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Der Gaukler

von

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Tanz, La Esmeralda… tanz!!

Homer begann auf seinem Tamburin ein wenig zu trommeln, Clopin setzte gerade an, die Flöte zu spielen, da sprang Esmeralda ihn fast um. Sie entriss ihm das Stück Holz aus den Fingern und warf sie in die Menge hinein. Einige Bürger sahen empört auf, ebenso schien Clopin nicht gerade erfreut über dieses plötzliche Geschehen und sah sie fragend an. „Esmeralda!!“ „Sing!“, würgte sie sein Meckern ab und er blinzelte verwirrt. Ohne ein weiteres Wort begann sie zu dem Tamburinspiel von Homer zu tanzen und warf Clopin noch einige kurze Blicke zu. „Sing! Na los!“ „Über was??“ Esmeralda lachte und warf ihr Kleid hin und her. „Egal! Meinetwegen über dieses langweilige Fest oder über das Tanzen oder… egal! Sing irgendetwas, solange wir die Aufmerksamkeit auf unserer Seite haben!“ Clopin bemerkte erst jetzt die Blicke der Bürger und war wieder einmal überrascht, wie schnell und präzise die Zehnjährige dachte und handelte.

Komm, la Esmeralda, tanz für uns, wie du’s sonst auch tust, denn wir sind verzückt.“ Wenige Leute horchten auf, als Clopin passend zu dem Tamburin und Esmeraldas Tanzen zögerlich sang. Als verfestigte er seinen stand und sang lauter. „Lust’ges Fest? Nun, der Mist… Außer uns ist hier doch nichts, los, komm, zeig uns was du so kannst!“ Er klatschte etwas in die Hände und sprang um Esmeralda herum, die zu lachen begann, als sie das bemerkte. „Keine Grenzen heute Nacht, komm, und zeig uns wie man’s macht. Die Leute warten schon darauf.“ Er winkte die Leute zu sich und tatsächlich kamen wesentlich mehr Menschen herbei geeilt, als er erwartet hatte. Sie schienen regelrecht begeistert zu sein. „Ich seh das Funkeln deiner Augen, und ich kann es doch kaum glauben, dass es jemand wie dich hier wirklich gibt!“ Clopin packte Esmeralda an den Händen und drehte sich einige Male mit ihr im Kreis und ergänzte sie danach beim Tanzen. Er ging völlig aus sich heraus, versank in der Musik und in dem immer lauter werdenden Jubel der Menschen. Er versank so tief darin, dass er nicht bemerkte, wie nach nur wenigen Sekunden hunderte von Menschen um sie herum standen und ihnen applaudierend und feiernd zusahen.
 

Es war beinahe, als würde er in einem Zeitraffer feststecken, denn jedes folgende Jahr standen sie nun hier und tanzten und sangen gemeinsam für die Menschen beim fest der Narren. Der Tanz von Esmeralda und Clopins Gesang wurden zu einem der Höhepunkte des Festes und einmal im Jahr lebte die Stadt regelrecht wieder auf. Das fest der Narren war gerettet.

Es vergingen die Jahre, Esmeralda wurde zu einer Frau, Clopin zu einem reifen Mann, und wieder standen sie im Januar beim fest der Narren als die Hauptveranstalter des Festes im Mittelpunkt und unterhielten das Volk mit ihrem Auftritt.

Wenn ich mit dir tanze, vergess ich jede Stunde“, Clopin legte seine rechte Hand an Esmeralda Taille, ebenso tat sie es bei ihm und drehte sich mit ihm im Kreis, während er laut und strahlend weiter sang, „bin Feuer, Herz und Flamme, vergesse jede Wunde. Denn du, du bist die, die mich zum Wahnsinn treibt, wo ich heut gern verbleib!“ Er ließ sie los, sie tanzte alleine weiter. Clopin klatschte in die Hände, das Volk tat es ihm lautstark gleich. Während sie für ihn den Rhythmus hielten, tanzte Clopin um seine Tanzpartnerin herum, beinahe als wolle er versuchen, schauspielerisch ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Schau mich an, sieh mich an! So was schimpft sich dann noch Mann! Wegen dir bin ich eine Maus.“ Sie tat eine gleichgültige Handbewegung und wich im Tanz einige Schritte von ihm weg, er fiel gekünstelt zu Boden.

