. Ein schöner Gedanke.
 

Über den Nacken kraulend umstrichen Schuldigs Gedanken trübe Gewässer.

"Du weißt ... dass ich dir dies nicht bieten kann, Ran. Vielleicht...", fing er an Ausflüchte zu suchen. Ja vielleicht wäre es dann doch besser, wenn Ran sich eine Frau suchte, wenn er so sehr Kinder, eine Familie wollte. Er hatte aus den Worten des Mannes gehört, dass er sowohl an Frauen als auch an Männern sexuell interessiert war.

Wer wusste schon, wie lange Ran bei ihm blieb? Vielleicht nur, bis er seinen Hunger gestillt hatte und ihn das Weibliche mehr ansprach. Die Abwechslung suchte...

Besitzergreifend -gänzlich gegensätzlich zu seinen Gedanken - krallten sich seine Hände in Rans Nacken, umfassten ihn fester. Nein, du bleibst bei mir, zischte etwas in ihm und in seinen Augen flackerte es dunkel auf.
 

Aya war sich dessen unbewusst…Druck in seinem Nacken…Druck in seinem Inneren. Er war gerade dabei, sich einzugestehen, dass er es sich wohl gestatten konnte, Gefühle für eine andere, ihm nahestehende Person zu zeigen, nur um jetzt angedeutet zu bekommen, dass er sich für derlei Dinge doch an jemand anderen wenden sollte.

Aya wusste, dass es nur wahr war und dass es nicht schlimm war, so etwas gesagt zu bekommen, doch er fühlte sich verletzt. So als könnte er seine Partner je nach Belieben wechseln, ganz wie er sich gewisse Dinge wünschte. So als würde er nicht gerade erst daran wagen zu glauben, dass es auch noch andere Dinge für ihn gäbe als töten.
 

Er stemmte sich mit für ihn selbst unerwarteten Druck von Schuldig ab und brachte Abstand zwischen sie. Ertrug es nicht, von Schuldig gehalten zu werden und solche Dinge zu hören. Zu wissen, dass dieser so einfach sagen konnte, er solle sich jemanden suchen…auch wenn es stimmte.

Ayas Blick glitt zur Seite, weg von Schuldig. „Schon in Ordnung…lassen wir das Thema gut sein“, sagte er und verdammte sich innerlich für seine vorherige Unvorsichtigkeit. Hätte er doch irgendwie verhindert, dass der andere Mann einen Blick in seine Gedanken hatte erhaschen können…
 

Konnte er denn nichts richtig machen, fragte sich Schuldig als Ran sich von ihm abwandte, seinen Blick mied.

Sich durch die Haare fahrend war er mit dieser Lage überfordert. Er wollte Ran bei sich behalten, doch dieser wünschte sich eine Familie...? Wie sollte das gehen?

"Du sagst, wir müssen darüber reden ... über Dinge reden ... und dann wendest du dich ab." Er steckte die Hände in die Taschen seiner weiten Hose um sie ruhig zu halten.

"Ich will, dass du bei mir bleibst. Das solltest du inzwischen erkannt haben, oder?"

Natürlich wollte Ran eine Familie. Das war ihm klar geworden, vorhin schon...

"Aber wie soll ich diesem Wunsch gerecht werden? Diese Anforderung schaffe ich nicht, Ran. Auch wenn ich sie dir bieten will...glaubst du nicht ... dass", es mich auch verletzt ... wollte er hinzufügen.

Stattdessen sagte er aber "... dass ich mich selbst unter Druck setze ... dass ich Angst habe ... dass du weggehst? Gerade weil ... alles noch ... frisch ist ... ich will dich einfach halten, Ran. Es ist so schwer an morgen zu denken, oder an den Tag danach."
 

„Und für mich ist es das Wichtigste überhaupt“, erwiderte Aya, schüttelte abwesend den Kopf. „Was bringt es mir zu wissen, dass wir heute glücklich sind, wenn morgen alles vorbei sein kann? Glaube mir, das hatte ich einmal und ich brauche es nicht schon wieder.“ Er atmete frustriert aus. „Natürlich weiß ich, dass es dich verletzt. Mich verletzt es auch. Deswegen ist es unklug, noch weiter auf diesem Thema zu beharren. Ja, ich wünsche mir Kinder und ja, ich könnte es mir vorstellen, mit dir eine Familie zu haben. Und du sagst mir, dass ich mir dazu vielleicht jemand anderen suchen sollte. Ich weiß, dass es niemandem von uns möglich ist, ein Kind zu bekommen und vielleicht willst du auch keins…aber ist das ein Grund, dass ich mich von dir abwende? Nein. So masochistisch bin ich nicht, dass ich alles gleich aufgebe, was mir gut erscheint.“ Aufgebracht schweiften seine Augen nach draußen, hinaus aus dem Fenster.
 

"Ich erscheine dir ...als gut?", fragte Schuldig etwas erstaunt aber auch sanft, nahm seine Linke aus der Tasche und strich federleicht über die abgewandte Schläfe von Ran.

"Ich hätte es dir nicht sagen sollen, was ich gelesen habe", bereute er diese Tat und ließ die Hand sinken, nahm seine Kaffeetasse in die Hand und ging ... zur Kissenecke, wollte Ran Abstand von ihm geben, den dieser scheinbar brauchte.

Schuldig konnte sich ja kaum selbst ordnen, versuchte sich ständig zu kontrollieren ... ein Kind? Wie gefährlich war sein Leben bei Schuldig, dann? Wie sicher wäre dieses Kind? Ein Killer und ein Kind? Zwei Killer ...?
 

Ungesehen von Schuldig hatte Aya seinen Blick wieder dem Raum zugewandt und sah dem anderen Mann nun stumm nach, bevor er seine Stirn auf die kalte Tischplatte bettete. Was hatte er nur angerichtet mit seinem utopischen Wunsch, irgendwann einmal eine Familie zu gründen und dieses Leben hinter sich zu lassen. Was vermutlich nie sein konnte. Niemals…nicht für Menschen wie ihn.

Seine Augen schlossen sich, pressten sich so fest zusammen, dass er hinter den Lidern bunte Sterne tanzen sah. Es war…so schwer, sich auf einen Menschen einzustellen. So unendlich schwer. Wieso konnte er manchmal nicht einfach seinen Mund halten? Wieso schwieg er nicht einfach wie bei Weiß auch?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Battosai
2010-02-04T17:35:40+00:00 04.02.2010 18:35
so und weiter gehts *grinsle*
ich kann mir wirklcih den schönen spaziergang vorstellen im mondlicht *schmach* hach wie schön xD *lach*
die beiden sind einfach süüüüß
zwar können sie keine Kinder bekommen aber eins adoptieren xDDD~ aber das währe zu gefährlich für das kind haeben ja einen gefährlichen Beruf ^^
uh schu kann in ayas kopf schuen ist ja auch was schönes das es geht*O*
nyu ich ibn mal gespannt wie es weiter geht *fieb*
*ins nächste kappi hüpf*


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