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Der Glasgarten

von

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Shanghai

~ Shanghai ~
 


 


 

o~
 

Shanghai
 

Der verwinkelte Raum war heruntergekommen. Die Tapeten schäbig, vergilbt und an einigen Stellen blätterte der Putz von den Wänden. Es roch feucht und modrig. Wie es in diesen und ähnlichen Räumlichkeiten irgendwie immer roch… bemerkte Schuldig müßig in Gedanken.

Die nackte Glühbirne über einem der vier Billardtische hing an einem Kabel herab. Schuldig saß halb auf dem Tisch, stieß die Glühbirne mit seinem Koe an und erzeugte zum wiederholten Male schwankende Schatten in diesem ansonsten dunklen Kellerraum.

Er war allein, sah man mal von den zwei Toten ab, die ihm stille Gesellschaft leisteten. Einer der Männer lag auf dem Tisch, auf dem Schuldig es sich bequem gemacht hatte, und blutete das Grün voll. Seine Augen starrten blind ins Leere, während Schuldig sich die Zeit damit vertrieb, die Kugeln in die rote Flüssigkeit rollen zu lassen. Er hatte nur noch die Schwarze übrig und wog sie in der Hand ab, als er Schritte hörte.

„Wurde auch langsam Zeit“, wisperte er und ließ die Kugel mit einem sanften Stoß seiner Finger in das Blut rollen.
 

Laut polternd flog die Tür auf und Nagi kam herein. Seine Verkleidung war in Unordnung gebracht, das Mantelkleid mit den Blütenstickereien schmutzig. Die langen Haare, die zu einem kunstvollen Zopf frisiert waren und in seidigen Strähnen herab hingen waren zerzaust.

„Schick, Sweety, hast du die Codes?“ Schuldig ließ sich aufreizend langsam vom Tisch gleiten und kam zu Nagi, der außer Puste war.

„Ist jemand hinter dir her?“
 

Nagi schüttelte den Kopf, sodass die Haare der Perücke nur so flogen. „Nein, es waren nur mehr als gedacht und es war schwierig die falsche Spur zu legen. Später…“, vertröstete er Schuldigs ständig präsente Neugier. „Wir müssen los.“
 

„Nicht so schnell“, Schuldig hielt Nagi am Arm zurück und für einen Moment blickten ihn die Augen irritiert an.

„Wir müssen dich noch zurecht machen, es ist Nachmittag, Sweety“, grinste Schuldig diabolisch und Nagis Blick drückte Unsicherheit aus. Dennoch blieb er stehen und ließ die Hände über seinen Körper fahren, die den Staub von seiner Kleidung klopfte, die seine Haare richteten und ihm eine Schmutzspur von der Wange wischten.

„Nun, mein kleiner Drache, lass uns entfliehen“, näselte der Deutsche und sie verließen das Gebäude.
 

o~
 

Braune Augen beobachteten das Muskelspiel, das sich selbst unter dem eleganten, schwarzen Nadelstreifenanzug abzeichnete, der den ruhigen Mann am anderen Ende des kleinen, runden Tisches äußerst elegant kleidete.

Selbst die Beine, wie sie überschlagen waren…und diese Hände. Diese Hände, groß und dennoch schlank. Es waren Männerhände, die vermutlich genauso grob wie sanft zu berühren verstanden. Wobei…hatte nicht beides seinen Reiz?
 

Ja, das hatte es! Doch das war es nicht alleine. Dieser Blick, diese tiefe Stimme, diese Lippen, welche das sie verlassende Englisch so charmant gebildet nach außen trugen. Wäre da nicht dieser Blick, der alles zu durchleuchten schien. Wirklich alles. Stechende, hellbraune Augen mit einem Wissen in ihnen verborgen, das längst nicht jeder besaß. Junge Weisheit und Weltoffenheit.
 

Sophie wollte diesen Mann, der ihr gegenüber saß und an seinem Drink nippte. Mit Haut und Haaren…
 


 

„…stand der Fusion nichts mehr im Wege“, schloss Brad seine kleine Ausführung bezüglich seiner nicht vorhandenen Geschäfte mit Schuldig als Partner. So ganz falsch war diese Geschichte nicht, aber er hatte sie alltagstauglich umgesetzt. Vielleicht hätte er Geschichtenerzähler werden sollen…

Er bemerkte wie die Aufmerksamkeit der dunkelhaarigen Halbjapanerin kurzzeitig abschweifte und lächelte ob der vergnügt blitzenden schokoladenbraunen Augen. Er mochte ihre Art zu Lachen und die kleinen Gesten, mit denen sie ihre Worte unterstrich. Dieses Lachen schien ungetrübt von seiner Welt, in der er sich bewegte, es versprach Unbeschwertheit und Gelassenheit.
 

Sophie blinzelte und lächelte automatisch, als sie sich verlegen die Haare zurückstrich. Ertappt!

„Ich muss Ihnen gestehen, Mr. Martinez, dass ich mich gerade nicht auf Ihre Worte, sondern eher auf Ihre Lippen konzentriert habe. Würden Sie wohl bitte wiederholen, was Sie versuchten mir zu sagen?“

Sie neigte entschuldigend den Kopf und funkelte den Amerikaner spanischer Abstammung vergnügt an.
 

Ein entspanntes Lachen löste sich aus Brads Kehle und er war wirklich amüsiert. Keine Show, keine Verstellung, die er hier abzog, wie Schuldig es nennen würde. Nein, Sophie war erfrischend anders und … sie hatte es tatsächlich auf ihn abgesehen.

„Sie hingen mir also vor lauter Spannung förmlich an den Lippen?“, hob er fragend eine Braue und schmunzelte in sich hinein.
 

„Sie sagen es! Allerdings waren es in Ihrem Fall nicht nur die Lippen…“, erwiderte Sophie und senkte ihre Lider, schaute unter dichten Wimpern zu ihrem attraktiven Gegenüber auf. Sie mochte sein Lachen, sog es geradezu in sich auf. Es versprach alles: Wärme…Dominanz…Spaß…Leidenschaft. Es wäre ein netter Zeitvertreib…
 

Bradley Crawford alias Keith Martinez erläuterte Sophie in kurzen Worten, wie die geschäftlichen Beziehungen mit Mr. Thomas Miller alias Schuldig zu Stande gekommen waren und schien dabei in seinem Element zu sein. Sie waren auf dieses Thema gekommen, da es Sophie zu interessieren schien, was sie hier in Shanghai trieben…

Crawford mochte dieses Spielchen, mochte seine Rolle als langweiliger, ausländischer Geschäftemacher, die er sich auserkoren hatte. Was Sophie an ihm interessant fand, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, denn er gab sich möglichst langweilig, dennoch nicht uninteressiert an ihr. Ein geregeltes, langweiliges Leben, dessen einziger Zweck es war, Geld anzuhäufen. In gewisser Weise machte er das in Wirklichkeit auch… nun… in gewisser Weise…

Brad lächelte bei diesem Gedanken und die hellbraunen Iriden glimmten amüsiert dadurch eine Nuance heller auf.
 

„Sagen Sie mir, was Sie so amüsant finden?“, bat Sophie und nippte an ihrem Martini. Ja, dieser Mann war ein Geschäftsmann durch und durch. Und jemand, der Kontrolle liebte. Kontrolle und ein bis auf das letzte Bisschen durchgeplante Leben.

Vielleicht fühlte sie sich deswegen so wohl in seiner Gegenwart? Ihr eigenes Leben war das Chaos schlechthin. Unorganisiert, unberechenbar und immer mit Überraschungen angereichert.

Sie neigte den Kopf und legte ihn leicht schief, maß diesen stattlichen Mann vor ihr.
 

„Ihr schmeichelhaftes Interesse an einem langweiligen, wenig spektakulären Kerl wie mir. Eine Frau mit ihren Fähigkeiten hat sicher einen nervenaufreibenden Lebenswandel.“

Brad bestellte sich noch einen Drink. Er erwartete nun langsam Schuldigs Rückmeldung, wie die Vorbereitungen für ihren Zugriff verlaufen waren.

„Wie sie mir erzählten, ist ihr Terminkalender gefüllt mit Terminen, die über den gesamten Erdball verstreut sind. Das scheint mir ein aufregendes Leben zu sein. Sie lernen sicher viele interessante Menschen kennen.“
 

Ihre dunklen Augen funkelten amüsiert, als sie sich die Worte des Mannes durch den Kopf gehen ließ.

„Sehr viele Menschen. Viele Exzentriker, Lügner, Künstler, Abenteurer, Großstadtcowboys…alle im Stress dieses Businesses. Man könnte sagen, auf der Durchreise. Da ist es doch einmal angenehm, einen langweiligen, wenig spektakulären Kerl wie Sie kennen zu lernen“, lachte sie schelmisch. „Nahezu wohltuend, das kann ich Ihnen sagen!“
 

Lügner also… nun ein Spezialist auf diesem Gebiet näherte sich nun mit gelassenen Schritten und flüsterte in seine Gedanken, wie die Vorbereitungen verlaufen waren.