Sie waren perfekt aufeinander eingestimmt und die Massen hatten Spaß, ihnen bei ihrem aufgeführten Balzspiel zuzusehen. Aus seiner Tasche zog der auf der Bühne sitzende Clopin einen Dolch und hielt ihn sich drohend an die Brust. „Bis morgen ist es auch nicht besser, komm stich zu, gib mir das Messer, denn ich fühl mich wie eine kleine Laus!!“ Esmeralda machte einen Überschlag und landete direkt neben ihm, entriss ihm den Dolch und nahm seine Hände, um ihm auf die Beine zu helfen. Er lachte und tanzte mit ihr, als hätte er bekommen, was er wollte. „Wenn ich mit dir tanze, vergess ich jede Stunde! Bin Feuer, Herz und Flamme, vergesse jede Wunde! Denn du, du bist die, die mich zum Wahnsinn treibt, wo ich heute gern verbleib!“ Esmeraldas Lächeln bestätigte ihm, dass er seine Arbeit immer noch so gut tat, auch nach all den Jahren, dass es sie immer noch erfreute, mit ihm zu arbeiten, wobei dies hier wirklich kaum Arbeit mehr war, sondern einfach nur die pure, dargestellte Lebensfreude.

Mit einem Mal sprang Clopin an den Rand der Bühne und deutete zu einem beliebig ausgewählten Mann im Publikum. Esmeralda zügelte ihr Feuer etwas und ging auf seinen Wechsel ein. „Dieser Mann starrt, seit er hier ist. Wie er dich mit Augen auffrisst. Wie könnt ich’s ihm übel nehm’?“ Er sprang von der Bühne und ging zu dem Mann und legte ihm den Arm um die Schulter. „Und trotzdem, wenn ich das noch lang seh, kriegt er gleich was auf die Nase. Er wagt’s nicht, dich mir wegzunehm’…“ Mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter war klar, dass er es nicht so gemeint hatte und das Volk lachte, ebenso Esmeralda, die diesen Part ihres Auftrittes bisher nicht gekannt hatte. Eine neue Einlage, um die Bürger bei Laune zu halten. Es war gelungen.

Zum Abschluss des Tanzes sprang Clopin wie ein Hochseilartist zu Esmeralda zurück. „Sind wir zusammen, sind wir zusammen, gibt es kein morgen, nein, gar kein morgen!“ Er nahm sie unter den Armen und hob sie einige Zentimeter vom Boden hoch, um sie gleich darauf um sich herum zu drehen. „Sind wir zusammen, gibt es keinen in der Welt außer dir und mir! Nur dir und mir! Dir und mir!“ Der Tanz wurde langsam schwächer, ruhiger, gelassener, bis die Leute bemerkten, dass er sich dem Ende neigte und laut Applaus von sich gaben. Clopin ließ Esmeralda hinunter und sah ihr lächelnd entgegen, sie erwiderte dies, schien jedoch ziemlich erschöpft von dem andauernden Tanzen.
 

Außer dir und mir, nur dir und mir!“ Es war tiefste Nacht, das Fest war zu Ende und Homer machte sich einen Spaß daraus, Clopin nachzuäffen und hielt sich vor Lachen den Bauch. „Du alter Charmeur!“ Der Angesprochene stellte sich drohend vor ihn und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist doch nur neidisch! Na, los, gib’s zu, mein runder Freund!“ Er kicherte böse in sich hinein, was Homer keineswegs verunsicherte, nein, er lachte nur wieder und schlug Clopin freundschaftlich auf den Rücken, was diesen kurzzeitig aus der Balance brachte. Homer hatte wohl immer noch nicht verstanden, dass er eindeutig eine dreifache Version von Clopin war.

