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Der Glasgarten

von

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Falling Mask II

Falling Mask II
 


 

Finn Asugawa, wohl der Mann, an den in den vergangenen Stunden und im Augenblick am meisten gedacht wurde und sich dessen voll bewusst, betrat von Masahiros Privaträumen kommend das große Entree, in denen er den großen Zampano – Sakurakawa Yoshio – höflich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass er sich seine dritte Sektion in den Allerwertesten schieben konnte, da sie einem Angriff von Schwarz und Weiß ausgesetzt waren. Er musste wohl alle drei Sektionen in Kyoto unterbringen. Welch ein Dilemma.

Für den Moment günstig würde das zu einem späteren Zeitpunkt enorme Schwierigkeiten mit sich bringen. Im Augenblick zählte nur das Überleben. Später konnte er sich über dieses nicht zu kleine Problem Gedanken machen.

Er durchquerte das Entree, bog dann in die Versorgungs- und Lagerräume ab und kam über ein paar hinabführende Treppen zu dem Raum, den sie für ihre Gefangenen umfunktioniert hatten. Früher war es einmal ein Lagerraum für Labormittel gewesen. Sie hatten nicht viel Zeit.

Er fand Kiguchi vor der Tür stehen. „Sie haben deine Einladung angenommen“, sagte dieser.
 

„Ja. Sie sind da“, erwiderte Finn und öffnete die Tür zum ehemaligen Lagerraum.

Sein Blick viel auf Averitia, der sich im hinteren Bereich des unmöblierten Raumes mit dem Kritikeragenten beschäftigte. Er trat ihm gerade in den Bauch, was lediglich noch ein verhaltenes Stöhnen auslöste. Zu mehr war der malträtierte Körper des halb weggetretenen Kritikeragenten nicht mehr fähig. Das Seil war von der Decke gelöst worden und der Gefangene an zwei Punkten auf dem Boden gefesselt. Ausweichen konnte er den Schlägen daher kaum.

„Bring ihn in die unteren Labore. Kiguchi steht draußen und wird dir behilflich sein.“
 

„Warum das?“, fragte Averitia unwirsch nach. Er atmete schwer, wohl aufgrund der körperlichen Anstrengung des Folterns. Oh Ja - Folterer hatten es auch nicht leicht. Finns Augenmerk erfassten die Wunden, die Averitia dem Kritikeragenten zugefügt hatte, dagegen würde diesen ein relativ schneller Tod ereilen. Unverhofft kommt oft.
 

„Weil wir Besuch haben“, antwortete Finn einen wohl überlegten Tick zu spät. Er stand lässig mit den Händen in den Hosentaschen da und wartete gelassen, bis Averitia in seiner Tätigkeit innehielt und zu ihm aufblickte. Als hätte er alle Zeit der Welt und könnte es sich leisten, darauf zu warten, dass Averitia ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ.

„Diese hier werden wir “, er nahm seine Linke aus der Hosentasche und deutete auf die Frau, die noch immer im Stuhl saß „nach Kyoto bringen. Deinen Zeitvertreib hier brauchen wir als kleinen Anreiz für unsere Freunde dort draußen.“

Averitia nickte und band den Agenten los, bevor er ihn an der Kette um seine Beine durch den Raum zog. Finn öffnete den beiden zuvorkommend die Tür und schenkte Kiguchi ein aufmunterndes Lächeln, während er sie wieder schloss.
 

Eve hob den Kopf ein Stück an. Sie hatte Durst, ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie zu viel geraucht und zu viel getrunken. Die Zunge klebte ihr wie ein totes Stück Fleisch am Gaumen. Ihr Blickfeld hatte sich zu makellosen, schwarzen Schuhen und der Anzughose eines Mannes erweitert, als ihr Kinn angehoben wurde und ihr sich die Welt der Spinne erschloss und deren Antlitz, das sie freundlich anblickte.

„Es wird Zeit, meine Liebe.“

„Wofür?“, krächzte sie.
 

„Wir unternehmen eine kleine Fahrt nach Kyoto. Das dürfte ihnen gefallen. Sie kommen etwas raus, schnappen frische Luft, sehen andere Menschen“, meinte er jovial.
 

Sie trug keine Kontaktlinsen und er verlor sich für einen langen Moment in den Augen ihres Bruders. Abrupt wandte er sich ab.

„Sie kennen das Procedere. Stehen Sie auf und benehmen Sie sich. Alles, was Sie jetzt unternehmen um sich zu retten, würde das Unvermeidliche nur abkürzen oder es qualvoll verlängern. Und wer weiß, mit etwas mehr Zeit bietet sich Ihnen vielleicht die eine oder andere Gelegenheit...“
 

Den Satz hoffnungsvoll im Raum schweben lassend löste er ihre Fesseln, die sie an den Stuhl fixierten und hielt sie am Oberarm, um ihr die Richtung vorzugeben. Sie tat sich schwer mit dem Aufstehen, ihre Muskeln waren steif. Sie ballte die Hände zur Faust, biss die Zähne zusammen um zu verbergen, wie sehr ihre Finger sie schmerzten, die seit Stunden an dem Brett auf dem Stuhl fixiert gewesen waren.

„Ich brauche meine Handschuhe“, sagte sie leise mit unsicherer Stimme.
 

Er dirigierte sie zur Tür. „Diese sind in den Besitz unserer allseits geschätzten Gula geraten. Glauben Sie mir, da möchten Sie im Augenblick nicht einmal mit dem kleinen Finger hineinschlüpfen.“
 

Sie blieb stehen und sah zu ihm auf. Sie waren auf Augenhöhe. Wusste er etwas? Wie konnte das sein?
 

Sie sah es in seinen Augen. Er wusste es. Der Schock über diese Tatsache ließ ihre Augen groß werden. Er zeigte ihr sein Wissen über ihre gut gehütete Besonderheit in seinem ruhigen Blick. Dieses perfekt modellierte, schöne, fast schon androgyne Gesicht hatte seit sie ihm begegnet war noch nie etwas offenbart, was es nicht offenbaren wollte. Doch sie kannte seine Vergangenheit. Konnte sie es sich denn leisten, dieser hinterhältigen Person zu vertrauen? Wohl kaum. Er hatte ihren Deal verraten, hatte sie an die Familie verkauft. Aber für was? Für diese Informationen, die Daten, die sie über die Familie erhalten sollte? Was war so wichtig daran, dass er ihren Pakt verraten hatte?

