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Der Glasgarten

von

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Falling Mask I

Falling Mask
 


 


 

Schuldig fand die verursachende Noxe sehr schnell, bekam jedoch nicht sofort einen Zugang. Als er eine Möglichkeit fand, begab er sich zunächst in die Tiefen von Jeis Geist, um eine Verbindung zu sich herzustellen mittels der Erinnerungen, die Schuldig mit dem Empathen teilte. Wenn Jei sich in diesem träumenden Zustand befand, war es für Schuldig leichter, dessen mentale Schranken zu überwinden, als wenn er wach war. Ein großer Vorteil war im Moment sogar die räumliche Entfernung.

Schuldig hatte aus früheren Situationen gelernt, dass es sinnvoll war, Jei am Besten in eine Wachphase zu überführen, wenn er sich daran erinnern konnte, was er einmal gewesen war.
 

Von SZ hatte er dagegen gelernt wie es möglich war, den Iren in eine instabile, aber von ihm gut steuerbare Wachphase zu überführen. Dazu hatte er früher bei Jei möglichst die Erinnerungen aktiviert, die ihn zu dem gemacht hatten, was für SZ nützlich gewesen war – einen Berserker.
 

Heute hätte ein solches Vorhaben einen sehr nachteiligen Effekt für Kudou. Er wäre soweit gegangen zu sagen, einen endgültigen Effekt.
 

Schuldig ließ die Erinnerungen von ihm unbeachtet an seiner geistigen Anwesenheit vorbeiziehen. Jei war noch nicht wach, wie er an seinen Gehirnaktivitäten feststellen konnte, bei ihm lief immer noch eine Art Traumphase ab, nur weshalb spielten die Männer dort draußen dann derart verrückt und befanden sich in einem Zustand, den Schuldig sonst eigentlich von Jei her kannte? Hatte Jei eine Möglichkeit gefunden, eine Verbindung zu ihnen zu halten und zu träumen? Aber wie?

Das würde bedeuten, dass sich ein Teil seines Bewusstseins abgespalten hatte und autonom für die emotionale Übersteuerung der Personen, die Kudou angegriffen hatten, verantwortlich war.
 

Und die noch viel interessantere Frage lautete: Warum war Kudou davon nicht betroffen?
 

Schuldig wusste nicht, nach was er suchen musste, was es ihm erschwerte die Ursache des Problems herauszufinden. Schlussendlich überließ er sich dem Sog, der seinen Willen zurück in seinen Geist beförderte.

Was also tun?
 

Schuldig richtete sich auf. Sein Nacken schmerzte und seine Schultern ebenfalls. Er bewegte sich vorsichtig, stand auf und ging im Zimmer umher. So ging das nicht. Er brauchte mehr Zeit und da war noch... Ran...

Er musste näher an Jei ran, mehr in die Tiefe gehen, dazu war ein größerer Abstand zu sich Selbst von Nöten und das sah für ein ungeschultes Auge wie Rans meist immer nach einem Halbtoten aus. Wenn Ran ihn hier in einer Stunde oder mehr in diesem Zustand fand, war die Panik in dem Japaner vorprogrammiert. Seit der Geschichte in China ertrug Ran diesen Zustand bei ihm nur schwer.

Eine geistige Kontrolle auf dieser tiefen Ebene bei einem PSI war eine andere Nummer als bei einem Menschen mit normaler Abwehr. Manche hatten überhaupt keine abwehrenden Mechanismen. Es war auch nicht nötig, diese zu entwickeln, schließlich gab es so etwas wie Telepathen bestenfalls in Büchern oder Filmen.
 

Schuldig raufte sich die Haare und ging nach unten. Als er in den Planungsraum kam, verstummten Brad und Ran. Letzterer drehte sich um und sein Gesicht drückte keine Gefühle aus, doch die Augen sprachen Bände. Er war in Sorge gewesen.

Schuldig konnte den Übergang von Sorge in Wut in den violetten Augen genau mitverfolgen.

„Du warst lange weg“, übernahm Brad das Reden und sah wieder auf den Tisch, um eine Datei zu öffnen.

„Wie viel Zeit ist vergangen?“ Er blickte auf die Uhr. „Eine Stunde?“

Er ging zu Ran an den Tisch und zog ihn seitlich an sich. „Alles gut“, Er drückte ihn einmal beruhigend, bevor er das unwillige Bündel mit der sauren Miene wieder losließ.

„Nein, eigentlich ist gar nichts gut.“ Damit hatte er die Aufmerksamkeit von allen.
 

„Wie befürchtet hat sich Jei zu einem Problem entwickelt.“

Ayas Kiefer pressten sich aufeinander und sein Blick ging zu Brad hinüber.

„Ich hole Yohji sofort raus da.“

„Kudou ist nicht in Gefahr, zumindest nicht durch Jei“, erwiderte Brad und richtete sich auf.
 

Schuldig runzelte die Stirn und hob die Hände, um den Vulkan vor sich etwas zu beschwichtigen.
 

„Jei beschützt ihn vor den Angreifern. Seine Methoden mögen unorthodox sein, aber durchaus wirksam.“
 

„Bitte?“, echoten Aya und Schuldig.
 

„Im Augenblick ist das zumindest noch der Stand der Dinge. Ich habe es gesehen und solange Asugawa mir nicht die Vorhersage manipuliert und die Zeitlinien verändert bleibt es dabei.“
 

„Aber er ist nicht wach dabei, Brad“, sagte Schuldig energischer als beabsichtigt, da ihm der Amerikaner noch immer viel zu gelassen schien.
 

„Nicht?“, fragte nun Nagi, der an der Tafel stand, um sich eine Verbindung zusammenzureimen, die zwischen Asugawa und Eve bestehen könnte.
 

Schuldig schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Nicht so weit ich ermitteln konnte. Es kann sein, dass er im Übergang ist, aber ich konnte nicht tiefer gehen, dafür brauche ich mehr Zeit, sonst erreiche ich ihn nicht.“
 

„Wer sind die Angreifer?“, hakte Aya nach und verschränkte die Arme.
 

„Mitarbeiter aus der Klinik, zumindest waren sie in den Erinnerungsfetzen, die ich erhaschen konnte, dort angestellt, aber sie sind kaum zu beeinflussen, da sie von Jei gesteuert werden. Ich kann sie telepathisch nicht übernehmen, solange er ihre Emotionen hochheizt und sie dadurch aggressiv auf jeden und alles um sich herum reagieren. Sie sind für manipulative, gedankliche Stimulation von außen nicht mehr empfänglich. Davon abgesehen, dass keiner von ihnen die mentale und körperliche Stärke besitzt, um diese Mengen an Stresshormonen auf Dauer zu überleben. Ihr Herz wird schlapp machen, wenn nicht Kudou sie vorher erwischt. Er hat seine Drähte und damit war er schon einmal erfolgreich.“
 

„Ich frage mich, warum Kudou nicht auch unter dieser Kontrolle steht, wenn Jei noch nicht wach ist. Wie hat er Kudou und die Angreifer von einander unterschieden?“, fragte Nagi.
 