Spaßeshalber packte der dicke Homer seinen schmächtigen Freund nun unter den Armen und drehte ihn um sich herum, wie es Clopin zuvor bei Esmeralda getan hatte. Clopin hampelte etwas herum und sprang runter. Da kam Tertulienne auf sie zu und gratulierte ihnen für ein erneut gelungenes Fest. „Clopin, es ist unglaublich, was du aus dem Fest der Narren gemacht hast! Die Leute lieben es!“ Esmeralda holte die beiden Männer ein und stupste Clopin von der Seite mit ihrer Schulter an. „Naturtalent!“ Clopin gab eine spöttische Verbeugung von sich und öffnete die Tore zum Friedhof vor ihnen. „Danke!“, antwortete Clopin selbstverständlich und etwas überheblich, wobei er arrogant grinsend zu Homer hinüberblickte. Der schüttelte den Kopf und gab es auf, auf ihn einzureden. Clopin wusste längst, was seine Stärken waren und spielte diese aus. Er war nicht mehr der Junge, der damals zu ihnen gekommen war, sondern ein erwachsener, cleverer und durchaus auch etwas manipulierender Mann.
 

„Ich freue mich schon, Germaines Gesicht zu sehen, wenn ich ihr von meinem nächsten Streich erzähle.“ Clopin rieb sich freudig die Hände. Homer schien sein Handeln nicht zu verstehen. „Du bist gerade heil aus der einen Sache heraus“, er seufzte, „und willst in die nächste hinein. Erinnerst du dich an den Vorfall vor einer Woche?“ Clopin hob beschwichtigend die Hände. „Die Katze lebt doch noch!“ „Wie kannst du nur so nett und gleichzeitig so ein Mistkerl sein?“ „Übungssache“, der Zigeuner lachte hämisch und kletterte vor Homer die Stufen zu den alten Katakomben hinunter. Er blieb noch einmal kurz stehen, schlug Homer auf seinen Bauch und ging mit einem „Ich erklär’s dir irgendwann, Dickerchen“ weiter. Sein Freund zog die Platte zurück über das Grab und folgte ihm kopfschüttelnd.
 

Kaum im Hof angekommen erwartete die Beiden aber eine böse Überraschung: Der gesamte Hof war in Aufruhr, nur wenige Zigeuner lagen verwundert auf dem Boden, einige kamen unter Verstecken unter dem Boden hervor, indem sie einen Stein beiseite schoben unter dem eine Schutzkammer gelegen hatte. „Du meine Güte, was…?“ Homer fasste sich an die Stirn und sah sich um. „Was ist hier passiert?“ Er ging mit Clopin zu Tertulienne, der einer Verletzten half. Er sah wütend zu ihnen. „Das ist doch alles nur eure Schuld! Nein!“ Er zeigte auf Clopin. „Deine! Weil du diesen Schabernack bezüglich dem Fest der Narren gemacht hast, waren unsere Wachposten beschäftigt und einige Eindringlinge sind hier hineingestürmt und haben Dutzende von uns ausgeraubt und als Geiseln mit sich genommen!“ Er wandte sich der Frau zu, der nun von einem anderen Mann aufgeholfen wurde. „Geht es?“ „Ja. Danke.“ Sie humpelte mit ihrem Begleiter weg, der König der Zigeuner stand auf und stellte sich bedrohlich nahe vor Clopin. „Von jetzt an wirst du dich zurückhalten! Hast du mich verstanden, Clopin?“ „Aber, Tertulienne, ich…!“ „Hast du verstanden??“ Statt zu antworten ballte der Angesprochene seine Hände zu Fäusten und sah starr geradeaus, einige Millimeter an Tertulienne vorbei. Der König seufzte und ging. Homer wollte Clopin aufbauen und ihm die Hand auf die Schulter legen, doch der zuckte nur mit selbiger, um seine Hand loszuwerden und ging ebenfalls.
 