Und trotz der Gefangennahme hatte er sie von den Foltermethoden SINs verschont.
 

„Sagen Sie nichts, dann werde ich es auch nicht tun. Zwingen Sie mich nicht dazu, Eve, wie Sie mich dazu gezwungen haben, diese Farce hier zu veranstalten, indem Sie Masahiro ausgeschaltet haben.“

Er öffnete die Tür und sie trat raus. Ihre Hände waren vor ihr gefesselt und sie hielt die Finger ineinander verschränkt. Sie würde den Teufel tun und irgendetwas in diesem Haus anfassen.

„Sie wissen, dass ich nichts mit Masahiros Tod zu tun habe...“, sagte sie aufgebracht und sträubte sich gegen die Hand, die ihren Oberarm umfasst hielt und ihr die Richtung vorgab. Er hielt kurz an und sah ihr ins Gesicht. Sein halblanges Haar verdeckte sein Gesicht wie ein düsteres, zerschlissenes Leichentuch und ließ ihn nicht nur bedrohlich, sondern unheimlich wirken.

„Ich bin sehr wütend über diese... beschissene Aktion, Eve“, sagte er leise und sie konnte die mühsam im Zaum gehaltene Wut in der Stimme vibrieren hören.
 

„Jemand, der auf mich angewiesen ist, leidet wegen ihrer Inkompetenz. Wer auch immer diesen Befehl gegeben hat - er hat offenbar keine Skrupel und nimmt die darauf folgenden Ereignisse billigend in Kauf. Viele werden dafür leiden. Wollen Sie dazu gehören?“

Er wartete einen kurzen Moment ab, ob sie antworten würde, doch sie erwiderte seinen Blick mit der ihr innewohnenden eisigen Ruhe und der dazu gehörenden Arroganz.
 

Irgendetwas erschütterte das Haus und im ersten Moment ging sie von einem Erdbeben aus, als der eiskalte Mann vor ihr, den sie nur ruhig, gelassen und mit einer geradezu perfiden Effizienz bei der Arbeit gesehen hatte, mit den Augen rollte und genervt aufstöhnte.

Das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie von Asugawa hatte – oder sich zurechtgebastelte hatte. Es passte noch nicht einmal zu den letzten Sätzen, die Asugawa auf sie abgefeuert hatte.
 

Sein Blick richtete sich im Halbdunkel auf ihre Haare und er neigte leicht den Kopf, als würde er auf etwas lauschen.

Sie folgte seinen Augen mit den ihren und erkannte, was er versuchte, herauszufinden. Ihre und seine Haare bewegten sich. Und zwar nicht der der Schwerkraft folgend, sondern in die andere Richtung.
 

„Wir müssen weiter, ansonsten fällt uns noch das Haus auf den Kopf bei dem Krach, der dort draußen veranstaltet wird.

Dass das auch nie unauffällig bei denen von Statten gehen kann. Da macht man Pläne und steckt einen Haufen Zeit und Gehirnschmalz in die Sache und keiner hält sich dran...“
 

Sie setzten sich wieder in Bewegung und Eve folgte ihm nun etwas braver. Er schimpfte noch leise vor sich hin, aber sie verstand den Zusammenhang mit ihrer Situation nicht wirklich, sodass sie sich eher Gedanken um seine Beweggründe und ihre Rolle dabei machte.

Trotz seines Verrates hatte sie aus zwei Gründen Vertrauen zu ihm – Grund eins war die Tatsache, dass er ihre Finger mit Farbe übergossen hatte, das hatte sie an dem Geruch und an den Farbresten auf dem Brett sehen können. Die letzten Stunden hatte sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken, warum er das getan haben könnte. Die Vorbereitung auf einen provozierten Angriff durch Schwarz auf dieses Anwesen mittels eines gefakten Foltervideos? Sie war nur halbwach dabei gewesen, aber die Berührung ihrer eigenen Finger hatte ihr gezeigt, was genau geschehen sein musste.

Der zweite Grund fand sich in ihrer beider Vergangenheit...
 

Sie gingen einen Flur entlang und dann ein paar Treppen nach oben. Es war nur wenig Beleuchtung an, aber die Tatsache alleine sagte ihr, dass es abends oder nachts war. Es war ein schönes Haus, das sie durchquerten, vor allem war es groß und kein Hinterhof, wie sie zunächst aufgrund ihrer kargen Unterbringung vermutet hatte.

Eine Frau kam ihnen schnellen Schrittes entgegen. Sie trug ein Datenpad in der Hand. Von draußen waren Schreie und Befehle zu hören. Ein gleißendes Licht erhellte für einen Moment die Frontscheiben.

Ein Blitz?

„Kiguchi wartet auf dich im Labor. Er wird alles Weitere mit dir besprechen.“

Sie nickte und ging dann neben der großen Treppe in einen anderen Bereich des Hauses.
 

Eve wurde von Asugawa in die gleiche Richtung geführt. Als sie aus dem Entree in einen anderen Bereich des Hauses wechseln wollten, fühlte Eve ein Prickeln auf ihrer Haut, dass ihr eine Gänsehaut bescherte. Ein unangenehmer Druck baute sich in ihren Ohren auf. Es ließ sie langsamer werden und schließlich stehen bleiben. Sie sahen sich beide um. Sie hatte es schon im Ansatz gemerkt, als sie die unteren Räume verlassen hatten. Der Druck wurde größer und sie spürte ihn in jeder Zelle ihres Körpers.

Das Haus ächzte, es leistete Widerstand gegen das, was es bedrängte. Sie standen gerade vor der großen Glasfront, als etwas leise knirschte. Der Widerstand brach. Sie starrte die Risse an, die wie ein Geflecht aus silbernen Fäden in Windeseile über die Seiten in die Mitte der Glasfläche krochen. Asugawa riss sie plötzlich auf die Rückseite der großen Treppe zurück. Er presste seine Hände auf ihre Ohren und drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Mit ohrenbetäubendem Knall splitterte die komplette Glasfront des Hauses und die Luft wurde ihr aus den Lungen gedrückt. Sie klammerte sich an Asugawa und presste ihr Gesicht an seine Haut. Er hielt sie währenddessen gegen die Wandvertäfelung unter der Treppe gepresst, schützte sie mit seinem Körper vor den tödlichen, gläsernen Geschossen, die für kurze Zeit, trotz ihrer Deckung, überall zu sein schienen. Noch immer an Asugawa gedrückt holte sie keuchend Luft und hustete. Wind fegte nun in das Haus und wirbelte die Trümmer herum. Sie bewegten sich, als hätten sie ein Eigenleben.