„Er hat ihn doch genau studiert, vielleicht ist das eine Erklärung dafür?“, gab Schuldig zu bedenken.
 

„Eine Signatur?“ Brad fand die Idee nicht einmal schlecht. Für Jei waren Emotionen sichtbarer als für andere Menschen. Und er sah sie nicht mit seinen Augen, er nahm sie als Farben in seinem Cortex wahr.

„Er träumt?“
 

Schuldig nickte. „Ja, aber ich war mir nicht sicher, ob ich tiefer gehen kann. Wie gesagt - dafür brauche ich Zeit und ich hielt es für besser, euch darüber zu informieren. Das kann Stunden dauern.“
 

„Eine Möglichkeit wäre“, sagte Nagi „dass er Kudou in seinen Traum eingebaut hat, weil dieser eine letzte Intervention mit ihm durchlebte. Es beschäftigte ihn solange, dass ihn als festen Anker eingerichtet hat. Wisst ihr noch damals ... SZ hatten uns geraten, einen Anker einzurichten. Bei dir, Schuldig, war es noch dramatischer, wenn du keinen hattest.“
 

„Sicher, erinnere ich mich.“ Er hatte nie einen Anker besessen und niemand hatte das je nachprüfen können. Sein Blick streifte zu Ran. Jetzt... hatte er einen. Auch wenn dieser nur unter bestimmten Unständen für ihn zu erreichen war.
 

„Was bedeutet, dass Kudou der einzige ist, der sicher in diesem Komplex ist“, sagte Brad und sah Ran dabei an.
 

„Hast du ihn deshalb dort in dieses Verließ gebracht?“, knurrte Aya wenig überzeugt von diesem Argument.
 

„Zunächst ja. Als ich gesehen habe, dass die Zukunft bedrohlich für beide werden würde und der Ausgang der Geschichte ungewiss war, blieb ich noch eine Weile dort. Als Kudou die Drähte behielt, änderte sich die Zukunft und im Augenblick gibt es wieder eine Zukunft für den Schnüffler.“
 

„Aha“, brummte Aya immer noch nicht ganz überzeugt. Was er aber wusste, war, dass er zum jetzigen Zeitpunkt nicht dorthin konnte, um Yohji rauszuholen.
 

„Aber warum...“, fing Aya an und wollte zu Schuldig blicken, doch Brad unterbrach ihn.
 

„...wir nicht Schuldig dort ließen? Wenn Schuldig dort geblieben wäre, dann hätten wir den einzigen verloren, der Jei in eine geordnete Wachphase überführen kann. Schuldig ist nicht immun gegen Jeis Angriffe. Da sie jedoch einer gewissen räumlichen Begrenzung unterliegen, ist es für Schuldig immer besser, Abstand zu gewinnen, solange Jei nicht ganz wach ist. Wenn er wach ist und sich unter Kontrolle hat, spielt es keine Rolle mehr. Schutz genießt im Augenblick nur Kudou. Wir können nur hoffen, dass der Blonde nicht eine Dummheit begeht, die diesen Zustand verändern könnte.“
 

„Wenn das stimmt, warum ist SIN dann auch eine Bedrohung für ihn?“, fragte Omi.
 

„Solange wir nicht genau erforschen können, wie SIN das bewerkstelligen, können wir nur spekulieren. Ich vermute, dass Jei sie empathisch nicht erfassen kann, aber mit der nötigen Zeit und dem Wissen, wie er es angehen muss, dürften SIN auch kein Problem sein“, erwiderte Nagi.

„Zeit, die wir nicht haben“, stimmte Aya zu.
 

„Um zu verhindern, dass Jei in eine instabile Situation hinein aufwacht, muss ich nochmal zu ihm. Es wird etwas dauern, also rechnet in der nächsten Zeit nicht mit mir.“

Schuldig drehte sich um und ging wieder hinauf. Er hörte hinter sich leise Schritte.

Erst als er oben war, ließ er Ran an sich vorbei und schloss die Tür hinter ihnen.
 

„Hier drin ist es verdammt warm“, ächzte Schuldig und löste den Gummi aus seinen Haaren. Er zog sich die Schuhe aus und ließ sich auf den Futon nieder.
 

Aya hielt die Arme wieder vor sich verschränkt und sah zu Schuldig, der sich mit den Händen nach hinten aufgestützt hatte und ihn abwartend anblickte. In den blaugrünen Augen, die so entspannt wirkten, war ein Lächeln für ihn abzuholen.

Aya konnte es im Augenblick nur schwer erwidern. Er war zu sehr in Sorge um Yohji und... auch um Schuldig.

„Was brauchst du?“, fragte er um Sachlichkeit bemüht. Was seine Stimme nicht im Geringsten beeinflusste. Sie war rau und brach am Ende der Frage.
 

„Hey...“, Schuldig nahm eine Hand vom Futon und streckte sie ihm entgegen, woraufhin Ran widerwillig seine abwehrende Haltung löste. Er reichte Schuldig seine rechte Hand und ließ sich von ihm nach unten ziehen. Er kniete vor dem Futon fast auf Augenhöhe mit Schuldig.

„Ich will, dass du dich entspannst. Schaffst du das?“
 

Aya hob die Hand an Schuldigs Schläfe und wischte eine verirrte Haarsträhne, die ihm in die Augen hing, sanft zur Seite.

„Du... bist nur mir zur Liebe runter gekommen.“
 

Schuldigs Miene wurde weicher. „Bin ich das?“
 

„Ja“, sagte Aya.
 

„Du hast immer noch die Bilder der angeblichen Autopsie vor Augen. Jedes Mal wenn ich bei dir bin, dabei im Halbschlaf neben dir liege und mich in deinen Gedanken treiben lasse, streifen mich diese Bilder. Sie haben sich wie ein Foto auf der Netzhaut bei dir ins Gedächtnis eingebrannt und deine Ängste, verlassen zu werden, verschlimmert.“
 

Aya schwieg, er fühlte sich bloßgestellt. „Wie kannst du damit leben, alles von denen zu wissen, die um dich herum sind, und es nicht ständig gegen sie zu verwenden?“, sagte Aya leise und verlor den Augenkontakt zu Schuldig, um auf seine Hände zu starren, die vor ihm lagen. Schuldig hatte sich in seinem Wesen verändert. Aya konnte beinahe daran glauben, dass er das bewirkt hatte. Es wäre ein schöner Gedanke, wenn er sich ihn zugestehen würde.
 

Schuldig richtete sich auf und beugte sich vor, um die verlockenden Lippen vor sich sanft mit einem Kuss zu belegen.

„Ich weiß nicht alles.“ Er küsste Ran erneut, beobachtete dabei das ruhige Gesicht des Japaners, die Augen, die ihm im Moment so fern schienen.

„Von dir schon gar nicht.“ Wieder ein zarter Hautkontakt.