„Was halten sie davon, dieses Gespräch bei einem guten Abendessen fortzuführen, denn mich beschleicht der Verdacht, dass wir nicht mehr lange ungestört sein werden.“

Er wandte den Kopf und sah Schuldig auf sie zukommen. Nagi stand wartend an der Tür, verneigte sich unauffällig in seine Richtung. Etwas irritiert hob er eine Braue und betrachtete sich den Aufzug des jungen Mannes. Beinahe hätte er ihn nicht erkannt. Wieso musste sich Nagi auch immer derart komplizierte Inkogniti zulegen?

Schuldig blieb auf Höhe der Bar stehen und bestellte sich einen Drink, grüßte sie beide mit einem herzerweichenden Lächeln.

Crawford hätte ihn dafür am Liebsten auf den Mond geschossen…

Innerlich den Kopf schüttelnd wandte er sich wieder zu Sophie um.
 

„Sagen Sie bloß, Sie können die Zukunft vorhersehen, Mr. Martinez?“, ging Sophie auf das amüsante Spiel ein. Da kannten sie sich erst wenige Stunden und schon machte es ihr Freude, mit diesem Mann zu kommunizieren und ihn zu necken.

Auch sie wandte den Kopf zu Thomas um und winkte grazil.

„Meine Güte, ja! Sie können es“, lachte sie hell und zeigte eine Reihe strahlender, weißer Zähne.
 

„Wenn ich es könnte, hätte ich wohl vorher Reißaus genommen, Sophie“, seufzte Brad in gespieltem Leid, hob die Brauen fragend, als Schuldig an den Tisch kam, Nagi im Schlepptau, der seine Rolle sehr gut spielte. Nagis Äußeres war schon immer sanft gewesen, aber dass er derart gut in diese Kleidung und diese Perücke samt Make-up passte erstaunte Brad dennoch.

„Darf ich vorstellen, Sophie, das ist Tomoko, meine Halbschwester. Sie begleitet mich manchmal auf meinen Reisen“, stellte Brad vor und fing einen intensiven Blick von Nagi auf. Schuldig legte seine Hand an Tomokos Flanke und zog sie sanft an sich. „Wir wollten uns nur kurz blicken lassen und werden uns gleich ins Nachtleben stürzen. Nicht wahr?“

Tomoko nickte lediglich und zauberte ein kleines schüchternes Lächeln auf ihre Lippen.
 

„Mr. Martinez…Sie machen mich ja richtig eifersüchtig, dass sie noch eine schöne Frau an Ihrer Seite haben!“, quittierte Sophie die Erscheinung der jungen Schönheit, die wirklich bezaubernd war in ihrem traditionell chinesischen Kleid. Wie zart sie war…schier zerbrechlich! Einfach faszinierend.

Sophie erhob sich halb und reichte Tomoko ihre Hand.

„Gestatten, Fuchoin mein Name. Sophie Fuchoin. Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen, Tomoko. Ganz unter uns…“, senkte sie ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Einen wunderbaren Halbbruder haben Sie!“ Sie zwinkerte geheimnisvoll.
 

Tomoko reichte ihr die behandschuhte Hand und drückte sie sanft. „Ja, das ist er. Wunderbar“, sagte sie leise und lächelte mit dem Hauch von zarter Röte auf den Wangen. „Ach übrigens, Keith, die Besprechung ist gut angelaufen, die Kugel ist ins Rollen gekommen, jetzt müssen wir lediglich abwarten, bis sie sich beraten haben um das nächste Treffen zu arrangieren“, gab Schuldig einen kurzen Bericht über ihren Termin.

„Na, das hört sich doch viel versprechend an“, sagte Brad und wirkte sehr angetan von der ersten Sondierung ihres Geschäftes. „Wo geht ihr hin?“, wandte er sich an Schuldig.

„Ein Club in der Nähe, dort ist es angenehm und nicht zu laut“, zwinkerte er verschwörerisch und Tomokos Wangen zierte erneut eine zarte Röte.

„Pass mir bloß auf Tomoko auf, sonst kannst du was erleben, mein Lieber“, drohte Brad spielerisch.
 

„Eben, da müssen Sie vorsichtig sein, Thomas!“, sprang Sophie nur allzu schelmisch auf den gleichen Zug. „So eine Schönheit kann Ihnen leicht abhanden kommen, wenn Sie nicht aufpassen. Die chinesischen Männer werden sich um Sie reißen, Tomoko, da bin ich mir sicher!“

Wie angenehm weich sich der Händedruck trotz der Handschuhe angefühlt hatte.

„Wollen Sie sich nicht erst noch zu uns setzen?“, fragte Sophie die beiden Neuankömmlinge. „Sagen Sie mir nur, was Sie für einen Drink wünschen und fühlen Sie sich eingeladen!“ Sie deutete auf die beiden freien Sessel am Tisch.
 

„Aber nein, nein, vielen Dank“, wiegelte Schuldig ab und lachte. „Wir machen uns gleich auf den Weg. Wenn ihr möchtet könnt ihr ja zu uns stoßen. Den Club könnt ihr gar nicht verfehlen, er ist nur ein paar Straßen weiter, du warst letztes Mal mit mir auch dort“, erklärte Schuldig und wünschte ihnen noch einen schönen Abend, bevor Tomoko und er sich verabschiedeten.
 

Brad wünschte Schuldig zwar die Pest an den Hals für diesen Auftritt, aber er hatte den Wink mit dem Zaunpfahl ebenfalls verstanden. Wenn er Sophie flachlegen wollte, sollte er sich in diesen Club begeben. Er war geradezu ideal.

Das sandte Schuldig ihm, bevor er sich mit seiner Tomoko in den Aufzug begab um nach unten zu fahren.

Brads Augemerk wandte sich wieder Sophie zu. „Was meinen Sie?“, fragte er mit einem einladenden minimalen Lächeln. „Hätten Sie Lust?“
 

„Ja, hätte ich!“, schmunzelte sie. „Aber wehe, Sie sagen mir noch einmal, dass Sie ein langweiliger Kerl sind! Dann bezichtige ich Sie nämlich vor all diesen Leuten als Lügner. Oder meinen Sie, dieser Club wäre langweilig?“

Sophie schüttelte tadelnd den Kopf und legte ein paar Scheine auf den Tisch. Sie würden wohl für ihre beiden Drinks reichen…der Rest war eben eine kleine Aufmerksamkeit an den Ober.

Sie erhob sich und streckte ihrem Gegenüber die Hand entgegen. „Dann auf ins Vergnügen!“
 

o~
 

Sophie sah sich neugierig um und sog die Energie der umherschwirrenden Clubbesucher beinahe schon gierig in sich auf. Sie fühlte sich hier wohl, war vollkommen in ihrem Element, auch wenn sie sich eher zurückhielt mit dem Tanzen. Wie Mr. Martinez sicherlich auch. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser vornehme, attraktive Mann sich zu den Massen auf die Tanzfläche stürzte.

Sie warf einen anerkennenden Blick auf die örtlichen, erlesenen Speisen.

„Sie wissen, wie man gut isst, nicht wahr?“, fragte sie und hob ihren Drink in seine Richtung. Über ihnen thronte ein Kronleuchter aus dutzenden kleinen Kristallen, der ihren Tisch sanft erleuchtete und den neben ihr sitzenden Mann äußerst geheimnisvoll wirken ließ, so wie er im Halbschatten saß. Er roch fantastisch, fiel es Sophie in diesem Moment auf, wo sie sich doch so nah waren.
 

„Ich habe selten die Gelegenheit einen Abend wie diesen zu genießen. Gutes Essen, gute Musik und eine wunderschöne Frau an meiner Seite…sind eine Rarität zwischen dem täglichen Einerlei und der Jagd nach freier Zeit.“

Brad erwiderte den Toast und lachte leise. Er beugte sich etwas vor. „Probieren Sie die Spieße, sie sind mild gewürzt und haben eine angenehme Süße im Geschmack.“

Brads Blick verfing sich an der schmalen Schulter, kroch über das Schlüsselbein hinauf zum Halsansatz. Sophies Haut war makellos und das dunkle Haar harmonierte sanft mit den Schatten, die das diffuse Zwielicht erzeugten.
 

„Sie sind ein Charmeur, wissen Sie das?“, fragte Sophie leise und lehnte sich etwas näher zu dem reizenden Mann an ihrer Seite, pickte sich jedoch gleichzeitig einen der Spieße aus dem Ensemble.

Sie neigte den Kopf so, dass sie ein Stück ihres zierlichen Halses entblößte, gerade so viel, dass es ein deutliches Zeichen des Flirttanzes war, den sie hier aufführten.

„Eine milde Würze…und angenehme Süße, wäre das nicht auch etwas für Sie…Keith? Ich darf Sie doch Keith nennen, oder?“ Sie lächelte mit einem minimalen frechen Einschlag, der jedoch eher spielerisch als aufdringlich war.
 

Brad nickte. „Sie dürfen“, sagte er und nahm sich dabei eines der Spießchen.

„Eine köstliche Mischung“, raunte er. „Das Fleisch ist weich, der Duft ist nussig und bildet mit den Gewürzen einen interessanten Geschmack, der einem nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen möchte. Zusammen mit der herben Süße, die einem auf der Zunge zergeht sind sie ein kulinarischer Leckerbissen.“ Er war näher gekommen, nur wenige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, da ein neues Stück gespielt wurde und die Musik ihr Gespräch stören würde. Besser gesagt, es war eine gute Ausrede um Sophie näher kommen zu können.
 