Ihre Augen begannen zu tränen und ein stechend scharfer Geruch lag in der Luft. Sie hustete wieder.

Die Glassplitter hingen ihnen teilweise in den Haaren und sahen auf Asugawas Anzug wie geschliffene Diamanten aus. Sie verlor sich für einen Moment, in dem die Zeit still zu stehen schien in diesem Anblick. Der Druck in ihren Ohren hatte kurzzeitig nachgelassen, aber er baute sich stetig wieder auf. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen, als sich dort dumpfe Kopfschmerzen breit machten. Es geschah alles wie in Zeitlupe, was unmöglich war. Für einen kurzen Moment hörte sie fast nichts mehr, sondern sah Asugawa nur an, bis sie wieder reagierte und erneut husten musste.
 

Asugawa zog die Frau wieder hervor, als sie gerade dabei war, eine Bestandsaufnahme von sich oder vermeintlichen Verletzungen zu machen. Dafür war aber keine Zeit.
 

Sie war damit beschäftigt, im gefesselten Zustand Asugawa zu folgen, der sie über zersplittertes Glas hinter die Treppe zu einem Flur und einem anderen Ausgang führte. Teilweise war das Glas so fein wie Sand.

Es war zwar dunkel, aber das Gelände war von Scheinwerfern und anderen Lichtquellen erhellt, wütende, aber auch schmerzerfüllte Schreie waren zu hören, dazwischen immer wieder Salven von automatischen Pistolen.
 

Das war ein Krieg. Sie hörte ihren eigenen Puls in ihrem Kopf hämmern, Ozon lag in der Luft und ließ sie flach atmen. Dächer vibrierten, Ziegel lösten und erhoben sich, flogen wie Geschosse in die oberen Stockwerke, ließen wiederum Glas splittern und auf die Untenstehenden herabregnen.

Während sie über einen Platz hinter einem der Nebengebäude rannten, erhaschte sie einen Blick auf eines der Dächer, von dem ein heller, gleißender Lichtkegel in den nächtlichen Himmel brach. Sie sah eine schmale Person. Sie schwebte im Licht, die Hände seitlich von sich gestreckt, ein Bein leicht angezogen. Die Augen wie lodernde, gleißende Öffnungen der Hölle auf die, unten im Hof auf ihn schießenden Männer gerichtet. Eve stand im tobenden Wind und war wie geblendet von dem, was sie sah. Er legte den Kopf in den Nacken, ekstatisch und überirdisch. Eine zerstörerische Schönheit, die alles vernichtete, was ihr zu nahe kam. Und das tat sie jetzt. Erneut krachte ein Donnern heran und Energie entlud sich peitschenartig. Der Wind konzentrierte sich nun um die Gestalt und nahm zu. Er war nicht natürlichen Ursprungs. Es fühlte sich falsch an. Eve wusste nicht, was jetzt in die Luft geflogen war, aber sie spürte die Vibrationen durch den Boden in ihren Körper dringen. Danach war es für eine Weile ruhig und kein einziger Schuss fiel.
 

„Laufen Sie“, schrie Asugawa sie an, um den Wind zu übertönen, und zerrte an ihrem Arm. Sie verließen den Hauptschauplatz der kriegerischen Begegnung und erreichten den großen Fuhrpark. Einer der SUVs mit verdunkelten Scheiben wurde anvisiert und Asugawa öffnete die hintere Tür der Beifahrerseite. Sie stieg ein und er befestigte die Handfesseln am Rücksitz des Beifahrers.

Danach ging er in einer anderen Richtung als der, aus der sie gekommen waren, davon.
 

Eve versuchte sich umzusehen, sah jedoch nur hin und wieder ein grelles Aufblitzen und vernahm ein ohrenbetäubendes, peitschendes Geräusch, als würde ein Blitz einschlagen.
 

Kurze Zeit später kam Asugawa wieder. Er hatte sich offensichtlich umgezogen. Nun trug er robuste Hosen und ein schlichtes, schwarzes Shirt. Die obere Hälfte seines Gesichts war halb von einem Tuch bedeckt, die untere ebenso. Er sah aus wie ein Ninja und war vermutlich auch einer. Diesem Mann war tatsächlich alles zuzutrauen. Er hatte einen Rucksack locker über eine Schulter gehängt und warf diesen auf den Beifahrersitz. Dann stieg er ein und sie fuhren los.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass sie kommen“, sagte Eve und ihr Blick war nach hinten gerichtet, bis große Bäume nur noch das Licht hindurchließen, aber keine Details des Angriffs. Es war die Arbeit eines mächtigen Telekineten. Sie kannte das aus den Lehrbüchern. Nur ein wirklich geübter und disziplinierter Telekinet konnte derartige Mengen an Energie konzentrieren und wieder entladen, um einen derartigen Aufruhr zu veranstalten.
 

Finn sah in den Rückspiegel, erkannte aber nur die Hälfte ihres Gesichts.

Er fand das Ganze ein wenig übertrieben. Er war eher der Mann fürs Heimliche. Aber das war das Problem mit den Höllenhunden. Wenn man sie einmal von der Kette ließ, musste selbst der Teufel sehen, dass er ihnen einen guten Knochen zuwarf, an dem sie gefallen finden würden, wenn er nicht selbst als Futter herhalten wollte.
 

Eve konnte es nicht glauben. Ihr Bruder war tatsächlich gekommen um sie rauszuholen? Er hätte es nie in ihre Nähe geschafft. Und wo war Manx und ihr Team?

Sie versuchte, den Kopf nach hinten zu drehen, um doch noch etwas zu sehen, und tatsächlich, eine Explosion im hinteren Teil eines Nebengebäudes erschütterte sowohl den Boden als auch ihren Wagen. Eine große Explosionswolke schleuderte Teile des Hauses in die Luft und kochte zu einer wütenden, schwarzgrauen Wolke hoch in den nächtlichen Himmel hinauf.