„Außerdem wird es auf Dauer langweilig. Und du weißt, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als einen gelangweilten Telepathen.“ Er lächelte in den Kuss hinein, als sich Rans Anspannung soweit löste, dass er die zarte Berührung erwidern konnte.
 

„Ich würde mich besser fühlen, wenn ein Teil von mir bei dir sein könnte“, sagte Aya leise, als er sich zurückzog. „Das schaffe ich nicht, denn dafür bin nicht entspannt genug.“
 

Schuldig küsste Ran auf den hängenden Mundwinkel und lächelte aufmunternd, bevor er sich zurück auf das Bett setzte. „Ich weiß“, sagte er, während er auf dem Futon weiter nach hinten rutschte.

„Das wäre auch nicht sonderlich intelligent von mir, würde ich das in Erwägung ziehen. Jei reagiert nicht gut auf mentale Gäste. Mit dir in der Verbindung wäre ich sowohl unkonzentriert als auch abgelenkt. Ich müsste dich gleichzeitig abschirmen und mich um ihn kümmern. Viel zu gefährlich für dich.“
 

„Was soll ich tun?“

Aya gefiel es nicht. Er war nicht dafür gemacht worden, Dingen ihren Lauf zu lassen.
 

„Wärm mich ein bisschen, wenn ich weg bin. Wenn meine körperlichen Funktionen sich auf ein Minimum herunterfahren, sinkt meine Körpertemperatur. Es ist nicht bedrohlich, dazu ist es hier zu warm, trotzdem versuch mich warmzuhalten. Das erleichtert mir das zurückkommen, vor allem wenn Jei mich unsanft zurückschickt. Ich werde mich beeilen, aber Zeit ist relativ bei dieser Arbeit.“ Außerdem brauchte er die Gewissheit, dass Ran bei ihm war und keine dummen Sachen anstellte – wie die spontane Entscheidung treffen, doch in die Klinik zu fahren.
 

„Störe ich dich nicht?“ Aya erhob sich und stand am Ende des Futons, dabei zusehend, wie Schuldig eine bequeme Liegeposition einnahm und die Hände nebeneinander auf dem Bauch ablegte.
 

„Nein. Niemand kann das. Ich würde nicht mitbekommen, wenn das Haus über mir zusammenfällt. Ich weiß nicht, wie tief ich in Jeis Geist hinein muss, im üblichen Fall kümmert das meinen Körper nicht sonderlich und alle Funktionen laufen auf Normalbetrieb weiter, Ran. Mach dir keine allzu großen Sorgen.“
 

Aya starrte ihn an. Schuldig sah, wie sich seine Atmung beschleunigt hatte - nur minimal zwar, aber er hatte Stress.

„Soll ich Brad fragen?“
 

„Nein. Fang an.“ Aya schüttelte den Kopf einmal und setzte sich aufs Bett.
 

Schuldig schloss die Augen.
 

„Leg dich kurz zu mir, Ran, bitte“, sagte er leise. Er wollte ihn riechen. Es raschelte leise und Ran kam neben ihn. Er bettete sich der Länge nach an seine Seite, den Kopf auf seine Brust. Der Duft des Shampoos, Rans Eigenduft zusammen mit dem Aftershave, dem Geruch des Waschmittels ihrer Kleidung, ein wenig salziger Schweiß auf der so köstlichen Hau...
 

Schuldig zog sich langsam aus seiner Realität und kehrte zu Jeis Signatur zurück. Zunächst ging das sehr vorsichtig von Statten, nur um dann an Geschwindigkeit zuzunehmen. Eine Welt formte sich um ihn herum. Er sah nach unten und spürte zwischen seinen Zehen warme Gischt, die sich gerade zurückzog. Salzige Meeresluft kitzelte seine Sinne. Die Sonne brannte heiß auf seiner Haut.

Soweit so gut. Er musste lächeln. Diese Erinnerung kannte er.

Es war ein Auftrag auf Hawaii vor ein paar Jahren gewesen. Sie erholten sich von dem unrühmlichen Ende, dass Weiß ihnen beschert hatte. Dabei verbanden sie das angenehme mit dem nützlichen, schließlich brauchten sie Geld. Mit dem Fall von SZ hatten sich ihre finanziellen Mittel stark limitiert, also halfen sie den örtlichen Kopfgeldjägern ein wenig bei ihrer Arbeit.
 

Schuldig drehte sich um und fand Jei im weißen Sand sitzen. Er trug eine Badehose und ein Shirt ohne Ärmel. Seine Narben waren nicht vorhanden, was bedeutete, dass er sich in Jeis Erinnerungen aufhielt.
 

„Haben wir heute einen Job?“, fragte Schuldig und schlenderte in seiner eigenen Bermuda und dem farbenfrohen Hemd zu Jei hinüber. Er setzte sich neben ihn und streckte die Beine von sich.

„Hast du noch nicht genug vom Morden, Mastermind?“
 

Schuldig fingerte sich seine Zigaretten aus der Hemdtasche und klopfte sich einen der Glimmstängel heraus, zündete ihn an und nahm einen tiefen Zug.

„Ist deine Frage eher philosophischer oder praktischer Natur?“
 

Jei blieb ihm eine rhetorische Erwiderung schuldig. Er wartete offensichtlich auf eine Antwort. „Wir brauchen Geld, Jei“, sagte er ernst. „Ich wüsste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte.“
 

Sie saßen eine Weile da und beobachteten die Wellen, als Schuldig aus dem Augenwinkeln bemerkte, dass Jei ihn direkt ansah.

„Ist das echt?“
 

„Was meinst du?“, fragte Schuldig, lächelte aber wissend.
 

„Das ist nicht real, ich träume...?“
 

„Wie kommst du darauf? Sieht doch real genug aus“, Schuldig tat so, als würde er sich genau umsehen.
 

„Du bist farblos, wie eine weiße Leinwand. Das ist unmöglich.“
 

„Okay, gegen diese Argumentation kann ich nichts einwenden.“
 

„Warum bist du hier, Mastermind?“
 

„Das sollte ich dich fragen, Jei. Überleg selbst, warum ich mir die Mühe mache, hierher zu kommen. Schließlich habe ich wichtigeres zu tun.“
 

„Du meinst...“
 

Die Szene änderte sich extrem schnell und Schuldig blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Diesmal trug er einen Anzug, einen, den er früher gern gemocht hatte. Er saß am Bett eines Mädchens mit braunrotem Haar und vornehm blasser Haut. Ihr weißes Kleid war viel zu dünn für die kühle Nachtluft. Er strich ihr das geflochtene Haar zur Seite und deckte sie bis unters Kinn zu. Sie schlief. Und ihr Schlaf würde endlos sein. Er erinnerte sich daran, wie er hier gesessen und sie betrachtet hatte, wie er in ihrem Geist nach einer Antwort gesucht hatte. Es war keine gekommen.
 