Sophie neigte ihren Kopf leicht nach links und senkte ihre Lider. Sie genoss diese Nähe…diese Verführung, denn der neben ihr sitzende Mann wusste ganz genau, wie er eine Frau zu becircen hatte.

Ihre Lippen waren Millimeter von seiner Wange entfernt und sie roch sein frisches, jedoch mit einer angenehm schweren Note versetztes Aftershave.

„Da haben Sie wohl Recht“, sagte sie und während sie sprach, strich ihr sanfter Atem über seine Wange.
 

„Probieren Sie es, Sophie“, sagte er auffordernd und sprach ihren Namen sanft und zugleich mit dunkler Note aus. Er mochte diesen Namen, er passte zu ihr und ihrer verführerischen Art, die ihn magisch anzog. Brad fragte sich, wie weit dieser Tanz zwischen ihnen gehen mochte, wie weit er sich vorwagen würde. Kurz wunderte er sich über die Tatsache, da er derartige Verabredungen während eines Auftrages nicht vereinbarte. Warum zur Hölle hatte er es jetzt getan?
 

Sophie öffnete ihre Lippen und schien etwas sagen zu wollen, bevor sie lächelte und unter den wachsamen Augen Keiths ein kleines Fleischstück von ihrem Spieß zog. Sie kostete es in kleinen Bissen, kostete den vollen Geschmack dieser Köstlichkeit bis in Letzte aus.

„Sie haben Recht, Keith. Es schmeckt fantastisch. Möchten Sie auch?“, fragte sie mit einer Unschuld in der Stimme, die vom dunklen Glanz in ihren Augen beinahe sofort betrogen wurde.
 

Er blickte sie durchschauend an. „Ja, lassen Sie mich kosten, mit Sicherheit schmeckt er köstlicher als den, den ich mir ausgewählt habe“, lächelte er ironisch und verwob seinen Blick mit dem ihren, bevor er den Kopf leicht neigte.
 

Sie lachte laut und amüsiert. Dieser Mann gefiel ihr. Der Klang seiner Stimme gefiel ihr. Seine Haltung, seine Präsenz, alles an ihm gefiel ihr.

Mit höchster Konzentration zog sie ein Fleischstückchen von ihrem Spieß und hielt es Keith vor die Lippen.

„Ich bin mir SICHER, dass es Ihnen besser schmecken wird“, erwiderte sie mit einer lockenden Note in ihrer Stimme.
 

Brad nahm den Bissen den sie ihr bot auf, streifte weich ihre Fingerspitzen und zog sich zurück, seine mit der würzigen Soße benetzten Lippen nachschmeckend. Wieder legte sich dieses von ihm bekannte hintergründige Lächeln in seine Augen, milderte die sonst undurchschaubare Kälte in ihnen. „Sie hatten Recht“, antwortete er und aß nun seinen eigenen Spieß auf. Gewandt zog er die Serviette von dem Tisch und wischte sich die Finger damit ab. Fingerfood mochte er nur zu gern, doch das würde er vor allem vor Schuldig für sich behalten…
 

Auch Sophie beendete ihren Spieß, auch sie tupfte sich in damenhafter Eleganz ihre Finger ab.

„Wissen Sie, dass Sie sehr schwer zu knacken sind, Mr. Keith Martinez?“, merkte sie mit aufmerksamem Blick auf seine Gesichtszüge an. „Und das, obwohl Sie ein solch charmanter Mann sind.
 

Auflachend schüttelte Brad amüsiert den Kopf und sein Blick tangierte die Tanzfläche, die wachen, scharfen Augen erfassten das Bild, das sich ihm bot, bevor die Schärfe nur leicht abgemildert wurde als er zu Sophie sah. „Wo bliebe denn da der Reiz, Sophie?“
 

„Da haben Sie wohl Recht, Keith“, nickte sie bestätigend. „Nur dürfen Sie mich nicht gänzlich im Dunklen tappen lassen, was Sie angeht. Ich möchte Sie schließlich nicht verängstigen!“

Sophie lachte ihr glockenhelles Lachen und zwinkerte amüsiert. Alleine die Vorstellung, diesen großen, imposanten Mann auf irgendeine Art und Weise zu verschrecken, schien grotesk.
 

„Was möchten Sie denn von mir wissen, Sophie?“

Brad nahm sich ein weiteres Spießchen. Er hatte Hunger bekommen.
 

„Hm…“, überlegte sie und ihre weißen Zähne blitzten, als sie grinste. „Ich möchte wissen…was Sie unter ihrem chicen Anzug tragen! Sind Sie eher der Boxershorts-Mann, der sportliche oder eher der elegante?“
 

„Ich denke, ich sollte nächstes Mal darauf achten, wie freigiebig ich mit der Auswahl der Fragestellung in Ihre Richtung bin“, hob Brad schmunzelnd, charakteristisch für ihn eine Augenbraue.

„Empfinden Sie es als wichtig, was ‚Mann’ darunter trägt?“
 

Sophie schmunzelte in ihren Drink, als sie amüsiert den Kopf schüttelte. „Nein, das ist nicht wirklich wichtig.“ Dass es viel wichtiger war, was Mann darin trug, verschwieg sie galant. „Erzählen Sie mir…wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, irgendetwas zu tun, egal was und egal wo auf dieser Welt, was würden Sie machen?“
 

„Generell, eine schwierige Frage.“

Brad ließ sich Zeit, aß erst und wischte sich die Finger an der Serviette ab.

„Aber einfach zu beantworten. Ich tue das, was ich jetzt machen möchte. Es gibt keine Zwänge in meinem Leben. Früher sah dies anders aus, nur irgendwann sollte man wissen was einem wichtig ist und was man machen möchte. Ich tue das was mir gefällt, Sophie.“ Bis auf einen kleinen Bereich in seinem Leben, der für ihn tabu war…

Das sanfte Glimmen in dem hellen Braun seiner Augen traf auf das anmutige Gesicht der Frau. „Und wie sieht es mit Ihnen aus?“
 

Eine beeindruckende Antwort. Dieser Mann schien ganz mit sich im Reinen zu sein und nicht den leisesten Zweifel zu haben. Das war toll. Genau das zog Sophie an einem Menschen an.

„Ich tue das, was ich tun muss um mein Leben nicht langweilig werden zu lassen“, erwiderte sie und griff sich einen ihrer Spieße, zog ein Stück Fleisch davon ab.
 

„Sie fürchten die Langeweile?“

Das konnte Brad für sich selbst nun nicht behaupten. Er ließ sich den Anfang des Satzes noch einmal durch den Kopf gehen. „Sie tun müssen…? Warum tun Sie nicht das, was Sie wollen? Oder sitzen Sie hier mit mir, weil Sie es müssen?“

Brad neigte den Kopf und bot ihr ein Spießchen mit Gemüse an.
 

„Nein, ich sitze mit Ihnen hier, weil ich es will. Sie sind nicht meine Arbeit, Sie gehören in meine Freizeit“, lächelte Sophie ertappt und nahm den Spieß dankend an. „Manchmal will ich Langeweile, doch das bleibt nie lange. Ich bin ein Junkie nach Stress, Aufregung, Jet-Set, Reisen. Süchtig ohne Hoffnung auf Rettung, Keith. Oder wollen Sie mein edler Retter in strahlender Rüstung sein?“, fragte sie und zwinkerte.
 

„Ein edler Retter, bei dem Sie sich langweilen würden, Sophie. Glauben Sie mir, mein Leben verläuft in ruhigen, schattigen Zügen, kein Stress, keine Hektik, alles ruhig und schön durchgeplant“, untermalte Brad seine gelangweilt vorgetragenen Worte mit einer beiläufigen Geste und nippte an seinem Drink.
 

„Wenn Sie mich in diesem Moment fragen, klingt das wie der Himmel für mich. Aber es ist Abend und ich habe schon genug Drinks getrunken, damit ich mich derlei Fantasien problemlos hingeben kann“, räumte sie ein.

„Morgen sieht das Ganze vermutlich schon wieder anders aus, wenn ich im Aufsichtsrat sitze und meinen Standpunkt klar machen muss.

Sie sehen also ein müßiges Thema, Keith. Lassen sie uns über etwas anderes reden.“

Sie strich sich die Haare zurück und seufzte.

„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.“
 

Brad erwog für einen kurzen Augenblick eine erfundene Antwort zu liefern, verwarf aber diesen Einfall. Zu Keith Martinez passte es besser, wenn er sich dazu ausschwieg.

„Verzeihen Sie, Sophie, darüber gibt es nicht viel zu erzählen. Tomoko und ich sind eher selten zu Hause“, wiegelte er höflich ab und ließ sie damit verstehen, dass er nicht über dieses Thema sprechen wollte. Streute aber dadurch auch den Eindruck, als hätten Tomoko und er Probleme mit der übrigen Familie. Zumindest könnte der Verdacht aufkommen.
 

„Natürlich, das ist überhaupt kein Problem, Keith“, lächelte sie sanft und nutzte die Gelegenheit um ihm über den Oberarm zu streichen: eine freundschaftliche, unverfängliche Geste, die gleichzeitig Entschuldigung für ihre Neugier war.