Tränen der Wut traten ihr in die Augen. Sie beugte sich zu ihren Händen hinunter und wischte sich Staub und Schweiß von der Stirn. Ihre Haare verfingen sich in den Schellen und sie keuchte kurz auf, um ihre Fassung wieder zu gewinnen, während sie die Strähnen befreite. Es waren nur Sekunden gewesen und sie wären nicht mehr weggekommen. Sie hätte gerettet werden können oder wäre dabei umgekommen. So wie es aussah, machten Schwarz keine Gefangenen.

„Du wusstest, dass sie kommen. Du verdammter Mistkerl“, wisperte sie. Durch das Ozon, dass ihr Körper aufgenommen hatte tränten ihre Augen, ihre Nase lief und ihr Mund fühlte sich an, als wäre die Schleimhaut so stark gereizt, dass es zu Mikroläsionen gekommen war. Sie fühlte die kleinen Risse in ihrem Mund.
 

Finn hörte nicht auf sie sondern sah zu, dass er vom weitläufigen Gelände kam. Er wischte sich über die tränenden Augen. Der Effekt würde bald verfliegen. Ein davonfahrender Wagen war nicht das Ziel von Weiß und Schwarz, aber wer wusste schon, wohin dieser kleine Kritikeragent seine unangenehmen Explosivgeschosse noch so hin abfeuerte...
 

Besagter Kritikeragent fühlte sich im Moment ganz und gar nicht klein. Im Gegenteil. Omi befand sich auf seinem Posten, dem höchsten Dach des Anwesens, in bester Position, um alles gut im Blick zu haben und Nagi zu schützen. Und vor dessen Angriff geschützt zu sein. Obwohl dieser nur am Anfang Schutz benötigte, wie Omi schnell feststellen musste. Der Telekinet hatte sich auf einem niedrigeren Dach positioniert, direkt unterhalb von Omi, um diesem die Möglichkeit zu geben, die rückwärtigen Areale mit seinen Geschossen abzudecken, damit sich Nagi wegen Omis Position keine Gedanken machen musste.
 

Doch jetzt bekam Omi Angst. Nagis Kopf war in den Nacken geglitten und die Spannung aus dem schmalen Körper gewichen, nichtsdestotrotz vibrierte das Haus unter ihnen in kürzeren Abständen. Es war nicht geplant gewesen, dass Nagi eine derartige Zerstörung veranstaltete. Omi hatte früher bereits Kostproben von Nagis Fähigkeiten erhalten – am eigenen Leib – aber dieses Ausmaß hätte er nun nicht erwartet.

Dann krachte plötzlich eines der Nebengebäude wie ein Kartenhaus zusammen, als wäre es implodiert. Omi feuerte noch ein Explosivgeschoss auf eine Fahrzeughalle ab und und bemühte sich über das Pad, das er trug, um zeitliche Orientierung. Noch vier Minuten, dann konnten sie hier abhauen.
 

Er legte einen Pfeil ein und sah wieder zu Nagi. Er kannte diese Körperhaltung. War er in Regeneration gefallen? Er musste zu ihm. Auf dem Vorplatz wimmelte es von Männern mit Maschinengewehren, doch da er hinter Nagi und dem ihn umgebenden Energieschild stand, war er vor den Schüssen abgeschirmt. Omi musste sich etwas einfallen lassen...
 


 

o∼
 


 

Eve erkannte, dass sie nicht auf die Schnellstraße abbogen, sondern einen schmalen Weg entlangfuhren, der nicht befestigt war. Es war der kleine Wald, der das Anwesen der Sakurakawas umgab. Sie fuhren noch ein Stück, dann wendete Finn auf dem schmalen Weg und ließ die Schlüssel im Wagen stecken. Er öffnete die Türen, ging um den Wagen herum und griff sich im Schein der Wagenbeleuchtung den Rucksack. Eve sah zu, wie er zwei Nummernschilder heraus zog. Er tauschte sie aus und warf die alten Nummernschilder ins Gebüsch. Währenddessen hörte Eve eine Folge von Explosionen.
 

Dann kam er zu ihr, löste die Fesseln an ihren Händen und zog sie aus dem Wagen.

„Was tust du da, Asugawa?“, schrie sie ihn an. Die Luft war aufgeladen, als wären sämtliche Moleküle der Welt in Aufruhr geraten.
 

„Hören Sie mir gut zu, Crawford“, sagte Asugawa entgegen ihrer Stimmung sehr ruhig. „Wir werden jetzt durch diesen Wald laufen und Sie werden meinen Anweisungen genau folgen.“

Er ging zur hinteren Tür des SUVs, öffnete sie und nahm zwei Kurzschwerter vom Sitz. Diese steckte er in zwei Scheiden auf seinem Rücken. An den Waffengurt seines rechten Oberschenkels steckte er eine Halbautomatik. Sie konnte zusehen, wie er sich in Windeseile bewaffnete und sie schließlich an der Hand nahm. Kurz zuckten Bilder durch ihr Bewusstsein, aber sie waren nicht von Bedeutung und so nahm sie die behandschuhte Hand und folgte ihm. Als er ihr die Richtung vorgegeben hatte und sie wusste, wohin er wollte, ließ er sie los und sie rannten durch den Wald, die Detonationen der Explosivgeschosse und der Schein der lodernden Feuer im Rücken.
 

Während sie aufgrund mangelnder Sicht bald an Tempo einbüßte und öfter stürzte, als ihr lieb war, fand sich Asugawa ganz gut zurecht. Ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkel und der Wald war nicht so dicht, so dass sie durch die klare Nacht sogar den Umriss seines Gesichts im Schein der nächtlichen Himmelskörper erkennen konnte. Er wartete auf sie, bis sie ihm weiter folgte und gab ihr die Richtung vor. Sie war außer Atem, als er anhielt und sie neben sich zog.

Er sah sich um, bis auf das dumpfe Dröhnen aus der Ferne war es still. „Was ist...?“, fing sie leise an.

„Seien Sie ruhig“, er sah nach oben und wandte den Kopf, bis er sie plötzlich an einen der Zedernstämme schob und sich vor sie postierte. Er zog eines der Schwerter und hielt es nach unten gerichtet vor sich.
 

Etwas kam auf sie zu. Eve hörte minimales Rascheln und dann Bewegung in der Dunkelheit. Es waren mehrere, die in raschem Tempo auf sie zu rannten. Als erstes erkannte sie eine schemenhafte Gestalt, die in vorderster Front lief, daneben, weit gestreut, sah sie aus dem Dunkeln weitere Schatten folgen. Alle hielten an, als der Schatten in vorderster Reihe hielt. Er kam auf sie beide zu und blieb außer Reichweite der Klinge Asugawas stehen, was einige Meter waren.

