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Der Glasgarten

von

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Flirting with Disaster

~ Flirting with Disaster ~
 


 

Trotz dieser recht unheilvollen Kommunikation, verlief das Abendessen der drei ohne weitere Komplikationen. Schuldig war entspannter aus dem Bad gekommen ohne ein Anzeichen von Schlägen oder sonstigen Misshandlungen, die Ayas Verdacht verstärkt hätten. So lehnte er sich relativ zufrieden zurück und nahm sich zusammen mit den anderen beiden eine zweite Runde. Sein Appetit hatte sich mittlerweile auf ein gutes Maß eingependelt, mehr als vorher, wenn nicht gerade Schuldig bei einem Auftrag verweilte und er aus Anspannung nichts aß.

Erwünschter Nebeneffekt war es, dass er zunahm, dieses Mal sowohl an Muskel- als auch an Fettgewebe, das ihm den einen oder anderen dummen Spruch des Telepathen einbrachte.

Wie auch heute, was Aya allerdings nur mit einer hoch gehobenen Augenbraue quittierte. Ebenso wie die Sprüche, die Brad zwar nicht in der gleichen Intensität, jedoch ähnlich stichelnd bekam.

Nach dem Essen machten sie sich fertig und gingen hinauf in die Bar um sich noch einen Drink oder zwei zu gönnen, bevor morgen der letzte Teil des Auftrags anbrach.
 

An der Fensterfront der Bar hatten sie einen wunderbaren Blick über das nächtliche Osaka. Es herrschte einvernehmliches Schweigen, zumindest, seit Schuldig sie verlassen hatte um bei dem Kellner die Getränke zu bestellen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Deswegen hatte er freundlicherweise den Weg zur Bartheke auf sich genommen und ließ Crawford und Aya nun in trauter Friedfertigkeit zurück.
 

Es war immer wieder spannend, wie viele Ausländer den Weg in ihr Hotel fanden und wie interessant sich diese Begegnungen gestalteten.

Fudo fand immer wieder Begeisterung darin, sich die Fremden anzusehen, vor allen Dingen denjenigen, der ihn nun schon seit ein paar Minuten unterhielt, vielmehr sich mit ihm unterhielt, aber irgendwie noch nicht dazu gekommen war, zu bestellen. Seltsam...

„Was treibt Sie in diesen Teil der Stadt? Geschäfte?“, fragte er mit der höflichen Geschäftsmäßigkeit eines Obers und ließ seinen Blick unauffällig von den hohen Wangenknochen in die grünen Augen des Ausländers schweifen.
 

„Ja. In der Tat. Wir sind auf Einladung unseres Kollegen aus Osaka hier.“Schuldig setzte sich auf den Barhocker. „Ich denke ich nehme einen Suntory mit Eis“, ließ Schuldig in ihr laufendes Gespräch einfließen und beobachtete den Barmann dabei wie er einen Cocktail für ein Pärchen mixte, welches unweit von Brad und Ran saß. Ran war natürlich der ‚Kollege aus Osaka’ obwohl er eher wie ein Tokyoter aussah und sich ebenso verhielt.

„Natürlich, gerne.“ Fudos Stimme war leiser, getragen und er machte das Tablett für seinen Arbeitskollegen fertig. Dann widmete er sich dem Wunsch seines Gastes und platzierte in gekonnter Eleganz den gewünschten Whisky auf die sie trennende Bartheke.

„Gefällt Ihnen unsere Stadt?“

„Oh ja. Ich mag das Essen!“, Schuldig lächelte sein umwerfendes Sunnyboylächeln und wusste die dolchstichartigen Blicke, die auf sein Profil prallten durchaus zu… schätzen.
 

Brad saß mit dem Rücken zu dem Verhängnis auf zwei Beinen und mutmaßte anhand der minimalen Veränderung des Gesichtsausdrucks seines Gegenübers, dass sich Schuldig köstlich amüsierte, bei was auch immer. Brad wandte den ruhigen Blick zum Kellner, der ihre Wünsche entgegennahm.

„Offenbar findet er es an der Bar gemütlicher“, sagte Brad zu Ran in ironischem Tonfall.
 

Aya wandte sich nach seiner Bestellung anschließend an das Orakel, erwiderte dessen Ironie mit einer erhobenen Augenbraue.

„So kann man das nicht sagen. Er findet den Barmann momentan faszinierender, als uns beide. Vielleicht die späte Rache dafür, dass du ihn ins Bad gesperrt hast.“ Dunkler als zuvor ruhte sein Blick auf Schuldig, der es sich in diesem Moment RICHTIG gemütlich machte. „Vermutlich kommt er den ganzen Abend nicht mehr zu uns.“
 

„Haben Sie sich denn schon die Stadt angeschaut? Ich könnte Ihnen einige Sehenswürdigkeiten empfehlen.“ Ganz untypisch japanisch, aber wie er in den letzten Jahren gelernt hatte, durchaus westlich, zwinkerte Fudo einmal. Nur kurz, sehr zurückhaltend, aber es war oft sehr gut angekommen. Vor allen Dingen wenn jemand auch körperlich interessanter war als der Rest der schwarz gekleideten Geschäftsmänner.
 

„Der Abend dauert gemessen an der langen Zeit der Nacht nur einen Wimpernschlag lang.“ Brads Blick glitt unauffällig über Rans Gestalt. „Er ist den ganzen Tag schon aufgekratzt wie… eine Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. Ich denke ihm fehlt Struktur und Ordnung…“ Brad verstummte, denn er dachte über seine Worte nach, die ihm im Nachhinein sehr zweideutig erschienen.
 

Damit gab er Aya Zeit, seine Überraschung in den Griff zu bekommen. Das, was der Amerikaner gerade hatte verlauten lassen, klang... dominant. Sehr dominant.

Genauso so dominant, als würde er Schuldig heute Nacht an ein Bett fesseln und ihm Verstand ins Hirn vögeln.

Auch er betrachtete sich Crawford, dessen in den Anzug gehüllte Gestalt. Ein heißer Schauer durchlief ihn, als er daran dachte, was Crawford Schuldig antun könnte.

„Und du willst ihm Struktur und Ordnung geben, indem du was machst?“, fragte er, als der Ober kam und ihnen ihre Getränke brachte. Die sie eigentlich von Schuldig hätten bekommen sollen!
 

„Im Normalfall hatte ich ihn in der Vergangenheit einen Aufenthalt in einer psychotherapeutischen Einrichtung spendiert. Bis er wieder klar denken konnte. Allerdings waren es andere Ursachen, als die Nachwirkungen von zu viel emotionalem Einfluss. Positivem emotionalem Einfluss. Die negative Problematik hatten wir bereits.“ Brad nahm seinen Drink auf und toastete Ran zu.
 

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass dein Pragmatismus dir manchmal das Denken erschweren könnte?“, fragte Aya und prostete Crawford mit seinem Suntory zu.

„Und da dies kein Normalfall ist, sondern Schuldig in seiner Bestform, solltest du dir etwas überlegen, was er mehr verlangt – wenn auch unbewusst – als einen Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt. Wer weiß, vielleicht wird er dann entführt... von irgendwelchen komischen Agenten.“ In Selbstironie lächelte Aya und wackelte kurz mit seinen Augenbrauen.
 

Brad hob ebenfalls eine Braue, allerdings sah es eher nach Spott als nach Ironie aus. Er schwieg einen Moment dazu. „Du meinst er, verlangt unbewusst danach, dass ich ihn auf die einzige Art zur Räson rufe, die ihn einst zu dem machte was er heute ist?“ Sein stahlharter Blick traf Ran bevor er ihn einen Moment später abwandte und sich unbewusst bequemer hinsetzte. Er lockerte seine Krawatte etwas.

Das Verhältnis zwischen Schuldig und Brad würde schwierig werden. Es WAR bereits schwierig und Schuldigs Unruhe war lediglich der Vorbote, den Brad nun erkannte. Er wusste selbst nicht, was er tun, was er davon halten sollte.

Schuldig an sich zu reißen, ihm körperlich, sexuell zu zeigen was er fühlte, ihn besitzen zu wollen, war der eine Punkt, was das in Schuldig anrichten könnte der andere.
 

Mit seinem Glas spielend, sinnierte Aya für einen Augenblick lang über die allzu bitteren Worte Crawfords. Sein Blick glitt von Schuldig wieder zurück zu seinem Gegenüber.

„Ja, genau das meine ich. Denkst du nicht, dass er zwischen dir und Kitamura unterscheiden kann? Denkst du nicht, dass er, gesetzt dem Fall, er würde dich auf Teufel komm raus nicht herausfordern wollen, sich dann anders verhalten würde? Er reizt dich, wo er nur kann. Er reizt deine Grenzen aus. Er übersteigt sie, in der Hoffnung, dass eine Reaktion von dir kommt. In seiner Definition heißt das dann vermutlich „auf die Eier gehen“.“

Brad lehnte sich in dem Sessel zurück und ließ die Panoramaaussicht des nächtlichen Osakas auf sich wirken.

„Kitamura hat ihn konditioniert. In vielerlei Hinsicht. Ich habe vielen Momenten beigewohnt in denen sich Schuldig gegen seinen Willen automatisch verhalten hatte wie ein… konditioniertes Tier, er konnte nichts dagegen tun.“ Es war Jahre her, doch er weigerte sich diese Bilder zu vergessen, er konnte sie nicht vergessen. Ebenso wenig wollte er Schuldig in ähnlichen Situationen erleben, womöglich noch durch ihn ausgelöst.
 