Es war hier vorher auch schon bewusst gewesen, dass ein Mann wie Keith Martinez vermutlich nicht gerne über seine Familie sprach. Sie tat es ebenso wenig. Das war die Jet-Set-Generation eben. Ein oberflächliches, schnelles Leben ohne tiefere Bindungen.
 

Brads Muskeln spannten sich kurz an, als er die überraschende, allerdings auch willkommene Berührung der schlanken Finger auf seinem Arm spürte. Die Wärme, der minimale Druck der Hand drang durch sein dünnes Hemd. „Und Sie, Sophie? Sehen Sie ihre Familie hin und wieder? Gibt es in ihrem Leben so etwas wie Familie?“ Er lächelte ironisch.
 

Sie ging voll auf dieses ironische Lächeln ein und schüttelte amüsiert den Kopf. Sie fühlte die harten, starken Muskeln unter ihrer Hand und wusste zu schätzen, was sich ihr dort anbot. Oh ja…und wie sie diesen Mann begehrte.

„Es gibt in meinem Leben keine Familie. Ich bin frei für die Welt und Einzelkämpferin! Immer gewesen!“
 

Keith kam nicht umhin zu bemerken, dass die Frau ihm mehr als sympathisch war und das über seine Rolle als Mr Martinez hinaus. Eine nette Abwechslung für heute oder vielleicht für morgen. Dennoch war an ihr etwas anders, er konnte es nicht sagen, ob es einfach ihre dunklen Augen waren, die ihm geheimnisvoll und mysteriös zugleich erschienen. Oder ob es die weiße, ebenfarbene Haut war und deren Kontrast zu dem Dunkel der Augen und der Haare, der sie ätherisch und zerbrechlich wirken ließ.

Verletzlichkeit zog ihn an, wie die Motte vom Licht angezogen wurde. Schuldig war das beste Beispiel dafür, wenn er daran dachte, dass er von diesem Mann nicht los kam, ständig um sein Teammitglied besorgt war. Mehr als ihm lieb war.

Und mehr als er je zugeben würde, bedeutete Schuldig ihm. Sein Blick kehrte kurz für wenige unaufmerksame Momente nach innen, als er sich auf seinen Drink besann und ihn mit einem letzten Schluck leerte. Er wollte jetzt nicht an Schuldig denken, oder die Probleme, die an seinem Team zerrten.
 

o~
 

Sophie stand unter dem Schein der gedimmten Flurbeleuchtung und sah zu ihrem groß gewachsenen Begleiter empor, dem sie im Laufe des Abends immer und immer näher gekommen war. Sie hatten geflirtet, jedoch waren es nur flüchtige Gesten und kurze Berührungen gewesen, die wie zufällig geschahen, jedoch alles andere als das waren.

Sie hatten sich unterhalten den ganzen Abend lang. Sehr gut unterhalten und nun standen sie hier, inmitten dieses luxuriösen Hotels, vor Keith’ Zimmer, immer noch beieinander und sichtbar voneinander angezogen. Spannung knisterte zwischen ihnen.
 

„Und…“, sagte Brad zögernd, neigte sich leicht zu Sophie, die neben ihm vor der Tür stand. „Sie sind sich sicher, dass ihr Terminkalender es erlaubt…“, er neigte sich weiter, berührte nun fast ihre Lippen, sein Blick brannte sich in die dunklen Iriden. „…dass Sie sich noch mit mir abgeben?“, raunte er.
 

„Absolut….Keith“, flüsterte sie. „Da bin ich mir absolut sicher.“ Ihre Lippen bewegten sich und stupsten hin und wieder wie zufällig an die Seinen, so nahe waren sie sich. Ihre Fingerspitzen prickelten in der Hoffnung, diesen Mann berühren zu dürfen, über diesen Körper streichen zu dürfen…Blut rauschte durch ihre Adern und pulste in ihren Ohren.
 

Brads Hand tauchte wie ein Überraschungsgast hinter der Bühne auf Sophies Rücken auf, legte sich warm und fest auf den oberen Teil und fuhr bis zur Höhe der Taille hinunter. „Na …dann…“, lächelte er plötzlich dunkel und vergaß seine Rolle für einen Augenblick, bei diesem Lächeln. „…lassen wir doch diese Höflichkeitsfloskeln weg, die ohnehin längst störend geworden sind“, hauchte er und berührte die Lippen weich, ließ seine Zunge forschend, fragend… tastend für kurze Momente die Lippen berühren.
 

Sophie…ließ eben diese Floskeln nun ebenso fallen und öffnete dem anderen Mann ihre Lippen, hieß ihn hinein zu kommen und zu erforschen, was sich ihm darbot.

Das dunkle Lächeln hatte ihr einen Schauer über den Rücken laufen lassen und sie griff mit einer Hand nach hinten, legte sie weich und warm über die von Keith. Die andere Hand stahl sich an die männliche Flanke und umstrich sie.
 

Brad umschmeichelte Sophies Zunge mit seiner, den schlanken Körper gegen die Wand drängend, suchte seine Hand den grazilen Nacken und legte die Wärme seiner Haut darauf. Viel von seiner verleugneten Sehnsucht lag in diesem Kuss, vieles von dem, was er sich selbst verbat und was Sophie nun zu spüren bekam.
 

Es war, als harmonierten sie und nur sie perfekt miteinander, als würden sie perfekt aufeinander abgestimmt sein.

Sophie musste innerlich nun doch über den romantischen, wenn nicht sogar kitschigen Gedanken lächeln, der doch so vieles barg, was sie selbst sich für sich wünschte - in ihren schwachen Stunden.

Ihre rechte Hand stahl sich nach oben in die Haare des großen Mannes und ihre Linke legte sich auf die breite Brust. Sie lächelte und schmeckte Keith, begegnete seiner Zunge mit Zärtlichkeit.
 

Einem Gefühl, welchem Brad nicht abgeneigt war. Er genoss diese Sanftheit, die auf diese leichte, zärtliche Art nur von einer Frau kommen konnte. Dennoch war er vorsichtig, seine Sinne nicht völlig dieser aufregenden Frau ergeben, sondern lauernd im Hintergrund auf Hinterhalte. Nach vielen Augenblicken, in denen sie sich mit zungenumschmeichelnder Aufmerksamkeit bedachten, sich in naher Umarmung gehalten hatten, löste sich Brad von den köstlichen Lippen. „Willst du …mehr?“, fragte er mit aufgerauter Stimme an die zierliche Ohrmuschel.
 

„Ja…“, wisperte Sophie aus tiefstem Herzen und küsste, die sich ihr schamlos dargebotene Wange. Bis…ja, bis ihr bewusst wurde, was Keith…was sie damit tun würden. Sie beide. Mehr bedeutete… Sex.

Rationalität hielt mit einem Schlag Einzug und schrie ihr zu, dass das niemals, unter gar keinen Umständen, nie, möglich wäre. Dass sie von hier weg musste. Schnellstens. Dass sie sich diesem Mann nicht mehr nähern durfte! Gott! Entsetzen schwelte ihn ihr, zeigte sich jedoch noch nicht auf ihrem Gesicht, das immer noch sacht gerötet vor Verlangen war.
 

Brads Hand öffnete kaum, dass diese verbale Zustimmung gegeben war, die Tür, fing die weichen Lippen wieder ein und drehte sich mit Sophie im Arm Richtung spaltbreit offener Tür.
 

So sehr Sophie auch wollte, so sehr sie auch mit diesem Mann schlafen wollte…sie stemmte sich gegen die Arme, gegen die Zärtlichkeit, gegen alles, was sie in dieser Nacht bekommen hätte - oder auch nicht.

Sie strauchelte zurück, entriss sich diesen Armen mit der Bitte um Verständnis. Sie wusste, dass sie es nicht bekommen würde, doch was machte das schon? Nichts…

„Es tut mir leid“, flüsterte sie wie ein scheues Tier, das sich seinem Jäger gegenüber sah und floh den Gang hinunter. Nur weg von hier. Nur weg!
 

Brad konnte das Gefühl das ihn nun durchzog nicht beschreiben. Nur in einzelne Fragmente unterteilen, als er schließlich in seine Suite trat und die Tür hinter sich schloss. Was zur Hölle war das denn gewesen? Er konnte behaupten, dass ihm eine derartige Abfuhr bisher noch nie widerfahren war. Vor allem, wenn er daran dachte, dass Sophie nicht wie eine Frau wirkte, die Männer aufheizte, nur um danach einen Rückzieher zu machen. Sie wollte definitiv weiter gehen, aber irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Vielleicht ein Partner, den sie sich trotz allem vorherigen Verleugnens wieder ins Gedächtnis gerufen hatte.

Brad erwog kurz seinem Ärger über diese Abfuhr Raum zu geben, als ihn ein Umstand davon ablenkte. Nein, genauer gesehen waren es zwei gewesen.

Brad ging ins Badezimmer und überdachte diese Fakten. Er spritzte sich kühles Wasser ins Gesicht, lockerte sein Hemd und schenkte sich einen Drink ein.

Der erste Fakt war, dass Sophies Aura sich verändert hatte, als sie geflüchtet war, denn nichts anderes war dieser Abgang gewesen.

Der zweite Fakt war, dass er diese Flucht nicht vorausgesehen hatte – ein Umstand, der ihm früher gesagt hätte, dass sie einen Rückzieher machen wollte.
 