„Wer seid ihr?“, forderte die weibliche Stimme zu wissen.
 

Und sie kannte sie.

„Manx?“, fragte Eve. Das war doch Manx!
 

„Crawford? Crawford Eve?“, fragte Manx und schob den Stoff, der ihr Gesicht verbarg, nach hinten über ihren Kopf weg.
 

„Wo ist Siberian?“, wollte sie wissen.
 

„Noch drin“, antwortete Asugawa plötzlich.
 

„Und wer ist das?“
 

„Haben Sie den Auftrag erteilt, Masahiro zu eliminieren?“, wollte er wissen.
 

„Das ist...“, funkte Eve dazwischen. Sie kam aber nicht weit, als Manx die Hand hob und sie damit zum Schweigen bringen wollte.

„Ein Shinobi... wie interessant “, sagte Manx.

„Asugawa, wollte ich sagen“, ließ sich Eve mit eiserner Stimme und mehr Kraft darin, als sie es ihrem Körper noch zutraute, vernehmen.
 

„Und Herr Asugawa, was haben Sie nun mit ihrer Gefangenen vor? Sie glauben doch nicht, dass ich sie hier einfach davon kommen lasse?“
 

Eve sah sich um und erwartete, dass die Männer sie zumindest einkreisten, aber jeder verharrte in seiner Position.
 

„Sie sind mir immer noch eine Antwort schuldig, Manx“, sagte Asugawa ruhig.
 

„Sie ebenfalls.“ Manx Zähne leuchteten weiß auf als sie lächelte.
 

Sekunden vergingen, in denen nichts zu hören war und Eve hatte das Gefühl, als hätte sie selbst die Luft angehalten, denn die Stimmung war so angespannt, dass sie nicht wusste, was als nächstes passieren würde. Aus der Ferne war der Lärm des Angriffs von Weiß oder Schwarz nur noch dumpf zu hören.
 

Asugawa hatte die Chance zu fliehen. Manx würde ihn nicht verfolgen, wenn sie Siberian befreien wollte.
 

„Ich bringe die Frau an einen sicheren Ort.“
 

„Sicher vor Ihnen? Vor der Familie? Vor wem?“
 

„Vor jedem.“
 

„Und dann?“, fragte Manx und trat einen Schritt näher in die Erreichbarkeit seiner Klinge. Die Schatten, die wie die Perlen einer Schnur immer noch in einer Linie im Wald verharrten, traten geschlossen einen Schritt näher.
 

„Dann wird sie von ihrer Familie gefunden werden.“
 

Manx machte noch einen Schritt auf sie zu. Und ebenso taten es ihre Männer.
 

„An welche Familie? An die in Langley?“
 

„Nein, an ihre wahre Familie.“
 

Sie kam so nahe heran, dass Eve Teile ihres Gesichts erkennen konnte. Sie hob die Hand.

„Geht. Seht zu, ob es noch etwas für uns zu tun gibt. Und findet Bombay, damit ihr nicht in sein Visier geratet. Ich komme nach.“
 

Die Männer setzten sich in Bewegung und zwei Sekunden später war nichts mehr von ihnen zu sehen.
 

„Sie sprechen vom Orakel?“
 

Asugawa nickte einmal.
 

Sie kam noch einen Schritt näher und stand nun lediglich einen Meter vor ihnen. Die Spitze der Klinge fast berührend, die Asugawa vor sich hielt.
 

„Du bist es, oder?“ Asugawa antwortete nicht, sondern wartete ab.
 

Eve verstand nicht ganz, wovon Manx da redete.
 

Ganz im Gegenteil zu Finn, der ahnte, um was es Manx ging, war sich aber noch nicht sicher.
 

Manx neigte den Kopf leicht zur Seite. „Chiyo hat mir von dir erzählt. Sie sagte, dass sie einen Schüler hätte. Jemand, der würdig sei, dem ein Ende zu bereiten. Jemand, der bereits nach den Regeln lebte.“
 

„Regeln?“ fragte Eve.
 

„Die einem Guardian auferlegt sind“, wandte sich Manx zwar mit ihrer Antwort an Eve, blickte aber Asugawa ins Gesicht.
 

„Es gibt keine Guards mehr“, sagte Eve. Sie hätte es gewusst. Sie hatte Jahre damit verbracht, nach ihnen zu suchen. Um ihrem Bruder die Sicherheit geben zu können, die er brauchte, aber von ihr nie angenommen hatte. „Die Sakurakawas können keine Guards ausgebildet haben. Sie sind so grundfalsch von ihrer Ideologie, dass es unmöglich ist.“
 

„Es ist nicht unmöglich, nur schwierig. Außerdem reden wir hier nicht von der Familie, sondern von Chiyo. Du bist kein Guard, vielmehr bist du ein Guardian. Habe ich nicht recht, Asugawa?“

Manx wollte eine Antwort. Es gab Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen, wie sie von Chiyo erfahren hatte. Ein Guard kümmerte sich vor allem um die Unvesehrtheit des Schützlings, während ein Guardian auch dann eingriff wenn das seelische Wohl gefährdet war. Und das nicht immer in Übereinkunft mit dem Schützling. Was zu Konflikten führte, die der Guardian aushalten musste. Er musste emotional stabil sein und den Fokus nicht aus den Augen verlieren: den allumfassenden Schutz des PSI.

Diesem den nötigen Freiraum zu gewährleisten und ihn angemessen zu schützen war selbst für erfahrene Guardian eine Herausforderung, wie Chiyo ihr erzählt hatte.
 

Finn sagte nichts, sondern steckte das Schwert wieder dorthin zurück, wo es seinen Platz hatte. „Wir müssen gehen.“
 

Er trat an Manx vorbei und sah ihr für einen Moment in die Augen. Er war etwas größer als sie, sodass sie zu ihm aufsehen musste.
 

Eve wusste nicht, was sie tun sollte, aber sie war nicht für den offenen Kampf trainiert. Sie war Diplomatin, Ermittlerin. Ihr Sektionschef hatte Recht mit dem, was er gesagt hatte, sie war hier fehl am Platz. Mit Asugawa mitzugehen bedeutete ein Risiko. Er hielt ihr die Hand hin und wartete, die Augen verschränkt mit Manx.
 