„Ich hatte die gleichen Befürchtungen wie du auch.“
 

Für eine Weile ließ Aya das so im Raum stehen, gab Crawford Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

„Du sagst es selbst: gegen seinen Willen. Damals hatte er keine Wahl. Er hatte keine Wahl, weil die Organisation es so wollte. Du warst nur der Überbringer. Der Überbringer und sein Lebensretter. Ohne dich wäre er gestorben.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Ayas Gesicht und es war ehrlich. Ein Funken Dankbarkeit lag darin, doch schnell war dieser Anflug von Emotion hinter einer neutralen Maske verborgen.

„Heute hat er die Wahl und diese Möglichkeit nutzt er. Nicht oft, aber er genießt es. Er braucht es manchmal. Doch dann ist es auch wieder gut.“
 

„Wir hatten früher des Öfteren körperliche Auseinandersetzungen…“, sagte Brad leise. Sein Blick ging nach draußen.

Nur damals hätte er nie ehrliches Interesse von Seitens des verrückten Telepathen in Absicht gestellt.

Wie oft waren sie sich nahe gekommen und wie oft hatten seine Hände sich gegen Schuldig erhoben ohne auf signifikante Gegenwehr zu stoßen.
 

Aya wurde sich bewusst, dass er hier mehr von Crawford... Brad... erfuhr, als in den letzten Monaten. Der andere Mann öffnete sich ihm in seinen Maßstäben.

„Körperliche Auseinandersetzungen sind auch eine Form der Nähe und des Stressabbaus. Die Einzigen, die er damals von dir bekommen hat.“

Brad schwieg dazu. Musste er nun davon ausgehen, dass Schuldig schon seit Jahren von ihm … nun… angetan war?

Weshalb zum Teufel verunsicherten derlei Dinge ihn plötzlich? Ohne es zu bemerken verschlossen sich seine Züge, wurden härter. Er konnte mit jeder Situation umgehen und hatte das auch einmal davon gedacht, dies über Schuldig sagen zu können. Er hatte geglaubt ihn im Griff zu haben und doch war er ihm von der Sekunde an entglitten seit er in seine Nähe gekommen war.
 

„Aber wen interessiert die Vergangenheit? Wenn sie uns interessieren würde, dann säßen wir alle nicht hier“, fügte Aya an, als Brad schwieg. „Gewisse Dinge außer Acht zu lassen, ist nicht ratsam, aber immer in den Geschehnissen von damals zu hängen, ist grob fahrlässig.“

Er schwieg, ließ seinen Blick zu Schuldig streifen, der nun äußerst... intensiv mit dem Mann flirtete. Einem Mann.

Bisher waren es nur Frauen gewesen.

Nun war es ein Mann.

„Wie dem auch sei, werter Brad, wir haben heute Nacht einen Auftrag“, schloss er dunkel, äußerst dunkel.

„Einen Auftrag?“ Brad war wohl sehr tief in Gedanken versunken gewesen. Er wandte sein Gesicht in Richtung Schuldig und hob eine Braue.

„Du meinst einen Erziehungsauftrag?“ Ginge man davon aus, dass Haie lächelten, so hatte Brads Gesichtsausdruck frappierende Ähnlichkeit mit einem, der gerade Appetit auf flauschige kleine Robben bekommen hatte. Sogenannten Blutdurst.
 

„Ist er nicht putzig, der kleine Racker... die Jugend von heute, einfach süß.“ Mochten Ayas Worte Zucker sein, so war die Intonation eine kleine, rote Chilischote mit etwas Wasabipaste serviert.

„Also, schon eine Idee?“
 

„Teeren und Federn ist out, oder?“
 

„Ebenso wie Vierteilen, die Streckbank und die eiserne Jungfrau, ja“, nickte Aya.
 

Fudo wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann mit ihm flirtete, so wie er manchmal seinen Blick abschweifen ließ, mal auf seine Lippen, mal nach etwas weiter unten. Auch die Stimme des Fremden hatte sich verändert, minimal nur, aber dennoch.

„Kann ich Ihnen noch einen Drink machen?“, fragte er, als er sah, dass dessen Glas leer war.
 

„Das Gleiche noch einmal“ Schuldig nickte einmal. „…sie spielen selbst auch?“, führte er ihr Gespräch über Baseball fort, während er darüber nachdachte wie lange er sich wohl hier in der Bar herumdrücken konnte, ohne dass es den beiden anderen großartig auffiel. Er seufzte innerlich und gestand sich seine Feigheit sogar ein. Was war er nur für ein Hasenfuß.
 

„Ein wenig. Nicht viel... ich arbeite viel. Aber wenn die Arbeit dann vorbei ist, schaffe ich es manchmal, im hiesigen Verein zu spielen.“

Fudo erledigte eine andere Bestellung, kehrte dann zu seinem aufmerksamen Gast zurück.

„Dürfte ich fragen, aus welchem Land Sie kommen?“

„Irland, von der grünen Insel sozusagen. Und ich denke, sie sind bestimmt ein guter Spieler, sie sehen aus, als würden sie es öfter zum Training schaffen.“
 

„Ich danke Ihnen, aber dem ist leider nicht so.“ Kurzes Bedauern huschte über Fudos Gesicht. „Irland... ist es so kalt und regnerisch, wie man allgemein sagt?“

„Die herrliche Landschaft macht das alles wieder wett!“, und alle haben rote Haare und Sommersprossen, meldete sich Schuldigs spöttische Stimme aus der Versenkung und er amüsierte sich ungemein über den ehrlichen jungen Mann, der Konversation übte mit einem sehr gut japanisch sprechenden ‚Ausländer’.
 

So.

Es war nun anderthalb Stunden später. Brad Crawford hatte sich vor 45 Minuten mit einem leicht teuflisch angehauchten Lächeln auf ihr Zimmer verabschiedet. Er müsse noch mit Nagi telefonieren. Sollte er.

Sollte er...

Nur dass Schuldig sich in der vergangenen Zeit nicht die Mühe gemacht hatte, wieder zu ihm zurück zu kehren.

Also erhob sich Aya – ihre Drinks liefen auf die hausinterne Kreditkarte – und kam zur Bar. Dem Barkeeper höflich zunickend, stellte er sich neben Schuldig und sagte leise und sehr langsam.

„Ich. Fahre. Jetzt. Nach. Unten.“

Dabei erreichten seine Augen gerade mal das Glas Whisky des Telepathen, seine Stimme drückte aber nicht im Mindesten Desinteresse aus. Eher im Gegenteil.
 

„Ah Shin-san! Natürlich. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Morgen Früh treffen wir uns beim Frühstück?“, mimte er den Kollegen, und lächelte seinem Kollegen gutmeinend ins Gesicht.

Ran würde nach unten fahren… und …

Schuldig linste an Ran vorbei zur Sitzgruppe – die leer war. Wo war Brad? Bereits im Zimmer? Würden sie beide auf ihn warten? Wann war Brad gegangen? Viel früher?
 

„Verschlafen Sie nicht, Edison-san. Sie wissen, das sieht unser Geschäftspartner nicht gerne. Eine gute Nacht wünsche ich.“ Aya vollführte eine leichte Verbeugung und verließ die Bar, innerlich blutige Rache schwörend.

Schuldig tat der Höflichkeit genüge und widmete sich wieder dem Flirten, dem Trinken und seinen düsteren Zukunftsvorhersagen für diese Nacht.

Ran kochte vor Wut… und Brad… den konnte er wie immer schlecht einschätzen. Er verspürte jedoch keine gesteigerte Lust heute Abend die Spielwiese für diese beiden Machos zu geben.

Vor allem beide zusammen… und so wie er sie herausgefordert hatte schwante ihm Übles. Vielleicht hatte er es doch zu weit getrieben. Er konnte sich vor Brads Augen nicht von Ran flachlegen lassen. Das… es ging nicht.
 

Diese und ähnliche Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum, während er sich mit Fudo unterhielt und sich schließlich eine halbe Stunde später verabschiedete.
 

Zunächst hatte er die feste Absicht nach unten zu fahren um noch eine Zigarette zu rauchen. Er verwarf die Idee noch im Aufzug und stieg auf ihrem Stockwerk aus. Sein inneres Ich lachte hämisch über seine Befürchtungen, allerdings nahm er ihm diesen Spott nicht ganz ab.

Seine Schritte wurden vom dicken Teppich im Flur verschluckt als er selbigen entlangging um schließlich vor Brads Zimmertür – zu halten. Sie hatten drei Zimmer reserviert. Zwei davon waren Standardzimmer, eines davon war eine der Luxussuiten.

Schuldig kündigte seine Anwesenheit bei Brad mittels einer leichten Berührung an dessen gedanklicher Schwelle an und öffnete die Tür. Bereits als die Tür nach innen schwang nahm er eine andere Person im Raum wahr, noch bevor er sie sah oder hörte. Es war seine gut ausgeprägte Intuition gepaart mit der Tatsache, dass er es gewohnt war Individuen im geistigen Sinne zu erspüren. Auch ohne dies willentlich einzuleiten. Im Zimmer empfingen ihn nur mehr das Licht der indirekten Beleuchtung, der Monitor vom Fernsehgerät in dem CNN lautlos sein Programm abspulte und der Monitor vom Bildschirm des Notebooks. Obwohl er Ran nicht lesen konnte, wusste er doch wenn dieser in einem Raum war, oder in der Nähe. Ein Umstand, der hier nicht zutraf.

