Zum Inhalt der Seite

Illusion of Time/Gaia

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

2

Der nächste Morgen verlief auch nicht viel gewöhnlicher als der vorhergegangene Tag. Schon die Nacht hatte ihm einen überaus unruhigen Schlaf - und noch unruhigere Träume - gebracht. Träume von Kara…

Nachdem er sein Bett gemacht und sich im Spiegel für einigermaßen vorzeigbar befunden hatte, ging er zum Frühstück nach unten. Dort erwarteten seine Großeltern ihn bereits. Oma Lola begrüßte ihn wie immer mit einem »Guten Morgen, Will!«, doch ihr Lächeln wirkte aufgesetzt und ihr Ton verhieß nichts Gutes. »Dieser Brief ist heute für dich angekommen.«

Stirnrunzelnd nahm er den Brief entgegen; das königliche Siegel, mit dem er verschlossen war, sagte mehr, als er brauchte. Der Inhalt des Briefes war allerdings sehr knapp gehalten - untypisch für den König.
 

'Bringe Olmans Ring zum Schloss!

König Edward V.'
 

»Das kann nichts Gutes bedeuten«, meinte Oma Lola besorgt. »Wir wissen leider nicht, von welchem Ring der König spricht. Das musst du ihm mitteilen.«

»Aber… heute? Wo ich endlich mal einen freien Tag habe?«

»Der König höchstpersönlich hat es dir befohlen. Möchtest du vielleicht auch von ein paar Soldaten abgeholt werden?« Sie deutete sein Schweigen als Einwilligung. »Und Will, bevor du aufbrichst… Ich verrate dir einen kleinen Zauber, der dir vielleicht helfen könnte… Ich habe das seltsame Gefühl, dass du ihn brauchen wirst... Erinnere dich daran, wenn alles aussichtslos scheint.«

Dann begann sie, eine wunderschöne Melodie zu summen, die Will noch nie zuvor gehört hatte; und doch kam sie ihm seltsam vertraut vor. Obwohl Oma Lola sich nicht einmal eines Instruments bediente, erfüllte der Zauber der Melodie den ganzen Raum. Als sie viel zu früh endete, hielt Will seine Augen noch einige Sekunden lang geschlossen.

Dann umarmte Oma Lola ihn noch einmal. »Versuche, zum Abendessen zurück zu sein, in Ordnung?«

»Klar, Oma«, erwiderte er, noch etwas neben der Spur. Er ließ Oma Lola los, nickte seinem Großvater ein »Bis dann« zu und machte sich auf den Weg.

Das Schloss des Königs bot immer einen atemberaubenden Anblick, ganz besonders zur Mittagszeit, wenn die Sonne direkt über ihm stand. Mit all seinen Türmen, Zinnen und den meterdicken Mauern hatte es Will, der sein Leben lang in kleinen Hütten gehaust hatte, schon immer gereizt, nur ein einziges Mal einen Blick hineinzuwerfen. Der Brief mit dem Siegel des Königs erfüllte ihm endlich diesen lang gehegten Wunsch: Er konnte sich frei in diesem gigantischen Bollwerk bewegen und alles nach Herzenslust erkunden.

Aber die Gedanken, die ihn auch schon auf der kurzen Reise hierher gequält hatten, (welche er im Übrigen innerhalb weniger Stunden zu Fuß zurückgelegt hatte) ließen ihn auch jetzt nicht los. Was hatte Kara bei ihm gewollt? Welchen Ring meinte der König? War es purer Zufall, dass der Befehl König Edwards nur einen Tag nach Karas Besuch angekommen war?

Mit diesen Fragen im Kopf hob er zum x-ten Mal den Brief, um ihn einem Soldaten zu zeigen, der ihn den Zugang zum letzten Turm verweigern wollte, den er noch nicht erkundet hatte.

»Ein Gast des Königs? Verzeiht mir. Willkommen im Schloss.«

Er machte Will Platz, dieser erklomm die gut einhundert Stufen und lief dann immer geradeaus, bis er erneut vor einer verschlossenen Tür und einer Wache stand.

»Dies sind die Gemächer der Prinzessin«, hob sie mit strengem Ton an. »Kein Fremder darf hinein.«

In diesem Zimmer also lebte Kara? Noch bevor er mit dem Soldaten zu streiten beginnen konnte, kam eine Stimme durch die Tür.

»Wer ist da? Ein Gast?«

»Nur ein Straßenjunge, Prinzessin.«

Straßenjunge? »Kara! Ich bin´s - Will!«

»Will?«, rief sie freudig. Und an den Soldaten: »Lass ihn hinein!«

»Nein, Prinzessin, ich habe meine Befehle!«

»Du lässt ihn hinein, oder ich verrate jedem im Schloss deinen Spitznamen.«

Der Soldat schluckte sichtlich. »Oh - ähmm - Natürlich. Tretet ein, Herr!«

Bevor er gehorchte, nahm Will sich noch Zeit für ein schadenfrohes Grinsen. Diese Kara hatte es faustdick hinter den Ohren.