Wenn Jei so weit weg war, würde es lange dauern, bis er ihn von Brotkrummen zu Brotkrummen in die Gegenwart führen konnte. Jei musste den Weg selbst finden. Er musste die Fragen wählen und Jei auf die Antworten kommen.
 

Die Tür öffnete sich und Jei tauchte im Rahmen auf.

Er erkannte ihn, nicht sein Traumalias.
 

„Meinst du sie?“ Jei stand im Gegenlicht der Tür und war für Schuldig nur als schwarze Silhouette zu erkennen.
 

„Nicht ganz. Erinnerst du dich daran, warum ich sie entführt habe?“ Schuldig überschlug die Beine und lehnte sich an die Wand zurück, die die Nische umgab, in der das Bett stand.
 

„Wegen ihrem Bruder... den...“
 

Sie sprangen wieder.
 

Dieses Mal stand er Ran gegenüber, emotional zunächst völlig unbeteiligt, dennoch grinsend. Er spürte, wie die Gier nach dem Leid des anderen ihn völlig vereinnahmte. Nein. Nein. Das war nicht im Hier und Jetzt. Das waren lediglich Erinnerungen, Schuldig musste Abstand gewinnen.

Er sagte sich, dass dies nur eine Erinnerung war.

Ran kniete auf einem Bein vor ihm, seine Klinge kratzte misstönend über den Asphalt, als er sich auf die Beine in die Senkrechte stemmen wollte, es ihm aber nicht gelang. Eine Verletzung am Oberschenkel hinderte ihn offenbar daran. Schweiß lief ihm die Schläfen hinab und sein Atem ging schwer, als hätte er Schmerzen. Die Gesichtsfarbe des Japaners wurde zu einem blassen Grau und Schuldig stand immer noch dort, grinsend und beobachtend.

„Steh auf, mein kleiner Killer. Du schaffst es, du musst dich nur ein wenig mehr anstrengen.“ Er sagte noch mehr, nur Schuldig spürte, dass er hier nicht sein wollte. Jei war irgendwo in der Nähe, das war nicht seine Erinnerung, oder doch? Panik breitete sich in ihm aus. Wenn das seine Erinnerung war, dann hatte er Jei verloren, oder er selbst hatte diese Szene vergessen. Er erinnerte sich nicht daran. Wann war das gewesen? Wann hatte er Ran so schwer verletzt?
 

„Jei?“, fragte er leise. „Ja, ihn meine ich, er sollte leiden“, sie kamen hier vom Weg ab, wenn er in diese Gewaltschiene rutschte. Sie mussten bei den harmlosen Erinnerungen bleiben.

Schuldig starrte auf das mit Blut verschmierte, ihm so vertraute Gesicht. Die violetten Augen, die voller verzweifelter Wut waren...

„... etwas hat sich verändert, Jei. Kannst du mir sagen, was?“ Schuldig hörte sich selbst wie aus der Ferne. Er verlor sich in der Erinnerung Jeis. Es war Zeit, dass Jei einen Weg von hier weg fand.
 

Sie wechselten tatsächlich das Terrain und Schuldig war heilfroh darum. Der Gedanke daran, wie gern er Rans blutverschmierte Haut berührt hätte, hatte begonnen, sich in ihm zu manifestieren. Er wollte nicht dorthin zurück, in die Zeit des Bluts, des Hasses und der Gewalt zwischen ihnen. Sie hatten zu hart dafür gekämpft, dass es anders wurde.
 

Nun standen sie in seiner alten Wohnung. Jei kam gerade mit einem großen Paket an. Er selbst war nicht da. Ran besah sich das Paket skeptisch.
 

In der nächsten Erinnerung verfolgte Jei den Japaner in einer Seitenstraße und dieser wurde angegriffen. Sie spielten mit ihm und Schuldig erkannte, dass er hier einmalige Einblicke in ein Geschehen von außen bekam, dass er so nie von Jei erlangt hätte.

„Bleiben wir einen Moment hier“, sagte Schuldig und sah sich um. Während SIN – denn das war nun offensichtlich, dass es Mitglieder dieser Gruppe waren – Ran verprügelten, besah sich Jei das Umfeld. Sein Blick glitt hinauf zu einem Vordach, auf dem ein Mann stand. Er trug eine Kabuki-Maske. Loses, halblanges Haar löste sich aus seinem Zopf, wehte vom Wind auf und wurde über dem Weiß der Maske sichtbar. Er griff in das Geschehen nicht ein, sondern sah lediglich zu, pfiff einmal und wandte sich dann ab, um das Dach zu verlassen. Er verließ es nicht auf herkömmliche Weise, er sprang vielleicht sieben Meter hinunter, drehte sich in der Luft um genügend Energie des Falles zu absorbieren, und landete schlussendlich mit einer Rolle auf dem Asphalt. Der Pfiff hatte das Ende des Angriffs eingeleitet und SIN verschwand in der Nacht. Offenbar hatte Jei sie gesehen, aber die Details des Angriffs für nicht wichtig empfunden, um es von sich aus zu äußern.
 

„Ich habe ihm geholfen, weil er jetzt dir gehört.“

Jei beugte sich hinunter zu Ran und sah zu ihm auf.
 

„Ja. Das war die Veränderung, die ich meinte. Er gehört mir.“ Schuldigs Blick verlor sich auf Rans hustender Gestalt. Er spuckte Blut aus.

Weg hier. Nichts wie weg hier.
 

o∼
 


 

Aya hielt Schuldig im Arm. Die Wange ruhte auf dem feurigen Haarschopf, seine Hand auf der sich langsam hebenden und senkenden Brust. Er hatte sie beide zugedeckt und er wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war, als einmal angeklopft wurde und die Tür sich öffnete. Brad kam herein.

„Er ist lange weg.“
 

„Hm...“ Aya räusperte sich. „Ja... ich denke schon. Ich habe keine Uhr hier oben.“ Er löste sich von Schuldig und lehnte sich gegen das Bettende. Er hatte etwas gedöst, war aber alle paar Minuten aufgeschreckt, nur um festzustellen, dass alles noch so wie zuvor war. Er klammerte sich an einer lebenden Leiche fest.
 

„Zweieinhalb Stunden.“ Brad schloss die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen.

„Wir sollten es heute Nacht durchziehen. Am besten in den Stunden vor dem Morgengrauen.“
 

Aya setzte sich an die Bettkante und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. Er schüttelte den Kopf. „Haben wir nicht mehr Zeit?“
 

„Nein“, sagte Brad abrupt. „Die haben wir nicht“, etwas niedergeschlagener. Er drehte sich um, öffnete die Tür.
 

„Schafft er es, wenn er sich hier mit Jei so verausgabt? Er braucht Ruhe und Schlaf, bis wir dort rein gehen. Du weißt, wie instabil er ist, wenn...“ Aya erhob sich und starrte Brads Rücken an.
 

„Deshalb erst in ein paar Stunden. Es muss reichen“, unterbrach Brad Ran und öffnete die Tür.
 