Ran war nicht da. Doch jemand anderes war es. Und Brad.
 

Diese Tatsache verwirrte Schuldig und ließ ihn wachsam näher treten. Der Eingangsbereich bildete eine Nische, die sich drei Schritte weiter in einen offenen Raum öffnete. Schuldig ging näher und sein vorsichtiger Blick traf auf freien Raum und…
 


 

Die Schlüsselkarte, die er noch in der Hand trug bohrte sich in seine Handfläche als er die malerische Szenerie optisch erfasste. Gedanklich jedoch blieb sie ihm verwehrt. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf warum die rothaarige Zicke gerade hier auftauchte – zu diesem Zeitpunkt.
 

Manx stand im Türrahmen. Ihre langen Beine steckten in Stiefeln, mit hohem Absatz, danach kam etwas attraktives Bein und dann schloss sich ein Rock an, der unter eine passende Kostümjacke verschwand. Ihr rotes Haar war kunstvoll hochgesteckt und sie stand halb zum offenen Badezimmer an den Türrahmen gelehnt, in der Hand ein Glas roten Weines, welches zur Hälfte gefüllt war.
 

Schuldigs Mund wurde trocken, als er sah wie Brad dem ganzen Geschehen gegenüberstand: nämlich halbnackt. Er schien sich an der Besucherin nicht zu stören, denn er stand lediglich mit einem Badetuch um seine Hüften bekleidet am Waschbecken und fuhr sich mit einem Handtuch durch das noch feuchte Haar, während er ihr offensichtlich etwas erklärte. Schuldig hörte kaum die Worte, die er sagte, so aufgebracht war er innerlich.
 

Er stand stumm im Raum und betrachtete sich die beiden für einen langen Augenblick. Die Tatsache, dass er nichts sagte, sondern dort stand und Brad anblickte, als hätte dieser gerade von ihm verlangt sich auszuziehen und Pogo zu tanzen, war für Brad Beweis genug wie sehr Schuldig diese Situation verstören musste. Brad war jedoch nicht geneigt Schuldig aus seinem Schockzustand zu erlösen, so wie dieser sich den Abend über aufgeführt hatte. Auch wenn sich Brad etwas an Schuldigs Gesicht erinnert fühlte als Fei Long ihn in der Mangel gehabt hatte. Blass, mit offenem verletzlichem Blick. Brad wandte das Gesicht wieder seinem Spiegelbild zu, während Manx sich dem Neuankömmling zuwandte.
 

Manx grüßte den Telepathen mit einem höflichen Nicken. "Schuldig-san", sagt sie und wandte sich wieder ihrem eigentlichen Gesprächspartner zu.

Die Verstörtheit des Deutschen hatten sie sehr wohl wahrgenommen, wusste sie auch zu werten, doch sie hatte andere Sorgen.

"Ich nehme an, über die CIA-Informationen haben Sie noch nicht verfügt, Crawford-san?"
 

Sie war geschäftlich hier, morsten vernünftige Teile von Schuldigs Gehirn an sein empörtes Gefühlszentrum und er fuhr die negativen Gefühle, die sich bereits in ihm breit gemacht hatten und eine Revolte in seinem Inneren ausbrechen lassen wollten, herunter. Trotzdem war er vorsichtig und ging einige Schritte auf die beiden zu um zumindest vom Eingangsbereich weg zu kommen. Er traute der Japanerin nicht besonders, sehr wohl aber traute er ihr zu, dass sie ihre „Geschäftspartner“ hinterging.

Wo zum Teufel war Ran?
 

Brads Antwort fiel wie stets in solchen Situationen leidenschaftslos sachlich aus.

„Nein, Manx-san, dafür waren schließlich sie zuständig, ich überprüfe Daten nur dann nach, wenn sie mir unseriös erscheinen“, oder wenn er nicht schon vorausgesehen hätte, dass der CIA sich gerne in ihre Unternehmung einklinken würde. Die Hintergründe jedoch entzogen sich seiner bisherigen Kenntnis.
 

"Nun, die CIA zeigt ein deutliches Interesse daran, das momentan herrschende... Ungleichgewicht in Japan zu beseitigen. Ihnen ist es anscheinend ein Dorn im Auge, dass unsere Agenten abgeschlachtet werden. Sie haben mir Hilfe angeboten." Manx machte es sich trotz gegnerischer Präsenz in ihrem Rücken am Türrahmen gemütlich.

"Hilfe bei den Ungereimtheiten, die es im Sakurakawa-Clan gibt nach dem Tod der Ehefrau eines der wichtigen Mitglieder."
 

„Der Ehefrau, die einer plötzlichen Hirnblutung zum Opfer fiel?“, Brads Mundwinkel zuckten spöttisch, als er das Handtuch zur Seite legte und nach seinem Weinglas griff um einen Schluck vom Inhalt zu genießen.
 

„Sie fiel Jei zum Opfer“, wandte Schuldig neunmalklug ein um die Aufmerksamkeit der rothaarigen Schlampe von Brad abzulenken.
 

Dieser hob aufgrund dieses unnützen Einwandes lediglich eine Augenbraue. Schuldig schien ziemlich betrunken zu sein, wenn er seinen feinen Spott nicht bemerkte.
 

Schuldig hatte Erfolg mit seinem Tun. Manx wandte sich ihm zu, weg von Crawford.

"So. Und was wissen Sie noch, Schuldig-san?" Ihre Augen maßen den unfreundlichen Telepathen, der nie ihre Sympathie erlangt hatte. Nie. Auch nicht als Gegner, dazu war er zu verrückt.
 

Der Verrückte entledigte sich gerade seiner Anzugjacke, fühlte sich, da die Aufmerksamkeit nun auf ihm lag und er damit besser umgehen konnte, als wenn sie Brad zu nahe kam, wesentlich besser. Weder Jei, noch Nagi oder er selbst mochten es, wenn jemand sich zu sehr mit Brad beschäftigte und dabei spielten Schuldigs persönliche Vorlieben eine eher nachgeordnete Rolle.

„Ich stellte lediglich richtig, dass nicht eine Hirnblutung, wie vom Sakurakawa-Clan veröffentlicht, der Grund ihres Ablebens war, sondern eine oder mehrere Kugeln eines unserer fähigsten Mitarbeiter. Die Frage, die ich mir stellte, war… was geschah mit der Leiche? Gelang es Ihnen, sie zu obduzieren, oder nahm sich der Clan ihrer an? Denn offenbar haben die Männer, die Kudou in der Mangel hatten einen Mangel an Sorgfalt an den Tag gelegt, denn die Leiche, das Beweisstück ließen sie am Tatort zurück. Warum auch immer.“
 

Brad lächelte marginal. Schuldig war nicht so betrunken wie er zunächst vermutet hatte.

„Vielleicht waren sie sich zu selbstsicher, was ihre Tote angeht.“ Manx ließ ihren Blick prüfend über die Person des Deutschen gleiten, kam mit sich zu dem Ergebnis, dass es gar nicht mal so falsch war, diese Information weiter zu geben.

„Es gelang uns, nach den Informationen die Balinese uns übergab, das Leichenschauhaus zu orten, in dem sie aufgebahrt worden ist und eine DNA-Probe zu entnehmen, sowie Bilder von ihr zu machen.“

Brad seufzte, da er die Zukunft kommen sah…

Er nahm sich einen Bademantel vom Bügel und schlüpfte hinein, nur um sich wieder seinem Wein nach dem Gürten des weichen Gewands zu widmen. Er warf Schuldig einen warnenden Blick zu, den dieser wohl deutete und bewegte sich im Raum so, dass er zwischen Schuldig und Manx kam.

„Und sie haben WAS herausgefunden?“, spielte Schuldig seine Rolle als Frageonkel weiter, da Manx ohne eine Frage wohl keine Antwort herausrücken würde. Und Brad schien diese Antwort, die er schon zu kennen schien nicht zu gefallen.
 

Manx nahm einen Schluck Wein aus ihrem Glas zur Stärkung und stellte es ab. Besser, so rieten es ihre Instinkte und vielmehr, als dass ihr Wissen um die Gefährlichkeit des Telepathen, dass sie die Hände frei hatte. Sie löste sich vom Türrahmen und wandte sich ihm zu.

„Was wir ohne Probleme erkennen konnten, ist, dass sie Ausländerin ist. Oder war. Vermutlich Europäerin oder Amerikanerin, je nachdem. Ihre DNA, die wir untersucht haben, haben wir auf Verdacht mit einer verglichen, die wir bereits vorliegen hatten.“

Ihr Blick ruhte für einen Moment auf Crawford, der halb zwischen ihr und Schuldig stand um schließlich wieder zu ihrem Gesprächspartner zurück zu kehren.