»Will, was machst du hier?«, fragte sie ihn, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er wollte gerade antworten, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er den Blick durch Karas … Zimmer? … schweifen ließ. Ein gewaltiger, frisch gedeckter Tisch, ein Bett, groß genug für drei, vier Kleiderschränke und ein kostbare Teppich, der den gesamten Boden bedeckte, machten schnell klar, dass hier eine waschechte Prinzessin lebte.

»Will?«

»Wa-? Oh, ´tschuldigung. Ähm - ich soll den Ring meines Vaters bringen. Aber -«

»Wie bitte?!«, unterbrach sie ihn erhitzt. »Unfassbar! Einfach unfassbar! Immer muss mein Vater anderen Menschen etwas wegnehmen!« Sie seufzte. »Ich habe genug davon. Deswegen wollte ich gestern auch weglaufen. Tja, und jetzt darf ich mein Zimmer nicht mehr verlassen.« Will überlegte gerade, wie schlimm es wohl sein konnte, ein Leben hier drin zu führen, als sie wütend fortfuhr. »In letzter Zeit geschehen eigenartige Dinge im Schloss. Meine Mutter hat neulich einen Kopfgeldjäger angeheuert. Ich ahne Fürchterliches…«

In diesem Moment kam die Wache durch die Tür. »Er muss jetzt gehen, Prinzessin!«

Will freute sich schon auf eine freche Antwort vonseiten Kara, die den nervigen Soldaten für ein paar weitere Minuten mundtot machen würden; doch stattdessen blickte sie ihn besorgt an und flüsterte auf ihn ein. »Ich habe Angst, Will. Meine Eltern sind nicht mehr so wie früher. Bitte hilf mir! Bitte nimm mich mit! Ich bitte dich…!«

»Prinzessin!«

»Will, bitte komm zurück!«

Dann packte die Wache ihn an der Schulter, und bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, zog sie ihn den ganzen Weg bis ins Erdgeschoss hinunter. »Komm ihr nicht mehr zu nahe!«, rief sie ihm noch drohend zu, bevor sie wieder nach oben verschwand.

Will massierte stöhnend seine schmerzende Schulter. Was hatte denn das jetzt wieder zu bedeuten? Diese Kara wurde ihm immer unheimlicher. Jedenfalls hatte er mittlerweile endgültig genug von diesem Schloss und ging daher schnurstracks zum Thronsaal (so schnurstracks, wie es ihm mit seinem begrenzten Wissen über die Architektur des Schlosses möglich war). Er wollte das alles nur noch ganz schnell hinter sich bringen und nach Hause zurückkehren.

Die Soldaten beäugten ihn misstrauisch, als er an ihnen vorbei zum König marschierte. Alles sah genauso aus, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Besonders der König selbst entsprach so genau dem typischen Bild eines Monarchen, dass es schon an Lächerlichkeit grenzte. Fettleibig, geschmückt mit allerlei Gewändern und Schmuck und mit einer Art, die mit jeder Bewegung Arroganz und Freude am Herrschen ausdrückte.

Will kniete vor ihm nieder. »Mein König, ich bin auf Euren Befehl gekommen.«

»Dann bist du Will? Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.« Der König musterte ihn gelangweilt; Will glaubte sogar ein wenig Abscheu in seinen Augen erkennen zu können. »Du siehst so … so schäbig aus.«

Will konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Dieser Fettsack war definitiv mit Kara verwandt.

»Nun denn, hast du den Kristall-Ring dabei?«

Plötzlich machte sich Nervosität in Wills Magen breit. »Also - ahm - nein, mein König. Leider wusste ich nicht -«

»WAS? Du wagst es, mit solch einer Nachricht zu mir zu kommen?« Der König war außer sich. »WACHEN! Werft diesen unverschämten Lümmel in den Kerker!«

»Was? Nein!«, rief Will verzweifelt. »Das könnt Ihr nicht tun!« Das war leider ein Irrtum, wie er wenige Augenblicke später bemerkte, als zwei kräftige Soldaten ihn packten und in Richtung Keller zerrten. Trotz seiner verzweifelten Hilfeschreie und seinem Gekreische fand er sich wenig später in einer der Zellen wieder. Als der Soldat ihn einschloss, konnte er sich ein spöttisches Kichern nicht verkneifen. Nachdem sie sich entfernt hatten, ließ Will sich mit ungläubigem Blick zu Boden plumpsen. Was hatte er nur getan? Sie hatten ihn einfach so in den Kerker geworfen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Und was war mit seinen Großeltern? Sie würden vor Sorge umkommen… Nein, das konnte er nicht zulassen. Er musste sich zusammenreißen! Es musste einen Weg geben, zu entkommen! Er sah sich in seiner Zelle um. In die Wände waren zahhlose kleine Striche eingeritzt, die wortlos von tausenden Stunden der Qual berichteten. Welche Schmerzen mussten diese Wände miterlebt haben…? Er konnte nicht glauben, dass sein eigener Großvater beim Bau von etwas so Schrecklichem mitgewirkt haben sollte.