„Es war nicht mein Fehler!!“ Germaine beobachtete den aufgebrachten Clopin, wie er auf und ab stampfte und sich nicht beruhigen wollte und pflichtete ihm bei: „Natürlich nicht, du hast es nur gut gemeint.“ „Dieser alte Dickkopf!“ In dem Moment platzte Esmeralda in den Raum und hielt sich stützend an den Mauern neben sich fest. „Ist es wahr?“ „Was?“ „Bist du Schuld, dass man uns ausgeraubt hat??“ Clopin hob die Hände und schüttelte erzürnt den Kopf. „Natürlich nicht!!“ „Tertulienne sagte…!“ „Es ist mir völlig egal, was der Alte sagt, es war nicht meine Schuld, hörst du!? Außerdem hätten diese Narren selbst auf sich aufpassen sollen!!“ Aufgebracht sprang Esmeralda auf ihn zu und holte aus. „Mistkerl!!“ Sie schlug zu und verpasste ihm damit eine schallende Ohrfeige. Erschrocken fasste er sich an die Wange, die vom Schmerz etwas pochte. „Was soll das??“ „Pack einige Sachen und geh unsere Leute befreien!!“ Clopin setzte eine Gestik ein, die klarmachte, dass er hoffte, er hätte sich verhört. „Wie bitte?“ „Tertulienne hat Recht! Hättest du nicht so viel Spektakel um das Fest gemacht, wären unsere Wachen an ihren Plätzen gewesen und es wäre nichts passiert!! Also geh und befrei die, die sie mit sich genommen haben!“ „Das werde ich nicht!“ „Doch!!“ „Nein!! „Doch!!” „Nein!!“ Germaine sprang auf und schrie mit geballten Fäusten dazwischen. „Entweder ihr haltet jetzt den Mund oder ihr schlagt euch endlich!!“ Als sie bemerkte, dass sie die Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte, verschränkte sie die Arme. „Wie wäre es, wenn du ihn begeleitest?“ Schweigen brach aus, als Germaine zufrieden grinste und zu Esmeralda sah. Sie und Clopin alleine unterwegs? Ob das mal gut ging…
 

„Jede Information“, Tertulienne ließ sich auf einen samtenen Stuhl nieder, schlug seine Beine übereinander und betrachtete gelassen seine Nägel, „die Ihr von mir bekommt, hat seinen Preis, wisst Ihr?“ Er grinste. „Aber es dürfte Euch freuen, zu hören, dass ich glücklicherweise kürzlich eines unserer Probleme losgeworden bin.“
 

Tagelang streiften Esmeralda und Clopin durch die Gegend, immer auf der Suche nach Spuren zu den Geiseln, ihren Freunden. Doch niemand wusste etwas und wenn es doch so schien, so wollten sie es ihnen, einem dreckigen Zigeunerpaar, nicht erzählen. Und so kam es, dass sie fast eine ganze Woche herumstreunten, ohne sichtlichen Erfolg.