„Einst glaubte ich, dass ich diejenige sei, die sein Guard wird. Aber das Schicksal hat sich gegen mich entschieden. Er wählte nicht mich.“
 

Asugawa ergriff Eves Hand.

„Der Guardian erwählt den, den er beschützt. Nicht andersherum. Dazu kommt, dass sie sich eines der schwierigsten Ziele erwählt haben. Einen Prokognitiven als Schützling zu haben bedeutet, sein eigenes Leben aufzugeben und es bedeutet ferner, dass er sie nie akzeptieren wird. Sie werden stets mit seiner zerstörerischen Abneigung gegen sie leben müssen. Waren Sie dazu bereit?“
 

Manx starrte ihn an. Chiyo hatte ihr die einzelnen Besonderheiten der PSI erklärt. Ihr erklärt, dass jeder PSI seine Eigenheiten hatte und jede Begabung einer gesonderten Behandlung bedurfte, nach einem besonderen Schutz verlangte. Sie hatte jedoch nie von Hellsehern gesprochen.
 

„Chiyo hat nie von präkognitiv Begabten gesprochen.“
 

„Weil diese nie einen einzigen Guardian hatten. Sie wurden im Verborgenen wie Gefangene gehalten. Versteckt, von vielen Guards beschützt, die schneller starben als Eintagsfliegen. Einen Hellseher zum Schützling hat die Folge, dass er den Guardian austricksen und ihn schneller abschütteln kann als diesem lieb sein kann.“
 

Asugawa setzte sich in Bewegung und Eve folgte ihm.

Chiyo also.

War sie es, die den Auftrag gegeben hatte, Masahiro zu eliminieren? Warum jetzt? Oder hatte Manx den Auftrag in eigener Verantwortung erteilt?
 

„Er wollte keinen Schutz, Shinobi“, rief Manx ihm nach.
 

„Das hatte nie ER zu entscheiden“, antwortete Asugawa leise, sodass nur Eve ihn hören konnte.
 

Eve nahm nach diesem Gespräch ihren Lauf unvermindert mit mehr Motivation wieder auf.
 

o∼
 


 

Eine ganz andere Art der Motivation sah gerade Schuldig auf sich zukommen, als Staub auf Ran und ihn niederrieselte und sich mit einem Ruck die Decke senkte. Sie liefen beide wie auf Kommando los und erreichten den nächsten Abschnitt mit einem Sprung. Hinter ihnen versuchte sich gerade die erste Schleuse zu schließen, was ihr aufgrund eines Betonpfeilers, der in Stücken zwischen den beiden Hälften lag, nicht recht gelingen wollte. Schuldig hustete den eingeatmeten Staub aus seiner Lunge und sah in gebückter Haltung auf.

Die Schleuse bestand aus zwei Türen, als die erste sich aufgrund des Hindernisses nicht schließen wollte, öffnete die zweite nicht wie vorgesehen.
 

„Das war knapp“, ächzte Schuldig und blickte zurück, während er sich aus der Hocke hochraffte und sich das Problem ansah. Schuldig zog seine Halbautomatik und schoss auf das Tableau. Die Tür öffnete sich mit einem pneumatischen Zischen und blieb dann einen Spalt breit offen stehen. Sie öffneten sie per Hand, was einiges an Kraftanstrengung bedeutete. Sie schlüpften hindurch, Ran zuerst, dann liefen sie den langen Gang entlang zur nächsten Schleuse. Sie rannten an leeren Räumen vorbei, deren verglaste Türen und Fronten mit langen Gitterstäben verstärkt waren. Schuldig zählte zehn auf jeder Seite, bis sie zur nächsten Tür gelangten. Sie gaben die Codes ein und öffneten die nächste, gläserne Schleuse.
 

„Was haben die hier unten gemacht?“ Aya verzog das Gesicht, was hinter der Gesichtsmaske, die er trug, nicht zu sehen war.
 

Schuldig hörte die Abscheu aus seiner Stimme heraus.
 

„Vermutlich Tiere gequält um herauszufinden, wie sie uns quälen können. Wenn es Tiere waren.“
 

Aya sah zu ihm hinüber. Menschenversuche?
 

Schuldig schob sich als erstes durch den sich öffnenden Spalt. Hier unten waren nur dumpfe Erschütterungen von dem sogenannten Ablenkungsspektakel zu spüren. Wieder dröhnte der ganze Komplex.

„Das was die beiden da oben veranstalten, führt bald Japans sämtliche Armeereserven hierher. Wir müssen uns beeilen. In zehn Minuten müssen wir hier raus sein, sonst dreht der Kleine völlig ab, wenn dann noch die Polizei hier aufkreuzt. Denen das zu erklären dürfte schwierig werden.“
 

„Das ist dein Resort“, sagte Aya, als sie an der nächsten Schleuse ankamen. Es dauerte nicht lange und sie waren durch. Ran warf einen Blick auf das schmale Pad am Handgelenk. „Nur noch ein paar Meter und wir sind da.“

Er sah neben sich, aber Schuldig war nicht wie erwartet dort zu sehen. Schnell drehte er sich in Erwartung eines Angriffs um, doch Schuldig stand nur da und sah auf die Schleuse, die vielleicht zehn Meter vor ihnen lag.
 

„Was ist?“

Aya sah sich die Schleuse an. Doch er konnte nichts Offensichtliches hinter den beiden Glastüren feststellen. Dahinter war nur leerer Flur.
 

„Irgendetwas ist da.“ Schuldig ging langsam auf Ran zu und nahm den Kopfschutz aus Spinnenseide ab. Er wischte sich die Haare aus den Augen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. Schuldigs Jagdtrieb schien verpufft zu sein.
 

Aya nahm sich das Gewebe ebenfalls vom Kopf und stopfte es sich in die Oberschenkeltasche seiner Hose. Er zog sein Schwert. Er atmete tief ein und sah Schuldigs Profil an, während dieser immer noch den Gang entlangstarrte.
 

„Ein Rückweg war nicht vorgesehen, Schuldig“, gab er zu bedenken und sah zu, wie Schuldig weiterging.
 

„Schon klar, also gehen wir weiter“, sagte der nachdenklich. Hinter dieser Schleuse war eine Präsenz, die er zwar auf irgendeine Weise ausmachen konnte, aber dabei gab es ein Problem: Es war nicht Telepathie mit der er sagen konnte, dass dort etwas war, sondern er... fühlte es nur.
 