„Warum sagst du keinem, wo du hin willst? Warum zum Teufel sagst du nicht, was du siehst? Hast du Angst, wenn du es aussprichst trifft, es nicht ein? Oder hast du Angst, dass es eintritt, wenn du es laut aussprichst?“ Ayas Stimme war messerscharf.
 

„Ich versuche, uns zu helfen. Deshalb kann ich nicht mitgehen. Ich muss an einem anderen Ort sein. Das ist alles, was ich dir sagen kann.“

Brad ging und schloss die Tür. Aya wollte ihm aus einem plötzlichen Impuls folgen. So leicht würde er ihm nicht davon kommen, wenn ihm nicht diese Unsicherheit in der Stimme des Amerikaners aufgefallen wäre.
 

Etwas bedächtiger folgte er Brad hinunter und holte sich ein Glas Wasser. Durch die fast unerträgliche Hitze in dem Zimmer unterm Dach war es ihm, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Er brauchte eine Abkühlung.

Nach einem Blick ins Planungszimmer und einem Besuch in der Vorratskammer, um dort eine Flasche Wasser für Schuldig mitzunehmen, ging er wieder hinauf. Schuldig hatte sich nicht gerührt, Atmung und Puls waren immer noch verlangsamt aber gleichmäßig.

Er beugte sich zu Schuldig, küsste die trockenen Lippen zart und bettete sich wieder an den stummen Leib. Vor einem Jahr hatte er sich sein Leben anders vorgestellt. Tatsächlich hatte es für ihn keine Zukunft gegeben. Und jetzt?
 

Aya schloss die Augen und konzentrierte sich auf den bedächtigen Herzschlag unter seinem Ohr.
 


 

o∼
 


 

Von wegen... bleib wo du bist...ich seh mich um...
 

Yohji war sauer. Schuldig hatte sich verpisst, so viel war klar. Er hatte ihm zwar kurz mitgeteilt, dass noch weitere Personen vor Ort waren, die nicht mehr normal tickten, aber das half ihm in der jetzigen Situation nur marginal weiter.

Zwei davon waren ihm schon über den Weg gelaufen. Zwar war es mit der 9 mm Browning die er sich von dem letzten Angreifer besorgt hatte etwas bequemer, weil schneller und sicherer gewesen, sie auszuschalten, aber ihm entzog sich immer noch die Erkenntnis, was hier eigentlich los war. Und ob er der nächste sein würde, der hier durchdrehte.
 

Yohji begann, systematisch vorzugehen. Er durchsuchte jeden Raum, der geöffnet werden konnte, und arbeitete sich sukzessive durch die ganze Klinik, bis er wieder vor jener Tür angelangt war, hinter der sich das verursachende Übel verbarg. Neben dieser Tür lag das Zimmer welches ihm Hisoka zugeteilt hatte. Sein Weg führte ihn zunächst dorthin.

Er ging zu der Glaswand, die ihm eigentlich einen ungehinderten Blick ins angrenzende Zimmer gewähren sollte. Dummerweise fehlte ihm die nötige Beleuchtung dazu. Trotzdem versuchte er im Dunkel auszumachen, ob Jei noch an seinem Platz auf dem Bett fixiert war. Dort erkannte er schemenhaft eine Gestalt.
 

Allerdings sah er noch zwei Schatten, die sich bewegten, und zwar auf Jei zu. Sie hatten scharfe Instrumente in der Hand, die aufblitzten, wenn das zuckende Licht vom Flur durch sein Zimmer und die Glasscheibe in den Nebenraum fiel.

Yohji schlug gegen die Glaswand, um die Typen auf sich aufmerksam zu machen. Jei war gefesselt und verletzt, er hatte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen sie zu wehren. Er dagegen schon.
 

Er stürzte aus dem Zimmer und trat die Tür nebenan ein, und fiel regelrecht in den Raum hinein. Das zuckende Licht ließ die Bewegungen der Frau und des Mannes bizarr langsam erscheinen, aber sie waren schnell, verdammt schnell. Und Yohji schoss mehrmals, bis er keine Munition mehr hatte und einer der Durchgedrehten die Segel strich. Ein einziger Schuss aus einer 9mm Pistole hätte diesem Mann reichen müssen um ihn für immer außer Gefecht zu setzen.

Dummerweise konnte Yohji das auch nicht von der Frau sagen, die er zwar einmal getroffen hatte, die sich dadurch aber nicht aus ihrem Wahn bringen ließ und ihn ansprang. Er hatte keine Zeit mehr, die Drähte zu ziehen und spürte den scharfen kalten Stahl in sich eindringen...
 

o∼
 


 

„Kannst du dich an das erinnern, was ich dir geschenkt habe? Das kleine Geschenk mit den blonden Haaren und den grünen Augen?“
 

Jei und Schuldigs Traumalias wechselten in das Haus, das Brad und Nagi bewohnt hatten, bevor sie ins Ryokan gezogen waren. Schuldig hatte Jei Kudou als Belohnung versprochen, wenn er während ihrer Abwesenheit auf Ran achtete. Danach wurde er Zeuge einer Szene zwischen Kudou und Jei unter einer Dusche und Schuldig fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Ja den meine ich.“ Der Telepath staunte nicht schlecht...
 

„Hast du ihm weh getan, Jei?“, fragte Schuldig.
 

„Nein. Er gehört mir, ich mag seine Farben.“
 

„Gut. Wo ist er jetzt?“
 

„Ich weiß nicht.“
 

Das war nicht gut.
 

„Willst du ihn behalten?“
 

„Ja.“
 

„Er hat dich verletzt.“
 

„Ja.“
 

„Macht dich das nicht wütend?“
 

„Es macht gerade andere wütend.“ Jei grinste ihn an, während er ihn aus der Dusche anblickte.
 

„Jei... du träumst. Du liegst in einer Klinik. Und der Blonde sieht sich dieser Wut in Form von Berserkern ausgeliefert. Es sind zu viele für einen einzigen, Jei.“
 

„Sie wollten ihm schaden. Er gehört mir. Niemand schadet ihm.“
 

„DU schadest ihm gerade.“
 

„Das tue ich nicht“, kam die trotzige Erwiderung und Jei zog den nackten Kudou nah an sich heran. Da sie sich in der Erinnerung unterhielten, musste es mehr eine manipulierte Traumversion sein, denn eine reine Erinnerung.
 

„Wach auf, dann wirst du es sehen. Hilf ihm, wenn du ihn behalten willst. Ansonsten erlöschen seine Farben für immer und auch das, was sie bei dir bewirken.“
 

Schuldig wurde mit einem Ruck hinausbefördert und zurück in seinen Körper geschleudert. Er riss die Augen auf und fasste sich an den Hals, als er einen Schrei unterdrückte und nur ein Krächzen herauskam. „Schei...“ mehr ging nicht. Er hielt sich die Stirn und versuchte, sich zu beruhigen.
 