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Aya wusch mit leisem Summen das Gemüse, während Youji an seiner Seite stand und das Fleisch schnitt. Einträchtig wie selten waren sie dabei, Essen zu kochen für sie drei. Einträchtig, wie sie zu Weiß’ Zeiten nie gewesen wären, da es früher immer Streitereien um das Essen gegeben hatte - das dann an wem hängen geblieben war? An Omi, richtig.

Dann, wenn sowohl Youji als auch Aya wie die Kinder geschmollt hatten, weil der Andere sich weigerte zu kochen, war der Jüngste mit einem ungehaltenen „Kinder! Jetzt ist gut!“ eingeschritten und hatte sich selbst an den Herd gestellt. Die übrigen Male war es Aya gewesen…Ken auch, wenn er Lust hatte und Youji…
 

Youji KONNTE kochen, sehr gut sogar. Er nutzte diesen Umstand leider nur viel zu selten.
 

Aya fühlte sich entspannt an der Seite des blonden Mannes…so entspannt wie schon lange nicht mehr.
 

„Legst du mir mal eben die Nudeln herüber“, murmelte Yohji und legte das geschnittene Fleisch für kurze Zeit in die Gewürzsoße ein.

„Was glaubst du, was er jetzt macht?“, grübelte Yohji.
 

„Schuldig? Ich denke, er wird sich jetzt um seinen Auftrag kümmern und Crawford auf die Nerven gehen“, erwiderte Aya und gab Youji die verlangten Nudeln. Er wusch das Gemüse ab und gab es in das kalte, gesalzene Wasser.
 

Yohji brummte. „Nein, Farfarello. Ich meine, das ist doch unheimlich hier, er schleicht durchs Haus wie ein Geist und ab und an taucht er mal auf wie ein aus der Tiefe an die Oberfläche kommender Wal.“ Er dachte kurz daran, wie abwegig Ran diese Frage wohl nun fand, nachdem er zunächst angenommen hatte, dass er nach Schuldig gefragt hatte.
 

Aya hielt ein und betrachtete sich Youji. Er hatte in der Tat keinen Gedanken daran verschwendet, dass sein gegenüber Farfarello meinen könnte. Wie denn auch? Er hatte sich anscheinend schon an die ruhige, unaufdringliche Präsenz des Iren gewöhnt, der hie und da mal auftauchte und eigentlich nichts tat, außer Banshee zu beschäftigen.

„Er gehört zu diesem Haus, Youji. Vielleicht nehme ich, ihn deswegen nicht als Bedrohung wahr… oder weil er noch keine Züge in der Richtung gezeigt hat. Leichtsinnig von mir, ich weiß.“ Er lachte leise, verstummte dann. Ja, es war in der Tat leichtsinnig.

„Vielleicht malt er oben…oder spielt mit Banshee.“
 

„Das klingt, als wäre er ein Kleinkind“, verzog Yohji den Mund zweifelnd und öffnete die Packung mit den langen, dünnen Nudeln. „Was er nicht ist, Ran.“

Dieser Typ da … da oben, oder wo immer er sich aufhalten mochte, war unheimlich und er konnte ihn nicht durchschauen, was ihn halb wahnsinnig machte, denn diese Blicke, die er in seinem Nacken beizeiten spüren konnte, stachen wie gemeine Nadeln.
 

„Nein, er ist es nicht, auch wenn er manchmal so scheint…als wenn er mit kindlicher Neugier die Welt um sich herum wahrnimmt und beobachtet. Das ist der Gegensatz zu dem Killer, den wir kennen gelernt haben.“ Aya schüttelte den Kopf. „Manchmal glaube ich, dass er nicht ursprünglich dieses bestialische Monster war, gegen das wir gekämpft, weißt du?“
 

„Ja und das empfinde ich als sehr gefährlich. Eine Nachlässigkeit, die provoziert sein könnte und im richtigen Augenblick passt du nicht auf.“

Yohji widmete sich nun dem Fleisch, und nach kurzem erfüllte der würzige Duft von Gebratenem die Küche.
 

„Und was soll ich deiner Meinung nach machen? Mich einschließen und jede Minute dieser zwei Wochen wachsam sein, Youji? Wie soll das gehen, Youji? Könntest du es? Könntest du jemanden, der dir für ein Essen dankt, indem er dir Wohlgefühl schenkt, misstrauisch gegenüber sein?“ Aya schüttelte den Kopf. „Anscheinend hast du Recht und mit meinem Ende bei Kritiker ist auch mein Killerinstinkt den Bach runtergegangen.“
 

„Das glaubst du doch selbst nicht“, murrte Yohji und wandte sich um. Er blickte den Rothaarigen Mann an der so geschäftig wirkte. „Ran, so … etwas… so eine Vergangenheit kann man nicht einfach ablegen. Und dass du Schuldig als Freund - oder wie auch immer du ihn in seiner Funktion benennen magst – hast und uns als Freunde, wird ebenfalls nichts daran ändern. Wenn du wirklich dieses Prickeln im Nacken bei Gefahr oder deine schnellen Reflexe, wenn du glaubst bedroht zu werden verlieren willst, dann bleibt dir nur eins: weit weg zu ziehen und zwanzig Jahre zu warten. Vielleicht wird dann so etwas wie Normalität bei dir einziehen. Die Normalität, die wir wohl alle gehabt hätten, wenn wir nicht mit …“, ja mit der Brutalität, der Ungerechtigkeit, der Abgründe menschlicher Bösartigkeit und gieriger Kreativität konfrontiert worden wären.
 

Aya wusste genau, was Youji meinte und nickte in Anerkennung an dessen Worte. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich bewusst wurde, dass es diese Normalität für ihn nie geben würde.

Vielleicht war er nicht mehr ganz so ausgestoßen am Rande der Gesellschaft, wie sie es als Killer waren, doch dieses anders Sein würde immer bleiben. Immer.

„Dann sind meine Instinkte noch nicht verkümmert…was mich wiederum fragen lässt, warum sie bei Farfarello nicht anschlagen. Was meinst du?“
 

Yohji schnaubte und wandte sich erneut um, begutachtete die Nudeln. „Instinkt… ich weiß nicht ob das der richtige Ausdruck für diesen Wahn ist, den ich in dessen Augen gesehen habe, als er Ouka erschossen hat. Wenn Omi erfährt, dass du Farfarello sittest …“, ließ er die Worte offen. Er fragte sich tatsächlich, wie Omi nicht wutentbrannt auf Nagi losging – einfach stellvertretend für ganz Schwarz und stellvertretend für Farfarello.
 

Währenddessen schlich sich eine angenehm entspannte Präsenz zwischen die sich Unterhaltenden, nistete sich an ihrem Lieblingsplatz ein und fühlte sich geborgen, als heimlicher Lauscher.
 

Aya hielt inne und starrte auf das vor sich hinköchelnde Gemüse. Ja…das war in der Tat etwas, das er vollkommen außer Acht gelassen hatte. Hieß das, dass er leichtfertig mit dem umging, was passiert war in seiner ignoranten Leidenschaft für Schuldig?

Hatte er darüber hinaus vergessen, was er für Gründe hatte, Schwarz zu hassen? Ja, ganz Schwarz, auch Schuldig. Und das nur, weil dieser ihn in seiner dunklen Zeit unterstützt hatte.

Hätte er ihn von Anfang an hassen sollen, schon als er ihn gefangen genommen hatte? Hätte er sich nicht von den ‚guten’ Absichten des Telepathen in die Irre führen lassen und ihr Ziel vor Augen behalten sollen: die Rache an Schwarz. War auch er dem berüchtigten Stockholm-Syndrom anheim gefallen und auch jetzt noch dem verfallen?
 

Schwarz hatten ihnen nichts Gutes getan. Sie hatten Weiß gequält, wo sie nur konnten und Ouka Takatori war nur eine von vielen gewesen. Sakura…seine Schwester…er war bisher einfach so darüber hinweggegangen und hatte Schwarz als die Menschen wahrgenommen, die sie in diesem Moment waren - ohne ihre Vergangenheit. War das ein Fehler? Beging er dadurch Verrat an seinem Team?
 

Und die Präsenz schwieg, obwohl Unruhe, drängende Unruhe sie erfasst hatte. Denn der Körper von dem sie ausging war in den Schlaf hinübergeglitten und in diesem hatten sich die Gedanken des Träumenden an die Stätte des Wohlbefindens gestohlen, die sie sonst auch des Öfteren aufgesucht hatten.

Die Gedanken, die ihn umschwirrten, verunsicherten ihn, ließen Zweifel um ihn kreisen.
 

War es also falsch, mit dem Telepathen zusammen zu sein, ihn zu…lieben? War all das falsch, was er zum ersten Mal in sich fühlte? Musste er sich davon lösen und zu Weiß zurückkehren oder diesem Leben ganz den Rücken kehren? Was war richtig, was nicht?

Aya ließ seine Hand sinken, starrte blind auf den Topf. Alles falsch?
 

„Ran?“, fragte Yohji und spürte die Stille unangenehm zwischen ihnen. Er hatte mit seinen Worten etwas in dem Mann ausgelöst, dass er so nicht gewollt hatte. Er berührte ihn an der Schulter, strich sanft über eine der Haarsträhnen.
 