Schuldigs Miene war besorgt, sein Gesicht aschfahl, als sie an der Schleuse angekommen waren und hindurchspähten. In einiger Entfernung lag ein Mann reglos am Boden.

„Ich wage zu bezweifeln, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist“, meinte Aya und atmete die zuvor angehaltene Luft aus. Es war stickig und warm hier unten. Durch den Angriff war vermutlich die Belüftung ausgefallen, oder sie war ausgeschaltet worden, denn Licht hatten sie hier unten noch immer. Vermutlich war die Versorgung vom Rest des Anwesens abgekoppelt, denn so wie Nagi dort oben wütete, bezweifelte Aya, dass es weiter oben noch Strom gab.
 

Schuldig lächelte und lehnte sich mit einer Hand, die er über Kopfhöhe an das Glas legte an die erste Schleusentür. „Unwahrscheinlich um es mit Brads Worten zu formulieren.“
 

Ran sah auf das Pad. Noch acht Minuten.
 

Schuldig hatte die Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen. Er versuchte, Kontakt zu Omi aufzunehmen, was komplett scheiterte. „Ich bekomme keinen Kontakt zu Omi.
 

Aya sah zu ihm.
 

„Ich bekomme keinen Kontakt zu irgendeinem lausigen Lebewesen auf diesem Planeten, Ran“, sagte Schuldig und seine Augen schmälerten sich, als würde er sich auf irgendetwas hinter der Glasscheibe konzentrieren.
 

Ran entspannte sich wieder etwas – soweit es ihre jetzige Lage zuließ. Es war also nicht Omis Ableben, das Schuldig den Zugriff zu Omis Gedanken verwehrte, sondern etwas, das hinter diesen beiden Scheiben lag.
 

Schuldig löste sich vom Sicherheitsglas und sah sich um. Keine Warnzeichen auf den Türen, oder an den Wänden.

„Gehen wir weiter, wir werden ja sehen, ob wir die nächsten Minuten überleben.“
 

„Der Typ ist immerhin bis zum Ende des Ganges gekommen, bevor er starb, wenn er denn tot ist“, sagte Ran und gab den Code ein und die erste Schleuse öffnete sich. Sie schloss sich hinter ihnen und Schuldig zog seine Waffen. Aya hatte kein gutes Gefühl dabei, aber ihnen blieb das Risiko, einen unschönen Tod durch Biokampfstoffe zu sterben oder hier unten zu versauern. Keine gute Auswahl.
 

Sie gingen zügig, aber mit der nötigen Vorsicht weiter und kamen bei dem Mann an. Ran ging vor und Schuldig gab ihm Deckung.
 

Bereits beim näherkommen erkannte Aya die Todesursache. „Kopfschuss“, resümierte er und Schuldig kam näher. Aya sah auf sein Pad und deutete auf die Tür. Ein riesiges, rotes X war auf die Tür gemalt. Er gab den Code an der Tür ein und sie sprang auf. Bereits während sie sich öffnete hörten sie beide ein schnüffelndes Geräusch. Sie konnten es beide nicht recht einordnen, bis die Tür vollends aufgegangen war...
 


 

o∼
 


 

Finn hatte keine Zeit eingeplant für nächtliche Unterhaltungen im Wald, die ihn aufwühlten. Trotzdem konnte er davon nicht loskommen. Manx?

Chiyo hatte Manx für ihre Sache gewinnen können? Wie lange ging das schon? Monate, Jahre?
 

Und wenn ja, was hatte Chiyo mit ihr vorgehabt? Wollte sie Finn testen? Hatte sie nicht mehr daran geglaubt, dass er seine Aufgabe erfüllen konnte und Manx ins Rennen geschickt?

Oder war es viel komplizierter? War Manx...

Sie war derjenige, der in der alten Zeit die Verbindung zwischen den beiden Parteien herstellte. Zwischen dem Guard oder Guardian und dem PSI. Was eigentlich Chiyos Aufgabe gewesen war. Aber da diese nur aus der Versenkung heraus operieren konnte, hatte sie umdenken müssen. Sie hatte diese Aufgabe an jemand anderen übertragen. Und zog die Fäden im Hintergrund.

Irgendwann würde er Manx einen Besuch abstatten und sie danach fragen. Und wieder kam er zu der Überzeugung, dass es eindeutig zu viele Frauen in seinem Leben gab, die ihm seine Pläne durchkreuzten oder sie verkomplizierten. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun, seine laufenden Unternehmungen zu koordinieren.
 

Eve sah das Ende des Waldes und sie brachen durch Gestrüpp auf eine befestigte Straße. Vor ihnen stand das Motorrad, mit dem sie sich an dem Autohaus getroffen hatten. Die Helme lagen fein säuberlich obenauf. Sie griffen sie sich, saßen auf und Asugawa startete den Motor.
 

„Wenn wir verfolgt werden, nehmen sie meine Waffe und schießen Sie. Zögern Sie nicht.“ Ihr Blick viel auf die Halbautomatik an seinem Oberschenkel. Gut positioniert, weil für sie gut erreichbar.
 

Offenbar hatte es Asugawa verdammt eilig, denn sie war gut damit beschäftigt, sich festzuhalten, als sie im Affenzahn über die Schnellstraße fuhren. Als sie näher an die Stadtmitte kamen, um sie zu durchfahren, fuhr er sehr angepasst, um nicht aufzufallen. Sie blieben unbehelligt und das hielt sich so, bis sie in eine ruhigere Gegend kamen, in der gut betuchte Menschen in ihren luxuriösen Häusern wohnten. Die Grundstücke lagen relativ weit auseinander, Sicherheit wurde offenbar groß geschrieben, den Überwachungskameras an den Toren nach zu schließen. Sie waren umzäunt und verboten den Blick auf die Anwesen.
 

Sie hielten an und Asugawa bedeutete ihr, abzusteigen.

„Wo sind wir hier?“
 

Er antwortete nicht, sondern deutete die Straße hinauf. Er erinnerte sich gut an diese Straße. „Da entlang.“
 

Nach zehn Minuten kamen sie an eine abweisend aussehende Toreinfahrt. Er holte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche hervor und öffnete die Tür neben der Toreinfahrt. Sie trat hindurch und er ließ die Tür offen. Er sah sich für einen Moment um. Alles schien in Ordnung zu sein.