Ayas Herz schlug doppelt so schnell wie zuvor, als er mit einem Ruck von Schuldig herunterrollte und sich aufsetzte. Schuldigs Hände zitterten, er versuchte Luft zu holen.

„Ist gut, du bist wieder hier...“, murmelte Aya und strich Schuldig über den Rücken. Er griff zur Wasserflasche, deren Inhalt inzwischen warm war, aber es musste für den schlimmsten Durst im Augenblick ausreichen.
 

Schuldig nahm die Wasserflasche, doch er zitterte so stark, dass Ran ihm helfen musste. Nach den ersten Schlucken kam wieder mehr Ruhe in den Telepathen und er setzte sich zurück, raffte die Decke an sich heran und sah zum ersten Mal Ran an. Ihm war übel.

„Jei hat mich rausgeworfen.“ Schuldig strich sich fahrig über die Augen.
 

„Brauchst du eine Kopfschmerztablette?“ Aya kannte die Anzeichen. Schuldig war nicht ganz in Ordnung. Er wartete die Antwort nicht ab, da Schuldig sich die Schläfen rieb und die Augen geschlossen hielt.
 

Aya stand vom Bett auf und verließ eilig das Zimmer, um ihre Reisetasche und frisches Wasser zu holen. Er hatte eine Packung Kopfschmerztabletten eingepackt und reichte nun mitsamt dem Wasser eine an Schuldig weiter. Nachdem er ihm geholfen hatte, sie einzunehmen, überredete er Schuldig, sich wieder hinzulegen.
 

„Komm schon, du brauchst Ruhe. In einigen Stunden bist du fitter und wir müssen dann los.“

Schuldig war zu aufgekratzt, aber er wusste, dass Ran Recht hatte. „Jei träumt jetzt nicht mehr. Ich hoffe, er kann Kudou helfen. Ich bin mir dessen nicht so sicher, Ran. Wenn du hinfahren willst, kann ich das verstehen.“
 

Aya wusste, dass er fahren sollte. Aber Yohji hatte sich mit Jei eingelassen, obwohl er ihn oft genug davor gewarnt hatte. Er musste darauf hoffen, dass alles gut werden würde. Er musste darauf vertrauen, dass die Chemie der beiden zumindest in Sachen Farben übereinstimmen würde.
 

Schuldig schlief ein und Aya überwachte diesen Vorgang. Erst als er sicher war, dass der Telepath ruhig schlief, ging er hinunter zu den anderen.
 

Brad holte sich gerade einen Kaffee aus der Küche, als Aya dort ankam. Er ging zur Tasche, die immer noch auf dem Tisch stand, und fischte sich einen Anzug in seiner Größe heraus.

„Am Besten, ihr zieht sie unter eure übliche Kleidung. Das lässt euch mehr Handlungsspielraum.“

„Für den Fall, dass wir uns tot stellen müssen?“, fragte Aya und seine Mundwinkel deuteten ein spöttisches Lächeln an.
 

„Schläft er?“, fragte Brad und lehnte sich an die Küchenzeile, den Kaffee in der Hand.

„Ja“, seufzte Aya und holte sich noch eine der Sturmmasken aus der Tasche.

„Wir lassen ihn drei Stunden schlafen, das muss genügen, damit er sich erholt. Hat er etwas über Jei gesagt?“
 

„Er hat ihn aus dem Traum geholt, aber alles Weitere liegt in den Händen von Yohji und eurem Empathen. Ich habe kurz erwogen, hinzufahren“, sagte er und verstummte, ließ die rechte Hand mit der Gesichtsmaske aus feinem Gewebe auf den Tisch sinken.

Er sah auf und begegnete dem forschenden Blick des Amerikaners, der gerade einen Schluck seines Kaffees nahm.

„Und bist zu dem Schluss gelangt, dass es sinnvoller wäre, hier zu bleiben?“
 

„Nicht sinnvoller. Vielleicht... egoistischer. Ich lasse ihn nicht alleine gehen“, sagte Aya.
 

„Du bist der Meinung, dass du besser auf ihn achten kannst, als ich?“, fragte Crawford mit neutraler Stimmlage aber brennendem Blick in Ayas Richtung.
 

Dieser schwieg für die Sekunden, in denen sie sich maßen, sich taxierten und schließlich beide zu einem stummen Konsens zu kommen schienen.

„Ja, dieser Meinung bin ich“, sagte Aya langsam. „Immer noch.“ Sie hatten dieses Thema bereits diskutiert.
 

Crawford starrte ihn an wie der Habicht das Kaninchen, nur um dann im nächsten Moment ein eiskaltes Lächeln zustande zu bringen. „Gut. Ich sehe das genauso.“
 

Der Japaner musste sich nicht mit eigenen PSI Fähigkeiten herumplagen, während er einem Anderen Deckung gab. Während er selbst Visionen hatte, unabhängig, wie ausufernd diese waren, war das schnelle Fällen von Entscheidungen schwieriger.
 

Brad löste sich von der Anrichte und verließ die Küche. Aya sah Brad nach und setzte sich schlussendlich auf den Barhocker. Er ließ seinen Blick über die verschiedenen Waffen auf dem Tisch gleiten und blieb an Omis Bögen hängen. Omi hatte zwei Compoundbögen und eine Armbrust mitgebracht, die er in Teilen bereits zusammengebaut hatte. Die Bögen waren auf schnelle Ortswechsel eingestellt, sodass Omi sie schnell zusammen- und wieder auseinanderbauen konnte. Aya holte sich seine beiden Klingen heran, die noch immer verpackt waren, und begann die Umhüllung zu lösen. Es war Zeit, sich vorzubereiten...
 


 

o∼
 


 

Jei schlug die Augen auf und wollte sich aufrichten, musste aber feststellen, dass ihm das durch einen Gurt über der Brust verwehrt wurde. Er riss an den Fesseln und stemmte sich gegen die Fixierung. Als das alles nichts half, gab er sein zweckloses Unterfangen auf und versuchte stattdessen, sich zu orientieren.

Er hatte den wagen Geschmack von Schuldigs Essenz auf seiner Zunge. Es dauerte jedoch nur wenige verwirrende Momente, bis er sich darüber klar wurde, dass es nur eine Erinnerung an einen Traum war.

Es war dunkel im Raum und er hörte Kampfgeräusche. Den Kopf von der Unterlage hebend sah er jemanden, der sich auf einen Mann stürzte, und dieser Jemand – das wurde ihm schnell klar - stand unter seiner Kontrolle. Er griff sich diesen Strang der Verbindung und kappte sie. Die Frau fiel plötzlich in sich zusammen, als hätte man ihr jeden Lebenswillen genommen. Das gurgelnde Geräusch kam aus ihrer Kehle, als sie an der Vielzahl ihrer Verletzungen zugrunde ging. Ein Keuchen drang nach ein paar Sekunden an seine Ohren und er fixierte sein inneres empathisches Auge auf die Person, die es erzeugte. Grüngolden mit rasend rotschwarzen Schlieren, die sich wie fiebrige Schlangen durch die schillernede Grundierung wanden, schob sich unter der Toten hervor und versuchte aufzustehen.
 

Yohji war immer noch auf den Knien und versuchte, sich im Halbdunkel der zuckenden Beleuchtung, die vom Flur hereindrang, einen Überblick zu verschaffen. Er kam keuchend in die Senkrechte – zumindest stand er auf seinen Beinen – was ihm jedoch erst auf den zweiten Anlauf gelungen war. Das Miststück hatte ihm die Flanke aufgeschlitzt. Fahrig wischte er sich mit einer Hand die klebrigen, verschwitzten Haarsträhnen zur Seite, damit sie ihm nicht die Sicht nahmen. Er hielt sich mit der anderen Hand die Flanke, um die Wunde abzudrücken und hangelte sich an dem Bett entlang zu Jei. Dieser lag ruhig da und hatte ihm das Gesicht zugewandt. „Kannst du noch irgendjemanden hier ausmachen, der am Leben ist?“, fragte er Jei.
 

Der Angesprochene sah ihn verständnislos an, als wäre das eine sehr seltsame Frage, erweiterte aber am Ende doch sein mentales Spektrum, um der Frage nachzukommen. Er tat es, weil er erkannte, dass der Blonde in keiner guten emotionalen Verfassung war. „Nein.“
 

„Hervorragend“, sagte Yohji spöttisch. „So weit so gut.“
 

„Weißt du, wer ich bin?“ Yohjis Finger zögerten noch, die Fesseln zu lösen. Sie waren bei den Beingurten angelangt, zogen aber die Schlaufen noch nicht durch die Bettgurte.
 

„Ja. Du bist der Grund, warum ich aufgewacht bin.“
 

Yohji runzelte die Stirn. „Das ist mir jetzt zu anstrengend“, brummte er und schüttelte verständnislos den Kopf.
 

„Gib mir ne klare Antwort, Jei. Ich muss wissen, ob ich dich losmachen kann oder ob du ausflippst wie diese Zombies hier.“
 

„Du bist Kudou.“
 

Da hatte er seine klare Antwort. Yohji seufzte. Er starrte für einen langen Moment den Empathen an und entschloss sich dann, das Risiko einzugehen. Heute hatte er seinen risikoreichen Tag wie es schien.
 

„Ja. Richtig. Das bin ich“, er lächelte ein müdes Lächeln und begann dann, die Fixierungen zu lösen.

Jei setzte sich ruckartig auf. „Hey, mach langsam, du hast noch zu viele Wunden, die noch nicht ganz verheilt sind.“ Nach ein paar Augenblicken in denen er sicher war, dass Jei sich nicht mehr bewegte als für dessen Wunden gut war, wandte er sich der Frage zu, deren Beantwortung ihn am brennendsten interessierte.

„Warum hast du die Typen in diesen Zustand versetzt?“
 

Jei sah ihn ruhig an, antwortete jedoch erst als er sich der Antwort sicher war. Er erinnerte sich an den Traum, den er von Schuldig gehabt hatte.

„Sie wollten dich töten. Es war eine Möglichkeit sie davon abzuhalten. Eine zeitlich begrenzte Intervention, die es mir ermöglicht einen schnellen Tod bei anderen Lebenwesen hervorzurufen, sofern mir die direkte Kontrolle verwehrt bleibt. Ein menschliches Wesen mit durchschnittlichen Organfunktionen hält diesen Zustand nicht lange stand. Es geht zugrunde. Dein Eingreifen war riskant und... überflüssig.“
 

Yohji schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Er hätte einfach nur abwarten sollen? Ein humorloses Lachen perlte über seine Lippen. „Gibt es für euch so etwas wie eine Anleitung? Ein Handbuch? Damit wäre mir sehr geholfen...“ Er fühlte sich verarscht und sein Lachen verstummte. Eine Frage blieb jedoch. Warum hatten ihn das Personal angegriffen?
 

„Wo sind die anderen?“, fragte Jei und ließ die Füße langsam vom Bett gleiten.
 

„An was kannst du dich noch erinnern?“, fragte Yohji und zog harsch die Luft ein. Er griff sich Jeis Bettdecke, um sie auf seine Flanke zu drücken. Der brennende Schmerz mischte sich mit einem dumpfen, drückenden Pochen.
 

Jei sah ihn stoisch an, als Yohji von seiner Tätigkeit hochblickte. „Du hast mich angegriffen.“
 

Yohjis mittlerweile blutig-klebrigen Hände wurden ruhiger und hörten auf, an der weißen dünnen Bettdecke, die er sich auf die Wunde drückte, herumzunesteln. „Ich war wütend... ich wollte das nicht...“, würgte er hervor.

Die Schuldgefühle in ihm ließen ihn verstummen.
 

„Dafür, dass du es nicht wolltest, hast du es gut gemacht.“ Jei legte den Kopf schief und starrte ihn immer noch an. Er schwieg eine Weile, in der sich Yohji nach etwas umsah, dass er sich auf die Wunde drücken konnte, bis sie einen Weg gefunden hatten, hier raus zu kommen.

Jei sah ihm dabei von seiner Position aus zu und studierte dessen Gefühlsleben. Nach einer Weile sagte er: „Gut. Aber nicht so gut wie SIN.“

Yohji nickte lediglich. Ja, er war schon auf die Idee gekommen, dass er nicht allein dafür verantwortlich war, was Jei hierher gebracht hatte.

„Ich... habe dir nicht vertraut. Ich hätte dir besser zuhören müssen.“ Yohji atmete angestrengter als zuvor, wie ihm gerade auffiel. „Ich versteh dich manchmal nicht“, versuchte er sich zu erklären.

„Wir müssen hier raus“, sagte er dann als ihn Schwindel überfiel, er sich aber noch am Bett festhalten konnte. Er wartete ab, in der Hoffnung, der Schwindel würde sich verflüchtigen. Was er auch prompt tat.
 

Jeis Aufmerksamkeit glitt von ihm ab und seine ganze Gestalt wandte sich ruckartig der Tür zu. Irgendjemand war dort, dessen war sich Yohji sicher.

Er hörte, wie die automatische Tür im Eingangsbereich geöffnet wurde.

„Wa...“ Yohji wollt etwas sagen, doch Jei war wohl anderer Meinung, denn er schüttelte einmal kurz den Kopf.
 

Der Doc erschien im Türrahmen begleitet von seiner helfenden Hand Hisoka. „Meine Herren. Es ist erfreulich zu sehen, dass sie leben.“
 

Yohji blinzelte ein paar Mal. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erfreut WIR darüber sind.“ Er verzog das Gesicht schmerzerfüllt und lächelte dieses Mal wesentlich unfreundlicher. „Und jetzt sagen Sie uns bitte, lieber Herr Doctor, was ihr Personal dazu veranlasste, mich anzugreifen. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen Schwarz und Weiß den Arsch aufreißen sollen, bitte ich um eine Erklärung, falls sie eine parat haben sollten.“
 

Jei fixierte den Arzt wie eine Schlange die Maus. Yohji hatte sich schon des öfteren in dem gleichen brennenden Fokus gewähnt und er wusste, wie unangenehm das sein konnte. Er war ganz froh, dass Jei auf seiner Seite stand. Hoffte er zumindest.
 