Angst breitete sich unterdessen in dem Körper aus, der in Shanghai in dem Hotel lag und sich unruhig hin und her wälzte. „Nein“, murmelten die Lippen, gefangen von den Gedanken die um ihn spülten wie die vom Wind gepeitschte See in einem Sturm. Warum war der Ort der Ruhe und der Geborgenheit jetzt so unsicher und unwirtlich für ihn?
 

Aya blinzelte, fühlte die Berührung Youjis, doch auch noch etwas anderes. Ein schweres, unruhiges Gewicht in seinen Gedanken, das er nicht als sein eigenes erkannte. Schuldig…Schuldig war da. In seinen Gedanken.

‚Bist du da?’, fragte er zögernd, ebenso ängstlich wie Schuldig vielleicht auch.

‚Sag mir, ob er Recht hat’, bat er in die Stille hinein, als er seine Augen schloss und schwankte. Was, wenn Youji Recht hatte?
 

Dieser nahm Ran halb in den Arm, zog ihn an sich und führte ihn an den großen Tisch, zog einen der Stühle hervor und ließ Ran darauf gleiten, der scheinbar mit seinen Gedanken woanders war. So weggetreten wie Ran war …

Yohji ging zurück zu den Töpfen und kümmerte sich ums Abendessen. Hin und wieder wagte er einen besorgten Blick über die Schulter.
 

‚Ran… warum … warum … diese Zweifel, warum… entfernst du dich von mir?’, wisperten Schuldigs ängstliche, geisterhafte Worte durch Rans Geist.
 

‚Ist es denn nicht so? Hat Youji denn nicht Recht, Schuldig?’, fragte Aya verzweifelt, doch mit einem Stich an Erleichterung, dass der Telepath da war, dass er ihn nicht alleine ließ.
 

‚Ich … weiß nicht was ich sagen soll, Ran’, kam es bekümmert zurück. ‚Recht und Unrecht … was soll ich dir antworten?’ Noch immer war Rans Gedankenwelt mit Unsicherheit, mit Angst durchwoben, wie ein bösartiges Geschwür, das seine feinen dünnen Arme in alle Organe ausstreckte und sie infiltrierte.
 

‚Sag mir, ob ich falsch liege, Schuldig. Habe ich zu einfach vergeben? Habe ich mich von dem, was wir teilen, einlullen lassen und nun den Sinn für die Realität aus den Augen verloren?’ Aya klang verzweifelt…traurig und zweifelnd. Er wollte das nicht glauben, doch die Anzeichen dessen waren klar vorhanden. Youji hatte ihm gerade das beste Beispiel genannt.
 

‚Welche Realität, sag mir das, Ran’, wollte Schuldig enttäuscht wissen. ‚Sag mir welche Realität du meinst. Yohjis? Deine… unsere?’ Er schwieg und Ruhe kehrte in ihm ein.

‚Willst du damit andeuten, ich hätte… dich verhext, damit du … du … mich …liebst?’, sprach er die Worte aus, die er kaum über seine Lippen brachte. ‚Hast du die Wahrheit zugunsten einer Realität aus dem Blick verloren?’
 

‚Ja…vielleicht hast du mich verhext. Mit deinen Augen, deinem Lächeln, deiner Art. Deiner Menschlichkeit…sag mir, dass das nicht falsch ist, Schuldig. Sag mir, dass ich keinen Verrat an meinen Freunden begehe!’

Und ob er diese Versicherung brauchte, diese Gewissheit. Er war unsicher, er wusste nicht, was er denken sollte.

‚Gibt es denn verschiedene Realitäten?’
 

Schuldig spürte Kälte in sich als er die plötzliche Unsicherheit in seinem Ran las. ‚Wenn ich dir diese Frage… Fragen mit ja beantworte, ist es nicht dann wirklich so, als würde ich dir etwas auf dem Tablett präsentieren, das mir in den Kram passt? Sieht es dann nicht so aus, als würde ich dir sagen, was du denken sollst?’ Er schwieg, wusste nicht weiter. Warum … dachte Ran so etwas?

‚Ich kann dir diese Antwort nicht geben, Ran, nicht wenn ich will, dass du bei mir bleibst. Realitäten gibt es wie Sand am Meer. Jede Einzelne ist ein Sandkorn, jeder nimmt die Welt mit seinen Augen war, in seiner eigenen Realität. Die Wahrheit begreifen nur wenige.’
 

‚Und was ist die Wahrheit, Schuldig?’, fragte Aya. Ja…was würde passieren, wenn Schuldig ihm diese Antworten vorkaute? Er würde sie annehmen, dankbar, einen Grund gefunden zu haben. Doch was dachte er selbst - unter all dieser Unsicherheit, unter all diesen plötzlich aufgekommenen Zweifeln?

Dass er Schuldig nicht mehr missen wollte, weil er für sich eine Realität gefunden hatte, mit der er endlich leben konnte. Zwar keine perfekte Realität, aber dennoch eine, die ihn glücklich machte.

Aber was war mit dem Schmerz seiner Freunde?

„Nehmt ihr es mir übel, dass ich bei Schuldig bin?“, fragte er aus heiterem Himmel Youji, kam sich einen aberwitzigen Moment so vor, als würde er eine Konferenzschaltung führen. Doch er wollte beide Antworten.
 

Yohji hatte sich an die Stille in der Küche gewöhnt als er von seinem Tun abgelenkt wurde und sich zunächst, statt dem Gemüse diese Frage auf der Zunge zergehen ließ. Schwierig war sie.

Er hätte glatt mit ja geantwortet. Aber so einfach war sie nicht zu beantworten. Ohne sich umzudrehen arbeitete er weiter. „Wie kommst du jetzt auf die Frage“, wollte er wissen.
 

Es war kein ‚Nein’, das sah Aya. Es war kein klares Nein. War es also wirklich so? Hassten sie ihn dafür, dass er sie alleine gelassen hatte?

„Habe ich Recht, Youji?“, stellte er die Gegenfrage. „Ist es wirklich so?“
 

„Ich möchte jetzt keine Gegenfragen“, sagte Yohji mit den Worten eines Älteren, denn ihm schien es, als würde Ran halb durchdrehen, so wie er dort saß, die Augen unsicher und fast ängstlich verwirrt. Nein verzweifelt.

„Ich möchte wissen, warum du das fragst. Ganz einfach.“

So einfach war es wohl nicht.

Er drehte die Hitze der jeweiligen in Betrieb genommenen Herdplatten herunter und wandte sich zu Ran um, ging zu ihm und lehnte sich an die Tischplatte, strich dem Mann über die Schulter und ließ die Hand dort ruhen.
 

Aya sah hoch, in diese grünen, ruhigen Augen, die ihn schon so manches Mal so angesehen hatten und es immer bedeutet hatte, dass sie reden würden. Es war nicht immer angenehm, doch…im Nachhinein brauchte er es. Ebenso wie die Hand auf seiner Schulter, diese Zuversicht.

„Mir scheint…als hätte ich aus den Augen verloren, dass Schwarz und Weiß sich gehasst haben und es immer noch tun. Durch meine Verbindung zu Schuldig. Habe ich meine Augen davor verschlossen, Youji? Vor Omis Schmerz, deinem…Kens?“
 

Währenddessen zog sich Schuldig zurück. Er wollte nicht sehen, nicht lesen, wie Ran sich entscheiden würde. Es tat ihm zu sehr weh, zu sehen wie Ran scheinbar erwachte, als hätte er bisher alles nur geträumt. Vielleicht war alles für Ran bisher nur ein einziger Albtraum gewesen.

‚Vielleicht ist es richtig so, dass ich nicht da bin, dass du dich entscheiden kannst, bis ich wieder da bin. Vielleicht ist es … besser wenn ich nicht in deiner Nähe bin, damit ich dich nicht … verhexe.’

Er lächelte und seine Präsenz zog sich aus Ran zurück, gab ihm Raum für Überlegungen ohne Zuhörer.
 

Yohji betrachtete sich Ran lange Momente. Er seufzte und zog die Stirn kraus.
 

‚Nein, bleib!’, rief Aya mental, als er hautnah spürte, dass Schuldig sich zurückzog. Er wollte jetzt nicht alleine sein…er wollte bei Schuldig und Youji sein. Bei beiden…Er hatte Angst, alleine zu sein. Für immer alleine.

„Warum antwortest du mir nicht, Youji?“, fragte er mit steigernder Verzweiflung.
 

„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragte Yohji nun ernstlich besorgt und zog den anderen Mann vom Stuhl um ihn ins Wohnzimmer zu verfrachten. Dort platzierte er ihn auf die Couch und zog ihn versichernd an sich. „Ich musste mir die vielen Antworten, die ich auf einmal rausschreien wollte, erst noch überlegen.“

Er atmete tief ein. „Ich erinnere mich noch gut daran – schließlich ist es noch nicht allzu lange her – dass du schier die Wände hoch gegangen bist, als du gemerkt hast, dass du bei Schuldig bleiben willst. Nennst du das ‚die Augen verschließen’? Ich nicht. Du hattest Angst, deine Schwester zu verlieren, vor dir selbst, vor unseren Reaktionen, vor Kritiker.“

Er überlegte einige Wimpernschläge, bevor er fortfuhr. „Wir hassten nicht die Personen von Schwarz, sondern was Schwarz darstellten. Wofür sie standen.