„Mit Ihrer, Schuldig-san.“

„Was bezwecken sie mit ihren dramaturgischen Pausen? Sollen sie die Dramatik steigern oder haben sie noch keine Ergebnisse dieses Vergleichs vorliegen?“ Schuldig war langsam angepisst, vor allem wenn er daran dachte, dass sie DNA Proben von ihm hatten und diese wohl schon seit längerem. Er hatte das Gefühl, dass hier etwas total falsch lief und starrte Manx nicht gerade freundlich an.
 

Brad schwieg, blickte Schuldig für einen Moment taxierend an bevor er hinüber zum Tisch ging und sich dort aus einer Zigarettenschachtel einen der Glimmstängel hervorholte und ihn sich anzündete. Er rauchte nicht oft, aber das was noch kommen sollte, würde schwierig werden und es hatte auch ihn überrascht.
 

„Der Test ergab eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit ihr verwandt sind oder es waren. Woraufhin wir nachgeforscht haben, versucht haben, etwas über die Vergangenheit der Toten heraus zu finden. Es ist nur zu wahrscheinlich, dass sie Ihre Tante war, Schuldig-san.“ Noch verschwieg sie, woher sie die Probe hatte, wenn es überhaupt noch notwendig war, dies preiszugeben und wenn der Telepath diese Information nicht schon längst aus ihren Gedanken gezogen hatte.

Hatte der Telepath nicht.
 

„Woher haben sie die DNA Probe?“, wollte nun Brad leise wissen. Er wusste, wie sensibel es für ganz Schwarz, aber vor allem für Schuldig war, dass sein Erbgut in irgendwelchen Datenbanken herumschwirrte, für jeden zugänglich gemacht.
 

Schuldig war unterdessen damit beschäftigt alles zu verdauen. Seine Tante? Wie kam seine Tante… hierher nach Japan und weshalb? Und wie kamen sie zum Teufel noch mal an seine DNA?
 

„Als wir Sie damals aus der psychiatrischen Anstalt befreit haben, haben wir Ihnen eine Blut- und damit auch DNA-Probe entnommen. Sie waren zu dem Zeitpunkt völlig weggetreten.“ Ruhig in Stimme und in ihrer Mimik trug Manx das vor, was anscheinend Ran seinem Partner die ganze Zeit über verschwiegen hatte.

„Befreit?“, höhnte Schuldig und er trat einen Schritt vor. „Ich wüsste nicht, dass man Befreite an ein Bett fesselt und ihnen Blutproben ohne ihr Wissen abnimmt.“
 

Schuldig wollte noch viele andere Dinge sagen, wurde jedoch von Brads kühler Stimme unterbrochen. „Am besten du suchst Ran, wir haben einiges zu besprechen.“

Brad hatte in seiner Voraussicht gesehen, dass Schuldig losstürmen würde um das Gedankenchaos zu sortieren. Brad wollte ihm ein Ziel geben, an dass er sich halten konnte, denn einen ziellos schlecht gelaunten umherwandernden Schuldig brauchte weder Osaka noch der Rest der Welt.
 

Schuldig verstummte, sah Brad unentschlossen an, bevor er sich dafür entschied Ran zu suchen. Er stürmte aus dem Zimmer und vergaß dabei sowohl die Schlüsselkarte als auch sein Jackett.
 

Das war noch... glimpflich gewesen, sagte sich Manx, hatte jedoch das Gefühl, dass sie das einzig und alleine Crawfords ruhigem Vorschlag zu verdanken hatte. Dass nun Ran den gröbsten Ärger abbekommen würde, verursachte ihr kein schlechtes Gewissen. Dafür war Ran der Partner dieses unberechenbaren Kochkessels.

Dennoch.

„Er wusste nichts von einer Tante?“, stellte sie in den Raum und sah Crawford in die Augen.

„Es war nicht gerade geschickt, diese Information ihm gegenüber verlauten zu lassen. Es wäre durchaus sinnvoller und vielleicht… weniger kompliziert gewesen, wenn sie es mir zuerst gesagt hätten. Er ist zu labil für Überraschungen. Und er überrascht seine Umgebung dann ganz gerne mit Aktionen, die wie soll ich sagen… schwierig sein können. Nur so als Ratschlag für zukünftige Besprechungen“, sagte Brad verärgert. Schließlich hatte die Agentin keine Ahnung, und es war ihr auch völlig egal, so vermutete Brad, was diese Hiobsbotschaft in Schuldig anrichten würde. Selbst Brad wusste es nicht, er ahnte nur nichts Gutes. Und… es war ihm nicht egal.
 

„Diese Information musste ausgesprochen werden. Doch Sie haben Recht, Crawford-san, das nächste Mal werde ich sie in das Vertrauen mit einbeziehen.“ Vertrauen, ja klar. Als wenn sie jemanden in diesem Raum freiwillig vertrauen würde. Sie war heute hier, weil ihr die Möglichkeiten ausgegangen waren.

„Ich hoffe für ihn, dass Ihr Teampartner Ran findet.“

Schuldig stand unterdessen im Hotelflur und starrte auf die Anzeige des Lifts. Er hatte den Aufzug noch nicht geholt, denn die Gefühle, die mit den Gedanken über das was Manx ihnen gerade gesagt hatte einhergingen blockierten ihn. Er konnte die Gedanken noch nicht sortieren, es war zu chaotisch in seinem Kopf. Seine Tante? Die Schwester seiner Mutter?

Wer war sie und… Jei hatte sie getötet. Was hatte sie mit dem Clan zu schaffen… und Kudou… Kudou… er… sie hatte ihn bedroht…

Er stand immer noch so da bis jemand kam und auf den Knopf für den Lift drückte. Er wusste nicht wie lange er so dagestanden hatte, bis ihn der Liftboy, der im Aufzug stand auf Japanisch ansprach, welches er im ersten Moment gar nicht registrierte, da er zu sehr damit beschäftigt war in seinem Kopf nach Erinnerungen an seine deutsche Heimat zu wühlen.
 

Er bedankte sich und stieg mit ein, benannte sein Ziel, das erste Stockwerk und sie fuhren hinunter. Vielleicht war Ran zum Kai gegangen, denn das Hotel lag in der Nähe der Uferpromenade. Einige Zwischenstopps später öffneten sich die Türen und mit ihm stiegen noch andere Fahrgäste geschäftig aus. Es war zwar schon sehr spät aber das hieß in Osaka nicht viel.
 

Schuldig ließ seinen Blick über die mit Teppich ausgekleidete Eingangshalle gleiten, konnte jedoch kein Anzeichen dafür entdecken, dass Manx in Begleitung gekommen war. Bis auf den Portier, der einem Touristenpärchen europäischer Natur etwas erläuterte, den Rezeptionisten, der geschäftig Unterlagen sortierte und einem arbeitslosen Kofferträger, der sich trotz allem Nichtstun dienstbeflissen geben wollte – was zugegeben schwierig war – war nichts los in der Eingangshalle. Ran war also nicht hier unten und in die Hotelbar nach ganz oben wäre er nicht zurück gefahren. Es sei denn er wollte an dem Barkeeper Fudo tödliche Rache nehmen.

Diese amüsante Vorstellung brachte ihn auf andere Gedanken und legte ein Lächeln auf seine Lippen.

Die Freude hielt nicht lange an, denn als Schuldig vor die Tür trat, die Hände in die Hosentaschen gegraben erkannte er, dass Ran in unmittelbarer Umgebung des Hotels auch nicht zu finden war.

Die kühle Luft klärte sein alkoholgeschwängertes Gehirn etwas und er atmete tief durch. Wirklich intelligent war es nicht gewesen, sich einen Rausch anzutrinken, denn so waren seine Fähigkeiten stark beeinträchtigt.

Zwar merkte man ihm den betrunkenen Zustand äußerlich nicht an, doch er selbst wusste gut genug, dass es ab einem bestimmten Promillegehalt unmöglich für ihn war genug Konzentration aufzubringen um eine andere Person geistig zu lesen, zu beeinflussen, geschweige denn zu kontrollieren.
 

Er blickte zur rechten Seite und traf auf die dunkle See, die dort an den Kai schwappte. Kühler Wind zog an seinem Hemd und seinen Haaren. Die Scheinwerfer der Straßenlampen legten ihre Lichtkegel auf die Wellen.

Wieder besah er sich die Umgebung, doch hier stand weder ein auffällig geparkter Wagen des Auslandsnachrichtendienst der USA, noch lungerten hier potentielle übriggebliebene Kritikeragenten herum, oder trieben sich vermeintlich harmlose Touristenpärchen oder Jugendliche in der Nähe herum. Kritiker unterstanden der PSIA dem japanischen Nachrichtendienst und Schuldig war sich fast sicher, dass es Kritiker aufgrund ihrer Verluste und des scharfen Bombardement unter dem sie standen schlecht ging was das Thema Unabhängigkeit und Rechtfertigung vor der großen Mutter anging.
 

Für seinen Geschmack mischten momentan zu viele Geheimdienste mit und selbst wenn sich ‚Schwarz‘ rühmen konnte nicht ganz bescheuert zu sein, so wurde Schuldig doch ein wenig unruhig bei dem Gedanken, dass sowohl CIA als auch Kritiker um die Gunst Brads rangen. Wer war schon so verzweifelt einen Hellseher in die engere Wahl bei seinen Spionageangelegenheiten zu ziehen?

Früher hätte man wohl so gedacht. Vor allem wenn die Existenz eines solchen Individuums angezweifelt würde. Was der Großteil der Menschheit glücklicherweise tat.

Nicht so Brads Schwester…
 

Er seufzte und zog seine Hände aus den Taschen. Am linken Handgelenk trug er einen Haargummi, den er sich nun abstreifte und seine Haare so zusammenknotete, dass sie ihn durch den Wind nicht ins Gesicht geweht wurden und ihn behindern konnten.
 

Brads Schwester…
 

Der Gedanke ließ ihn inne halten, denn er war in Richtung Wasser gegangen. Nachdem er die Straße überquert hatte, blieb er stehen und blickte zu dem kleinen 7 Eleven Einkaufsladen hinüber, der 24 Stunden geöffnet hatte. Vielleicht sollte er sich einen Kaffee gönnen. Das würde zumindest die Chance erhöhen heute noch in Manx Kopf herumstöbern zu können. Es war ein magerer Hoffnungsschimmer, denn so schnell baute sich auch bei einem PSI Akteur der Alkohol nicht ab.
 

Wenigstens war seine Wut etwas verraucht. Seine Wut auf Manx, auf Brad und auf Ran. Bei genauerer Betrachtung folglich auf alle.
 

Schuldig steuerte den 7 Eleven an. Es war schon seltsam, dass fast zur gleichen Zeit Brads Schwester auf den Plan trat wie auch eines seiner Familienmitglieder wichtig oder viel mehr interessant wurde.
 

Er betrat den Laden und fand gleich am Eingang Zeitschriften und Zeitungen. Nachdem er sich für eine aktuelle Tageszeitung entschieden hatte ging er weiter zu den Kühlfächern. Zwei vegetarische Reissnacks gesellten sich zur Tageszeitung, denn er hatte die dunkle Ahnung, dass diese Nacht länger und anstrengender wurde, als er sich noch vorhin in der Bar ausgemalt hatte. Er ließ sich noch zwei Kaffee im großen Becher geben, einen schwarz, den anderen mit Zucker und Milch und bezahlte dann. Alles hübsch verpackt in eine fadenscheinig wirkende weiße Tüte verließ er den Laden und ging zum Kai.
 

Er versuchte sich daran zu erinnern was Kudou über die Frau gesagt hatte, die ihn dieser überflüssigen sexuellen Folter unterziehen wollte. War das wirklich seine Tante gewesen? Waren in dieser Familie alle übergeschnappt?
 

Er wanderte in Richtung Wasser, ging auf das Glucksen der Wellen zu. Ran mochte diese Stimmung, in der Ruhe der Nacht am Wasser zu stehen.
 

Auf den ersten Blick sah er niemanden, also setzte er sich auf eine Bank und nahm sich einen der beiden Kaffebecher. Er öffnete den Deckel und nahm einen Schluck. Es tat gut. Hinaus in die Dunkelheit über dem Wasser blickend fragte er sich warum er es nicht eiliger hatte Ran zu suchen, schließlich machte es ihn sonst verrückt, wenn er nicht wusste wo der Japaner sich herumtrieb.
 

Jetzt allerdings gab es zu viel zu bedenken. Hatte Ran von Manx Besuch gewusst? Warum hatte er ihm nichts von der Blutabnahme erzählt, wo er doch genau wusste wie paranoid und sensibel Schuldig – ja ganz Schwarz auf das Thema reagierte? Und genau dies war eingetreten, jetzt schwirrten in irgendwelchen internationalen Datenbanken DNA-Proben von ihnen herum. Gott. Das war übel.

Er selbst hatte nichts von Einstichen an seinem Körper bemerkt, auch Tage danach nicht. Wobei er da zeitweise nicht ganz er selbst gewesen war.

Schuldig presste die Lippen zusammen und wusste nicht wie sie diesen Schlamassel wieder bereinigen sollten. Und das mussten sie. Sie würden Nagi und Omi darauf ansetzen, falls der Takatori Sprössling sich darauf einließ.
 

Er bekam Angst, wenn er daran dachte, dass Forschungen mit ihren Daten betrieben wurden und wozu das führen würde. Egal was sie damit anstellten, nichts war so gut wie das Original selbst, aber man konnte dennoch nah genug herankommen um das Original in die Finger zu bekommen und davor graute Schuldig.

Lieber wäre er tot.
 

Er nahm wieder einen Schluck des warmen Getränks. Es erinnerte ihn an Brad und damit verbunden an Sicherheit und Wohlbehagen. Und an Nähe, an dunkle, seidige Wärme, an Ran. Wo zum Henker war dieser beleidigte Japaner, wenn er ihn brauchte?
 

Nicht da, eben weil er beleidigt war. Nun, beleidigt war nicht das richtige Wort, eher angesäuert, wenngleich er es eigentlich besser wissen sollte. Eigentlich. Schuldig wollte ihn nur reizen, das war klar, ihn triezen und Brad ebenso. Warum er dann so unvernünftig war und abends das Hotel verlassen hatte um sich abzukühlen, stand auf einem anderen Blatt.

Es war gefährlich alleine draußen, selbst für ihn. Gerade für ihn, durch seine Verbindungen zu Schwarz. Allerdings brauchte Aya in diesem Moment die kühle Brise der Seeluft, die Wellen, die ans Ufer schwappten und die Stille, wie er hier am befestigten Ufer entlang lief, immer einen wachsamen Blick auf seine Umgebung.

So entging ihm auch nicht die einsame Gestalt, die dort auf der Promenade saß und die Aya im ersten Moment, in dem er nicht erkannte, wer es war, nach seiner Waffe greifen ließ. Ruhig und bedächtig ging er näher, all seine Sinne geschärft auf die mögliche Gefahr, bevor er sah, um wenn es sich da handelte.

Den Stein des Anstoßes.

Dem deutschen Kobold, der es nicht lassen konnte.

Dem Mann, dem er sein Leben und seine Liebe gegeben hatte.

Aya blieb stehen und seufzte tief.

Sein Herzinfarkt und Schrittmacher zugleich.

Langsam kam er auf Schuldig zu, löste sich aus der Dunkelheit in die laternenbeschienene Helligkeit der Promenade.

"Hast du genug vom Flirten mit dem Kellner?", fragte er, als er in Hörweite war und lächelte leicht.
 

Schuldig hatte bereits intuitiv – trotz seiner alkoholbenebelten Sinne – gespürt, dass sich jemand näherte und nur Rans Gang hatte ihn verraten. Erleichtert verzog Schuldig den Mundwinkel zu einem müden Lächeln. Er blickte zur Seite und kramte aus der Tüte den zweiten Kaffee hervor. „Möchtest du? Heiß und schwarz“, bot er an und hielt ihn Ran hin.

„Es wäre besser gewesen ich hätte mich weiterhin dem Flirten zugewandt. Fudo ist besser, als alles was danach kam.“
 

Aya griff sich den Kaffee und nahm einen dankbaren Schluck. Lecker. Schwarz und lecker.

Er runzelte die Stirn.

"Was kam denn danach?" In seiner Fantasie malte er sich das Schlimmste aus, blieb aber schlussendlich dabei, dass Brad vermutlich ein solches Machtwort gesprochen hatte, dass Schuldig geflüchtet war. Kluger Junge, lobte Aya ihn innerlich. Nach der Show, die er ihnen geboten hatte, war nicht nur er sehr bestrafungsbereit gewesen.
 

Schuldig schloss sich Ran an und nahm einen Schluck seinerseits von dem guten Kaffee. Sein linker Arm lag ausgestreckt auf der Rückenlehne der Bank. Er sah zu Ran hoch.

„Warum hast du mir nie erzählt, dass ihr mir damals nach der Entführung aus der Psychiatrie Blutproben entnommen habt?“

Er fragte sich ob es wichtig war was Ran jetzt antwortete. Ob es überhaupt eine Rolle spielte. Selbst wenn Ran jetzt sagen würde, dass alles inszeniert war, dass er das ganze restliche Jahr für Manx gearbeitet hatte, dass dies alles nur eine große Show war. Schuldig spürte wie sein Mund trocken wurde und er suchte Rans Augen. Nein. Ran war echt. Er war das wahrste und echteste was es in seinem Leben gab.
 

In dem Moment, in dem Schuldig das letzte Wort seiner Frage ausgesprochen hatte, fiel es Aya wie Schuppen von den Augen und er starrte Schuldig entsetzt an.

Ja, sie hatten Schuldig damals Blut abgenommen.

Ja, er hatte es Schuldig damals verschwiegen, aus Rache an seiner Gefangennahme und in der Hoffnung, dass wenigstens DAS Erfolg hatte.

Als seine Schwester gestorben war, hatte er es... vergessen. Er hatte es schlicht vergessen.

Und nun, natürlich hätte er sich denken können. Nun war...

"Woher weißt du das?", war das erste Ungeschickte, das er fragte, bevor er sich selbst für diese Antwort umbringen konnte.

"Ich habe es vergessen damals. Erst wollte ich es dir nicht sagen, weil du mich gefangen gehalten hast. Dann habe ich es über den Tod meiner Schwester vergessen."
 