Ein warmes Feuer würde für die Nacht alles bleiben, was sie wieder einmal zum Wärmen hatten. Und nicht einmal das wollte so richtig brennen. „Ich weiß wirklich nicht, wieso ich mitgehen musste.“ Esmeralda seufzte und legte sich das seidene Tuch, das sie sonst um die Hüfte gebunden hatte, um die Schultern, um nicht allzu sehr zu frieren. „Immerhin ist es deine Schuld gewesen, dass…“ Grob unterbrach Clopin sie: „Fängst du schon wieder an?“ „Es war deine Schuld, sieh es ein und steh wenigstens dazu!“ Statt zu antworten, stocherte der Zigeuner mit einem Stock in der übrig gebliebenen Glut ihres winzigen Feuers herum und schüttelte genervt den Kopf. Seiner Meinung nach war es völliger Unsinn, ihm die Schuld für diese Situation zu geben. Dass die Wachen ihre Posten verlassen sollten, hatte er sicherlich nicht angeordnet. Entweder hatten sie diese dumme Idee also von selbst bekommen oder sie hatten den Befehl von jemand anderem bekommen. Und selbst wenn Clopin ihnen gesagt hätte, sie sollten ihre Posten verlassen: Wie groß wäre die Chance gewesen, dass sie auf ihn gehört hätten? Aber niemand außer ihm erkannte wohl, wie lächerlich diese Schuldzuweisung ihm gegenüber war. Selbst Esmeralda hatte sich gegen ihn verschworen, wie es schien. Doch andererseits, blickte diese nun lächelnd auf. Und da widersprach sie seinem eben noch durchgeführten Gedanken: „Ich stehe immer hinter dir. Das weißt du.“ Er legte die Unterarme auf seine Knie und nickte nach einem langen Zögern, das seiner Freundin seltsam vorkam. „Du weißt das doch, oder?“ „Ich glaube, nicht.“ Clopin stand auf und wollte gerade gehen, da stand Esmeralda auf und packte ihn am Handgelenk. „Was soll das heißen, du glaubst nicht??“ „Das bedeutet, dass ich mir nicht sicher bin, ob du wirklich hinter mir stehst.“ Er drehte sich um und sah sie etwas vorwurfsvoll an. „Immerhin tut meine Wange von deinem Schlag immer noch weh!“ „Im Ernst??“ Esmeraldas Gegenüber schwieg kurz. „Nein. Das war nur… Ach, lassen wir das.“ Eigentlich hatte er vorgehabt, sich die Beine etwas zu vertreten, doch nun war ihm auch dazu die Lust vergangen und er schlenderte zurück zum Feuer, um sich dort niederzulassen. Entgegen seiner Erwartungen – er hatte befürchtet, dass Esmeralda wütend war oder etwas dergleichen – kniete sie sich plötzlich neben ihn und starrte ihn mit einer Mischung aus einem entsetzten und einem besorgten Blick an. „Das mit der Ohrfeige tut mir Leid, Clopin.“ „Hmpf“ war alles was sie als Antwort bekam. Kurz darauf fügte er ein „Tu nicht so, als würde es dir wirklich Leid tun.“ Nach einem leisen Seufzen beugte sie sich zu ihm vor und verweilte erst wieder, als sie nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. „Hör auf damit“, sagte sie enttäuscht. „Du weißt es ganz genau.“ Er wusste nicht, wovon sie genau sprach, und vermutete einfach etwas. „Ich hab schon gesagt, ich glaube, ich weiß es nicht.“ „Das meinte ich nicht.“ Esmeralda stand auf und sah zu ihm hinab. Er erwiderte ihren Blick etwas verwundert. Als sie mit einem traurigen Lächeln auf ihr Herz zeigte, wurde ihm langsam klar, was sie ihm hatte sagen wollen. „Das meinte ich“, seufzte sie leise und setzte sich weiter von ihm entfernt wieder hin. „Oh“, gab Clopin leise von sich, dachte aber noch darüber nach. Ein zweites, deutlicheres „Oh“ entwich ihm erst einige Sekunden später, als ihm klar geworden war, dass Esmeralda ihm wohl gerade indirekt gesagt hatte, dass sie sehr viel mehr für ihn empfand, als er es hatte wahrhaben wollen.
 

„Ich bin müde. Gute Nacht.“ Clopin blickte zu Esmeralda, wie sie ihr türkisfarbenes Korsett auszog und das Haarband aus ihrem dunklen, welligen Haar löste. „Ja. Gute Nacht.“ Wieder einmal rasten seine Gedanken. Er sah in ihr immer noch das kleine Kind, den Säugling, den er damals gerettet hatte. Andererseits musste er endlich erkennen, dass sie erwachsen war und ganz genau wusste, was zu tun war. Vielleicht sogar besser als er.
 