Ich mag sie allesamt nicht besonders, ja sie hatten ihre Finger mächtig tief drin, als wir gegen Takatoris Machenschaften und denen von SZ gekämpft haben. Sie machten ihren Job – wir den unseren.

Wir haben uns gehasst Ran, ja. Aber jetzt? Sind wir uns nicht gleichgültig geworden? In gewisser Hinsicht ist die Luft raus. Und das, weil wir uns kaum noch an der Front auf der Straße begegnen. Es sind Killer, de facto. Wir auch.“
 

Vor allem musste Yohji einräumen, dass das Gefühl des Hasses wohl eher auf Seiten von Weiß vorhanden gewesen war, denn auf Seiten Schwarz. Vermutlich waren Weiß lediglich ein amüsanter Zeitvertreib, eine spannende Beigabe für Schwarz.

Er zog Ran noch etwas dichter an sich. „Keiner weiß, wohin es unser Herz verschlägt, hmm?“, raunte er sanft. „Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, er hätte dich manipuliert? Erinnerst du dich, dass wir uns diese Gedanken alle schon gemacht haben? Kein einziger wurde vergessen, kein einziger unter den Teppich gekehrt. Warum denkst du nun, wir würden dich hassen, dafür, dass du uns allein gelassen hast? Als würdest du diese Bedenken das erste Mal haben. Denn das tust du nicht, hmm? Du hast am Anfang alles bedacht, erinnerst du dich?“, wiederholte er die Frage sanft.

„Wir machten uns Sorgen um dich, aber du bist deinen Weg gegangen. Zugegeben, ein gefühlsmäßig betonter Weg, aber deinen Weg. Und hast du nun den Eindruck, dass es uns schlecht geht ohne dich? Dass wir dich verdammen, weil du mit Schuldig zusammen bist und wir sehen, wie gut es dir geht? Wie gut seit so langer Zeit … nein …eigentlich noch nie?“
 

Und Aya erkannte die Wahrheit in diesen Worten, erkannte, was Youji ihm schon die ganze Zeit zu verstehen gab. Nein, sie waren ihm nicht böse. Sie gönnten ihm vielleicht sogar das, was er mit Schuldig teilte.

Er schmiegte sich an den anderen Mann und bettete sein Gesicht in gewohnter Manier an die Seite des blonden Weiß. Sein freier Arm schlängelte sich um den Brustkorb und ließ Youji nicht mehr los.

„Aber was wird jetzt sein, Youji?“, fragte er gedämpft. „Du kennst mich Gierschlund. Ich möchte euch alle fünf. Euch und Schuldig. Kann ich euch alle unter einen Hut bringen? Vor allen Dingen, wenn er trotz allem Schwarz misstrauisch gegenüber bleibt - wie ich auch. Nur Schuldig…ich vertraue ihm.

Und ja, ich habe den Eindruck, dass es euch schlechter geht ohne mich, dass ihr…nicht die gleiche Stärke wie zuvor besitzt. Dass ich nicht mehr über euch wachen kann, wie ich es früher getan habe, damit alles glatt läuft…besonders auf Missionen.“

Er seufzte tief.

„Ich bin froh und erleichtert um euren Zuspruch, doch…“

Ja, was war dieses Doch?

„Doch ich fühle mich, als ob ich mich nicht genug anstrengen würde um eine Lösung aus dieser Situation zu finden.“
 

„Dafür müssen wir uns selbst anstrengen, Ran. Jeder einzelne von uns. Du bist der Letzte, der zu uns gekommen ist und du hast den Anfang gemacht und bist der Erste, der von uns gegangen ist. Du bist gekommen wegen … einer Liebe und bist gegangen wegen …“, er lachte leise. „…nun wegen einer Liebe.“

Er wuschelte Ran durch das dichte, schwere Haar. „Akzeptiere, dass jeder von uns sein eigenes Los zu tragen hat, niemand zwang uns dazu zu Kritiker zu kommen. Wir sind aus freien Stücken dort, wo wir heute nicht mehr sein wollen. Aber wir müssen so wie du einen eigenen Weg dort herausfinden, so wie wir einen eigenen Weg dort hinein bestritten haben. Wäre es nicht unfair jedem Einzelnen gegenüber, wenn wir Hilfe von dir bekämen?“ Wie pathetisch, spöttelte er über sich selbst. Nur dass es die Wahrheit war, so blöd es in seinen Ohren klang.
 

„Schuldig hat mir geholfen, einen Weg heraus zu finden, kann ich das nicht ebenso mit euch machen? Kann ich euch keine Hand reichen, die euch aus dieser schwarzen Masse zieht? Was wäre daran unfair? Ich verstehe das nicht, Youji“, hielt Aya dagegen und blinzelte durch seine Strähnen nach oben.
 

Yohji seufzte unhörbar und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln, seine Augen maßen Ran traurig. „Nein, kannst du nicht. Du kannst uns nicht helfen. Es gibt Gründe, warum wir dort sind wo wir sind. Und du hast deinen Grund verloren. Wir nicht. Wir müssen noch mit uns selbst am meisten kämpfen, bevor wir diese … Vergangenheiten loswerden können, verstehst du?“ Er schwieg einige Momente, denn er wusste nicht recht, wie er Ran verstehen lassen konnte, was er meinte. Der Mann schien in seinen Zweifeln so verstrickt zu sein, dass er gedanklich keinen Deut davon abwich.

„Wenn du uns helfen würdest, wäre es als hätten wir es nicht aus eigener Kraft geschafft, das ist wichtig, Ran. Jeder von uns muss das Gefühl haben, mit der Vergangenheit abschließen zu können. Auf die eine oder andere Art. Wenn es Kritiker nicht mehr gäbe, würden wir ohne einen Platz zu haben herumirren bis wir auf die nächste Gruppe ‚Kritiker’ stoßen. Du hilfst uns eher damit, dass wir uns um dich keine Sorgen machen müssen, weil wir wissen, dass es dir gut geht und du dein Leben lebst, wie es dir gefällt.“
 

Aya sah Youji offen in die Augen und bedachte dessen Gesagtes. Youji hatte Recht, vielleicht war es besser, wenn er Weiß sich alleine befreien ließ. Doch…das nahm ihm nicht das schlechte Gefühl in seiner Brust, nicht genug für sein Team da zu sein.

Nachdenklich runzelte Aya die Stirn und schob seine Unterlippe vor.

Würden sich Weiß befreien können? Oder würden sie sich irgendwann zerstören?

„Keine Sorgen um mich…?“ Er lächelte. Stimmt, jetzt mussten sie sich keine Sorgen mehr um ihn machen.
 

„Nun ja, du warst schon immer unser Sorgenkind, auch wenn du das nicht hören willst“, lachte Yohji warm. „Ken und ich … werden uns lösen können, ob Omi das jemals schafft, wage ich zu bezweifeln. Du und er waren die wirklichen Gefangenen von Kritiker. Würde Ken ins Gefängnis gehen und seine Strafe absitzen, würde ich … alles vergessen können, dann wären wir wohl frei, aber Omi?“, ließ er die Frage offen.
 

„Vielleicht hat Omi eine treibende Kraft von außen, die ihn von Kritiker lösen wird“, sinnierte Aya. Er hatte mit ihrem Jüngsten unlängst darüber gesprochen, was bei Crawford vorgefallen war und was dieser als Bedingung gestellt hatte. Jetzt noch unmöglich, könnte es bei fortgeschrittener Zeit durchaus eine Alternative sein, wenn auch eine sehr wackelige.

„Du würdest alles vergessen wollen? Auch mich? Untersteh dich, Youji. Eher kaufe ich euch frei, das glaube mir, als dass ich möchte, dass du deine Freunde vergisst.“ Er pausierte einen Moment. „Die dunkleren Momente sollst du aber vergessen…doch auch da sind wir für dich da, Youji. Du musst das nicht alleine durchstehen.“
 

Yohji löste sich von dem Anderen, stand auf und ging Achselzuckend wieder gen Küche. „Jeder muss das alleine durchstehen, Ran. Auf die eine oder andere Art sind wir doch alle allein. Keiner kann deine Gefühle wirklich erfassen, oder deine Gedanken, es sei denn, du sprichst sie laut aus und das dann auch noch so, wie sie rein und unverfälscht sind, also wahr.

Alles andere wird doch von unserem Gehabe, von unseren Ängsten und unserer Scham übertüncht, ach ja, die gesellschaftlichen, sozialen Umgangsformen nicht zu vergessen!“, rief er aus der Küche heraus und widmete sich wieder dem Essen, das bald fertig sein würde.
 

„An dir ist ein Philosoph verloren gegangen, Youji, weißt du das?“, rief Aya ihm hinterher und drehte sich so, dass er einen guten Blick in die Küche werfen konnte. Wie Recht der blonde Mann doch hatte… all ihre Gefühle waren in irgendeiner Art und Weise verfälscht… doch einer konnte sie lesen.