Stunden später steckte plötzlich ein Soldat seinen Kopf durch ein Loch in der Decke und grinste hämisch. »Hey, Rotznase! Hier hast du etwas zu essen. Sollst ja auch nicht leben wie ein Hund.« Er lachte laut, offensichtlich sehr stolz auf sich, und warf ein schimmliges Stück Brot in die Zelle.

Einen Moment lang rang Will mit seinem Ekel und seinem Stolz, doch dann siegte der Hunger. Schon nach wenigen Bissen musste er sich stark zusammennehmen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben. Wo war er da nur wieder hineingeraten?

Der Tag verging quälend langsam. Wie musste es erst den armen Seelen ergehen, die jahrelang hier eingesperrt waren? Er musste unbedingt einen Fluchtweg finden, doch ihm fielen die Augen zu. Irgendwie musste er hier heraus… Irgendwie… Irgend…wie…
 

>Will!<, flüsterte eine körperlose Stimme. >Will!<

Will öffnete verschlafen die Augen. Hatte da jemand mit ihm gesprochen? Er sah sich um. Nein, unmöglich, er war allein. Er wollte schon weiterschlafen, als er es plötzlich ganz deutlich hörte. >Will! Ich bin es - dein Vater!<

Mit einem Schlag war Will hellwach. Er sprang auf und warf panisch den Kopf hin und her. »Vater? Vater, wo bist du?«

>Du bist sehr groß geworden, mein Sohn…<

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Es war tatsächlich Wills Vater, der mit ihm sprach. Und nicht nur das - die Stimme kam aus Wills Flöte!

>Schmecken Lolas Pasteten immer noch so gut?< Diesmal schwang ein deutlicher Hauch Belustigung mit.

Will konnte nicht fassen, dass sich sein tot geglaubter Vater - der gerade durch ein hölzernes Blasinstrument zu ihm sprach - mit ihm über Pasteten unterhalten wollte. »Vater! Wo bist du?«

>Dafür ist es noch zu früh. Hör zu, ich muss dich um einen Gefallen bitten.<

»Natürlich! Was soll ich tun?«

>Nur du allein kannst mich retten… Die Katastrophe ist nahe - die dunkle Kraft des Kometen beeinflusst bereits unsere Welt.«

»Katastrophe? Komet? Wovon sprichst du?«

>Will… Du musst die großen Ruinen der Welt aufsuchen. Dort findest du sechs mystische Statuen. Nur damit kann unser Planet gerettet werden! Die Macht des Bösen wird immer größer.< Will bemerkte eine Veränderung an der Stimme. Sie wurde irgendwie leiser, und klang weiter entfernt. >Will - du musst dich beeilen! Reise zu den Inka-Ruinen!<

Damit verschwand die Stimme.

»Hey, Vater! Warte mal! Was soll das alles heißen?«

Doch die Flöte schwieg. Will schüttelte sich und kam sich plötzlich unheimlich dämlich vor. Das musste ein Traum gewesen sein. Er sollte vor dem Schlafengehen eben kein schimmliges Brot mehr essen…

Er hatte kaum Zeit, sich zu erholen. Plötzlich ertönte ein lautes Grunzen, das Will gut kannte. Und tatsächlich - vor der Zellentür stand Karas Ferkel Hamlet.

»Hamlet! Was machst -« Er unterbrach sich. An Hamlets Halsband war ein Brief angebunden. Mit zittrigen Fingern nahm er den Brief und öffnete ihn. Als erstes fiel ihm ein Schlüssel in die Hand. Dann las er:
 

'Ich habe erfahren, dass sie dich eingesperrt haben. Ich kann nicht fassen, was mein Vater tut. Höre, was ich dir zu sagen habe.

Auch ich bin gefangen - in einem Käfig aus Gold. Aber heute Nacht werde ich das Schloss für immer verlassen. Du wirst ebenfalls frei sein.

Kara'
 

Will betrachtete den Schlüssel. Kara… Ob der Schlüssel wirklich der richtige war? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte und - die Tür sprang auf. Sein Herz machte einen Hüpfer. Er war frei!

Als er Hamlet zum Dank streicheln wollte, stellte er fest, dass das Ferkel längst verschwunden war. Gut, er wusste, was er zu tun hatte.

Kaum hatte er den Kerker hinter sich gelassen, stand er in einer steinernen Röhre, in deren Mitte ein Strom schmutzigen Wassers floss. Ein paar Meter entfernt führte eine rostige Leiter weiter nach oben. Großvater hatte wohl etwas übertrieben - das hier war kein Labyrinth; es war die Kanalisation.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück