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Am Rande der Nacht

von

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In der Tinte

Je mehr ich von dem Wisch gelesen hatte, desto mehr drängte sich mir der Verdacht auf, dass Ronga entweder den Verstand verloren hatte, oder mir nach seinem Ableben unbedingt noch eins auswischen wollte, um sich im Jenseits auf meine Kosten zu amüsieren. „Seit wann kriegt man ein Testament mit der Post?“, fragte ich in den Raum, während ich die Kopie der handgeschriebenen Zeilen mit wachsendem Unbehagen noch einmal überflog.

„Wahrscheinlich hängt das mit den Seitenzahlen zusammen, die unten draufstehen“, antwortete Nick, „Wenn er für jeden eine Seite vorgesehen hat, wäre es beim Notar bestimmt eng geworden.“

„Der Kaffee scheint dir zu bekommen. Du denkst ja plötzlich logisch.“ Ich betrachtete die 147 ganz unten auf der Seite. Direkt daneben befand sich ein Stempel vom Notar, der auf dem Dokument irgendwie fehl am Platze wirkte. Selbst ein Laie wie ich konnte erkennen, dass die Zeilen mithilfe einer hochwertigen Schreibfeder ihren Weg auf das Papier gefunden hatten. Unter der altertümlichen, sauber geschwungenen Handschrift hatte der Stempel viel von einem hässlichen Tintenfleck. Ich bezweifelte, dass jemand wie Ronga wirklich eine Beglaubigung brauchte, um seinen letzten Willen durchzusetzen. Aber da waren noch die anderen Seiten des Briefes. Die Computerbeschriebenen, die auch einen solchen Stempel hatten. Ebenso wie ein paar notwendige Unterschriften, um sie rechtskräftig zu machen und ein freies Feld für meine eigene.

„Ich kann nicht glauben, dass das sein Ernst ist“, murmelte ich in meinen Kaffeebecher hinein. „Was steht denn nun drin? Spann mich nicht so auf die Folter.“

„Aber dich zu quälen ist für mich die einzige Möglichkeit, mich über deine Anwesenheit hinwegzutrösten.“

„Kori...“, seufzte er.

„Schon gut, schon gut.“ Ich klärte ihn über Rongas Irrsinn auf.

Es fing ganz harmlos an. Der Ring war ein Siegel, um meine Kräfte an unkontrollierten Ausbrüchen zu hindern. Ronga schrieb, ich solle mich dennoch nicht unterschätzen und mich vor Wutausbrüchen hüten, die vielleicht zu stark für die Blockade waren. Etwa solchen, wie Lavande sie hatte hervorrufen wollen.

„Naja, besser als nichts, oder?“, fand Nick.

Ich schob mir das Ding kommentarlos über den rechten Ringfinger, für den es jedoch um einiges zu groß war. Als nächstes versuchte ich es mit dem rechten Daumen, auf dem der Ring zwar schon besser saß, jedoch auch noch herumrutschte. Dafür passte er prima auf den Daumen meiner Linken, der aufgrund des häufigeren Gebrauchs etwas kräftiger war. Kaum hatte das dunkle Metall meinen Finger umschlossen, spürte ich kaum noch, dass es da war. Normalerweise trug ich keinerlei Schmuck – erstens war ich zwar eitel, aber nicht so eitel und zweitens war dieser Klimbim einem doch eh nur im Weg – aber an den Ring würde ich mich schnell gewöhnen, da war ich mir sicher. „Ich werd ihn abnehmen, wenn wir streiten. Da sind die Chancen größer, dass ich dich aus Versehen verbrenne“, verkündete ich.

„Aus versehen? Dass ich nicht lache“, feixte Nick.

„Du bekommst gleich richtig was zu lachen. Er hatte das Sorgerecht für Rick und rate mal, wem er das überschreibt.“ Nick grinste. „Wie viele Jahre bist du noch gleich älter als Rick?“

„Drei, laut Ausweis.“ Wenn ich es mir recht überlegte, sollte es eher umgekehrt sein. Rick wäre als mein Vormund sicherlich geeigneter gewesen, als ich als seiner, war er doch wesentlich erwachsener als ich. „Ich frag mich, wieviel Geld Ronga brauchte, um das Jugendamt zu so einer Entscheidung zu bringen. Der arme Kerl wird doch jetzt total verkorkst. Was hat sich dieser Typ bloß dabei gedacht?!“ Mein Gegenüber nickte zustimmend. „Vielleicht war er besoffen. Sonst noch was?“

Oh ja, da war noch was. Ein letzter Wunsch, den ich Ronga auf’s Höchste übel nahm, denn er bedeutete, dass ich mich noch eine ganze Weile mit Nick herumschlagen musste. „Wir werden zusammen ausgebildet. Und zwar bei deinem Lehrer“, knurrte ich.

„Ich weiß, das steht bei mir auch.“ Immerhin war er genauso wenig angetan davon wie ich. Wenn auch aus völlig anderen Gründen als ich, wie ich noch herausfinden sollte.

„Warum fragst du dann so blöd?“, fuhr ich ihn an.

„Ich hatte gehofft, es wär ein Irrtum.“ Da sind wir schon zu zweit, dachte ich resignierend. „Wir sollen uns heute Abend in der Villa treffen“, erklärte Nick. „Da ist ein Raum, der groß genug zum Üben ist.“

„Ich kann mich vor Begeisterung kaum halten“, sagte ich sauertöpfisch.

„Vielleicht können wir es noch abwenden, wenn du einfach nicht nicht kommst?“, schlug er vor.

„Glaub ich kaum. Zumindest nicht, wenn er nur halb so viel auf dem Kasten hat wie Ronga.“

Nick wurde wieder nervös. Vielleicht war ihm die zweite Tasse Kaffee doch nicht so gut bekommen. Dabei hatte ich mich letztendlich gegen die „besondere Zutat“ entschieden. Ich wurde wohl langsam weich. Oder erwachsen. Keins von beidem gefiel mir sonderlich. „Was ist denn das für einer, dein Lehrer?“, erkundigte ich mich im Plauderton.

„Ähhh... Was? Schon so spät? Ich muss dann aber auch mal ganz schnell los.“ Warum fiel ihm das immer erst dann ein, wenn ich etwas Wichtiges von ihm wollte? Na egal, wenn er mir schon mal den Gefallen tat, freiwillig zu verschwinden, würde ich ihn bestimmt nicht davon abhalten. Was mit seinem Lehrer loswar, würde ich schon rausfinden.

„Achso, bevor ich’s vergesse...“, begann Nick, schon halb in den Schuhen. Er wühlte in der Tasche seiner zwei Nummern zu großen Hose und warf mir etwas zu. Ich fing es und augenblicklich durchströmte mich ein vertrautes Kribbeln. „Ist schließlich eigentlich...“, wie gebannt beobachtete Nick den grünen Stein in meiner Hand „...deiner“, beendete er den Satz verspätet.

Das Auge des Orion hatte in seinem Inneren leicht zu glimmen begonnen. Ich wollte etwas antworten, doch es war, als hätte ich auf einmal Leim zwischen den Zähnen. Nur mit großer Mühe bekam ich sie auseinander. „Nimm... du das... mal lieber“, krächzte ich heiser.

„O-okaay...?“, stammelte Nick und nahm mir den Stein wieder aus der Hand. Etwas in mir hätte das gern verhindert, ja hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und sich seinen Besitz augenblicklich wiedergeholt. „Geht schon in Ordnung. Ich hab ihn doch eh geklaut, wenn man’s genau nimmt. Man sieht sich dann heute Abend“, verabschiedete ich mich so sachlich wie ich konnte und schob Nick mitsamt Stein zur Tür hinaus. „Äh... Ja“, gab dieser zerstreut zurück. Er verstaute das Auge des Orion wieder in seiner Tasche und entschwand die Treppe hinunter. Ich starrte ihm nach, bis mir endlich auffiel, dass ich hier herumstand und ins Treppenhaus glotzte wie der letzte Idiot.

Nur stockend kamen meine Gedanken wieder in Fluss. Ja, ein bisschen Ausbildung kann nicht schaden, wenn ich nicht durchdrehen will, ging es mir durch den Kopf. Auch die Leiche fiel mir wieder ein, deren Asche ich noch beseitigen musste. Ich versah den Handstaubsauger mit einem neuen Beutel, verfrachtete mit nie gekannter Gründlichkeit jedes noch so kleine Aschepartikelchen in selbigen und deponierte die kleine Papiertüte dann in einer Schublade. „Ich weiß, das ist nicht sehr respektvoll“, sagte ich zu der reichlich unkonventionellen Urne, „Aber sieh’s mal so... Du wolltest mich umbringen. Da kannst du nicht zuviel erwarten.“

Wieder erwischte ich meine Hand dabei, wie sie an meinem Hals erfolglos nach Bissspuren suchte. Das sollte ich mir besser später auch erklären lassen. Ebenso wie die Tatsache, dass ich nicht einen einzigen Zahn oder Knochen in der Asche gefunden hatte. Sollte ich wirklich ein Feuer besitzen, das so gezielt und so heiß brennen konnte, dass wirklich alles darin verglühte? Ich war mir noch nicht sicher, ob mir das gefallen wollte.

Doch vorerst war das auch nicht weiter wichtig. Es wurde vielmehr Zeit, dass ich mich schnellstens wieder in meinen Alltag einfügte, bevor ich mir Ärger einhandelte. Ich musste meinen Arbeitgeber ja nicht gleich verstimmen, indem ich mir zum Dank dafür, dass er meine Wohnung hatte sanieren lassen erst einmal frei nahm. Wenn ich jetzt im Büro auftauchte, kam ich vielleicht mit einer kleinen Standpauke davon und man würde mir nicht drohen, mir Lebensunterhalt, Wohnung und Schulbildung zu streichen.

Eine Stunde später fand ich mich in meinem Teil des Großraumbüros ein und fuhr brav den Computer hoch, während ich den Papierkram durchsah. Zuoberst lag die Notiz, mit der ich schon fast gerechnet hatte. Unter der Vorraussetzung, dass Sie hier heute noch auftauchen, umgehend bei Personalchef Tanaka melden. Ich registrierte auch den kleinen, leeren Karton mit der Aufschrift „Büromaterialen“ auf meinem Schreibtisch. Selbst ein Trampel wie ich versteht einen indirekten Wink, wenn man mich mit dem Zaunpfahl fast erschlägt. Falls ich nicht schon rausgeflogen war, brauchte jetzt schnellstens ein paar gute Ausreden für die Eskapaden der letzten Wochen. Eilig schritt ich zum Aufzug und betätigte den Knopf der sprichwörtlichen Chefetage.

Die Türen glitten zu und ich war allein mit mir selbst und meiner leider ziemlich bescheidenen Fantasie, die ich nach plausiblen Erklärungen für absolut implausible Vorgänge absuchte. Zum Beispiel wie es anging, dass ich mein Wohnzimmer abfackelte, bis auf einen kleinen, unversehrten Kreis – der Stelle, wo ich gestanden hatte – oder warum ich zwei Tage lang einfach verschwand und einen davon auch noch wegen Mordverdachts im Gefängnis verbrachte, obwohl ich nichts – na ja, fast nichts – angestellt hatte.

Ein Ruck riss mich aus meinen Gedanken. Schon angekommen? Das ging schneller als mir lieb war. Doch warum öffneten sich dann die Türen nicht? Die roten Leuchtdioden der Stockwerksanzeige verrieten es mir: Ich hing irgendwo zwischen Stockwerk 20 und 21. Eine Betriebsstörung! „Es gibt einen Gott“, seufzte ich glücklich. Und dieser gab mir noch ein bisschen Aufschub. Das war mit Abstand das Beste, was mir am heutigen Tag passierte. Ohne Hektik hob ich den Hörer ab und wählte die Nummer des Störungsdienstes auf der hier angebrachten Sprechanlage. Gerade wollte ich die letzte Ziffer eingeben, als mich ein Schaben und Ächzen auf dem Dach der Aufzugskabine mitten in der Bewegung innehalten ließ. Der Laut erinnerte mich an Fingernägel

(Krallen?)

auf einer Tafel.

Eine Klappe in der Decke öffnete sich gemächlich. Von oben schaute ein totenbleiches Gesicht zu mir herunter. Wenn man diese grinsende Fratze denn als Gesicht bezeichnen wollte. Wie in Trance führte ich meinen Finger zu der Taste auf der Anlage. Es rauschte im Lautsprecher. „Tz, tz, tz“, schnalzte es von der Decke. Mein Gast sprang hinunter zu mir, während es in der Sprechanlage knisterte. „Störungsstelle?“ Ich formte das Wort „Hilfe“ in meinem Mund. Im selben Moment jedoch explodierte in meinem Kopf ein so grässlicher Schmerz, dass ich aufgejault hätte, wäre ich dazu noch in der Lage gewesen. Ich schrie innerlich, als ich mich Worte sagen hörte, die ich mir von außen in den Mund gelegt wurden.

„Hallo, hier Schacht – äh – 7. (DREI! DREI!) Der Aufzug hier ruckelt von Zeit zu Zeit und macht seltsame Geräusche. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn Sie sich das mal anschauen.“ (Jetzt gleich am besten! Wird es denn bei euch nirgends angezeigt, wenn ein Aufzug stecken bleibt?!) „Oh, vielen Dank“, hörte ich die freundliche Antwort von der anderen Seite der Leitung. „Wir sehen umgehend nach. Danke für den Hinweis. Machen Sie sich bis dahin bitte keine Sorgen. Die Aufzüge werden täglich gewartet. Ihnen kann nichts passieren.“ (Wenn man in einem Aufzug stirbt, muss das nicht unbedingt am Aufzug liegen! Schickt jemanden rauf!) „Oh, gern geschehen, nur keine Eile (WAS?!), er fährt ja noch ganz normal. Nur vielleicht ist das nicht unbedingt was für sensible Gemüter...“ „Ja, wir kümmern uns darum, so bald wie möglich. Nochmals vielen Dank für Ihre Umsichtigkeit.“ „Kein Problem. Einen schönen Tag noch.“ Abschiedsfloskeln und ein Klicken aus der Anlage, das mein Schicksal besiegelte.

Schlagartig war der Kopfschmerz verschwunden und ich hatte meine Gedanken wieder vollkommen in der Gewalt. „So, kleiner Flammenwerfer, wenn du jetzt noch den Hörer auflegen würdest...“, bat mich der kreideweiße Riese neben mir und entblößte dabei zwei lange Eckzähne, die ich als Warnung gar nicht mehr gebraucht hätte. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich weiteres Schaben über mir vernahm.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Nochnoi
2007-10-12T13:30:07+00:00 12.10.2007 15:30
Das Ende war jetzt aber fies O.o Ist bestimmt nicht besonders angenehm, wenn der eigene Körper von jemand anderen übernommen wird ;p

Aber Rongas Testament fand ich ja sehr interessant ^^ Der Ring soll also Koris Kräfte ein wenig unter Kontrolle halten? So weit, so gut! Aber Kori kriegt das Sorgerecht für Rick - das sollte wirklich umgekehrt sein XDD Und das mit Nicks Lehrer bringt mich echt zum grübeln. Warum wurde der Kerl plötzlich so nervös?
Ich bin gespannt >.<


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