Schuldig schwieg im ersten Moment. Dann besann er sich, denn Rans entsetztes Gesicht sagte ihm, dass es ehrliches Erstaunen darüber war was Schuldig ihn gefragt hatte. Ran war stets kontrolliert und wäre Ran nicht der, der er vorgab zu sein, dann wäre die Maske, die Ran oft zur Schau trug jetzt ebenfalls in Erscheinung getreten.

Doch dieses Gesicht war Rans. Etwas, dass er in seiner Gegenwart erst gelernt hatte, Emotionen zu zeigen. Sie ihm zu zeigen. Und das unbewusst.

Schuldig lächelte bei diesem Gedanken. Auch wenn es ein trauriges Lächeln war.

Ran konnte über seine Schwester schon etwas ruhiger, sicherer sprechen. Das war auch ein Fortschritt, den sie gemeinsam gemacht hatten. Ran hatte es also vergessen ihm zu sagen. Er konnte das verstehen. Sehr gut sogar.

Er hatte in seinem Leben schon Wichtigeres vergessen.

Schuldig sah wieder aufs Wasser hinaus. „Manx ist oben. Sie hatte eine kleine Unterredung mit Brad, in die ich hineingeplatzt bin“, sagte er tonlos.
 

"Manx?!"

Aya kam sich recht dumm vor mit seinen dummen Nachfragen und versuchte sich zu fangen. Den Kaffee noch in der Hand ging er auf Schuldig zu und vor ihm in die Hocke.

Ihm die Hände auf die Knie legend, sah er ihm in die Augen. "Es tut mir leid. Schu, es tut mir so leid."
 

Es dauerte bis Schuldig seinen Blick zu Ran wendete um diesen zu erwidern. Er war nicht beleidigt, oder nachtragend. Aber er versuchte in diesem Moment zu unterdrücken was nach außen wollte. Ein gemeines Lächeln trat in seine Gesichtszüge und er nahm den Kaffeebecher um es zu tarnen. Was ihm schlecht gelang, wie er zugeben musste. „Das hört sich fast so an, als ständest du in meiner Schuld?!“ Er neigte den Kopf, beugte sich etwas vor und zog seinen Arm von der Lehne um Rans Schläfe zu berühren, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn gab.
 

Einerseits sah er Ran gerne in dieser Pose, ihn trösten wollend, um Verzeihung bittend mit dieser Geste, denn es kam gar nicht bis sehr selten vor, dass dies geschah. Andererseits schmeckte es ihm zu sehr nach dem Verlust von etwas, dass er mochte, nämlich Rans Stärke. Wenn er jedoch genau darüber nachsann, war es gerade diese Stärke, die es Ran möglich machte ihm Trost zu spenden.
 

"Schon wieder? Mein Schuldenberg wird ja bald so hoch wie unsere Staatsverschuldung", gab Aya einen kleinen Witz von sich zum Besten. Er stellte seinen Kaffee neben sich auf den Boden und griff sich die Hand.

"Wobei die Frage ist, was ich dir für deinen Flirt mit dem Barkeeper anrechne." Er hob die Augenbraue, wurde dann aber ernst.

"Was macht Manx bei Brad?", fragte er. "Was macht sie HIER?"
 

Schuldig nahm seine Hand zurück, strich ein letztes Mal über Rans warme Haut bevor er seine Unterarme auf die Knie stützte, den Kaffeebecher zwischen den Fingern. Er blickte wieder hinaus aufs Wasser.

„Keine Ahnung. Ich kam rein, in der Erwartung, dass Brad mich mies gelaunt empfängt… was in gewisser Weise Absicht gewesen wäre“, räumte er schmal lächelnd ein.

„Und da stand er, nur mit Handtuch um die Hüfte, wie aus einem Werbespot von Paco Rabanne. Vor ihm hatte er ein Weinglas stehen und er war gerade dabei seine Haare zu trocknen. In der Tür stand Manx, in einem ihrer üblichen perfekten Outfits, ebenfalls mit Weinglas bewaffnet. Ein harmonisches Bild. Ich platzte mitten in das Gespräch. Ich war noch mitten im Schock, als sie mir eröffnete, dass die Leiche der Frau, die Jei kalt gemacht hat meine Tante zu sein scheint. Als ich fragte woher sie das wisse, faselte sie etwas von DNA, und Blutabnahme.

Ich weiß nicht mehr über was ich mich zuerst aufregen soll. Die Tatsache, dass sie hier ist, dass sie Brad in Beschlag nimmt, dass sie Blutproben entnommen hat, dass ein Familienmitglied von mir etwas mit dem Sakurakawa-Clan zu schaffen hat, die mich umbringen wollen, oder dass dieses Mitglied, genauso verrückt wie ich ist, wenn man die Praktik bedenkt, die Kudou erfahren hat. Oder beinahe erfahren hat. Oder… sollte ich mich darüber aufregen, dass der einzige vielleicht noch lebende Teil meiner Vergangenheit tot ist und ich es noch nicht einmal betrauere.“ Er schwieg.

„Ich habe keine Ahnung mehr, was ich denken soll.“ Schuldig fuhr sich mit der Hand über die zurückgebundenen Haare und nahm den letzten Schluck Kaffee. „Zudem, bin ich so voller Alkohol, dass ich niemanden in irgendeiner Form gefährlich werden kann. Was für ein toller Abend.“
 

Das wusste Aya auch nicht mehr. Schuldigs TANTE? Tante... wie Schuldigs Tante war die Tote?

"Das ist doch nicht ihr Ernst", sagte Aya fassungslos und setzte sich auf seinen Hosenboden, nahm einen großen Schluck Kaffee.

"Wusstest du von dieser... deiner Tante?" Familie, Schuldig hatte Familie! Vielleicht lag sogar die Betonung auf hatte, wenn Jei sie umgebracht hatte. Doch das hieß, dass Schuldig mit dem Clan verwandt war. Oder der Clan mit Schuldig. Das war... kein Zufall. Nein, konnte es nicht sein.
 

„Sie sah nicht aus als würde sie scherzen“, bemerkte Schuldig auf Rans erste Worte.

„Und… nun… ich wusste schon, dass meine Mutter noch eine Schwester hatte. Sie hat schließlich abgelehnt mich aufzunehmen. Weil ich ein Problemkind war, schien das auch nicht schwierig zu sein. Zumindest glaube ich das. Es ist…“ Er stöhnte und nahm sich eines der Reissnacks. Hielt ihn fragend Ran hin. „Vegetarisch.“
 

"Wenn… alles so wäre, wie wir es uns bisher dachten, dann hasst sie dich. Euch, Schwarz, dich..." Aya nahm ihn an und biss hinein, frustriert an Schuldigs statt.
 

„Hasste… sie ist tot. So viel Zeit muss ein“, korrigierte Schuldig ironisch Rans Vergangenheitsfehler in der Grammatik.

Er nahm sich den zweiten Snack und wickelte die Folie ab, den leeren Kaffeebecher in die Tüte zurück stellend.

„Nein, ich glaube auch nicht, dass sie mir wohl gesonnen war, wenn ich daran denke, dass sie Kudou mit unseren Spielzeugen bekannt machen wollte. Ich denke, man kann da durchaus von Hass sprechen. Die Frage ist warum. Und was hatte sie mit dem Clan zu schaffen?“ Er biss von dem Reis und dem Gemüse ab. Sie schwiegen eine Weile.

„Sie kannte mich nicht. Warum sollte sie einen solchen Hass auf mich entwickelt haben? Vor allem… wenn diese Typen mit der Familie im Zusammenhang stehen… meine Tante ebenfalls… alle machen Jagd auf Schwarz… was bedeutet das? Vor allem die Tatsache, dass wir sie mit unseren Fähigkeiten nicht erfassen können…“ Sein Blick glitt zu Ran.

„Wir brauchen meine DNA, Ran. Ich kann nicht zulassen, dass damit etwas geschieht. Egal wie, aber wir müssen diese Daten vernichten. Allein die Tatsache, dass ich weiß, dass ein Familienmitglied mit ähnlicher Signatur mit den Typen die uns vernichten wollen und dem Clan zusammen gearbeitet hat stellt mir die Haare auf. Und davon habe ich viele, Ran“, witzelte er, allerdings lachte er dabei nicht.
 

Aya auch nicht. "Es ist vermutlich schon zu spät. Kritiker hat deine DNA, eine unbekannte Gruppierung vernichtet Kritiker. Wer weiß, wie viel sie schon wissen? Wer weiß, wie viel schon mit dieser DNA angestellt wurde?

Vielleicht hängt es ja damit zusammen? Die Entnahme deiner DNA mit dieser Resistenz der Gruppe gegen eure Fähigkeiten?"

Aya senkte den Kopf und stützte ihn auf seine Hände. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

"Kannst du deine Spuren nach Deutschland zurückverfolgen? Denkst du, es war damals ein Zufall, dass dich SZ aufgegriffen haben?"
 

„Damals dachte ich es.“ Schuldig biss von seinem Reissnack ab. Er hatte zwar keinen Hunger aber er musste seinen Magen etwas zu tun geben.