Sie gingen die Einfahrt nach oben und Asugawa öffnete die Tür des L-förmig gebauten Hauses. Er ließ sie hinein und ließ wieder die Tür offen stehen. Das Haus stand leer. Einige wenige Möbel waren mit Folie bedeckt, auf der Staub lag. Eines dieser Möbelstücke weckte Erinnerungen in ihm, die ihm im Augenblick nicht sonderlich willkommen waren.
 

„Sie warten am Besten hier, bis sie abgeholt werden.“ Finn geleitete die Frau vom Eingangsbereich, der sich in einen großen Wohnraum hinein öffnete. Er spürte ihr Zittern durch die Handschuhe hindurch, die er trug. Es war still im Haus. Er wollte sich gerade umdrehen, als das Licht ansprang und er seine Waffe zog.
 

Crawford stand im Eingang zur Küche und hatte auf diese Begegnung gewartet. Er wusste, dass Eve hier sein würde, nur nicht, dass sie in Begleitung sein würde. Lautlos zog er seine halbautomatische Waffe und knipste das Licht an. Eve stand zwischen ihm und einem Mann, der ihm den Rücken zugedreht und ebenfalls bewaffnet war. Vermutlich war das Asugawa.

„Asugawa nehme ich an.“ Crawford trat in den Raum. Eve stand trotzdem zwischen ihnen.

„Unnötig zu erwähnen, dass jede ihrer Bewegungen, die ich nicht für gut befinde, mit einer Kugel geahndet werden wird. Eve, geh aus der Schusslinie.“
 

Eve stand wie angewurzelt da und sah Brad forschend an. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Gesicht sah nicht gut aus und die Augen flackerten. Die Hand, mit der er die Waffe hielt, zitterte. Er sah zu viele Bilder.

Sie lockerte die Hände und ließ sie sinken.
 

„Eve. Verschwinde da.“
 

„Brad, beruhige dich. Er hat mir geholfen“, versuchte sie auf ihren Bruder einzureden.
 

Finn dagegen kam sich vor wie in einem Horrorfilm, wenn das Böse plötzlich in Persona auftauchte und man nicht damit gerechnet hatte, so früh im Film schon den Löffel abzugeben.

Es war nicht so geplant gewesen. Es war nicht geplant, dass Crawford hier auftauchte. Er sollte bei der Befreiungsaktion im Sakurakawa-Anwesen sein. Er musste versuchen, abzuhauen. Nur war das unter diesen Umständen sehr schwer. Sein Herz raste. Seine Gedanken jedoch waren blockiert. Er hatte keine Ahnung, wie er aus der Sache lebend herauskommen sollte. Er hatte das Gefühl, dass sein Brustkorb zerquetscht wurde. Trotzdem war er äußerlich ruhig. Er hielt die Waffe noch immer auf Höhe seines Oberschenkels locker in der Hand. Er würde niemals die Waffe gegen Brad erheben.
 

Eve überlegte fieberhaft, wie sie das hier beenden konnte. Sie trat einen Schritt zurück und gab Brad das freie Schussfeld, das er brauchte.

Dabei ging sie zu ihm hin, langsam.
 

„Und jetzt Asugawa, legen Sie die Waffe auf den Boden.“
 

Finn zögerte, aber tat, was Crawford wollte.
 

„Schieben Sie die Waffe langsam zu uns herüber.“
 

Auch diese Anweisung führte Finn aus.

Das würde nicht gut enden, sagte er sich in einem ständigen Mantra vor sich hin. Er biss sich auf die Lippen. Jetzt holte ihn der Schrecken ein, dessen Schatten er stets mit sich herum getragen hatte. Kiguchi hatte es ihm prophezeit, dass es dazu kommen würde. Früher oder später. Und später war jetzt.
 

„Drehen Sie sich um.“
 

Finn schloss die Augen.

Er konnte dieser Situation nicht entfliehen, es sei denn, er riskierte einen Kopfschuss oder zumindest eine schwerwiegende Verletzung. Und dann konnte er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Wenn er sich umdrehte... hatte er vielleicht eine Chance, den Augenblick der Erkenntnis zu nutzen...
 

Er öffnete die Augen und drehte sich langsam um. Die braunen Augen, denen er einmal sehr nahe gekommen war, glommen nun in ihrer unverfälschten Pracht wie kostbarer Bernstein.
 

„Ich will ihr Gesicht sehen.“
 

Finn zögerte. Er stand da und sah Brad ins Gesicht. Es ging ihm nicht gut.

Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte...

Langsam schob er sich das obere Tuch über den Kopf, das untere nach unten.
 

Crawford blinzelte. Versuchte zu begreifen, was er da sah.

Das war...

Die Erkenntnis tropfte wie Pech in sein Gehirn und stank wie Schwefel.

„Ich kenne dich...“, sagte er langsam und schüttelte einmal den Kopf. „Was...?“ Er versuchte seinen Blick zu klären und die überlagernden Bilder zu verdrängen. War das... Kimura?
 

Finn erkannte Eves Absicht, als sie sich seitlich hinter Brad stellte und entlang des Arms, der die Waffe hielt, nach vorne griff und dabei sowohl die Waffe als auch seine Hand berührte.

Brad und er starrten sich immer noch an. Finns Augen weiteten sich für Sekundenbruchteile als der Finger des Amerikaners sich am Abzug bewegte. Er würde schießen. Er würde ihn hier wie der räudige, streunende Hund, der er, war erschießen...
 

Brads Gehirn kam mit der Flut der Bilder, die ihn in rasender Geschwindigkeit überfielen, nicht mehr zurecht. Er hörte den Schuss, der sich aus seiner Waffe löste, wie aus weiter Ferne noch während seine Sicht verwischte, und der Boden auf ihn zuraste. Sein Bewusstsein fiel in bodenlose Schwärze und er brach zusammen.
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 


 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Für das Beta zeichnet sich snabel verantwortlich.

Herzlichen Dank! ^__^
 

Gadreel



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Inukami
2012-03-01T10:16:36+00:00 01.03.2012 11:16
Huhu ^^
Die letzten Kapitel waren der Hammer! Konnte einfach nicht mehr aufhören zu lesen !!! Aber jetzt müsst ihr schnell weiter schreiben! sooooo viele offene Fragen *grins* das hält man ja im kopf nicht aus!

Glg Inukami


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