„Darf ich mir das kurz ansehen?“, fragte der Doc und trat einen Schritt näher, doch Yohji machte einen Schritt zurück um das Bett herum, sodass er halb hinter Jei stand. „Momentan eher nicht.“
 

„Es war nicht vorgesehen, dass sie ihr Zimmer verlassen. Die Tür ihres Zimmers sollte ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu öffnen gewesen sein. Wir kennen die Aufwachphase dieses Patienten. Aufgrund langjähriger Erfahrung damit und derzeit einiger personeller Probleme haben wir eine Lösung für ein unschönes Beispiel von untragbaren Mitarbeitern gefunden. Es ist – war - keine saubere Lösung, aber es kann als Unfall verbucht werden. Solche Dinge geschehen eben.“ Er zuckte mit den Schultern und zog ein bedauerndes Gesicht.
 

„Personelle Probleme?“ Yohji schüttelte den Kopf.
 

„Sie haben uns erpresst, das war nicht mehr tragbar. Eine Gefahr, vor allem auch für Schwarz. Und dieser Gefahr mussten wir begegnen.“
 

„Da hat sich aber eine ganze Menge Wut angestaut, wenn Sie dieses sogenannte Personal auf diese Weise beseitigen.“
 

„Sie hätten sich gegenseitig vernichtet. Das, was ihnen zusteht, haben sie bekommen. Es ... tut mir außerordentlich leid, dass Sie dem ausgesetzt waren.“
 

Der Doc sah nicht so aus, als würde es ihn im Besonderen Maße emotional belasten.

„Und das soll ich Ihnen jetzt glauben?“
 

„Es ist so, wie er es sagt. Es tut ihm leid. Er ist in Sorge“, sagte Jei.
 

„Die Frage ist nur, um was er besorgt ist“, sagte Yohji.
 

„Das kann ich nicht sagen. Aber diese Sorge reicht aus, um dich zu behandeln.“
 

„Wenn Sie mir nicht glauben, dann vielleicht ihm, denn es ist, wie er sagt. Es wird ihnen nichts geschehen.“
 

„Ich sehe nach, ob ich die Stromversorgung wiederherstellen kann“, sagte Hisoka und verließ ihr Blickfeld.

„Ich bitte Sie in den Behandlungsraum. Bis Sie sich entschieden haben, werde ich mich um das Personalmanagement kümmern. Entscheiden Sie sich schnell, bevor ihr Körper Ihnen dies abnimmt.“
 

Der Doc ging und Yohji stand halb auf das Bett gestützt da. Der Schwindel kam wieder. Er seufzte. Er hatte von all dem genug.

Müde hiefte er sich aufs Bett und legte sich hin. Das war um vieles besser. „Jei. Weck mich, wenn ich sterbe“, sagte er mit rauer Stimme und sah mit halbgeschlossenen Lidern, wie dieser die Hand hob und ihm die strähnigen Haare aus dem Gesicht wischte.

Dann schloss er die Augen und fühlte nur noch innere Ruhe. Er lächelte, als er eindöste.
 


 

o∼
 

Schuldig ließ sich über die Leitplanke gleiten und rutschte dann den Abhang durch eine Böschung hinunter. Es war dunkel, doch die Nachtsichtgeräte, die sie trugen, halfen ungemein, den Weg durch dieses vermaledeite Dickicht zu finden. Schuldig fluchte in den blumigsten Worten, die ihm geläufig waren, vor sich hin. Leider hörte es keiner, was den Effekt der Erleichterung schmälerte, denn er blieb stumm dabei. Brad blieb im Wagen und verfolgte anhand der von den Nachtsichtgeräten gesendeten Bilder den Weg, den sie nahmen.

„Seht auf die Pads“, sagte er ins Headset. „Der Weg ist dort eingezeichnet.“ Er besah sich die Route. „Ich warte bis ihr die Hälfte der Wegstrecke hinter euch habt, danach seid ihr auf euch gestellt.“
 

„Alles klar“, murmelte Schuldig in sein Headset und sie trabten los. Als das niedere Gestrüpp sich lichtete, kamen sie schneller voran und verfielen in ein gutes Tempo.
 

Nagi trug einen von Omis Bögen und ein paar Explosivgeschosse auf dem Rücken. Er war die ganze Zeit während ihrer Fahrt zum Grundstück still gewesen. Lediglich die Hand, die Omis umklammert hielt, erzählte von der Anspannung, unter der der schmale Körper des Telekineten stand.
 

Schuldig hatte sich lang und breit während der Fahrt darüber ausgelassen, dass es für ihn eine Zumutung war, in einer Nacht und Nebel-Aktion in dieses Gebäude einzufallen. Er stand eher auf den dramatischen Auftritt, der gut in Szene gesetzt war und selbstverständlich mit ihm als Mittelpunkt. Das ganze Gerede hatte jedoch nur einen einzigen Zweck gehabt, nämlich den, die angespannte Atmosphäre auf der Fahrt ein wenig aufzulockern.
 

Was zur Folge gehabt hatte, dass Aya sich dazu bemüßigt fühlte, Schuldigs Haarschopf zu packen und diesen in den Nacken zu ziehen, um ganz dicht an sein Gesicht heranzukommen, bis Schuldig den Atem anhielt und große Augen machte.
 

„Halt den Rand“, kam der Befehl und Schuldigs Körper überrieselte ein Schauer ob der tiefen Stimme, die Schuldig eher aufstachelte, als einschüchterte.

„Weil du es bist“, hauchte Schuldig in seidig weichem Tonfall. Er war aufgekratzt. Der Schlaf hatte ihm gut getan und nun war er zu allerlei Schandtaten bereit.

Er grinste diabolisch zu Ran auf und hätte die missbilligend verzogene Linie gerne geküsst, die sich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht befand. Allerdings war die Spannung dadurch nur um weitere Ellen angestiegen und hatte seine Vorfreude auf die Unternehmung sogar noch vergrößert.
 

Ran hatte ihn angesehen und das Violett hatte ihm viele Versprechungen gemacht – dunkle, strafende und auch erotische. Aber vor allem die dunklen Versprechungen waren aus diesem Blick zu lesen gewesen.
 

Schuldig grinste in Erinnerung daran, als sie durch den Wald liefen. Vielleicht hatte er sich den Rest nur eingebildet und Ran hatte ihm tatsächlich nur einen kurzen, gnädigen Tod versprochen. Er hätte ihn am liebsten auf der Stelle die Kehle durchgeschnitten, so wie er ihn angesehen hatte.

Er konnte den Japaner immer noch schnell und effizient auf die Palme bringen. Was konnte jetzt noch schief gehen?



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