„Ich sollte in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten suchen. Dafür brauche ich eine andere Umgebung, Ruhe und die nötige Absicherung. Es kann lange dauern bis ich dort hin zurückfinde. Tage. Ich weiß nicht wo ich suchen muss. Ein anderer Akteur sollte in der Nähe sein und ich brauche eine Möglichkeit wohin ich mich zurückziehen kann, einen Ort an den ich zurückkommen möchte.“ Sein Blick kehrte zu Ran. „Machst du mit?“

Brad wäre nicht begeistert von dieser Idee und Ran musste nicht wissen, wie gefährlich es für Schuldig war eine derartige Suche an sich selbst durchzuführen. Die Frage war nur wie er zu Ran zurückkommen sollte, wenn dieser ihn nicht einließ. Er konnte nicht sagen wie lange es dauerte, bis er die Informationen hatte, die er brauchte, die sie suchten.

Vielleicht war es auch gar nicht nötig, dass er ausgerechnet zu Ran zurückkehren musste, vielleicht reichte es allein zu wissen, dass er da war. Es musste vielleicht gar kein geistiger Fixpunkt nötig sein.
 

Er wusste es nicht, denn er hatte keinen Mentor, der ihm in diesem Fall Ratschläge geben konnte. Ihre Mentoren hatten sie in der Kathedrale beseitigt. Fragwürdige Mentoren, zugegeben, aber solange Schwarz ihnen nützlich war halfen sie ihnen.
 

Aya sah hoch. "Natürlich mache ich mit, wenn es dir hilft. Aber ist es nicht gefährlich?" Ungeachtet Schuldigs Absicht, Aya zu schonen, stellte dieser die Frage, die ihn selbst beschäftigte. Natürlich würde er ihm helfen, doch Schuldig hatte ihm schon einmal die Gefahren eines tiefen Eindringens in eine andere Psyche erläutert, wieso also sollte es bei ihm selbst anders sein?

Oder er lag hier vollkommen falsch, aufgrund falscher und lückenhafter Informationen.
 

Schuldig biss in den Reissnack in Ermangelung einer schnellen Antwort. Denn würde er zu schnell antworten, wäre es sicherlich verdächtig. Also kaute er ausführlich, schluckte und zog ein gewichtiges Gesicht.

„Nein, ist es nicht. Keine Sorge. Das ist wie eine Rückführung, oder Hypnose, also nichts wirklich Dramatisches.“ Er seufzte. „Ich brauche nur Ruhe und die Gewissheit, dass ich in Sicherheit bin, da ich keine Verbindung zur Realität haben werde.“
 

Die Antwort sorgfältig abwägend, erhob sich Aya schließlich und legte Schuldig eine Hand auf die Schulter.

"Also gut. Komm mit hoch. Es wird frisch und dort oben wartet noch eine Herausforderung auf uns." Selbst seine Stimme klang nicht wirklich überzeugt davon, doch Schuldig folgte ihm. Niedergeschlagen, müde, in sich gekehrt.

Aya konnte es verstehen und kurz nachdem sie im Aufzug waren, bedachte er den Rücken des Telepathen mit einem aufmunternden Streicheln. Der jetzige Kampf würde vermutlich hart genug werden.
 

Er öffnete die Zimmertür und sah sich einem angezogenen Crawford gegenüber, der mit Manx auf der Sitzgruppe saß, die Gläser Wein immer noch vor ihnen.

Soweit zur Gemütlichkeit.

Ihr Bick traf den seinen, als er den weitläufigen Raum betrat und maß ihn wie immer abschätzend, durchbohrend, analysierend. So wie sie es immer getan hatte.

"Manx", grüßte er höflich und sie erhob sich.

"Ran, ich freue mich zu sehen, dass du wohlauf bist." In der Gegenwart von Schwarz, schwebte es zwischen ihnen, doch Aya ging nicht auf die Provokation ein.

"Das gleiche gilt für dich. Ich freue mich zu sehen, dass du es dir hier gemütlich gemacht hast", erwiderte er und kam zu ihr. Manx' Blick ging derweil zu Schuldig.

"Ich würde gerne ein paar Dinge über Ihre Tante erfahren, Schuldig-san."
 

„Ach würden sie? Ich würde auch gerne viele Dinge…“, fing er in dem Tonfall an, der Brad sagte, dass dabei nichts Gutes heraus kam.

„Schuldig…“, mahnte dieser auch prompt.

„Ich würde zum Beispiel Ihnen gerne das Hirn weich kochen. Aber da mein Boss etwas dagegen hat, werde ich wohl darauf verzichten müssen, so leid es mir tut“, meinte Schuldig bedauernd.

„Gehen Sie und sterben Sie an einem anderen Ort. Aber ich empfehle Ihnen es bald zu tun, und zwar bevor ich wieder aus der Dusche komme.“ Ihm war es sehr ernst. Der Spaß war sowohl aus Stimme, als auch aus seiner Mimik gewischt. Was selten genug vor kam.

Schuldig würdigte sie keinen Blickes mehr, sondern ging ohne Umschweife ins angrenzende Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Das Licht war angesprungen, er zog die Schuhe aus, und pflückte sein Hemd aus der Hose… er brauchte eine Dusche. Eine kalte lange Dusche.
 

Unterdessen hatte Brad für einen winzigen Moment die Sorge überfallen, dass der nächtliche Besuch des rothaarigen Vamps ein unschönes Ende finden würde.

Sein Blick war zu Ran gegangen, der sowohl Manx als auch Schuldig erreichen hätte können, aber da keine Vision die mögliche Katastrophe angekündigt hatte, blieb alles im grünen Bereich. Nur die Stimmung war gekippt. Was natürlich Manx schuld war.
 

"Das war nicht das Beste, was du sagen konntest", sagte Aya ungerührt und schüttelte mit dem Kopf.

"Es ist mit der einzige Strohhalm, den ich noch habe, Ran", kam es hart zurück, hart in Worten und hart in ihrer Mimik, als sie sich erhob. "Meine Agenten sterben. Hättest du nicht aufgegeben für das Gute zu kämpfen, wüsstest du, was es heißt, sich zu sorgen, also sage mir nicht, dass es falsch war, das zu fragen. Sage mir das nicht, Ran Fujimiya."

Seine Augen verengten sich.

Aufgegeben? Er hatte AUFGEGEBEN? Er hatte es NIEMALS aufgegeben, für das Gute zu kämpfen.

"Vielleicht solltest du wirklich gehen, Manx. Schnell gehen, wenn das Einzige, womit du schießen kannst, haltlose Verleumdungen sind."

"Du weißt, dass ich Recht habe."

"Geh."

Manx wandte sich an Crawford und deutete ein leichtes Nicken an. "Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich einen neuen Sachstand habe. Oder wenn weitere Agenten getötet werden." Aya einen intensiven, kalten Blick zuwerfend, verließ sie das Hotelzimmer.
 

Aya hatte dagegen einen brennenden Blick für Crawford übrig, als sei ER persönlich dafür verantwortlich.

„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragte Brad aufgrund des intensiven Blicks, der auf ihn niederstach. Er entsorgte den Rest der Zigarette im Aschenbecher.

"Wusstest du, dass sie kommen würde? Wusstest du, dass Schuldig auf sie treffen würde? Hältst du das nicht für etwas... ungeschickt?", kamen auch schon die Anschuldigungen.

„Ja. Ja. Und nein.“ Brad legte den Kopf in den Nacken und sah sich den personifizierten Racheengel aus halbgeschlossenen Augen an.
 

"Du willst mir also ernsthaft weismachen, dass ein wütender Schuldig deine Absicht war? Ein Schuldig, der aus heiterem Himmel erfährt, noch ein Familienmitglied gehabt zu haben. Ein psychopathisches Familienmitglied."
 

„Was haben denn meine Absichten mit der Tatsache zu tun, dass Manx hier war, dass ich davon wusste und dass sie auf Schuldig treffen würde?“ Brad hob den Kopf wieder aus dem Nacken, stellte sein Glas ab, das nun leer war und erhob sich. Er ging auf Ran zu. „Wie kommst DU zu der Annahme, dass ich wusste, mit welchen Informationen sie hier aufschlagen würde? Und wie kommst DU auf die Idee mir vorzuwerfen, dass dies meine Absicht war?“

Er stand vor Ran, sehr nah, fast auf Tuchfühlung.
 

"Weil du immer alles weißt." Auf diese nahe Entfernung hin musste Aya zu Brad aufsehen, während der Duft des Aftershaves mit seinen Zungen an Ayas Geruchssinn leckte und ihn narrte, dass er dieses Aftershave doch sehr gut kannte. Und dass es in ihm wie immer ein Gefühl von Erleichterung hervorrief.
 

Die Dusche fing an zu rauschen, während Stille den schmalen Raum zwischen ihnen füllte.

„Die Annahme ist falsch. Und sich darauf zu verlassen kann gefährlich sein.“ Brad beugte sich etwas näher zu Ran, streifte mit den Lippen hauchzart über die Wange, während er ihm die Tüte abnehmen wollte, die augenscheinlich mit etwas gefüllt war. Wenn auch nicht sonderlich schwer, wie sich herausstellte. Dann richtete er sich auf.

„Verzeihung“, sagte er aalglatt, leckte sich wie beiläufig über die Unterlippe und lugte in die weiße Tüte. „Ihr habt mir nichts mitgebracht.“
 

„Doch, haben wir“, kam es ruhig von Aya, ruhig, aber dunkel in Worten und Gestik. Brad sah nicht alles voraus? Er täuschte sich in seiner Annahme?

Das würde er doch gleich sehen.