Die Nacht ging rasch vorbei und am frühen Morgen wachte Esmeralda unter unsäglichen Rückenschmerzen auf, die sie durch ein ausgiebiges Räkeln zu verdrängen versuchte. Bei einem Versuch sollte es aber bleiben. Nein, diese Schmerzen würde sie so einfach nicht wegbekommen. Ihr fiel aber eine viel gerissenere Lösung ein. Eine Massage würde sicher das Problem verschwinden lassen. „Clopin! Ich habe da eine großartige Idee…!“ Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass er verschwunden war. „Clopin?“ Sie dachte sich nichts dabei. Seine Tasche lag noch da, also konnte er nicht weit sein. Sie setzte sich wieder ans Feuer und legte ihre müden Arme um ihre Beine. Als sie ins die Asche des Feuer dieser Nacht sah, wurde sie melancholisch, musste aber auch lächeln. Es war zu komisch gewesen, wie ihr Begleiter gestern versucht hatte, das Feuer zum brennen zu bringen und sie es letztendlich hatte machen müssen. Wie er sie da angestrahlt hatte, so gelassen und so fröhlich. Es versetzte ihr jedes Mal ein eigenartiges Kribbeln im Bauch, wenn er dieses Schmunzeln hatte und sich auf seinen Wangen Grübchen bildeten. Sie schloss ihre Augen und rief sich die Erinnerung an dieses Lächeln zurück und bemerkte wieder, wie sehr sie dies vermisste, wenn er nicht da war. „Seit einer Weile bin ich nun schon wach“, wisperte sie leise vor sich hin. Sie nahm ein kleines Stöckchen und stocherte damit in der Asche herum. Einige Holzstücke glühten sogar noch und Esmeralda schien davon überrascht zu sein. Wegen der Glut dachte sie da wieder an Clopin und seufzte. „Seit einer Weile bin ich wirklich schwach.“ Esmeralda blickte um sich und nach kurzer Zeit schweifte ihr Blick zu Clopins Sachen. „Denn dann wenn ich dein süßes Lächeln seh’, bekomm ich Kribbeln, es tut fast schon weh.“ Sie schloss die Augen und schwang leicht hin und her. „Fängt in den Zehen an, arbeitet sich voran, und wohin es auch geht, wie es auch um mich steht…“ Sie öffnete die Augen wieder und sah zurück zu der Asche vor sich, wo die Glut wieder mehr zu glühen begann. „Dein Lächeln, es heilt und nun bleib, lass dir Zeit, bitte, nicht geh’n, nur du kannst mich versteh’n.“ Eine kleine Flamme loderte gerade wieder an der Feuerstelle auf und Esmeralda musste plötzlich laut loslachen, als sie das sah.
 

Esmeralda bekam immer mehr das Gefühl, dass mehrere Stunden vergingen, während sie auf ihren Freund wartete. In Wahrheit waren es nicht einmal zehn Minuten, die verstrichen waren. Trotzdem begann sie sich um ihn Sorgen zu machen. Sie stand auf und war bereit, loszugehen, um ihn zu suchen. Doch ihr Hab und Gut konnte sie nicht hier lassen, vielleicht nur einen Zettel, um ihm mitzuteilen, dass sie nur in der Umgebung nach ihm suchte, sollte er zurückkommen. Clopin hatte immer etwas Zettel und Papier dabei, wer wusste schon wozu man es gebrauchen konnte. So kniete sich Esmeralda vor seiner Tasche hin und wühlte darin herum, als ihr plötzlich ein neben der Tasche liegendes gefaltetes Stück Papier. In geschwungener, aber einfacher Schrift stand auf diesem Esmeraldas Spitzname geschrieben. „Esme“, las sie für sich vor und entfaltete den Brief. Ihre Augen überfolgen das Geschriebene und je mehr sie las, umso mehr schien sie schockiert. Ihre Augen wurden weit und ihre zarte und nun zitternde Hand legte sich langsam vor ihren Mund. Sie fiel zurück und stützte sich gerade noch mit ihrer freien Hand auf dem Boden ab. Das konnte einfach nicht wahr sein.
 

Esmeralda,
 

so sehr es mich auch schmerzt, aber ich habe erkannt, dass ich immer noch nicht der Mann bin, der ich gerne sein würde. Ich bin ein Kind. Ein schwaches Kind. Und es stimmt. Es war meine Schuld, was geschehen ist. Ich werde noch nach unseren Leuten suchen und mich danach vom Hof der Wunder distanzieren. Diese Distanz ist es vielleicht, die mir endlich zeigen kann, wer ich bin. Du hast schon erkannt, wer du bist, wie es scheint. Doch ich noch lange nicht.
 

Entschuldige. Ich habe nicht den Mut aufgebracht, dir anders Lebewohl zu sagen. Verzeih mir, Liebste.
 

Die Tränen begannen Esmeraldas Gesicht hinunterzufließen, als wollten sie aus diesem nun so ärmlichen und hüllenlosen Körper fliehen, hinaus in die Freiheit. Ihre Hände hatte sie eng vor ihre Augen gepresst, als wolle sie ihren Kummer vor der Welt verbergen. Doch es brachte nichts. „Clopin…“
 

Esmeralda kehrte zum Hof der Wunder zurück, ohne die Diebe und deren Geiseln gefunden zu haben. Doch wo sollte sie auch suchen? Sie konnten überall sein. Es war hoffnungslos.



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