„Willst du damit andeuten, dass ich Farfarello fragen soll, was du fühlst?“, überlegte er laut und konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
 

Shit, da hatte er wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wie es so schön hieß. Klar, hier hauste ein Empath und Schuldig konnte Gedanken lesen. In seinem kleinen Monolog hatte er diese Tatsachen völlig außer Acht gelassen.

„Untersteh dich“, knurrte er. „Das habe ich nicht bedacht, meine philosophische Ansprache bezog sich auf Normalsterbliche“, murrte er aus der Küche heraus.

Es wäre der Horror wenn … wenn … ja wenn Farfarello anders mit seinem ständigen Wissen über die Gefühlswelten der Menschen um ihn herum umgehen würde als so… schweigsam und reserviert.

War es der logische Schluss um in einer Gesellschaft – auch in einer kleinen – leben zu können? Darüber zu schweigen was man erfuhr?
 

„Im Nachhinein könnte ich auch ALLES bestreiten, mein lieber Youji“, lachte Aya und schraubte sich vom Sofa hoch. Er kam in die Küche gestreunt und knuffte den anderen Mann freundschaftlich.

„Außerdem muss ich nicht viel tun… glaubst du, er würde unsere Gefühle nicht lesen, wenn er wollte? Glaubst du, dass du es ihm verbieten könntest? Es ist Farfarello, Youji. Auch wenn er nicht darüber spricht, so ist das seine Gabe. Er lebt damit. Vermutlich gehört es für ihn mit zum Alltag.“ Vielleicht…manchmal war er froh, nicht an Crawfords Stelle zu sein und ein solches Team zu leiten. Ihm hätte das sicherlich schon den letzten Nerv geraubt.
 

„Und glaubst du eigentlich, dass er es dir sagen würde, nur weil du ihn fragst? Es ist Farfarello, Ran“, äffte Yohji den anderen hämisch grinsend nach.
 

Aya hob spöttisch eine Augenbraue. „Du kannst ein ganz schönes Miststück sein, weißt du das? Zerstör mir noch alle meine Illusionen! Dank dir!“ Er schwieg, scheinbar nachdenklich. Dann jedoch lächelte er teuflisch.

„Ich kann ja lieb bitte bitte sagen…so wie ich es bei dir immer getan habe, weißt du noch?“ Und wie es Youji noch wissen sollte, ihre gemeinsamen Abende in diversen Nachtclubs.
 

„Bei Farfarello?“, glotzte Yohji ungläubig, ob Ran dieses Himmelfahrtskommando wirklich annehmen würde und platzte dann lachend heraus: „Nie im Leben… der weiß doch sicher nichts mit dir anzufangen, oder er nimmt dich stückchenweise auseinander.“…und Ran wollte ihn mit Sex bestechen? Nie… niee…
 

Der rothaarige Japaner glaubte eher Ersteres als Letzteres, doch er lächelte und schwieg dazu. Farfarello sah ihm nicht so aus, als würde er großen Wert darauf legen, engeren Kontakt zu seinen Mitmenschen zu pflegen. Ganz im Gegenteil. Vielleicht wollte er es auch einfach durch seine Gabe nicht, die gewisse Dinge vermutlich erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.

„Du hast schon Recht, Youji“, lachte er leise. „Aber wie sieht es mit dir aus?“ Diese wahnwitzige Idee war gerade erst in Aya aufgestiegen…wirklich. Sie war ZU wahnwitzig, um wahr zu sein.
 

Die Nudeln sahen so aus als ob sie fertig wären und das Gemüse vertrug noch etwas Würze. Yohji blickte kurz auf zu Ran, bevor er sich dem Würzen verschrieb. „Was meinst du?“, fragte er in Gedanken damit beschäftigt, die richtige Dosis zu finden.
 

„Würde er in deinem Bett landen?“, spezifizierte Aya seine Frage.
 

Yohji runzelte die Stirn, als müsse er nachdenken, tat er tatsächlich, aber nicht über diese absurde Idee. Viel mehr untermischte er die Gewürzsoße und kostete sein Gebrautes.

„Nein“, sagte er schlicht und knapp. Schon allein der Gedanke löste bei ihm nacktes Grauen aus. Schon allein die Vorstellung, er würde mit Farfarello… dem Verrückten … demjenigen der Omis Halbschwester auf dem Gewissen hatte…

Nein. Aus vielen Gründen – Nein. Nicht nur deshalb, weil er Angst davor hätte diesem Etwas körperlich näher zu kommen.
 

Nichts anderes hatte Aya erwartet. Youji konnte es sich genauso wenig vorstellen, wie er selbst.

Er trat zu dem blonden Mann und naschte sich einen Löffel voll. Lecker. Wenn Youji doch mal öfter kochen würde. „Essen ist fertig“, verkündete Aya und nahm sich aus einem der rechten Schränke drei Teller, ebenso wie die dazugehörige Anzahl an Stäbchen und Gläsern. In aller Ruhe deckte er den Tisch und verließ mit einem „Ich gehe Farfarello holen!“ die Küche.

Langsam stieg er die Treppe hinauf und dachte währenddessen über ihr vorheriges Gespräch nach. Natürlich hatte Farfarello etwas gefährlich Attraktives an sich, doch alleine schon der Gedanke an ihn…nein. Dazu schien ihm der Ire zu asexuell.
 

Benannter Ire döste.

Er lag auf seinem Bett und ‚lauschte’ auf die Gefühlswelt, die ihre Umgebung betraf, außerhalb des Hauses, ließ die Emotionen durch sich rieseln wie Puderzucker. Genauso weiß waren sie teilweise. Und dazwischen bunte Streusel. Er träumte von Gebäck, von der Zuckerbäckerei im Himmel, wie ihm als Kind erzählt worden war. Und die Emotionen, die er durch sich laufen ließ, als wäre er nicht stofflich und als könnten sie mit ihren langen Fingern durch ihn wie durch eine Wolke greifen, waren bunt und hatten keine Formen.
 

Aya besah sich das vom Türrahmen aus und dachte an das, was Youji ihn gefragt hatte. Ob er denn keine Angst vor Farfarello hatte?

Nein…nicht, wenn er den anderen Mann hier so sah.

Er räusperte sich leise, die Arme verschränkt. „Komm essen, Farfarello“, sagte er ruhig.
 

Nur zögerlich öffnete sich das verschlafene Auge und blinzelte. Jei lag auf der Seite und besah sich den Ankömmling stumm. Erst nach einigen Augenblicken, in denen er sich auf das Haus und seine momentanen Bewohner eingestellt hatte, setzte er sich geschmeidig auf, und erhob sich sofort.
 

Aya drehte sich um und ging wieder hinunter in die Küche. Seine Gedanken wanderten zu Schuldig, während er in jedes der Gläser Wasser goss. Der Deutsche hatte sich nicht mehr gemeldet, hatte nicht auf seine letzte Bitte reagiert. Hieß das, dass er sich vollkommen aus seinen Gedanken ausgeklinkt hatte?

Auch wenn Aya seine Zweifel überwunden - beiseite geschoben? - hatte?
 

Als Farfarello und Ran in die Küche kamen blickte Yohji auf, hielt sich unbeteiligt was seine Gefühle anging und verrichtete alle nötigen Handgriffe ohne großes Nachdenken. Trotzdem musste er flüchtig an die Frage denken, die Ran ihm gestellt hatte.

Die Gegenwart des Empathen löste in Yohji immer den Drang aus die gegenteilige Richtung einzuschlagen, so eindringlich war sie.
 

Während des Essens schweiften Yohjis Blicke gelegentlich zu dem Iren hin, maßen ihn schweigend, doch Yohji achtete darauf, dass er genauso häufig zu Ran blickte oder sich mit ihm länger unterhielt. Er war neugierig auf Farfarello, trotzdem war es wohl eher eine morbide Neugier.
 


 

o~
 


 

Im Zimmer war es nach wie vor dunkel, das Lichtermeer der Stadt reichte aus um mit ihrem kühlen Schimmer die schattenhaften Umrisse des Interieurs hervortreten zu lassen. Schuldig lag ausgestreckt auf dem Rücken in dem luxuriösen Bett, hatte den Unterarm über die Partie der Augen gelegt und versuchte noch immer den bohrenden Schmerz in seiner Brustgegend zu vertreiben.

Ran hatte Zweifel an ihm. Er zweifelte daran, dass er seine Entscheidung frei getroffen hatte, er glaubte, dass er von Schuldig beeinflusst worden war. Er misstraute ihm.
 

Noch immer.
 

Er würde nie aus diesem Misstrauen herauswachsen, nie mit bedingungslosem Vertrauen rechnen dürfen. Er würde sich immer dieses Vertrauen aufs Neue erkämpfen müssen, auch wenn er dieses Vertrauen nicht gebrochen hatte. Doch sobald neue Zweifel auftauchten, durch welche Gegebenheiten auch immer – er würde sich erneut beweisen müssen.

Im Zweifelsfall gegen den Angeklagten, lachte er zynisch und atmete tief ein, vertrieb den Kloß im Hals der ihm bitter erschien.
 

Er richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, konzentrierte sich auf seine Atmung. Es war an der Zeit, an andere Dinge zu denken, Nagi wartete auf ihn, denn sie mussten heute den Hauptteil des Auftrages erledigen. Trübe Gedanken an Ran würden ihn nur behindern und er hatte nicht vor sein Team deshalb zu gefährden.



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