Aya trat einen energischen Schritt vor und packte Brads Pullover, zog den anderen zu sich heran und ließ ihre Lippen gewaltsam kollidieren. Die Berührung gerade war fast zu viel gewesen in diesem Moment. Warum, das konnte Aya noch nicht einmal wirklich sagen, doch... zu viel. Er musste Energie loswerden.

In dem Moment, in dem sich Brad wegdrehen wollte, fand er sich bereits in intimen Kontakt zu dem Japaner und Brad wusste nur eines mit Sicherheit, dass der Japaner definitiv zu viel getrunken hatte. Eine derartige Herausforderung quittierte sein Körper zunächst mit einer jahrelang trainierten Abwehrreaktion. Seine Hand schnellte vor und legte sich um die Kehle des anderen. Schnell jedoch wurde der Griff nachsichtig, sanft. Trotz dem diese Lippen, die ihn gerade etwas verwirrten meist einen verkniffenen Zug an ihren Rändern trugen, waren sie nun einladend weich und in ihrer Versiertheit alles andere als verkniffen. Nun, wo Ran, die Büchse der Pandora geöffnet hatte, war Brad gespannt ob er das was nach draußen kroch auch beherrschen konnte. Brads Hand lag fest auf Rans Kehle und Brad forcierte das was eher als Hautkontakt angefangen hatte zu einem energischen Schlagabtausch
 

Aya genoss den harten Widerstand, die rohe Begierde, die ihm hier entgegen strahlte. Brad zwickte ihn, wollte ihn dominieren, ihn niederringen, doch Aya ließ ihn nicht.

Dort, wo die Hand an seiner Kehle zu einer Drohung wurde, wurde seine eigene Hand an Brads Gürtelschnalle zur selben Drohung.

Aya biss leicht in die unnachgiebigen Lippen.
 

Brad ließ sich dadurch nicht stören, er drang zwischen Rans Lippen, touchierte das spitzzüngige Pendant und zog sich ebenso schnell zurück, nur um die Tüte fallen zu lassen und Rans Hand von seiner Gürtelschnalle zu ziehen. Abschließend kosten seine Lippen feucht über die des Japaners bevor er sich zurück zog.

„Er wartet auf dich.“ Schlug er vor, die Stimme wie stets beherrscht, die Augen fixierten die violetten Iriden.
 

"Und er sehnt sich nach dir", lächelte Aya dunkel und schmeckte Brad auf seinen Lippen nach. Er drehte sich um und ging in Richtung Bad, öffnete die Tür. Garantiert hatte Schuldig etwas mitbekommen von ihrem… Kampf, denn nichts anderes war es gewesen. Das, was sie früher mit Worten ausgetragen hatten, war heute zum ersten Mal in einer extremen Form der Körperlichkeit ausgebrochen.

Sein Blick wanderte auf Schuldig und er musste lächeln.
 

Das Wasser rauschte nun nicht mehr kalt wie zu Beginn seiner Duschsession, die er dazu benutzt hatte um etwas runter zu kommen, um nachzudenken. Andere hatten Sessions bei ihrem Therapeuten. Aber wo gingen Telepathen hin wenn sie ein wenig Ruhe und die Gelegenheit brauchten um ihre Gedanken zu sortieren, sie hin und her zu wälzen und sie schlussendlich als Bull shit abzuhaken? Kalt duschen. Das half.

Er hatte durch das Rauschen des Wassers hindurch gehört, wie die Tür sich geöffnet hatte und wie jemand hereingekommen war. Brad… war sehr unwahrscheinlich, er würde ihn in Ruhe lassen, bis Schuldig zu ihm kommen würde.

Ran. Es konnte nur Ran sein. Schuldig hatte dem offenen Raum, der offenen Dusche den halben Rücken zu gekehrt, die Stirn auf seine gekreuzten Unterarme an die Fliesen gelehnt. Das Wasser prasselte warm auf seinen Rücken.

Er wandte das Gesicht leicht zur Seite, sah die Schuhe und erkannte an ihnen, dass er mit seiner Vermutung Recht behalten hatte.

„Glaubst du, es wäre anders gelaufen, wenn sie nicht in die Psychiatrie gekommen wäre? Wenn sie in mir nicht den Teufel gesehen hätte? Wäre dann alles anders gelaufen?“, fragte er mit halb geschlossenen Lidern.

Das waren Gedanken, die er sich geschworen hatte, dass sie ihn nie wieder belästigen würden, doch sie waren aufgetaucht, mit dem Wissen um seine Tante, dem Wissen, dass sie existiert hatte und dass sie ihn gehasst hatte. Schon wieder jemand, der das was er war, sein Wesen hasste. Er wusste, dass das alles nicht wichtig war. Wichtig waren andere Dinge. Ran, Brad, Schwarz, waren wichtig. Ihre Sicherheit.

Er war trotz dem Wissen um die elementaren, die wichtigen Dinge, verwirrt. Nein, nicht verwirrt, er fühlte sich kurzum beschissen.
 

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. SZ hätten dich wahrscheinlich so oder so gefunden durch ihre anderen PSI-Akteure.“ Vielleicht hätte Schuldig aber auch eine glückliche Kindheit und ein sorgloses Leben führen können, meldete sich Ayas naiver Teil zu Wort, den er insgeheim auslachte. Nein, diese Möglichkeit bestand nicht.

Einen Schritt vortretend und sich an den marmornen Waschtisch anlehnend, verschränkte Aya die Arme. „Doch diese Gedanken sind müßig, Schu. Es ist die Vergangenheit und es gibt niemanden, der die Zeit zurückdrehen kann. Niemanden.“ Ein trauriges Lächeln trat auf seine Lippen. Natürlich wäre es zu wünschen, dass von Zeit zu Zeit mal jemand eben jenes Rad zurückdrehte und einfach alles gut machte.

Utopie.

Aya wollte etwas Tröstliches sagen über den Verlust von Schuldigs Familie, doch er konnte es nicht. Alles, aber auch wirklich alles, schien zu kitschig zu sein.
 

„Was wollte sie hier? Mir reindrücken, dass meine komplette Familie verrückt ist?“ Schuldig verzog den Mund abfällig, sah Ran immer noch nicht an.

„Oder gabs noch etwas Sinnvolles was dein Boss uns mit ihrer Anwesenheit mitteilen wollte?“

"Nein, sie befürchtet vermutlich, nun auch ihren letzten Einfluss zu verlieren und Kritiker vollkommen zerschlagen zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Außerdem ist der Zufall zu groß, als dass sie ihn verschweigen könnte." Dass Manx durchaus Genugtuung daran empfinden könnte, Schuldig eben dies mitzuteilen, war für ihn klar.

"Übrigens, wenn sie mein Boss wäre, Schuldig, dann würde ich hier nicht so seelenruhig stehen."
 

„Wer weiß… wer weiß das schon“, sagte Schuldig nachdenklich leise. Er fühlte sich verlassen. Von allen verlassen und er fühlte sich verletzt. Es deprimierte ihn, dass er die Vergangenheit nicht abhaken konnte, dass er kurz davor stand in sie eintauchen zu müssen. Aktiv und bewusst. Es graute ihm davor.
 

Aya stemmte sich von dem Waschbecken ab, kam zu Schuldig. Präzise und schnell zog er sich aus, band sich die Haare hoch und wagte sich in das warme Nass.

"Wer weiß was schon?", fragte er nach, während er Schuldig umarmte.
 

Schuldig hörte das Rascheln von Kleidung und er ahnte, dass Ran gleich zu ihm kommen würde. Hatte er das provoziert? Vermutlich.

Er spürte Rans Körper an seiner Rückseite. „Nichts. Vergiss es. Ich… weiß auch nicht was ich damit sagen wollte. Vielleicht wollte ich dich nur provozieren“, gab er zu. „Zu irgendetwas. Zu Streit, zu dem dass du gehst, damit ich mich so schlecht fühle, wie ich es tun sollte und es nicht tun kann, oder vielleicht einfach nur zu dem, was du jetzt tust.“
 

"Und das ist vollkommen in Ordnung", erwiderte Aya leise und lehnte sich an den größeren Mann. Ja, das war es wirklich. Dieses Mal. Er hatte vollstes Verständnis für Schuldig.

"Aber mir das in ein paar Tagen zu unterstellen, wäre schlecht."
 

Minutenlang rauschte die Dusche ohne, dass sie etwas sagten.

Bis Schuldig das Schweigen brach. „Was machen wir jetzt? Ich hätte sie nicht wegschicken sollen. Sie hätte uns sicher noch mehr erzählt.“
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Silverdarshan
2010-08-18T20:05:10+00:00 18.08.2010 22:05
oha... erster 'Feindkontakt' zwischen ran und brad *__*
ihr beide werdet der story wohl nie müde, hm? beeindruckende leistung. ich staune immer wieder über die länger dieser wundervoll ausgearbeiteten geschichte :)

lg Silverdarshan
Von:  Inukami
2010-08-11T16:01:28+00:00 11.08.2010 18:01
Juhu ^^
Ein neues Kapi und ich habs mal wieder verpennt X.X
Aber ich mag die ganzen neuen Infos und Fakten die dazu kommen, besonders über Schuldigs etwas durchgeknallte *hust* familie ...
immer schön weiter so!
Glg Okami


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